university of heidelberg department of economicsabnehmende entropie „mitlaufende selbstreferenz“...

23
University of Heidelberg Discussion Paper Series No. 546 482482 Department of Economics Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme Hans-Christian Krcal June 2013

Upload: others

Post on 07-Mar-2021

0 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

U n iv e rs i t y o f H e i de l b er g

Discussion Paper Series No. 546

482482

Department of Economics

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf

sozialer Systeme

Hans-Christian Krcal

June 2013

Page 2: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf

sozialer Systeme

Hans-Christian Krcal∗

Department of Economics

Business Administration

University of Heidelberg

July 2013

Abstract

The paper handles central topics of social system theory, such as contingency, emergence, communication, reality construction based on cognitive epistemology, and differential logic. The conducted discussion is embedded in the construction of a hermeneutic approach to social system theory. Communication is a decisive part of economic systems, but often it is not object of scientific research on economic topics. Even informal business communication is seldom part of economic terms and models. To understand the meaning of social systems from a firms’ and methodological perspective we must develop a phase scheme driven by communication, because of their decisive structural role for social systems. Hermeneutic means hereby, from an observer’s point of view, a kind of didactical, philosophical opening of business life experiences – it is much more than pure text interpretation. Hence, the observer of social systems has to redefine his own language based preconditions of understanding social systems communication.

JEL-classification numbers: D01, L20, M10

Key words: social system, communication, hermeneutic approach to social

system structure

* Bergheimer Straße 58, 69117 Heidelberg, Germany, e-mail: [email protected]

Page 3: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

2

1. Problemstellung Die soziale Systemtheorie nach N. Luhmann ist eine in der

Unternehmensführungstheorie bekannte und einflussreiche Theorie. Die Bedeutung

sozialer Systeme wird allerdings im Zusammenhang ökonomischer Fragestellungen

immer wieder unterschätzt.

Im Sinne von „Geredet wird immer“ – relativiert die Allgegenwart des

„Kommunikativen“ in Betrieben vordergründig seine Bedeutung für die

Unternehmensführung. Aber aus dieser dominanten Präsenz ergibt sich gerade ihre

Rolle als konstituierende Komponente für das soziale System Betrieb. Die Bedeutung

des Kommunikativen kann für die Aufbau- und Ablauforganisation des Betriebes nicht

hoch genug eingeschätzt werden, weil der Vorgang der Kommunikation nicht nur selbst

eine Handlung ist, sondern auch physische Handlungen als programmatischer Leitfaden

vorbereitet und begleitet.

In der Wahrnehmung von Ökonomen steht das Themenfeld der „Kommunikation“ eher

für persönliche Meinungen, Emotionalität, und Unkonkretheit, weniger für Genauigkeit,

Gewissheit und einen Wahrheitsanspruch. Hinzu kommt, dass häufig nur die offizielle

betriebliche Kommunikation wahrgenommen wird. „Betriebliche Kommunikation“ ist

dann diejenige der Arbeitsanweisungen, oder der öffentlichkeitsbezogenen

Verlautbarungen und weniger das Gespräch, der Dialog, oder der geäußerte Zweifel.

Diskurse und rhetorische Stilmittel werden eher für dafür vorgesehene

institutionalisierte Kommunikationsarenen, wie Betriebsratsgesprächsrunden, Presse-

konferenzen oder Vorstandsitzungen zugestanden und weniger einem inoffiziellen

Kommunikationsfluss über betriebliche Belange.

Vordringlich ist deshalb die Entwicklung eines hermeneutischen Stufenkonzepts zur

Erschließung des sozialen Systemverständnisses. „Kommunikation“ wird in

unterschiedlichen Theorietraditionen als Konstruktionsbaustein begriffen; das gilt vor

allem für die soziale Systemtheorie, die ihre strukturelle Wirkmächtigkeit für das

„Soziale“ unterstreicht.

2. Textinformationen zum Verständnis der sozialen Systemtheorie Die nachfolgenden Zitate aus der Primär- und Sekundärliteratur zur Systemtheorie (siehe

Anhang) dienen als Arbeitsmaterial für die Herausarbeitung zentraler Konstrukte der

Page 4: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

3

allgemeinen sozialen Systemtheorie. Die Textmaterialien (Zitate) sind für eine bessere

Zuordnung durch einen Zeichencode (Zn; n=1-16) gekennzeichnet. Jede dieser Textstellen

enthält jeweils eine thematische Überschrift, die den inhaltlichen Schwerpunkt des

Textblocks aus Sicht des Autors des vorliegenden Beitrags sekundärliterarisch wiedergibt

(z.B. „Z1: Zusammenhang zwischen Komplexität und Kontingenz“).

Die vorgegebenen Überschriften, die einen kurzen thematischen Zusammenhang

widergeben und für den Leser ohne Kenntnis der Textstellen keinen überzeugenden

inhaltlichen Bezug ergeben, sind der Ausgangspunkt für den nachfolgenden

Erschließungsprozess.

3. Hermeneutische Phasen zur Erschließung systemtheoretischen Verständnisses sozialer Systeme

Hermeneutische Analyse ist mehr als eine reine Interpretation von Texten. Nach Hans-

Georg Gadamer trägt sie zum „verständnisvollen Umgang mit Menschen“1 bei. Auf

dem Weg zu diesem realen Lebensvollzug ist zunächst das Verständnis von relevanten

Sachverhalten essentiell. An das Verständnis von Texten stellt Gadamer eine Reihe

methodischer Anforderungen: „Die bloße Beschreibung der inneren Struktur und

Kohärenz eines gegeben Textes und die bloße Wiedergabe dessen, was der Autor sagt,

ist noch kein wirkliches Verstehen. Man muss sein Sprechen erneuern, und dazu muß

man mit den Sachen vertraut sein, von denen die Texte sprechen. Gewiß muß man auch

die grammatischen Regeln, die Stilmittel, die kompositorische Kunst, die einem Text

zugrundliegen, erfassen, wenn man das, was der Autor in seinem Text hat sagen wollen,

wirklich verstehen will, aber der Hauptpunkt alles Verstehens betrifft doch das

sachliche Verhältnis, das zwischen der Aussage des Textes und unserem eigenen

Verständnis der Sache besteht.“2

Das Sprechen erneuern, Vertrautheit herstellen, Sprachregeln kennen – von zentraler

Bedeutung ist es offensichtlich zwischen der Textaussage und dem eigenen Verständnis

einen Zusammenhang herzustellen. Die folgenden, hier vorgelegten vier Phasen und

Aufgabenstellungen bilden eine methodische Basis im Sinne der hermeneutischen

1 Gadamer (1991), S. 85 2 Gadamer (1991), S. 91

Page 5: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

4

Tradition für die Gewinnung von Verständnis über soziale Systeme, die auf

kommunikativer Interaktion beruhen:

a) Beschreiben Sie mit eigenen Worten, was mit der Überschrift inhaltlich

ausgesagt wird.

Zunächst geht es für den Leser darum, nach eigener Wahrnehmung die

Überschrift auf ihren inhaltlichen Kern zu beziehen, und für das eigene

Verständnis zu erschließen. Dieses erste Verständnis des Lesers ist von seinem

sprachlichen Grundverständnis geprägt, dem er sich intuitiv nicht entziehen

kann. Das umgangssprachliche Sprachspiel weist als zentrales Ergebnis aus:

„Ich, der Leser habe verstanden, was die Überschrift inhaltlich als Information

sagen will“ oder „Ich habe nicht verstanden, was die Information inhaltlich

aussagen soll“.

b) Präzisieren Sie den „Unterschied“ zwischen der „schriftlichen Mitteilung“ des

Textes und Ihrem „Verständnis“; mit anderen Worten benennen Sie, was Sie

inhaltlich nicht verstanden haben.

In der zweiten Phase findet die Lektüre des zugrundliegenden Zitats statt, das

erklärende Informationen zur Überschrift beinhaltet. Führt die dortige Aussage

zu keinem originären Verständnis des Lesers, präzisiert dieser den

„Unterschied“ zwischen der schriftlichen „Mitteilung“ des Textes und seinem

„Verständnis“; mit anderen Worten – das Unverständnis wird artikuliert. Im

Verständnis von Luhmann setzt sich der Kommunikationsprozess zusammen aus

„Mitteilung“, „Information“ und „Verständnis“. Als Leser gilt es diese

Komponenten im Umgang mit der sozialen Systemtheorie direkt zu erfahren.

