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Psychotherapeut Originalien Psychotherapeut 2020 · 65:197–204 https://doi.org/10.1007/s00278-020-00411-3 Online publiziert: 25. März 2020 © Der/die Autor(en) 2020 Loni Brants 1 · Katrin Schuy 1 · Simone Dors 1 · Marie Horzetzky 1 · Heinrich Rau 2 · Peter L. Zimmermann 2 · Andreas Ströhle 1 · Stefan Siegel 1 1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charite – Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité Mitte, Berlin, Deutschland 2 Psychotraumazentrum, Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Berlin, Deutschland Integrativer Modellentwurf zu Coping und Abwehr ehemaliger BundeswehrsoldatInnen Abgesehen von teils traumatisie- renden Erlebnissen im Ausland und Diskriminierungserfahrungen in Deutschland sind (ehemalige) Bun- deswehrsoldatInnen mit diversen Herausforderungen konfrontiert, die ein hohes Maß an Anpassungsfähig- keit erfordern. Hierbei kommen die Prozesse des Coping und der Abwehr zum Tragen, die lange Zeit in Theo- rie und Wissenschaft strikt getrennt wurden. Ein schulenübergreifendes Instrument zur Identifikation und Darstellung bewusster und unbe- wusster Bewältigungsmechanismen, das Abwehr und Coping integriert, existierte bislang nicht. Ein erster Entwurf hierzu wurde im Rahmen der vorliegenden Studie erarbeitet. Hintergrund Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zu 85,5 % mit dem Erleben von belasten- den, teils traumatisierenden Ereignissen und einer erhöhten Prävalenz für psychi- sche Erkrankungen bei einer insgesamt geringen erapieinanspruchnahme ver- bunden (Wittchen et al. 2012). Im Ge- gensatz zum breiten Kenntnisstand über die psychische Gesundheit beispielsweise US-amerikanischer SoldatInnen ist über den Umgang mit belastenden Ereignissen und psychischer Krankheit aktiver deut- scher BundeswehrsoldatInnen kaum et- was bekannt (Kowalski et al. 2012). Dies gilt für die Bewältigungsmechanismen ehemaliger BundeswehrsoldatInnen, die inzwischen aus dem militärischen System ausgeschieden sind, umso mehr (Siegel et al. 2017). Neben teils traumatischen Er- lebnissen im Ausland und Diskriminie- rungserfahrungen in Deutschland sehen sich (ehemalige) Bundeswehrsoldaten im Allgemeinen mit einer Vielzahl von Her- ausforderungen konfrontiert, die ein ex- trem hohes Maß an Anpassungsfähigkeit erfordern. Hierzu zählen die Eingliede- rung in das Militärsystem, Kriegserfah- rungen im Ausland, dieWiedereingliede- rung in den militärischen Berufsalltag und das Familienleben nach der Rück- kehr aus dem Auslandseinsatz, das end- gültige Verlassen des Militärs, die Wie- dereingliederung in das zivile Leben und ggf. der Umgang mit Symptomen einer Traumafolgestörung (Schuy et al. 2019; Brants et al. 2018). Wissenschaſtliche Un- tersuchungen mit dem Fokus auf Mög- lichkeiten der bewussten und unbewuss- ten Bewältigung in dieser Gruppe exis- tierten gemäß dem Wissen der Autoren des vorliegenden Beitrag bislang nicht. Coping und Abwehr als Bewältigungsformen Beutel (1990, S. 1–12) definiert Coping- Mechanismen als „vorwiegend bewuss- te, nicht automatisierte, sowohl kognitiv- erlebnisorientierte als auch behaviora- le Prozesse in bestehenden oder erwar- teten Belastungssituationen“. Spätestens seit dem von Lazarus et al. entwickel- ten transaktionalen Stressmodell (Laza- rus und Launier 1981; Lazarus und Folk- man 1984) wurden Coping-Mechanis- men zum Gegenstand intensiver psycho- logischer Forschung (Übersicht: Schwar- zer 1998). Die in der Folge entwickelten Kategoriensysteme und Messinstrumen- te, wie der bis heute genutzte Coping Ori- entation to Problems Experienced Scale (COPE; Kato 2015; Carver et al. 1989), machten es möglich, Coping-Mechanis- men durch Selbstauskunſt zu erfahren und Coping-Konzepte zu entwickeln. Die Rolle individueller Persönlichkeitseigen- schaſten und (biografischer) Motive wur- de dabei jedoch oſt vernachlässigt (Stef- fens und Kächele 1988). Lazarus (2000) selbst räumte ein, dass unbewusste In- tentionen auf diese Weise kaum abge- bildet würden. Obwohl die Forschungs- ergebnisse der letzten Jahre den hohen Anteil unbewusster, intuitiv verlaufen- der Prozesse insbesondere bei komple- xen, schnell zu treffenden Entscheidun- gen untermauern (Horr et al. 2014; Gige- renzer und Kober 2009), hat sich daran bisher wenig geändert. Abwehrmechanismen können „als unbewusste, vorwiegend kognitiv-erfah- rungsbezogene Prozesse, die eine Einen- gung oder Verzerrung von intersubjek- tiver Realität, Selbstwahrnehmung oder beidem implizieren“, definiert werden (Beutel 1990, S. 1–12). Psychoanalytiker verschiedener Strömungen interpretie- ren Abwehr auf unterschiedliche Weise, wobei jede Definition das Risiko ei- ner zu großen Vereinfachung mit sich bringt. In ihrem 600-seitigen Buch über den aktuellen Stand von eorie und Forschung zu Abwehrmechanismen, be- tonen Hentschel et al. (2004) zu Recht die Komplexität des emas. Nach der Psychotherapeut 3 · 2020 197

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Page 1: 2 IntegrativerModellentwurfzu CopingundAbwehrehemaliger ......Rang,Organisationsbereich,Einsatzland und -dauer, psychische Symptombelas-tung, Psychotherapieerfahrung, Wehr-dienstbeschädigungsantrag)

PsychotherapeutOriginalien

Psychotherapeut 2020 · 65:197–204https://doi.org/10.1007/s00278-020-00411-3Online publiziert: 25. März 2020© Der/die Autor(en) 2020

Loni Brants1 · Katrin Schuy1 · Simone Dors1 · Marie Horzetzky1 · Heinrich Rau2 ·Peter L. Zimmermann2 · Andreas Ströhle1 · Stefan Siegel11 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charite – Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité Mitte,Berlin, Deutschland

2 Psychotraumazentrum, Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Berlin, Deutschland

Integrativer Modellentwurf zuCoping und Abwehr ehemaligerBundeswehrsoldatInnen

Abgesehen von teils traumatisie-renden Erlebnissen im Ausland undDiskriminierungserfahrungen inDeutschland sind (ehemalige) Bun-deswehrsoldatInnen mit diversenHerausforderungen konfrontiert, dieein hohes Maß an Anpassungsfähig-keit erfordern. Hierbei kommen dieProzesse des Coping und der Abwehrzum Tragen, die lange Zeit in Theo-rie und Wissenschaft strikt getrenntwurden. Ein schulenübergreifendesInstrument zur Identifikation undDarstellung bewusster und unbe-wusster Bewältigungsmechanismen,das Abwehr und Coping integriert,existierte bislang nicht. Ein ersterEntwurf hierzu wurde im Rahmender vorliegenden Studie erarbeitet.

Hintergrund

Auslandseinsätze der Bundeswehr sindzu 85,5%mit dem Erleben von belasten-den, teils traumatisierenden Ereignissenund einer erhöhten Prävalenz für psychi-sche Erkrankungen bei einer insgesamtgeringenTherapieinanspruchnahmever-bunden (Wittchen et al. 2012). Im Ge-gensatz zum breiten Kenntnisstand überdiepsychischeGesundheitbeispielsweiseUS-amerikanischer SoldatInnen ist überdenUmgangmitbelastendenEreignissenund psychischer Krankheit aktiver deut-scher BundeswehrsoldatInnen kaum et-was bekannt (Kowalski et al. 2012). Diesgilt für die Bewältigungsmechanismenehemaliger BundeswehrsoldatInnen, dieinzwischenausdemmilitärischenSystem

ausgeschieden sind, umso mehr (Siegeletal.2017).Nebenteils traumatischenEr-lebnissen im Ausland und Diskriminie-rungserfahrungen in Deutschland sehensich (ehemalige)Bundeswehrsoldaten imAllgemeinenmit einer Vielzahl vonHer-ausforderungen konfrontiert, die ein ex-tremhohesMaß anAnpassungsfähigkeiterfordern. Hierzu zählen die Eingliede-rung in das Militärsystem, Kriegserfah-rungen imAusland, dieWiedereingliede-rung in den militärischen Berufsalltagund das Familienleben nach der Rück-kehr aus dem Auslandseinsatz, das end-gültige Verlassen des Militärs, die Wie-dereingliederung in das zivile Leben undggf. der Umgang mit Symptomen einerTraumafolgestörung (Schuy et al. 2019;Brants et al. 2018).WissenschaftlicheUn-tersuchungen mit dem Fokus auf Mög-lichkeiten der bewussten und unbewuss-ten Bewältigung in dieser Gruppe exis-tierten gemäß dem Wissen der Autorendes vorliegenden Beitrag bislang nicht.

Coping und Abwehr alsBewältigungsformen

Beutel (1990, S. 1–12) definiert Coping-Mechanismen als „vorwiegend bewuss-te, nicht automatisierte, sowohl kognitiv-erlebnisorientierte als auch behaviora-le Prozesse in bestehenden oder erwar-teten Belastungssituationen“. Spätestensseit dem von Lazarus et al. entwickel-ten transaktionalen Stressmodell (Laza-rus und Launier 1981; Lazarus und Folk-man 1984) wurden Coping-Mechanis-men zumGegenstand intensiver psycho-

logischer Forschung (Übersicht: Schwar-zer 1998). Die in der Folge entwickeltenKategoriensysteme undMessinstrumen-te, wie der bis heute genutzteCopingOri-entation to Problems Experienced Scale(COPE; Kato 2015; Carver et al. 1989),machten es möglich, Coping-Mechanis-men durch Selbstauskunft zu erfahrenundCoping-Konzeptezuentwickeln.DieRolle individueller Persönlichkeitseigen-schaftenund (biografischer)Motivewur-de dabei jedoch oft vernachlässigt (Stef-fens und Kächele 1988). Lazarus (2000)selbst räumte ein, dass unbewusste In-tentionen auf diese Weise kaum abge-bildet würden. Obwohl die Forschungs-ergebnisse der letzten Jahre den hohenAnteil unbewusster, intuitiv verlaufen-der Prozesse insbesondere bei komple-xen, schnell zu treffenden Entscheidun-gen untermauern (Horr et al. 2014; Gige-renzer und Kober 2009), hat sich daranbisher wenig geändert.