Der Zustand zwischen „Verständnis“ und „Nicht-Verständnis“ bringt die

methodologische Differenz zum Ausdruck, die Dreh- und Angelpunkt einer

jeden „Beobachtung“ ist. Durch Mittel der „Bezeichnung“ in der

Unterscheidung ein- und ausgrenzen – darin liegt das Wesen der Beobachtung.

c) Fremdwörter und Fachterminologie (termini technici), die Ihnen nicht geläufig

sind, recherchieren Sie solange „fortgesetzt“ (z.B. auch in anderen Medien), bis

Ihr Informations- und Verständnisdefizit (Zustand „nicht gewusst“) im Zustand

„gewusst“ aufgehoben ist.

Das Verständnis“ erschließt sich durch die „Fortsetzung“ der Kommunikation,

d.h. „Mitteilung“ und „Information“ bedingen sich in einem permanenten

Page 6: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

5

Prozess, der solange andauert, wie das soziale System zwischen Autor und Leser

besteht. Im Wortschatz einer methodengestützten Fachsprache bestehen im

Gegensatz zur Umgangssprache kontextspezifische Fremdwörter und

Fachterminologie, die ohne kontextspezifische Informationen durch den

Adressaten (Rezipienten) nicht erschlossen werden können. Der Erwerb und der

souveräne Umgang mit Fachterminologie erlaubt die Bildung von

Andeutungsgemeinschaften, die eine Darstellung (zunächst deskriptiver Art)

komplexer Sachverhalte vereinfacht und beschleunigt.

Bei Unkenntnis im Sinne von „nicht verstanden“ ist über die „Fortsetzung“ von

„Informationen“ die Chance auf ein „Verständnis“ gegeben: Informationen

erfolgen solange kontinuierlich (über die Vorgänge zwischen Sender und

Empfänger: «mitgeteilt» -> «nichtverstanden» -> «erneut, aber geändert in der

Form mitgeteilt» -> «nicht verstanden» usw.) bis ein endgültiges Verständnis

vorliegt. In Konsequenz beendet das eingetretene Verständnis in der

ursprünglichen Angelegenheit das soziale System. Ist aber die kontinuierliche

Informationsmitteilung selbst Gegenstand neuer „Missverständnisse“ bleibt das

soziale System erhalten.

d) Die Zitate ergeben einen kausalen inhaltlichen Verbund. Entwerfen Sie ein

„Kausalitätsmuster“ der zentralen Aussagen der Zitate Z1 bis Z16! Skizzieren

Sie graphisch ein „Kausalitätsmuster“, wie es aufgrund der inhaltlichen

Aussagen der Textstellen potenziell möglich ist. Dabei sind zwei Fragen zu

beachten: Auf welche Weise lassen sich die Aussagen zu thematischen

Schwerpunkten gruppieren und wie sind diese selbst wiederum in ihrer

Kausalität miteinander verbunden?

Bei konsequenter Anwendung der beschriebenen Vorgehensweise findet der Leser als

„psychisches System“, das aufgrund der Partialinklusion auch ein soziales System mit

dem Autor kommunikativ begründen kann, einen „Systemzugang“ zur sozialen

Systemtheorie. Er befindet sich dann in der Rolle eines Beobachters, der eine

unwillkürliche Unterscheidung mit Bezeichnungsebenen verbindet und dem die

spezifische Beobachtung des Lesens, mit ihrer eigenen Differenzenlogik

(Verstanden/nicht-verstanden) und Bewertungsmethodik (gefällt/gefällt nicht), eigen ist.

Page 7: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

6

4. Der Zusammenhang von sozialer Komplexität, Differenzen und Kommunikation – ein Erschließungsansatz

Gemäß Phase d) wurde ein „Komplexitätsmuster“ der zentralen Aussagen der Zitate Z1

bis Z16 in Abbildung 1 entworfen, das sich inhaltlich konsistent erschließt; die

Aussagen sind zu thematischen Schwerpunkten gruppiert.

Das in Abbildung 1 enthaltene Kausalitätsmuster bildet die thematischen Kernaussagen

der im Folgenden erläuterten Zitatstellen, ab. Das Verständnis der Abbildung erschließt

sich vollumfänglich erst auf Grundlage der Erkenntnisse aus den aufgeführten

Zitatstellen im Anhang.

„Selektionszwang“ Z1

„soziale Komplexität“

„funktionale Binnen-differenzierung“

Z9

Evolution des SystemsEvolutionsstrategien„Steuerung“

Z10

Risiko

Eingrenzung: Retention Z2

„doppelte Kontingenz“Handeln, Plausibilität(bewusste & willkürliche Selektivität)

Z14 „organisierte„Komplexität“

„Kommunikation“

Information (I): von außen kommende neue NachrichtMitteilung (M): Übermittlung via verfügbare KanäleVerstehen (V): Einfügung des Mitgeteilten in Sinn-

rahmen, Fortsetzung der KommunikationLeitdifferenzen/(Semantische) CodesSynthese von Selektionen in den Bereichen I,M,V

Z16

Selbstverstärkung; positive Rückkopplung => „Chaos“

Suche nach dem „Metarahmen“

Z3„Emergenz“: Teile-Ganze-Problematik; Eigenschaft des GanzenAnnäherung an die Grenzen des Wissens„kritische Masse“ an Komplexität

Z12Z11

Z13

„Differenz“Beobachten: Unterscheiden, Bezeichnen, BeschreibenBeobachtung 1. Ordnung: Unterscheiden + BezeichnenBeobachtung 2. Ordnung: Beobachtung der Beobachtung Referenz der Beobachtung: Selbstreferenz

„Selbstbeobachtung“ (Steigerungsstufen):- Selbstreferenz- Reflexivität- Reflexion

Verstehen: selbstreferenzielle EntscheidungStabilisierung einer Innen-Außen-Differenz„Verfall von nutzbaren Differenzen“: EntropieVoraussetzung für EntscheidungenBegründung der Systemidentität via Funktionalität („funktionale Differenzierung“)Bsp.: Elemente & Relationen, Vorher & Nachher, System & Umwelt

Z16

„Wahrnehmungs-konstruktion der

Wirklichkeit“

Z5Determiniertheit: „Autopoiese“

Geschlossenheitbasale Zirkularität (dauerhafte Sicherstellung)der Selbststeuerung; eigene ReproduktionOffenheitEnergie, InformationEigenschaften:

FließgleichgewichtÄquifinalitätabnehmende Entropie

„mitlaufende Selbstreferenz“

„Personen“

Teil der Umwelt; Partialinklusion

Z16

„Psychische Systeme“zirkuläre Geschlossenheit ,Beobachter als Mensch

Z5Z4 Z15

Systemarten

„Soziale Systeme“Prozess von Kommunikationen„Beschreibungen“ eines Beobachters

Z6

Z4

Z16

Z7

Z8

Abbildung 1: Kausalitätsmuster zur sozialen Komplexität, Differenzenlogik und Kommunikation

Ausgangspunkt für die folgenden Zusammenhänge im sozialen System ist die

„Komplexität des Sozialen“ (siehe Abbildung 1). Die Ursachen von Komplexität und

die Verhaltensweisen komplexer Systeme sind an dieser Stelle nicht Gegenstand der

Erörterung. Es ist naheliegend, dass für soziale Systeme dabei nur die Beschaffenheit

der Kommunikation eine entscheidende Rolle spielen kann, da nur diese die Struktur

des sozialen Systems konstituiert. Im vorliegenden Kontext ist die „soziale

Page 8: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

7

Komplexität“ eine exogene Ursache für Selektionszwang (Z1). Die Auswahl unter

Handlungsalternativen begründet ein Selektionsrisiko, nicht die richtige

Auswahlentscheidung getroffen zu haben. Die getroffene Entscheidung hat daher hohe

Opportunitätskosten. Der Selektionszwang verbindet mit der Entscheidung ein Risiko

des Scheiterns.

Das strukturelle Beharren („Retention“ (Z2)) auf einer sich im Nachhinein als

zweckdienlich erwiesenen Handlung, trägt zur Eingrenzung des Risikos zukünftiger

Handlungsalternativen bei. Die schrittweise evolutionäre Erstarkung organisationaler

Struktur ist aus der ex post Perspektive eine negative Selektionsleistung und keine im

Sinne der Planung ex ante erreichbare positive Selektion.