Abwehrmechanismen können „alsunbewusste, vorwiegend kognitiv-erfah-rungsbezogene Prozesse, die eine Einen-gung oder Verzerrung von intersubjek-tiver Realität, Selbstwahrnehmung oderbeidem implizieren“, definiert werden(Beutel 1990, S. 1–12). Psychoanalytikerverschiedener Strömungen interpretie-ren Abwehr auf unterschiedliche Weise,wobei jede Definition das Risiko ei-ner zu großen Vereinfachung mit sichbringt. In ihrem 600-seitigen Buch überden aktuellen Stand von Theorie undForschung zu Abwehrmechanismen, be-tonen Hentschel et al. (2004) zu Rechtdie Komplexität des Themas. Nach der

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Originalien

Theorieentwicklung von Sigmund Freudund derenWeiterentwicklung durch sei-ne Tochter Anna Freud (2006 [1936])wurde das Konzept der Abwehr durchdie verschiedenen Strömungen inner-halb der psychoanalytischen Lehre umintrapsychische und interpersonale Per-spektiven ergänzt. Hierbei wurde dieBeschaffenheit der individuellen psychi-schen Struktur und ihrer entsprechen-den Mechanismen u. a. im Rahmen derpsychodynamischen Diagnostik hervor-gehoben (Cierpka 2014). Im Laufe derletzten Jahrzehnte hat es durch Auto-ren wie Vaillant (1971, 1992), Laughlin(1979) und König (1997) immer wie-der Taxonomiebestrebungen gegeben,wobei sich Zahl und Einteilung derMechanismen je nach Autor deutlichunterschieden (Seiffge-Krenke 2017).Relative Einigung scheint in der psycho-analytischen Lehre darüber zu bestehen,dass Abwehr- und auch Coping-Me-chanismen klare Ich-Funktionen habenbzw. sind, wobei die Abwehr zur in-trapsychischen Regulation, das Copingeher zu realer Anpassung und Problem-lösung eingesetzt werden (Steffens undKächele 1988). In anderen Worten: Erstdie entsprechende (unbewusste) Abwehrermöglicht ein erfolgreiches (bewusstes)Coping (Cierpka 2014).

Zahlreiche namenhafte Autoren ha-ben sich in den letzten Jahrzehntenwiederholt kritisch zu einer explizitenTrennung von Coping/Bewältigung undAbwehr geäußert (Cierpka 2014; Stef-fens und Kächele 1988; Beutel 1990). Soschreiben Steffens und Kächele bereits1988: „Wir halten es . . . für sinnvoll,eine strikte Trennung von Bewältigungund Abwehr aufzugeben. Beide Vor-gänge ergänzen sich, schließen sichkeineswegs alternativ aus.“ Trotzdemkam es in der Vergangenheit wieder-holt zu „Verleugnungsbemühungen derVerwandtschaftsbeziehungen“ von Co-ping- und Abwehrkonzepten (Cierpka2014; Steffens und Kächele 1988; Beutel1990). Auch jetzt deuten der Einsatzvon Coping-Selbst-Rating-Inventarenin der klinisch-psychiatrischen Praxisund Wissenschaft auf der einen bzw. dieFokussierung auf unbewusste Konflikteund Abwehrmechanismen psychoanaly-tischerTherapeuten undWissenschaftler

auf der anderen Seite auf ein bis zumheutigen Tag noch sehr einseitiges Vor-gehehen hin. Ein praxisnahes, schulen-übergreifendes und integratives Modellzur Identifikation und Darstellung vonCoping- und Abwehrmechanismen beiTraumafolgestörungen existiert gemäßWissen der Autoren bislang nicht. Dieskann verwundern, da Mechanismen zurBewältigung aversiver Situationen (z.B.Sport oder Rauschmittelkonsum) und/oder unbewusste Abwehrmechanismen(z.B. Rationalisieren oder Spalten) in derDiagnostik, Therapieplanung und Pro-gnoseeinschätzung von Psychotherapeu-ten verschiedener Schulen eine wichtigeRolle spielen. Dies gilt in besonderemMaß für Patienten mit Traumafolge-störungen, in deren Behandlung Ich-stützende, affektregulierende Maßnah-men von großer praktischer Bedeutungsind.

Ziel der Arbeit

Ziel der dargestellten Untersuchung wares, durch persönliche, offene Interviewseinen Einblick in die Abwehr- und Co-ping-Mechanismen ehemaliger Bundes-wehrsoldatInnen mit Einsatzerfahrungunter besonderer Berücksichtigung ih-rer militärischen Laufbahn zu erhalten.Somit war es möglich, anhand einerGruppe vonMenschen, die aufgrund ih-rer beruflichen Laufbahn sowie schwerzu verarbeitenderErfahrungen einhohesMaß an Anpassungsleistungen erbrin-gen mussten, den ersten Entwurf für einschulenübergreifendes Instrument zurIdentifikationundDarstellungbewussterund unbewusster Bewältigungsmecha-nismen zu entwickeln.

Material undMethode

Rekrutierung und „sampling“

Die Rekrutierung erfolgte über eineprojekteigene Webseite und das Bun-deswehrkrankenhaus Berlin. Mit 98 po-tenziellen Teilnehmern wurden (fern-)mündlicheKurzinterviewszurErfragungder soziodemografischen Daten geführt,43 wurden in der Folge nacheinanderzu offenen Interviews eingeladen. Eswurden ehemalige Einsatzsoldaten der

Bundeswehr mit und ohne Symptomatiksowie mit und ohne Inanspruchnahmepsychosozialer Leistungen ausgewählt,um im Sinne des „theoretical sampling“eine kontrastierende Auswahl (Corbinund Strauss 2008) und möglichst hoheVariabilität zu erreichen (. Tab. 1). JedesInterview wurde zeitnah im Rahmen ei-ner teaminternen Forschungsintervisionhinsichtlich Ablauf, Inhalt und Gegen-übertragungnachbesprochen,mitvoran-gehenden Interviews verglichen und dasweitere Sampling festgelegt. Nach insge-samt 43 Interviews war eine theoretischeSättigung erreicht. Bezugnehmend aufdie dargestellte Fragestellung wurden 16Interviews der detaillierten Textanalyseunterzogen. Diese waren anhand kon-trastierenderMerkmale (Herkunft,Alter,Geschlecht, Beziehungsstatus,Kinderan-zahl, Ausbildungsstand, militärischerRang, Organisationsbereich, Einsatzlandund -dauer, psychische Symptombelas-tung, Psychotherapieerfahrung, Wehr-dienstbeschädigungsantrag) ausgewähltworden. Die daraus erarbeiteten Kon-zepte zur Qualitätssicherung wurdenmit den verbleibenden 27 Interviewsabgeglichen.

Datenerhebung und -analyse

Die Datenerhebung erfolgte in offenen,persönlichen Interviews. Die Interviewswurdenmit einer Frage nach dem beruf-lich-militärischen und privaten Werde-gang begonnen; der weitere Gesprächs-verlauf ergab sich aus den Schilderun-gen des Befragten bzw. Nachfragen desInterviewers. Bewusste Coping-Mecha-nismen (z.B.Alkoholkonsum, Sport etc.)wurden im Gesprächsverlauf teils unauf-gefordert berichtet, teils zu einem späte-ren Zeitpunkt direkt erfragt. UnbewussteCoping- undAbwehrmechanismenwur-den aus den sehr detailliert beschriebe-nen Situations- und HandlungsabläufenderTeilnehmerabgeleitet (z.B.Rationali-sierung, Verleugnung etc.) oderwährenddes Interviews festgestellt (z.B. Affekti-solation, Dissoziation, Entwertung etc.).

Die Interviews wurden im MP3-For-mat aufgezeichnet und verschriftlicht.Für diese Verschriftlichung wurde eineinfaches Transkriptionssystem gewählt(buchstäbliche Übertragung unter Weg-

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lassung von dialektalen Eigenheiten,Funktionswörtern und Verständnissi-gnalen sowie unter Sprach- und Inter-punktionsglättung (Dresing und Pehl2015)).

Der methodische Auswertungspro-zess in Anlehnung an das Prinzip derGroundedTheory und der thematischenAnalyse beinhaltet die iterative Generie-rung von Hypothesen und Entwicklungneuer Modelle. Entsprechend Chapmanet al. (2015) wurde sich dem Materialiterativ über induktive Erarbeitung, De-duktionundValidierungangenähert, umeine im Material verankerte und darauserwachsene Theorie zu entwickeln. DieDatenerhebungs- und Analyseprozessewurden weitergeführt, bis eine „Sätti-gung“ eintrat, d.h., sich keine neuenErkenntnisse aus der Datenerhebungund Analyse mehr ergaben. Diese Her-angehensweise entsprach den von Guestet al. (2012) genannten Schritten:1. Kennenlernen des Materials,2. Identifizierung von Themenberei-

chen,3. Identifizierung von Strukturen und4. Aufbau eines theoretischen Modells,

basierend auf den gewonnenenErkenntnissen.

Der erste Schritt bestand aus dem Ken-nenlernen des Materials durch das wie-derholteHören der Interviews, Lesen derTranskripte sowie Erstellen von Notizenund Querverweisen. Erste Codes wur-den vergeben, um die Bedeutung vonAbschnitten und Beobachtungen festzu-halten oder zusammenfassen. Im zwei-ten Schritt erfolgte die Identifizierungvon Themenbereichen, indem einanderähnelnde oder miteinander verbundeneCodes kombiniert, kontrastiert und zu-sammengefügt werden.Der dritte Schrittenthielt die Überprüfung und Analyseder gefundenen Bereiche zur Identifi-zierung von dahinter liegenden themati-schen StrukturenundReduktionüberge-ordneter Themenbereiche anhand neuerRohdaten aus dem laufenden Prozess derDatenerhebung und -analyse. Der vierteund letzte Schritt bestand im Aufbau ei-nes theoretischenModells, basierend aufden im Material gefundenen Mechanis-men unter ständiger Gegenprüfung mitneuem Material sowie nun auch unter

Zusammenfassung · Abstract

Psychotherapeut 2020 · 65:197–204 https://doi.org/10.1007/s00278-020-00411-3© Der/die Autor(en) 2020

L. Brants · K. Schuy · S. Dors · M. Horzetzky · H. Rau · P. L. Zimmermann · A. Ströhle · S. Siegel

Integrativer Modellentwurf zu Coping und Abwehr ehemaligerBundeswehrsoldatInnen

ZusammenfassungVerglichen mit dem profunden Wissen überdie Erfahrungen und Bedürfnisse US-ame-rikanischer Soldaten, ist der Kenntnisstandüber die psychische Gesundheit und dieBewältigungsmechanismenaktiver deutscherBundeswehrsoldatInnen eher gering. Überehemalige EinsatzsoldatInnen, die inzwischenaus demmilitärischen System ausgeschiedenund Teil der deutschen Zivilgesellschaftgeworden sind, ist noch viel weniger bekannt.Ziel der Pilotstudie war die Identifikation undDarstellung von Coping- und Abwehrmecha-nismen ehemaliger BundeswehrsoldatInnenmithilfe einer methodisch-strukturierten,qualitativen Datenerhebung. Zu diesemZweck wurden 43 Interviewsmit ehemaligenEinsatzsoldatInnen geführt, transkribiert undder thematischen Analyse unterzogen. Die

identifizierten Coping- und Abwehrmecha-nismen wurden den Bereichen Verhalten,Beziehung, Emotion, Reflexion und Zeitzugewiesen und modellhaft in Achsenformveranschaulicht. Durch die bewussteSynthese von kognitiv-behavioralen undpsychoanalytischen Perspektiven konnteein differenziertes Bild erstellt sowie eineigenständiges, schulenübergreifendes,integratives Achsenmodell zur Darstellung derbewussten und unbewussten Bewältigungbelastender Erfahrungen entwickeltwerden.