Der Hinweis auf die „doppelte Kontingenz“ (Z14) betrieblicher Entscheidungen

unterstreicht den mehrdimensionalen Charakter einer Entscheidungshandlung;

vordergründig besteht eine deterministische, d.h. bewusste Festlegung auf eine

bestimmte Relation, die Handlungsspielräume ausschließt. Gleichzeitig aber bestehen

auch die potenziellen, durch den primären Entscheidungsträger nicht-deterministisch

erfassbaren Möglichkeiten eines weiteren Entscheidungsträgers, der mit seiner

Entscheidungshandlung anschließt an die erfolgten Handlungen. Mit anderen Worten,

die bewusst durchgeführte Selektivität eines Entscheidungsträgers ist begleitet durch

eine seinem Zugriff nicht offen stehende Selektivität durch dritte Entscheidungsträger

(aus Perspektive des primären Entscheidungsträgers als „willkürliche Selektivität“

wahrgenommen). Der evolutionäre Mechanismus der Retention wirkt als selektive Kraft

in der doppelten Kontingenz. Die vollzogene Festlegung und die potenziell andere

Festlegungsmöglichkeit (Etwas ist oder auch nicht ≈ Kontingenz) des primären

Entscheidungsträgers wird in der doppelten Kontingenz ergänzt durch Festlegung und

potenziell andere Festlegungsmöglichkeit eines dritten Entscheidungsträgers.3 Dabei

geht es letztlich um das Verständnis von Bestimmtheit und Zufall im komplexen

sozialen System.

Steuerungsmaßnahmen in Form von Arbeitsanweisungen oder Zielvorgaben durch

Vorgesetzte sind nicht mehr als Evolutionsstrategien (Z10) eines Systems das den

Einflüssen seines Umfeldsystems unterliegt. Die Evolutionsstrategien tragen zu einem

Zustand „organisierter Komplexität“ bei, in dem Komplexität nicht reduziert, sondern

durch strukturelle Fassung „bewältigt“ wird. Grundlage dafür ist eine „funktionale 3 Luhmann (1984), S. 152 zur Kontingenz: “Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch

unmöglich ist; was also so, wie es ist (zwar, sein wird), sein kann aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) in Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.“

Page 9: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

8

Binnendifferenzierung“ (Z9), die entweder eine hinreichende Binnenkomplexität i.S.v.

Ashby ermöglicht, um eine angemessene Entsprechung der äußeren Umfeldkomplexität

aufzubauen (‚law of requisite variety‘)4, oder im Sinne Luhmanns „strukturelle

Selektion“ zulässt, die sich auf elementare Relationen für das System beschränkt.5

Neben der organisationalen Einteilung in betriebliche Funktionsbereiche, die jeweils

eigene Anforderungswelten und Verhaltensweisen entwickeln, entsteht für das soziale

System Betrieb ein Raum der „Emergenz“. Das Verhalten des Ganzen, das sich nicht

aus den Verhaltenseigenschaften seiner einzelnen Strukturbestandteile antizipieren lässt,

erklärt sich aus der Perspektive, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile

(Z11). Diese bei Aristoteles in der Metaphysik zu findende Aussage lässt sich

unmittelbar auf die strukturelle Beschaffenheit einer Organisation übertragen.6

„Bereichsegoismen“ der einzelnen Funktionsbereiche oder ihr spezielles

Leistungsverhalten sind nicht gleichwertig oder gleichbedeutend mit der Gesamtpräsenz

eines Betriebs. Der Betrieb als Erfahrungs- und Erkenntnisgegenstand belegt diese

strukturelle Qualität eines Systems eindrucksvoll.

Allerdings erschließt sich das Verständnis emergenter Phänomene nicht mit letzter

Sicherheit, sondern stößt an die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis. Bei

betrieblicher Emergenz handelt es sich um ein untersuchtes, ansatzweise verstandenes,

sicher nicht steuerbares, vielleicht lenkbares Phänomen. Managemententscheidungen

beispielsweise können, müssen aber nicht zielführend sein. Eine im Nachhinein als

erfolgreich bewertete Ziel-Mittel-Relation, ist kein überzeugender Rechtfertigungsgrund

für den uneingeschränkten Glauben an die Gestaltungskraft des Management. Das

Überschreiten einer „kritischen Masse“ an Komplexität lässt eine strikte Zuordnung

nach abhängigen und unabhängigen Variablen für einen externen Beobachter nicht mehr

zu, da die Kausalität eines offenen dynamischen Systems durch Emergenz

gekennzeichnet ist. Wann und wo eine positive Rückkopplung als Selbstverstärkung des

Systems stattfindet, lässt sich mit vertretbarem modelltheoretischen Aufwand nicht

vorhersagen. Darin ist der Übergang zum „Chaos“7 gegeben, das eine dynamische

komplexe Systemstruktur als Raum schwer voraussagbarer, prinzipiell möglicher und

tatsächlich eingetretener, also kontingenter Zustände, versteht.

Eine funktionale Binnendifferenzierung erleichtert die organisationale Selektivität und

ist damit zugleich Basis der „doppelten Kontingenz“. Da bei der Erkenntnissuche weder 4 Vgl. Ashby (1970), S. 207 „Only variety can destroy variety“. 5 Vgl. Luhmann (1984), S. 385 6 Vgl. Aristoteles (1977), S. 126ff 7 Die Auseinandersetzung mit „chaotischen Strukturen“ ist nicht Gegenstand der Erörterung im Beitrag.

Page 10: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

9

die Deduktion noch die Induktion als Wege des Schließens bei der Erkenntnissuche vor

dem Hintergrund der ganzheitlichen Eigenschaft des Systemischen methodisch

überzeugen, bleibt als übergeordnete Herausforderung die Suche nach einem qualitativ

eigenständigen Metarahmen (Z3), der dem Systemischen gerecht wird, bestehen. Diese

Suche nach einem Metarahmen besteht isoliert herausgehoben als erste und letzte

Rechtfertigung der methodischen Analyse zum Verständnis sozialer Systeme.

Baustein sozialer Systeme ist die „Kommunikation“ und die „Differenzenbetrachtung“

ist ihre Methodik. Kommunikation und Differenzenbetrachtung bedingen einander in

ihrem strukturellen Beitrag für soziale Systeme. Nachfolgend erfolgt zuerst ein Blick

auf die „Differenz“ als Betrachtungsprinzip.

Beobachtung geht von der „Unterscheidung“ aus. Ein System (z.B. psychisches System)

stellt seine Unterschiedlichkeit zum Umfeldsystem fest. Dies geschieht intuitiv-kognitiv

als Erfahrung des Ein- oder Ausgegrenztseins im Verhältnis zum betreffenden

Bezugspunkt (z.B. Innen/Außen, Disseits/Jenseits, Mann/Frau usw.). Die Bezeichnung

der Bezüglichkeit des Unterschieds beinhaltet eine eigene Information, die den

Unterschied näher spezifiziert (z.B. für die Innen/Außen-Unterschiedlichkeit die

Bezeichnung für den Beobachter (z.B. „Vorgesetzter“) der als Bezugspunkt das Außen

unter einer Bezeichnung (z.B. „Mitarbeiter“) wahrnimmt). Die Beschreibung basiert auf

der Beobachtung. Sie enthält weitere Informationen über das zu Beobachtende, z.B.

„Herr Meier ist als Mitarbeiter verlässlich“. Das Unterscheiden und das Bezeichnen

bilden zusammen die „Beobachtung 1. Ordnung“. Da für eine bewusste Reflektion Zeit

von Nöten ist, stellt sich mit Zeitverzögerung eine Bewertung der Beobachtung der 1.

Ordnung ein. Erst im Nachhinein ergibt sich für den Beobachter in Bezug auf sich selbst

eine weitere abwägende Information über das zu Beobachtende (z.B. „Diesen

Mitarbeiter will ich in meinem Verantwortungsbereich als Führungskraft aufbauen“).

Bezugsbasis für die bezeichnende und beschreibende Rekonstruktion des zu

Beobachtenden ist die „Referenz der Beobachtung“, also der Beobachter selbst oder in

anderen Worten die Selbstreferenz. Der Beobachter erkennt das zu Beobachtende nur

insoweit, als es mit der Selbstreferenz des Beobachters auch konstruktiv abbildbar ist.