SchlüsselwörterQualitative Forschung · PsychischeGesundheit · Verhalten · Emotionen ·Veteranen

Draft of an integrativemodel on coping and defence of formersoldiers in the German Armed Forces

AbstractCompared to the profound knowledge aboutthe experiences and needs of Americansoldiers, in Germany the level of knowledgeon mental health and coping mechanismsof active soldiers in the German ArmedForces (GAF) is relatively limited. Even lessis known about former soldiers who areno longer on active duty and who, in themajority of cases, have become part ofthe German public healthcare system afterdischarge from the military. The aim ofthe pilot study was the identification andpresentation of the coping and defencemechanisms of former GAF soldiers by usingmethodically structured, qualitative datacollection. For this purpose, 43 interviewswith former soldiers were conducted,

transcribed and thematically analyzed. Thecoping and defence mechanisms identifiedwere assigned to the areas of behavior,relationship, emotion, contemplation andtime and visualized as an axis model. Byconsciously synthesizing cognitive-behavioraland psychoanalytical perspectives, it waspossible to create a differentiated picture anddevelop an independent, integrativemodelacross psychotherapeutic school boundariesto illustrate the conscious and unconsciouscoping with traumatic experiences.

KeywordsQualitative research · Mental health ·Behavior · Veterans · Interpersonal relations

Einbezug aktueller Literatur und beste-hender Modelle.

Ergebnisse

Insgesamt zeigte sich eine sehr großeZahl und Bandbreite an beschriebenen,benannten und beobachteten Abwehr-undCoping-Mechanismeninnerhalbderbefragten Gruppe und auch innerhalbder einzelnen Interviews. So konnten im

ersten Schritt der thematischen Analyse(nach Guest et al. 2012; Chapman et al.2015) 1960 Textabschnitte extrahiertwerden, die Formen der bewussten undunbewussten Konfliktbewältigung ent-hielten und sich wiederum zu 89 Codeszusammenfassen ließen. Diese 89 Codeskonnten im zweiten Analyseschritt ent-sprechend ihrem Inhalt, Motiv und ihrerFunktion 15 übergeordneten Coping-und Abwehr-Bereichen zugeteilt wer-

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Originalien

Tab. 1 Merkmale der Stichprobe (n=43)zur VeteranInnenbefragung

Einbezogene Interviews(Anzahl, n)

43

Davon weiblich 4

Davon männlich 39

Alter (Jahre)

Altersspanne 29–69

Altersdurchschnitt 40,4

Standardabweichung ±12,3

Erwerbsstatus (Anzahl, n)

Erwerbstätig 25

Arbeitssuchend 4

Sonstiges (z. B. krank, Student) 14

Dienstgrad (Anzahl, n)

Mannschaft 6

Unteroffizier 30

Leutnant 3

Hauptmann 3

Stabsoffizier 1

Organisationseinheit (Anzahl, n)

Heer 23

Marine 6

Luftwaffe 2

Streitkräftebasis (SKB) 5

Zentraler Sanitätsdienst(ZSanDst)

5

Wehrverwaltung 2

Teilnahme an Auslandsein-sätzen (Einsatztage)

90–2190

90–300 27

301–600 8

Mehr als 600 8

Gesundheitsstatus (Anzahl, n)

Diagnose einer psychischenErkrankunga

24

Wehrdienstbeschädigunga 19

Symptome einer psychischenErkrankung ohne Diagnosea

9

Ohne Symptome einer psychi-schen Erkrankunga

10

aNach Angaben der TeilnehmerInnen

den. Im Rahmen des dritten Schritts,derÜberprüfungundAnalyse der gefun-denen Bereiche zur Identifizierung vondahinter liegenden thematischen Struk-turen, konnten die bestehenden 15 Be-reiche auf die fünf übergeordneten The-menbereiche „Verhalten“, „Beziehung“,„Emotion“, „Reflexion“ und „Zeit“ redu-ziert werden. Im vierten Schritt wurdenbereits bekannte theoretische Grundan-

nahmen mit den neu gefundenen Datenund Strukturen abgeglichen und in einModell integriert. Dabei wurden die 5gefundenen Bereiche entsprechend ihrerAusprägung von Minus (–) nach Plus(+) grafisch in einem Achsenmodelldargestellt. Die Achsen illustrieren diewertneutralen, sich gegenüberliegendenPole eines Kontinuums.

Der Großteil der Befragten zeig-te im Rahmen belastender Situatio-nen Coping- und Abwehrmechanismenmehrerer Achsen und innerhalb diesermitunterauchzubeidenPolentendieren-de Ausprägungen sowie dominierende,sich wiederholende Kernmechanismeneines bestimmten Achsenpols. In dergrafischen Darstellung finden sich anbeiden Seiten des Kontinuums erklären-de Poldefinitionen und jeweils darunterausgewählte Beispielzitate aus dem In-terviewmaterial (. Abb. 1).

Insgesamt wurde bei allen Befragteneine Häufung bewusster Coping-Mecha-nismen im hohen Aktivitätsbereich so-wie eine große, teils mehr teils wenigerbewusste Notwendigkeit, in der sozialenGruppe zu bestehen und sich mit die-ser verbunden zu fühlen, deutlich. Dergroße Wunsch nach Nähe und Verbun-denheit führte mitunter zumZurückstel-lenund zumVerdrängen eigenerBedürf-nisse oder seltener in stark abgewehrterForm zum totalen Rückzug, dem Ent-werten oder Vermeiden von intimen Si-tuationen und den damit verbundenenGefühlen. Emotionale Reflexion im Sin-ne von Wahrnehmung, Einordnung undMitteilung von Gefühlen zeigte sich ins-gesamt weniger deutlich, bzw. kam eswiederholt zuSituationen, indenenemo-tionales Erleben (auch innerhalb der In-terviews) verdrängt, rationalisiert, baga-tellisiert oder geleugnet wurde. Dies trafjedoch nicht auf die Gruppe der Befrag-ten mit Psychotherapieerfahrung zu, dieihre emotionalenErfahrungenmeist ent-sprechend offen verbalisierte.