Hier besteht eine Parallele zu der hermeneutischen Perspektive der „Vorurteile“, die

Voraussetzungen für Wirklichkeitskonstruktionen sind, da darin das zu beobachtende

Phänomen für den Beobachter sprachlich beschreibbar bleibt.

„Das Wesen der Sache an sich“, die ontologische Qualität des zu beobachtenden

Phänomens kann der Beobachter letztlich nicht erfassen; was zählt ist seine

Page 11: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

10

Rückbezüglichkeit, sein Geworfen sein auf das eigene psychische System, dessen

Grenzen nicht überwindbar sind. Die strukturelle Rückbezüglichkeit oder Selbstreferenz

ist der Bezug von Operationen auf sich selbst. Eine Beobachtung, die wie bereits

dargelegt nur selbstreferentiell möglich und deshalb als „Selbstbeobachtung“

verständlich ist, erstreckt sich auf drei Steigerungsstufen: die basale strukturelle

Selbstreferenz als Konstruktionsprinzip, die Reflexivität als Vorgang des Nachdenkens

(konkret das Bezeichnen und Beschreiben) und schließlich die „Reflexion“ als

projizierter Zustand das Ergebnis des Nachdenkens. Aus organisationaler Perspektive,

ist z.B. das „organisationale Lernen“ als kollektiver Reflektionsprozess zu verstehen

und die schriftliche offizielle Pressemitteilung/oder die spontan mündlich vorgetragene

Protestaktion der eigenen Belegschaft vor dem Werkstor, als Ausdruck der Reflexion.

Über die drei genannten Stufen steigert sich die Beobachtung zu einer

„Selbstbeobachtung“, die einer „Wahrnehmungskonstruktion der Wirklichkeit“ als

Ergebnis gleichkommt.

Die zwei Seiten einer Grenze (Innen/Außen) spielen auch in anderer Hinsicht eine

bedeutende Rolle für Systeme: in der Kommunikation ist das „Verstehen“ eine

selbstreferentielle Entscheidung, d.h. der kommunizierende Beobachter hat eine

Information des Gegenüber verstanden oder eben nicht verstanden. Für den

Systemerhalt ist die Stabilisierung einer Innen-Außen-Differenz Voraussetzung;

gegenüber der höheren Komplexität des Umfeldsystems weist das System eine

geringere Komplexität aus. Für offene dynamische und komplexe Systeme ist die

Energiezufuhr von Außen der maßgebliche Antriebsfaktor für strukturelle Veränderung.

Die Zunahme der Entropie ist Ausdruck eines Verfalls nutzbarer Differenzen, mit

anderen Worten Veränderungs- bzw. Entwicklungsmöglichkeiten und potenzielle

Reaktionsräume nehmen ab. Das Energie- und Informationsgefälle zwischen

Umfeldsystem und System (z.B. zwischen Branche und einem Branchenunternehmen)

ist der „thermodynamische Motor“ der Veränderungen für soziale Systeme.

Entscheidungen sind Unterscheidungen zwischen eingrenzbaren, wenn auch nicht

immer identifizierbaren Alternativen; über die Differenz „diese oder jene“ sind sie für

den Entscheidungsträger fassbar. Die „funktionale Differenzierung“ lässt Subsysteme

entstehen, die über ihre jeweilige Zweckerfüllung einen Beitrag zur Erfüllung des

Ganzheitlichen leisten, weil sie Systemidentität schaffen. Das Ganze ist mehr als die

Summe seiner Einzelteile, aber es basiert eben auch zugleich auf den Einzelteilen, auch

Page 12: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

11

wenn dieser Umstand letztlich nicht hinreichend für die Erklärung des Ganzheitlichen

ist.

Die strukturelle Geschlossenheit, d.h. die selbstreferentielle Rückbezüglichkeit, ist eine

grundlegende und permanente Verhaltensweise („basale Zirkularität“) autopoietischer

selbsterhaltender Systeme, die zu eigener Reproduktion fähig sind. Zugleich sind diese

jedoch auch offen i.S.v. durchgängig für „Energie“ und „Information“ von Außen. Das

Fließgleichgewicht trägt durch den Austausch von Materie, Energie und Information

zum Systemerhalt im Umfeldsystem bei.

Die Offenheit des Systems verhindert eine Erstarrung i.S. eines Wegfalls nutzbarer

Differenzen. Mehr noch, offene Systeme weisen eine abnehmende Entropie auf, was zur

Nutzung von Differenzen als Antrieb für dynamische Entwicklungen führt. Auch die

Äquifinalität kennzeichnet ein offenes System als mehrdeutiges Beziehungsgefüge, in

dem Kausalitätsketten in ihrer lateralen Vielschichtigkeit auftreten. Die Offenheit führt

zu einer Kontrastierung der „Selbstreferenz“, die ihrem Wesen nach geschlossen ist, mit

einer Form der Fremdbezüglichkeit, der „Fremdreferenz“, was Luhmann mit dem Topos

der „mitlaufenden Selbstreferenz“ zum Ausdruck bringt.

Fassen wir zusammen, was in den Ausführungen deutlich geworden ist: die Grundlage

einer Beobachtung, die Unterschiede wahrnimmt, ist die Selbstreferenz. Diese

begründet eine strukturelle Geschlossenheit, die von zentraler Bedeutung für die

Stabilisierung von Systemstrukturen ist, weil sie Rückbezüglichkeit auf sich selbst

verkörpert und damit die Fähigkeit eines Systems sich selbst zu reproduzieren

(Autopoiesis) strukturell ermöglicht (Z5).

Ein autopoietisches, also sich strukturell reproduzierendes soziales System (Z6),

beobachtet sich selbst (über die Steigerungsstufen Selbstreferenz, Reflexivität und

Reflexion) nur in der Kommunikation. Neben der Information (als einer von außen

kommenden Nachricht) und der Mitteilung (als Übermittlungsleistung) funktioniert der

Bestandteil Verstehen über die selbstreferentielle Basis der Unterschiede „habe

verstanden“/“habe nicht verstanden“; semantische Codes in der Mitteilung und

Information bilden Leitdifferenzen der Verständigung. Die fortgesetzte Kommunikation

konstituiert soziale Systeme denn sie schafft den Übergang zu einem psychischen

System, das zunächst nur reflektiert, bis es beginnt zu kommunizieren, dann aber nicht

als psychisches System, sondern als Struktureinheit des sozialen Systems.

Page 13: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

12

Die Partialinklusion erklärt die Kongruenz der Systemarten. Das biologische System

„Person/Mensch“ ist Teil der natürlichen Umwelt. Zugleich ist jenes System auch ein

„psychisches System“ das reflektiert und beobachtet in einer rückbezüglichen

permanenten, eben zirkulären Geschlossenheit. Tritt das psychische System ein in die

Kommunikation mit einem anderen Beobachter, ist es über die Partialinklusion

Strukturbestandteil im sozialen System, aber nicht physisch, sondern nur über den

Kommunikationsbeitrag und nur solange, wie die Kommunikation fortgesetzt wird.

Erst mittels der Kommunikation tritt das isolierte psychische System in ein soziales

System ein, das mit anderen sozialen Systemen interagieren kann. Die Partialinklusion

macht aus einem isolierten psychischen System (z.B. die Gedanken des Mitarbeiters)

durch die Kommunikation auch ein Element im sozialen System Unternehmen (z.B.

beteiligt sich der Mitarbeiter am Ideenmanagement durch schriftliche Mitteilung eines

Verbesserungsvorschlags).

5. Fazit

Die zentrale Strukturkomponente in sozialen Systemen ist die Kommunikation.