Diskussion

Einordnung der Ergebnisse

Bei der Darstellung der Ergebnisse inAchsenform handelt es sich um das ers-te, aus dem Material gewonnene Modell

zur Veranschaulichung eines integrati-ven, Psychotherapieschulen und -strö-mungen verbindenden Denkansatzes.Im Rahmen diagnostischer Gesprächesoll so ohne den Einsatz weiterer Fra-gebogen und unabhängig von der psy-chotherapeutischen Prägung eine ersteEinschätzung der bewussten und unbe-wussten Bewältigungsmöglichkeiten desGegenübers getroffen werden können.In Teilbereichen lehnt sich das gewähl-te Achsenmodell an bereits bestehendeCoping-, Abwehr- und Strukturmodellean, wie beispielsweise die Strukturbe-stimmung innerhalb der operationali-sierten psychodynamischen Diagnostik(OPD), oder aktuelle Coping-Inventare,wie den COPE, auf den im nächstenAbsatz eingegangen wird. Eine nach-träglicheAnpassung an dieseKonstrukteerschien nicht zielführend, insbesondereweil sich die meisten Coping-Inventareausschließlich mit bewussten Vorgän-gen beschäftigen, die psychodynamischeDiagnostik hingegen nur selten eineexplizite Erhebung bewusster Coping-Mechanismen/-Stile vorsieht. Daherwurde sich für den Versuch der Inte-gration verschiedener psychologischerPerspektiven entschieden. Entsprechendden Prinzipien qualitativer Forschungrückten das subjektive Erleben des In-dividuums und die von ihm genanntenund gezeigten Mechanismen unter Ein-bezug seiner individuellenMotive in denVordergrund.

Überschneidungen des Achsenmo-dells wurden, wie bereits erwähnt, mitden Skalen des von Carveret al. (1989)entwickeltenCOPEgefunden.DasMess-instrument ist ein theoriebasiertes Self-Rating-Inventar und umfasst die Ka-tegorien „positive reinterpretation andgrowth“, „mental disengagement“, „fo-cus on and venting of emotions“, „useof instrumental social support“, „ac-tive coping“, „denial“, „religious coping“,„humor“, „behavioral disengagement“,„restraint“, „use of emotional socialsupport“, „substance use“, „acceptance“,„suppression of competing activities“und „planning“. Bis auf den Bereich„turning to religion“ fanden sich alleKategorien, teils wörtlich, teils in ab-gewandelter Form, auch innerhalb derhier entwickelten Codes und Bereiche

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Abb. 18 Achsenmodell

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Originalien

wieder, was als Hinweis sowohl auf dieQualität des Sampling der vorliegendenStudie als auch der Analyse zu sehenist. Da einerseits Religion und Kirche inden USA eine andere Rolle spielen alsin weiten Teilen Deutschlands, und dieAbkehr von Religion und Glaube ande-rerseits Folge schwerer Traumatisierungsein kann (Herman 2018), erscheint das„Fehlen“ dieser Kategorie innerhalb derhier untersuchten Gruppe plausibel.

Das entwickelte Modell deckt somiteinen Großteil bestehender Coping-Ka-tegorien und auch eine Vielzahl bekann-terAbwehrmechanismenab,verdeutlichtaber zusätzlich den Beziehungsaspektund ermöglicht die Identifizierung desin diesem Zusammenhang neuen Be-reichs der unbewussten, (inhaltlichenund/oder affektiven) zeitlichen Gebun-denheit. Abschließend lässt sich sagen,dass nur durch die gewählte Art derInterviewführung, das Einbeziehen derSituation und des Gesprächszusammen-hangs sowie den schul- und theorieoffe-nen Ansatz eine genaue Differenzierungzwischen emotionalem und reflexivemUmgang, das Erkennender individuellenMotive, Abstufungen undAusprägungenvon beziehungs- und emotionenzulas-sendem bzw. -abwehrendem Verhaltensowie die Identifikation des zeitlichenFokus möglich wurden.

Als eindieTherapieinanspruchnahmeerschwerender Faktor ist die im Mili-tär, insbesondere im Auslandseinsatz,möglicherweise besonders notwendigeFähigkeit, emotionale Verwundungenund die eigene Vulnerabilität zu ver-drängen, teilweise auch zu leugnen,zu sehen. Die (totale) Kontrolle vonAffekten könnte als notwendiger Teilder soldatischen Identität erlebt wer-den und einer das emotionale Erlebenfördernden Psychotherapie im Weg ste-hen (Schuy et al. 2019). Inwiefern dasVermeiden emotionaler Situationen, dieverminderte Wahrnehmung von Gefüh-len und/oder eine verminderte Fähigkeitzur Emotionsregulation auch Teil einerTraumafolgesymptomatik waren, lässtsich innerhalb dieser Befragung nichtklären. Viele der befragten VeteranIn-nen berichteten eher von Mechanismenwie der Ausübung von Einzelsportarten,dem Konsum von Alkohol oder dem

Aggressionsabbau in Computerspielenstatt von Handlungen, die über Bindung,Nähe und emotionale Verbundenheit zusozialer Einbindung führen würden.Diese ist bekanntermaßen ein starkerprotektiver Faktor in der Entwicklungvon Traumafolgestörungen. Eben diese,meist unbewussten, Emotionen (undsomit auch Nähe) abwehrenden Mecha-nismen stellen eine großeBarriere bei derTherapiesuche bzw. dem Einlassen aufeine psychotherapeutische Beziehungdar und können die soziale Isolationund Einsamkeit verstärken.