Didaktisch naheliegend für ein kommunikatives Verständnis sozialer Systemtheorie ist

die individuelle Interpretation ihrer zentralen Aussagen. Der „Dreiklang“ aus

Mitteilung, Information und Verstehen, der die Kommunikation in der sozialen

Systemtheorie konstituiert, ist auch für den Umgang und das Verständnis der sozialen

Systemtheorie unerlässlich. Der Beitrag sensibilisiert in mehrfacher Weise den Leser

hinsichtlich der Rolle des „Kommunikativen“ für das soziale System: durch die

„Mitteilung“, d.h. die Bereitstellung von Textstellen zur sozialen Systemtheorie, durch

die „Information“, d.h. inhaltliche Positionen zu konstruktiven Bestandteilen der

sozialen Systemtheorie und ein Kausalitätsmuster zum „Verständnis“ des Lesers. Der

Zusammenhang zwischen Differenzenlogik, Beobachtung und Kommunikation bildet

den Kern des Kausalitätsmusters zum sozialen Systemverständnis. Die im Beitrag

vorgestellten hermeneutischen Phasen kombinieren „Informationen“ (inhaltliche

Aussagen über soziale Systeme), unterschiedliche „Mitteilungsebenen“ (originäre

Textstellen (Zitate), einzelne Interpretationsangebote (Überschriften), totale

Interpretationsangebote (Kausalitätsmuster)) und „Verständnisstufen“ (verstanden/nicht

verstanden im Sinne der Differenzenlogik), miteinander.

Page 14: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

13

Anhang

Nachstehende Zitate stammen aus Willke, Helmut (2006), Systemtheorie I: Grundlagen, 7.A., Stuttgart 2006.

Z1: Zusammenhang zwischen Komplexität und Kontingenz

„Unter Komplexität wollen wir verstehen, dass es stehts mehr Möglichkeiten gibt, als

aktualisiert werden können. Unter Kontingenz wollen wir verstehen, dass die

angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können als

erwartet wurde; dass die Anzeige mithin täuschen kann, indem sie auf etwas verweist,

das nicht ist oder wider Erwarten nicht erreichbar ist oder, wenn man die notwendigen

Vorkehrungen für aktuelles Erleben getroffen hat (zum Beispiel hin gegangen ist),

nicht mehr da ist. Komplexität heißt also praktisch Selektionszwang, Kontingenz heißt

praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit des Sicheinlassens auf Risiken“

[Luhmann,N. (1972), S: 31]8

Z2: Kontingenz und Negation

„Ein systemtheoretisch besonders interessantes Verhältnis besteht zwischen

Kontingenz und Negation. Retention (Erhaltung des Bestehenden) ist die Negation

von Kontingenz. Aber hinter dieser einfachen Gleichung steckt ein Labyrinth

kontingenter Verknüpfungen von Kontingenz und Negation, sobald Negation nicht als

bloße Verneinung verstanden wird, sondern als die andere Seite einer positiven

Realität, die ohne ihre andere Seite aber nicht wirklich und nicht operationsfähig ist.

Negation stellt nicht einfach die Identität eines Systems in Frage, sondern sie fragt

nach der Relevanz nicht-realisierter kontingenter Geschichten des Systems,

kontingenter Gegenwarten und unter der Prämisse möglicher Steuerung nach

kontingenten Zukünften des Systems. Negation als Teil der Relation von Kontingenz

und Negation widerlegt die Realität eines Systems, wie das Hervorbrechen der Blüte

die Knospe widerlegt;...“9

Z3: Metarahmen

„Erforderlich ist vielmehr eine theoriegeleitete Suche nach denjenigen

Organisationsprinzipien oder Eigenschaften, welche die spezifische Qualität und

Identität eines bestimmten Systems charakterisieren.

Dieser Suchprozess ist außerordentlich schwierig, weil in systemtheoretischer

Perspektive sich die beiden traditionellen Suchprozesse – Induktion und Deduktion –

als unzulänglich erweisen. Induktion, das Schließen von Teilen auf das Ganze, kann

über die Aggregation der Eigenschaften von Teilen nicht hinauskommen und verwehrt

8 Willke (2006), S.31 9 Willke (2006), S. 33

Page 15: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

14

somit die Erkenntnis gerade dessen, was zentral wäre: die nur dass Ganze

charakterisierenden neuartigen Eigenschaften des Ganzen und die Rückwirkungen

dieser Systemeigenschaften auf die Teile. Deduktion andererseits, das Schließen von

einer Gesamtheit auf die sie bildenden Elemente, setzt aber die Gesamtheit voraus.

Diese kann der Erfahrungswissenschaftler aber nicht einfach behaupten, sondern er

muss sie selbst herleiten, und die Frage ist: woher?“10

Z4: Offenheit von Systemen/Autopoiesis

„Es ist allerdings wesentlich zu beachten, dass sich die operative Geschlossenheit

eines autopoietischen Systems nur auf die basale Zirkularität der Selbststeuerung der

eigenen Reproduktion bezieht. In anderen Hinsichten, insbesondere bezüglich der

Aufnahme von Energie und Information (d.h., der Verarbeitung möglicher

bedeutsamer Differenzen), ist es durchaus und notwendigerweise offen.“11

Z5: Interne Struktur-Determiniertheit von Systemen

„Das Autopoiese-Konzept ist wichtig, weil es gegenüber der einseitigen Betonung der

Umwelt-Abhängigkeit von Systemen deren interne Strukturdeterminiertheit primär

setzt. Damit kommt ins Blickfeld, dass Systeme zunächst und vor allem ihre eigene

Kontinuierung organisieren müssen, um als Systeme in Beziehungen zu ihrer Umwelt

treten zu können.“12

Z6: Psychische Systeme

„Gedanken, die eine Person als psychisches System hat, können nur von anderen

Gedanken dieser Person wahrgenommen – also beobachtet werden. Es gibt keine

Möglichkeit, Gedanken von außen in ein psychisches System einzubringen oder sie

außerhalb eines psychischen Systems zu beobachten. Auf dieser elementaren Ebene

des Prozessierens von Gedanken gibt es demnach für ein psychisches System weder

input noch output, sondern im strengen autopoietischen Sinne nur zirkuläre

Geschlossenheit. Daraus folgert Luhmann zu Recht: “Es gibt keinen unmittelbaren

Kontakt zwischen verschiedenen Bewusstseinssystemen“ (Luhmann 1985:404).“13

Z7: Trennung zwischen psychischen und sozialen Systemen

„Größere Schwierigkeiten bereitet es, auch soziale Systeme als operativ geschlossen

zu begreifen. Grundlage einer solchen Konstruktion ist die Annahme, dass soziale

Systeme nicht aus einer Ansammlung von Menschen bestehen, sondern aus dem

Prozessieren von Kommunikationen. Diese scharfe Trennung zwischen psychischen

10 Willke (2006), S. 125 11 Willke (2006), S. 63 12 Willke (2006), S. 63 13 Willke (2006), S. 64

Page 16: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

15

und sozialen Systemen ist zwar Anlass für kontinuierliche Missverständnisse. Aber

nur eine radikale Soziologisierung – und damit: Entpersönlichung – sozialer Systeme

ist geeignet, deren Besonderheit und Eigengesetzlichkeit so zu fassen, dass das

Soziale nicht zur bloßen Aggregation biologischer und psychischer Momente gerät.“14

Z8: Codes/Leitdifferenzen in der Kommunikation

„Eine schnelle und zuverlässige Einordnung von Kommunikationen in spezifische

Konzepte geschieht durch eine Engführung des Bedeutungsstromes von

Kommunikationen durch differentielle semantische Codes oder Leitdifferenzen, die

im Prozess der Kommunikation stetig in Form von Code-Schlüsseln und

Kontextsignalen mitgeliefert werden.“15

Z9: Komplexität

„Systeme lösen das Problem sozialer Komplexität mit funktionaler

Binnendifferenzierung“16

Z10: Selektion und Evolution

„Zum anderen resultiert aus dem Zwang zur Selektion paradoxerweise auch die

Chance, die Evolution des Systems gezielt zu steuern, also Evolutionsstrategien zu

verfolgen. Für biologische Systeme scheint dabei das Evolutionsprinzip gerade nicht

das Überleben des Stärkeren („survival of the fittest“) zu sein, wie die klassische