Stärken und Limitationender Studie

Es handelt sich bei der Untersuchungum eine Pilotstudie zur Identifizierungsowie zur modellhaften Veranschauli-chung von bewussten und unbewusstenBewältigungsmechanismen ehemaligerSoldatInnen mit Einsatzerfahrung. Mit43 Interviews hat die Studie eine fürein qualitatives Design breite Daten-basis. Aufgrund der hohen medialenResonanz (der Aufruf zur Teilnahmean der Studie wurde online innerhalbder ersten Woche allein 28.000 geteilt)sowie der zusätzlichen Rekrutierung imBundeswehrkrankenhaus und innerhalbdes Militärs dürfte eine sehr große Zahlehemaliger SoldatInnen erreicht unddurch das differenzierte Sampling einegroße Variabilität kontrastierender Fälleeingeschlossen worden sein. Untersu-chereinflüsse und daraus resultierendepsychodynamische Prozesse konntendurch das Sampling, die divergenteTeamzusammensetzung (ärztliche undpsychologischeMitarbeiterInnenbeider-lei Geschlechts mit und ohne Militär-und Einsatzerfahrung, mit und ohnepsychotherapeutische Ausbildung un-terschiedlicher Art) minimiert werden.Auch konnten sie durch den bewusstenUmgang mit Gegenübertragungserle-ben sowie regelmäßige Teamintervisionund -supervision analysiert und in dieAuswertung einbezogen werden. Dieoffenen Interviews ermöglichten auf-grund ihrer geringen Vorgaben und derMöglichkeit spätererNachfragensehrde-taillierte, individuelle, subjektbezogeneSchilderungen der inneren und äußeren

Vorgänge. Durch die zusätzliche Ana-lyse von unbewussten Mechanismen,die direkt im Gesprächsverlauf deut-lich wurden, konnte einem bewusstenoder unbewussten Selektions- bzw. Ver-zerrungsprozess, wie er in jeder Formvon (retrospektiver) Befragung auftritt,entgegengewirkt werden.

Großer Wert wurde auf ein diffe-renziertes Sampling mit dem Ziel derhöchstmöglichen Heterogenität gelegt;beiderDatenerhebungund-analysewur-de sichstets andenQualitätskriterienvonStamer et al. (2015) orientiert. Trotzdemmuss die Generalisierbarkeit im Sinneeiner Repräsentativität im statistischenSinne, wie generell bei jeder Form qua-litativen Vorgehens, nicht gegeben sein.Zudem handelt es sich um das erste Mo-dell einer Pilotstudie. Seine Validierungbzw. kritische Überprüfung auch hin-sichtlich seiner praktischen Nutzbarkeitmuss und sollte in Folgestudien erfolgen.

Fazit und Ausblick

Das dargestellte Modell dient der Ver-anschaulichung eines gemeinsamen,Psychotherapieschulen und -strömun-gen verbindenden Denkansatzes, um imRahmen diagnostischer Gespräche eineerste Einschätzung der bewussten undunbewussten Bewältigungsmöglichkei-ten des Gegenübers treffen zu können.Dabei soll auf den Einsatz weiterer Fra-gebogen oder Selbst-Rating-Inventareverzichtet werden und die Einschätzungunabhängig von der psychotherapeu-tischen Prägung erfolgen können. Diegroße individuelle Variabilität der vonden ehemaligen SoldatInnen zu ver-schiedenen Zeitpunkten eingesetztenMechanismen bestätigt die These, dassdie Situationunddie empfundeneBedro-hung Einfluss auf die „Wahl“ derCoping-Mechanismen haben. Dennoch kommees meistens zum simultanen Gebrauchverschiedener Mechanismen (Olff et al.2005). Andererseits konnten bei denTeilnehmern individuell wiederkehren-de, meist unbewusste Mechanismenidentifiziert werden, die weitestgehendsituationsunabhängig eingesetzt wurdenund die für eine Konstanz persönlicherKernmechanismen sprechen. Dies decktsich mit der psychoanalytischen Annah-

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me eines mit der psychischen Strukturverknüpften „Abwehrprofils“ und auchmit Befunden der aktuellen Trauma-forschung, nach denen der individuelleBewältigungsstil Einfluss darauf habe,ob ein Mensch ein Trauma langfristigerfolgreich verarbeitet oder eine Trau-mafolgestörung entwickelt (Chang et al.2003; Johnsen et al. 2002).

Weiterführende Forschung über be-wusste und unbewusste Bewältigungs-mechanismen (bei Traumafolgestörun-gen) ist unabhängig von den vorge-stellten Ergebnissen nötig. Dies trifft inbesonderem Maß auf einsatzgeschädigte(ehemalige) BundeswehrsoldatInnen zu,deren Zahl angesichts der globalen undpolitischen Entwicklungen in der Zu-kunft vermutlich weiter ansteigen wird.Aus Sicht der Versorgungsforschungkönnte beispielsweise die Identifizierungindividueller Kernmechanismen im Sin-ne einer typologischen Einordnung zuverschiedenen Untersuchungszeitpunk-tendenEinfluss traumatischerErlebnisseauf den persönlichen Bewältigungsstilbeleuchten. Dies könnte langfristig zurErstellung spezifischerTherapieangeboteundeinerdifferenzierterenAuseinander-setzung mit der Frage der persönlichenVulnerabilität genutzt werden.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Loni BrantsKlinik für Psychiatrie und Psychotherapie,Charite – Universitätsmedizin Berlin, CampusCharité MitteChariteplatz 1, 10117 Berlin, [email protected]

Förderung. Das Projekt wurde durch Zuwendungendurch das Bundesministeriumder Verteidigungfinanziert.

Funding. Open Access funding provided by ProjektDEAL.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. L. Brants, K. Schuy, S. Dors,M. Horzetzky, H. Rau, P.L. Zimmermann, A. StröhleundS. Siegel geben an, dass kein Interessenkonfliktbesteht.

Alle beschriebenenUntersuchungen amMenschenoder anmenschlichemGewebewurdenmit Zustim-mungder zuständigen Ethikkommission, imEinklangmit nationalemRecht sowie gemäßderDeklarationvonHelsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeite-

ten Fassung) durchgeführt. Das Einverständnis derEthikkommissionder Charité Berlin liegt vor. Von allenbeteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklä-rung vor.