Evolutionstheorie annahm; denn dann hätte die biologische Evolution bei Bakterien

und spätestens bei Amöben aufhören müssen; dies sind optimal angepasste

Organismen mit enormer Reproduktionsrate, welche seit Milliarden von Jahren

überleben und, was das Überleben betrifft, sehr viel erfolgreicher waren und

wahrscheinlich sein werden, als etwa der Mensch [...]. Viel eher lässt sich das Prinzip

der biologischen Evolution als ein wechselseitiger Steigerungsprozess von Systemen-

in-Umwelten verstehen, wobei die entscheidende Dimension der Steigerung diejenige

organisierter Komplexität ist.“17

Z11: Teile-Ganze-Problematik, Emergenz

„Auf der anderen Seite haben nach den Philosophen (seit Platons Kritik an

Empedokles und Demokrit) auch Biologie und Gestalttheorie Anhaltspunkte dafür

gefunden, dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile. Lassen wir zunächst

offen, ob das Ganze wirklich „mehr“ ist; es genügt zu sagen, dass das Ganze etwas

anderes ist als Summe seiner Teile. Es hat sich in einigen Zweigen der

14 Willke (2006), S. 65 15 Willke (2006), S. 67 16 Willke (2006), S. 87 17 Willke (2006), S. 131

Page 17: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

16

Evolutionstheorie eingebürgert, dieses „andere“ als emergente Eigenschaften von

Systemen zu bezeichnen.“18

Z12: Emergenz

„Emergent soll eine Ordnung oder eine Eigenschaft heißen, wenn sie aus der bloßen

Aggregation von Teilen oder aus den summierten Eigenschaften der Teile nicht mehr

erklärbar ist. In komplexen biologischen und sozialen Systemen sind qualitativ neue

Ebenen der Integration durch neue emergente Eigenschaften erklärbar. Die Frage,

durch welche Mechanismen und nach welchen Gesetzen neue emergente

Eigenschaften entstehen, ist überaus schwierig und führt an die Grenzen des

naturwissenschaftlichen und des sozialwissenschaftlichen Wissens: die Frage der

Möglichkeit und der Entstehung selbstreproduktiver Systeme und die Frage der

Weiterentwicklung von Sozialsystemen.“19

Z13: Komplexität, Emergenz & Wissenschaftstheoretisches Verständnis

„Auch andere Naturwissenschaften haben den Boden für die Einsicht bereitet, dass

mit dem Überschreiten einer „kritischen Masse“ an Komplexität Systeme nicht mehr

adäquat als Aggregationen von Teilen begriffen werden können; es wird erforderlich,

mit Systemreferenzen und Emergenzniveaus zu arbeiten, die je ihre eigenen

Regelsysteme entwickeln und die ohne eine Kenntnis dieser spezifischen Regeln nicht

verstanden und schon gar nicht gesteuert werden können. Da auch die Mathematik

(etwa mit der Theorie der „fuzzy sets“, einer Theorie selektiv offener Mengen und der

„Katastrophentheorie“ – einer Theorie selbstverstärkender, also positiv

rückgekoppelter Prozesse) neue Instrumente bereitstellt, liegt die empirische

Einlösung der Analyse offener, anpassungsfähiger Systeme nicht mehr ganz im

Bereich des Unmöglichen: dann allerdings nicht mehr entlang der Linien der

traditionellen Empirie, die immer noch glaubt, auf der Unterscheidung von

abhängigen und unabhängigen Variablen aufbauen zu können.“20

Z14: Kontingenz, Handeln, Verhalten, Selektivität

„Wenn ein System die Fähigkeit entwickelt hat, aus einer Bandbreite von

Möglichkeiten eine bestimmte Möglichkeit zu wählen, wenn das System sich also

nicht nur verhält sondern handelt, dann entsteht dass Problem der Plausibilität gerade

dieser Wahl. Denn sowohl das handelnde System selbst als auch andere sinnhafte

Systeme in der Umwelt des handelnden Systems erfahren diese Handlung als

bewusste und willkürliche Selektivität. Anders formuliert: Handeln ist immer

18 Willke (2006), S. 133 19 Willke (2006), S. 138 20 Willke (2006), S. 139f.

Page 18: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

17

Auswahl unter kontingenten Möglichkeiten, und soziales Handeln ist mithin

unentrinnbar Handeln unter der Bedingung mindestens doppelter Kontingenz.“21

Z15: Beobachten, Beschreiben, Bezeichnen, Verstehen

„In einer besonders einleuchtenden Formulierung hat Humbert Maturana (1982:16)

Erklären als die Konstruktion eines „generativen Mechanismus“ definiert, wonach

jeder „Versuch, ein Phänomen wissenschaftlich zu erklären, in der Tat darin bestehen

muss(te), einen Mechanismus zu entwickeln, der das zu erklärende Phänomen

erzeugt(e)“.

Aus dieser hier nur ganz knapp skizzierten Ausgangslage folgt zumindest dreierlei:

1. Die Logik der Beobachtung (und der aus der Beobachtung folgenden

Beschreibung) ist nicht die Logik des beobachteten Phänomens, sondern die Logik des

beobachtenden Systems und seiner kognitiven Struktur. Die Operation der

Beobachtung liegt vor, wenn aus der Feststellung eines Unterschiedes für das

beobachtete System eine Information zu gewinnen ist, also ein bedeutsamer

Unterschied registriert wird (Bateson 1972:381:“...any difference which makes a

difference in some later event“).

2. Das Phänomen der Beobachtung konstituiert die Beobachtung eines

Phänomens. Der „Gegenstand“ der Beobachtung wird für den Beobachter dann zu

einer beobachtbaren Einheit, wenn er ihn bezeichnen und beschreiben kann.

Bezeichnen heißt, die Einheit des Gegenstandes in Differenz zu allem anderen und zu

sich selbst zu sehen. Beschreiben heißt, „die tatsächlichen oder möglichen

Interaktionen und Relationen des Gegenstandes aufzuzählen“ (Maturana 1982:34), um

daraus die interne Funktionslogik des Gegenstandes zu erschließen. Streng analog

heißt dann Selbstbeobachtung, die eigene Funktionslogik zu erschließen.

3. Die Referenz der Beobachtung ist nur vordergründig der beobachtete

„Gegenstand“. Aufgrund der vom Beobachter abhängigen Rekonstruktion des

Gegenstandes ist die Referenz der Beobachtung der Beobachter, also Selbstreferenz.

Dies ist eine zentrale Einsicht, weil sie die doppelte Selbstreferenz von Beobachtung

und Beobachtern aufdeckt. Das Beobachtete kann sich als Einheit nur darstellen, wenn

es eine unterscheidbare Funktionslogik aufweist, wenn es also in seinem

Funktionieren zwingend auf sich selbst verweist. Genau dies aber schließt ebenso

zwingend eine direkte Beobachtung dieser Einheit aus. Zugleich gilt, dass der

Beobachter als Mensch ein autopoietisches psychisches System ist und ihm deshalb

eine unmittelbare und unvermittelte Beobachtung fremder Systeme nicht möglich

ist.“22

[...]

„Jedes komplexe psychische oder soziale System kann sich nur als selbstreferentielles

konstituieren und kontinuieren (Luhmann 1984:31f.). Jede Beobachtung ist abhängig

21 Willke (2006), S. 146 22 Willke (2006), S. 160

Page 19: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

18

vom Operationsmodus des beobachtenden Systems. Nimmt man diese beiden

Aussagen zusammen, so ergibt sich das eigentlich Interessante: Beobachtung als

Operation eines selbstreferentiellen Systems ist selbst Teil des Systems, welches sich

(in der Selbstbeobachtung) beobachtet und sie – die Operation der Beobachtung –

kann in der Umwelt des beobachtenden Systems (also als Fremdbeobachtung) nur

etwas erkennen, was im Bezugsrahmen des beobachtenden Systems Sinn macht.

Demnach ist Fremdbeobachtung nur im Kontakt des Systems mit sich selbst möglich,

setzt jede Fremdbeobachtung ein mehr oder weniger verzweigtes Netz von

Selbstbeobachtungen voraus.“23

[...]

„Es zeigt sich, dass die Wahrnehmung zwar ganzheitlich ist, wir aber nicht das Ganze

sehen; sie ist abhängig von Erfahrungen, Erwartungen, Einstellungen usw.; sie ist

selektiv; und sie ist strukturbestimmt. Es ist eine Perspektive, die zur Bescheidenheit,

Zurückhaltung und zu einer Besinnung auf die Grenzen des Möglichen mahnt“

(Probst 1985:201).24

[...]