Open Access.Dieser Artikelwird unter der CreativeCommonsNamensnennung4.0 International Lizenzveröffentlicht, welche dieNutzung, Vervielfältigung,Bearbeitung, VerbreitungundWiedergabe in jegli-chemMediumundFormat erlaubt, sofern Sie den/dieursprünglichenAutor(en)unddieQuelle ordnungsge-mäßnennen, einen Link zur Creative Commons Lizenzbeifügenundangeben, obÄnderungen vorgenom-menwurden.

Die in diesemArtikel enthaltenenBilder und sonstigesDrittmaterial unterliegen ebenfalls der genanntenCreative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbil-dungslegendenichts anderes ergibt. Sofern das be-treffendeMaterial nicht unter der genanntenCreativeCommons Lizenz steht unddie betreffendeHandlungnicht nachgesetzlichenVorschriften erlaubt ist, ist fürdie oben aufgeführtenWeiterverwendungendesMa-terials die Einwilligungdes jeweiligen Rechteinhaberseinzuholen.

WeitereDetails zur Lizenz entnehmenSie bitte derLizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.

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Fachnachrichten

Wie viel Abstand, wann?

Bei der Begegnung mit anderen Menschen halten wir instinktiv eine gewissesoziale Distanz ein, die von verschiedenen Faktoren abhängt. Dieser Wohlfühlab-stand wird vonMenschen mit psychopathischen Tendenzen häufig verletzt.

Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben die soziale

Interaktion von Personen mit psychopa-

thischen Tendenzen in einem 3-D-Laboruntersucht und ermittelt, welchen Abstand

sie zu ihrem virtuellen Gegenüber halten.Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen mit

psychopathischen Tendenzen den Wohlfühl-

abstand mangelhaft regulieren, da sie nichtauf die sozialen Signale des Gegenübers ach-

ten. Siemachen keinenUnterschied zwischen

einer Person mit freundlichem Gesichtsaus-druck und einer anderen mit wütendem

Gesichtsausdruck und halten jeweils etwaden gleichen Abstand – im Gegensatz zu

Menschen ohne psychopathische Tenden-

zen. „Wie unsere Studie weiter ergab, zeigenpsychopathische Menschen keine adäquate

Vermeidungsreaktion. Dies erklärt auch ihr

Verhalten“, teilt Robin Welsch vom Psycholo-gischen Institut der JGU mit.

Unter Psychopathie versteht man ein dauer-haft abweichendes Verhalten in Verbindung

mit zwischenmenschlichen und emotiona-

len Defiziten. Dazu gehört auch die Neigung,Schaden oder Leid zu verursachen, indemge-

gen soziale Normen verstoßenwird. Klinische

Berichte weisen in diesem Zusammenhanghäufig darauf hin, dass psychopathische Per-

sonen den persönlichen Wohlfühlabstandmissachten, indem sie zum Beispiel anderen

auf unangenehme Weise zu nahe kommen.

Wie sich die Abstandsregulation bei psy-chopathischen Menschen genau verhält,

hat Welsch im Labor für virtuelle Realität

der Abteilung Allgemeine ExperimentellePsychologie untersucht.

Begegnung mit Avatar im virtuellenVersuchslaborDie studentische Stichprobe umfasste 76

Probanden, 51 Frauen und 25 Männer imAlter zwischen 19 und 38 Jahren. Psycho-

pathische Tendenzen wurden anhand eines

Fragebogens erfasst, der insbesondere diebeiden Faktoren selbstzentrierte Impulsivität

und furchtlose Dominanz ermittelt. Die Pro-banden wurden schließlich mit dem Setup

im 3-D-Labor vertraut gemacht und dann

den jeweiligen Tests unterzogen. „Das Laborbietet eine virtuelle Realität vergleichbar mit

den 3-D-Bildern im Kino. Hinzukommt aller-dings, dass das 3-D-Bild auf die Bewegung

eines Versuchsteilnehmers reagiert und sich

anpasst und damit den Probanden in dievirtuelle Realität eintauchen lässt“, erklärt

Welsch. Im zweiten Versuchsteil konnten dieTeilnehmerinnen und Teilnehmer außerdem

den Avatar mit einem Joystick steuern.

Angemessene Vermeidungsreaktionbleibt ausZeigt der Avatar einen freundlichen Gesichts-

ausdruck, gehen Menschen ohne psycho-pathische Tendenzen auf den Avatar zu, bis

etwa 1,00 bis 1,10 Meter Abstand besteht.Im Falle eines wütenden Gesichtsausdrucks

halten sie eine Distanz von 1,25 Meter ein.

Diesen Unterschied machen Menschen mitpsychopathischen Neigungen nicht, sie tre-

ten unabhängig vom Gesichtsausdruck auf

1,10 Meter heran. Im zweiten Experimentsollten die Probanden in Reaktion auf die

Mimik des Avatars einen Joystick bewegen.„Wir stellten fest, dass die Versuchsteilneh-

mer mit psychopathischen Tendenzen keine

angemessene Vermeidungsreaktion zeigen,obwohl sie den Gesichtsausdruck des Avatars

richtig deuten können“, so Welsch, wissen-

schaftlicher Mitarbeiter und Erstautor derStudie, an der außerdem Dr. Christoph von

Castell und Prof. Dr. Heiko Hecht beteiligtsind. Zusammenfassend kann man also sa-

gen, dass Psychopathie nicht einfach zu einer

unangemessenen sozialen Distanz führt,sondern dass lediglich die situationsange-

messene Regulation der sozialen Distanz

gestört ist.

Originalpublikation:Robin Welsch, Christophvon Castell, Heiko Hecht: Interpersonal Di-

stance Regulation and Approach-Avoidance

Reactions Are Altered in PsychopathyClinical Psychological Science, 26. November

2019; DOI: 10.1177/2167702619869336

Quelle: Johannes Gutenberg-Universität Mainz (https://www.uni-

mainz.de/presse/aktuell/; 16.04.2020)

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