„Beobachten lässt sich all das, was in der Form irgendeiner Differenz vorliegt oder in

diese Form gebracht werden kann, vorausgesetzt, dass die Form der Differenz für den

Beobachter einen Sinn macht.“25

Nachstehender Auszug aus: Krcal, H.-C. (2003), Systemtheoretischer Metaansatz für den Umgang mit Komplexität und Nachhaltigkeit, in: Leisten, R., Krcal, H.-C. (Hrsg.), Nachhaltige Unternehmensführung, Systemperspektiven, Wiesbaden 2003, S. 3-30:

Z16: 2. Selbstbeobachtung, Differenzierung und Kommunikation in sozialen Systemen

„Luhmann (1984) bedient sich systemtheoretischer Ansätze der Systemstruktur, der Theorie offener Systeme und der Theorie autopoietischer Systeme, die seine Theorie selbstreferenzieller sozialer Systeme begründen. Die Systemstruktur besteht aus Elementen, Beziehungen zwischen den Elementen, Subsystemen, deren kleinste Untereinheit das Element bildet, und Umfeldsystemen. Aus Sicht der Theorie selbstreferenzieller und sozialer Systeme sind Personen ein Teil des Umsystems.

Die hierarchische Strukturierung von Systemen sieht die Unterscheidung in eine Intrasystem- und Intersystemhierarchie vor. Die Menge der Elemente ist untereinander durch eine Menge von Relationen verbunden. Systemrelationen sind Beziehungen zwischen Systemelementen, die in Form von Ordnungsbeziehungen („geordnete Gesamtheit von Elementen“) und Wirkzusammenhängen (Output eines Elements entspricht dem Input eines anderen Elements) als Vernetzung bzw. Interdependenz auftreten.

23 Willke (2006), S. 161 24 zit. bei Willke (2006), S. 161f. 25 Willke (2006), S. 162

Page 20: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

19

Offene Systeme haben nach Bertalanffy drei Eigenschaften gegenüber geschlossenen Systemen: das Fließgleichgewicht, die Äquifinalität und die Möglichkeit abnehmender Entropie. Das Fließgleichgewicht bezeichnet den Austausch von Materie, Energie und Information zwischen System und Umwelt und die dabei bestehende Fähigkeit des Systemerhalts. Die Koevolution von System und Umwelt ist Voraussetzung für das Fließgleichgewicht. Systeme, vor allem Organisationen, sollen sich analog der Umwelt dynamisch entwickeln. Die Äquifinalität sieht zwischen dem Anfangs- und Endzustand eines Systems keine eindeutige Beziehung bestehen. Verschiedene Anfangszustände können zu dem gleichen Endzustand führen und umgekehrt werden verschiedene Endzustände von dem gleichen Anfangszustand aus erreicht. Die Möglichkeit abnehmender Entropie bezeichnet die Erreichung eines höheren inneren Ordnungsgrades durch die Bindung von Energie. Lebende Systeme weisen Geschlossenheit bzw. Autonomie, Zirkularität und Selbstreferenz auf. Geschlossenheit ergibt sich durch die Selbstproduktion bzw. Reproduktion der Elemente, die gegenüber der Umwelt zu Autonomie führt. Die Zirkularität, d.h. die dauerhafte Sicherstellung der Reproduktionsvorgänge ermöglicht diese Autonomie. Selbstreferenz besteht, wenn Operationen sich auf sich selbst beziehen. Diese Fähigkeit lebender Systeme sich selbst zu produzieren bzw. zu reproduzieren wird als Autopoiesis bezeichnet. Das Kennzeichen autopoietischer Systeme ist eine Kombination von Geschlossenheit und Offenheit. Das selektive Hereinholen von Materie, Energie und Informationen bildet die Offenheit des Systems. Die Interpretation sozialer Strukturen in Anlehnung an biologische Vorlagen blieb nicht unkritisiert. Die Endlichkeit sozialer Elemente führt zu der Frage nach der Verzeitlichung von Elementen in sozialen Systemen. Komplexe Sozialsysteme, wie die Organisation bzw. Unternehmung, werden als selbstreferenzielle Systeme betrachtet. Selbstreferenz bedeutet „mitlaufende Selbstreferenz“, d.h. Fremdreferenz ist Voraussetzung für Selbstreferenz. Eine reine Selbstreferenz würde die Perpetuierung des immer Gleichen bedeuten. Über die Fremdreferenz werden Informationen gewonnen, die eine Selbstreproduktion ermöglichen. Die Idee der Zirkularität kommt bei selbstreferenziellen sozialen Systemen zum Ausdruck, wenn „ alle Spezifikationen, mit denen wir (als lebende Systeme) das Leben (lebende Systeme) beschreiben, unsere Beschreibungen sind. Allgemein formuliert: es sind die Erfindungen eines Beobachters, der sich durch seine Beobachtungen selbst nur als Beobachter reproduziert, indem er eine Welt erzeugt, in der er überleben kann.“ Steigerungsstufen der Selbstbeobachtung sind nach Luhmann die Selbstreferenz, die Reflexivität und die Reflexion. Unter Selbstreferenz versteht Luhmann „...die Einheit, die „etwas“ (ein Element, ein Prozess, ein System) für sich selbst ist, unabhängig von der Beobachtung durch andere.“ Sie besteht bei einfachen sozialen Systemen und hat basalen Charakter. Reflexivität als Steigerungsstufe ist prozessuale Selbstreferenz und kann nur über Kommunikation erzielt werden. Es ist gleichsam eine Vorher/Nachher – Differenz. Zur Reflexivität wird die Selbstbeobachtung, wenn das Wiedereinsetzen in den Prozess mit Mitteln des Prozesses, also über Kommunikation stattfindet, d.h. es kommt zu Kommunikation über Kommunikation. Die Reflexion ist eine noch höhere Stufe der Selbstreferenz. Sie ist als die Einheit des Systems im Unterschied zu etwas anderem formuliert und vollzieht eine Abgrenzung zur Umwelt und anderen Systemen. Beispiel dafür wäre die Stellungnahme eines Unternehmens gegenüber Lieferanten, Kunden, Kapitalgebern etc.

Die Reflexion der Beobachterrolle ist ein wichtiger Punkt der Systemtheorie. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass alle Erkenntnis beobachterabhängig ist und Wirklichkeit aus dem kognitiven System heraus erfunden wird. Da kein unmittelbarer Kontakt zwischen verschiedenen Bewusstseinssystemen möglich ist, können die Gedanken einer Person nur von anderen Gedanken dieser Person beobachtet werden. Konstruktivistische Ansätze beschäftigen sich im Kern mit der Frage, wie menschliche Erkenntnisse unter neurophysiologischen Aspekten zustande kommen. Wahrnehmung ist demnach ein Konstrukt des Gehirns, das auf Erfahrung

Page 21: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

20

zurückgreift. Das Gehirn lässt sich als ein funktional und semantisch selbstreferenzielles System verstehen. Die Theorie selbstreferenzieller Systeme ist mit dem Vorwurf des radikalen Konstruktivismus konfrontiert, wonach durch die Stufen der Selbstbeobachtung: Selbstreferenz, Reflexivität, und Reflexion eine Vorstellung von der Realität gezeichnet wird, wie sie sein könnte und nicht wie sie ist. Die Wirklichkeitskonstruktion des Beobachters gibt nicht die Realität wieder, sondern macht sie im Sinne einer Tautologie „passend“. Luhmann überwindet den Widerspruch von Realität und Wirklichkeitskonstruktion durch die Differenzenlogik von Georg Spencer Brown, in der Unterscheidung und Bezeichnung eine zentrale Rolle spielen: „Eine Beobachtung liegt immer dann vor, wenn eine Unterscheidung gemacht wird, um die eine (aber nicht die andere) Seite der Unterscheidung zu bezeichnen.“ Danach geht der Bezeichnung durch den Beobachter seine Unterscheidung voraus. Erkennen greift auf vorangegangene Unterscheidungen zurück, an die sich der Beobachter erinnert. Die Selbstbeobachtung des Systems entsteht zwangsläufig, wenn der Beobachter reagiert. Die Beobachtung selbst ist an die Selbstreferenz des Beobachters gebunden. Die Beobachtung zweiter Ordnung betrachtet die Rekursivität des Beobachtens als System/Umwelt-Beziehung, die Beobachtung über Beobachtung ist. Die Selbstbeobachtung ist ein Beschreiben, das auf Unterscheidungen aufbaut. Unterscheidungen (Differenzen) wie Selbstreferenz/Fremdreferenz oder Beobachter/Beobachtetes spielen in der neueren Systemtheorie eine entscheidende Rolle. Entropie kennzeichnet in Systemen den Verfall von nutzbaren Differenzen. Für eine Entscheidung ist die Differenz Voraussetzung. Die operative Geschlossenheit im Kontext eigener Operationen als Voraussetzung für die Offenheit von Systemen ist ein weiteres Beispiel. „ Jede Operation setzt, um sich selbst zu ermöglichen, Rückgriffe und Vorgriffe auf andere Operationen desselben Systems voraus.“ Die wichtigsten Formen der Differenz für die Systemtheorie sind: die Differenz zwischen Elementen und Relationen („Teile/Ganzes“ Differenz) als elementare Selbstreferenz, die Differenz des Vorher und Nachher, wie sie in der Reflexivität zum Ausdruck kommt, und eben die Differenzierung von System und Umwelt. Durch Differenzierung zur Umwelt entsteht Systemidentität. Die Abgrenzung zwischen System und Umwelt ist notwendig, damit das System sich selbst beobachten kann. Auch die Funktionale Differenzierung führt zur Entstehung von System/Umwelt-Differenzen innerhalb von Systemen. Das Ganze setzt sich aus unterschiedlich spezialisierten Teilen zusammen. „Die Differenzierung ist funktional in dem Maße, als das Subsystem seine Identität durch die Erfüllung einer Funktion für das Gesamtsystem gewinnt.“ Die Leitdifferenzen „Teile/Ganzes“ und „System/Umwelt“ führen zu unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Leitdifferenz Teile/Ganzes setzt geschlossene Systeme voraus, die System/Umwelt-Differenz offene Systeme. Schwerpunkt der System/Umwelt-Differenz ist die Grenzerhaltung, aber auch die interne System/Umwelt-Differenzierung in der Binnenstruktur des Systems. Hauptleitdifferenz selbstreferenzieller autopoietischer Systeme ist die der Identitäts-Differenz von System/Umwelt. Nach Luhmann erhält sich ein System durch die „Stabilisierung einer Innen-Außen-Differenz“ (System/Umwelt-Paradigma). Selbstreferenzielle Systeme sind in Bezug auf Selbstreferenz geschlossen, in Bezug auf Umwelt offen. Systeme müssen strukturell geschlossen sein, um sich öffnen zu können. Die Differenz geschlossenes/offenes System nimmt Bezug auf die operative Geschlossenheit, d.h. die gegenwärtigen Operationen eines Systems bauen auf frühere Operationen auf und sind zugleich Grundlage für zukünftige Operationen.

Mitglieder des sozialen Systems sind als Personen Teil der Umwelt. Die Umwelt eines Systems kann als Einheit einer äußeren Umwelt und einer inneren Umwelt verstanden werden. Die innere Umwelt eines Unternehmens sind seine verschiedenen Teilsysteme (Abteilungen, Teams etc.). Zur Innenwelt zählen Organisationsmitglieder, die als psychische Systeme nicht Teil des Systems sind. Aus Sicht der Teilsysteme ist das Gesamtsystem Umwelt. Für jedes System ist Umwelt spezifisch definiert.

Page 22: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

21

Nach Allport besteht Partialinklusion, d.h. der Mensch ist Element in der Systemkonzeption, kann aber nicht nur in einem sozialen System Mitglied sein, sondern er gehört immer mehr als einem sozialen System an. Der Mensch ist unter dem Gesichtpunkt sozialer Interaktion ein geschlossenes System, denn er hat keinen unmittelbaren Zugang zu den Gefühlen und Gedanken anderer Menschen. Das was er von den Gedanken anderer erfährt ist eine subjektive Deutung. Nicht der Mensch, sondern kommunikative Beziehungen sind für Luhmann konstitutive Elemente sozialer Systeme: „Sobald überhaupt Kommunikation unter Menschen stattfindet entstehen soziale Systeme.“ Die autopoietische Selbstreproduktion und die Selbstbeobachtung eines sozialen Systems findet nur durch die Kommunikation statt. Auf andere Weise kann die Beobachtung der Beobachtung nicht ausgedrückt werden. Semantische Artefakte in der Kommunikationssprache sind deshalb ein zentrales Medium der Beobachtung. Semantische Codes erlauben die Bezeichnung einer systemspezifischen elementaren Operation und die Differenzierung zwischen allgemeinen (gesellschaftlichen) Kommunikationen und systemischen Operationen. Kommunikation bildet eine eigenständige, emergente Ordnungsebene und ist ein Prozess, durch den sich soziale Systeme von psychischen (individuell-menschlichen) Systemen unterscheiden. Selbstbeobachtungen des Systems, die nicht kommuniziert werden, haben für das soziale System keine Bedeutung. Kommunikation besteht aus Sicht Luhmanns aus Information, Mitteilung und Verstehen. Information ist Neues im Sinne einer von außen kommenden Nachricht, Mitteilung erfolgt über die zur Verfügung stehenden Kanäle und Verstehen ist die Einfügung des Mitgeteilten in den Sinn-Rahmen. Verstehen in der Kommunikation liegt nach Luhmann in der Fortsetzung kommunikativen Handelns begründet, denn der Kommunikationspartner kann nur dann beurteilen, ob sein Kommunikationspartner ihn verstanden hat, wenn es zu weiterer Kommunikation kommt. Verstehen ist demnach eine selbstreferenzielle Entscheidung, die jeder Kommunikationspartner für sich alleine treffen muss. Kommunikation besteht aus der Synthese von Selektionen in den Bereichen Information, Mitteilung und Verstehen. Der Fortgang der Kommunikation, d.h. das Anschlussverhalten im Kommunikationsprozess ist für das Verstehen grundlegend.

Soziale Systeme produzieren fortlaufend Kommunikation aus Kommunikation, der sich Kommunikation anschließt. Werden Technologienetzwerke als autopoietische selbstreferenzielle geschlossene Soziosysteme höherer Ordnung begriffen, wird deutlich, wie die gegenwärtige Kommunikation in Unternehmen Bezug auf die vorausgegangenen Kommunikationen im Unternehmen nimmt. Über externe Umweltereignisse bezieht das System Informationen, die zu eigenen Operationen anregen, diese aber nicht determinieren. Welchen Sinn ein Unternehmen daraus zieht, hängt von der Kommunikation des Unternehmens ab, in der sich Entscheidungen ausdrücken. Selbstbeobachtung ist eine zentrale Voraussetzung für die Neuerungsfähigkeit einer Organisation. Organisationales Lernen ist Ausdruck der Selbstreflexion. Die Selbstreferenz garantiert den Fortbestand sozialer Systeme. Die Zirkularität von sozialen Systemen erfolgt durch Kommunikation, die Ausdruck der Komplexitätsbewältigung ist, welche wiederum den Substanzerhalt von Systemen ermöglicht. An dieser Stelle wird gezeigt, wie die Vielschichtigkeit von Komplexität im System aussieht und wie damit umgegangen wird. Die folgenden Darlegungen zu Komplexitätsbeschaffenheit und Komplexitätsbewältigung sind grundlegend für das Verständnis der sozialen Systeme „Unternehmen“ und des „ökonomisch/ökologischen Umfeldsystems im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeits-Debatte.“26

26 Krcal (2003), S. 6-11

Page 23: University of Heidelberg Department of Economicsabnehmende Entropie „mitlaufende Selbstreferenz“ „Personen“ Teil der Umwelt; Partialinklusion Z16 „Psychische Systeme“ zirkuläre

Ein hermeneutischer Konstruktionsentwurf sozialer Systeme.doc

22

Literaturverzeichnis

Aristoteles (1977), Hauptwerke, übers. u. eingel. von Wilhelm Nestle, 8.A., Stuttgart

Ashby, W.R. (1970), An Introduction to cybernetics, 5ed., London

Gadamer, Hans-Georg (1991), Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 3.A., Frankfurt

Krcal, H.-C. (2003), Systemtheoretischer Metaansatz für den Umgang mit Komplexität und Nachhaltigkeit, in: Leisten, R., Krcal, H.-C. (Hrsg.), Nachhaltige Unternehmensführung, Systemperspektiven, Wiesbaden, S. 3-30

Willke, Helmut (2006), Systemtheorie I: Grundlagen, 7.A., Stuttgart 2006.