ist weniger mehr? deprescribing bei älteren personen · 2020. 1. 2. · (arzneiverordnungs-report...
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Weniger ist mehr.Deprescribing bei älteren
Patientinnen und Patienten
Dr. Steffen FleischerMedizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-WittenbergInstitut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Polypharmazie
Polypharmacy is … (Bushardt et al. 2008)
Medication does not match the diagnosis Greater than 5 medications
Many medications Excessive use of medication
Duplication of medication Unnecessary use of medication
Drug/drug interactions Medications prescribed > twice per day
Inappropriate dosing frequency (excessive, too low,too long)
Complicated drug regimen effecting compliance
Medication prescribed to treat the side effect of another medication (except no other option)
Taking an OTC medication, an herbal product oranother person’s medication
Two or more drugs of the same chemical class Contraindicated in the elderly
Two or more meds to treat the same condition Availability of an equally effective, lower-costalternative
Two or more agents with the same or similarpharmacologic actions to treat different conditions
Patient misunderstanding of the use of themedication (purpose, how to take it, side effectspossible, toxicity signs, etc.)
Minor polypharmacy = 2–4 meds. Majorpolypharmacy > 5 meds
Dosage does not reflect age/renal/liver status
3,5, or 6 different medications Improvement after discontinuation of medications
Two or more medications Diagnosis no longer present
Ohne Begründung oder Evidenz wird Polypharmazie mehrheitlich als täglich > 5 verschiedene Arzneistoffe definiert
(Viktil et al. Br J Clin Pharmacol 2007; Haider et al. Int J Clin Pharmacol Ther 2007)
Arzneiverbrauch je GKV-Versicherter in 2016 (Arzneiverordnungs-Report 2017)
Polypharmazie
Bedeuten mehr Medikamente nicht mehr Behandlung und damit auch eine bessere Behandlung?
Polypharmazie• Ca. 30% der Menschen > 65 Jahre in westlichen
Ländern erhalten Verschreibungen von > 5 unterschiedlichen Medikamenten
(Qato et al. JAMA 2008; Barmer GEK 2013)
• Anzahl der Medikamente ist ein Prädiktor fürunerwünschte Wirkungen(Steinman et al. J Gen Intern Med 2014)
• Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
• Unterbehandlung
• Fehlbehandlung
• Überdosierung/Doppelmedikation
• Parallelverschreibung durch mehrere Behandler
• Konsekutive Verschreibungen aufgrund Nebenwirkungen
(Verschreibungskaskaden)
Neuner-Jehle S Praxis 2013
Polypharmazie
Polypharmazie und Risiko für UAW
• Risikomarker/-faktoren: Zunehmendes Alter, weiblich, bessere Bildung; schlechter Gesundheitszustand, chronische Krankheiten; zunehmende Arztkontakte, mehrere Versorger
• Transition (Krankenhaus, Pflegeheim)
(Wang et al. OA Elderly Medicine 2013)
Potentially Inappropriate Medication
• PIM = unerwünschte Wirkungen überwiegenklinischen Nutzen, insbesondere wennwirksamere und sicherere Alternativen vorliegen
(Laroche et al. Eur J Clin Pharmacol 2007; Gallagher et al. Int J Clin Pharmacol 2008; Beers Arch Intern Med 1997)
46 Instrumente
• 78% explizit für ältere Menschen; 22% ohne konkrete Zielgruppe
• 41% Konsensus; 28% Expertenpanel; 24% Literaturrecherche
• Zahlreiche PIM-Listen und epidemiologische Studien/Sekundärdatenanalysen
• 20% bis 80% PIM-Prävalenz in Abhängigkeit von Population, Setting, Land, Kriterien/Liste
• Wirksamkeit und Sicherheit der Listen kaumuntersucht
Strategien
• Zahlreiche Studien: Benzodiazepine, Neuroleptika und Antidepressiva(Iyer et al. Drugs Aging 2008)
• Nitrate (George et al. Chest 2003)
• …
• PPI: optimales Ziel des Absetzens(Heidelbaugh et al. Ther Adv Gastroenterol 2012)
Absetzen von (Einzel-)Medikamenten
Arch Intern Med 2010
70 Senioren, durchschnittliches Alter 83 Jahre Vorschlag: tägliche Medikationslast von 7,7 ± 3,7 auf 4,4 ± 2,5 Medikamente pro Tag zu reduzieren; Algorrhythmus-basiert
• 81% der geplanten Medikationsveränderungen realisiert; 2% der Fälle ein Wiederansetzen der Arzneimittel
• 88% der Patienten Verbesserung des Wohlbefindens
Garfinkel & Mangin 2010
Barrieren des Absetzens
• Unterschätzen/Abwerten Polypharmazie-bedingten Schadens durch Patienten und Verordner
• Anreize zur Überverschreibung• Enger Fokus auf PIM Listen• Widerstand, Medikation zu beenden aus Furcht vor
unvorhersehbaren Folgen• Ungewissheit der Wirksamkeit von Strategien zur
Reduktion von Polypharmazie
Wie kann das Absetzen gelingen?
• Umdenken: Absetzen als Merkmal hoher Qualität patientenzentrierter Versorgung
• Offene informierende Gespräche mit Patienten über das Nutzen-Schaden-Verhältnis; Ermittlung ihrer Bereitschaft
• Priorität: Patienten mit hohem Risiko für UAW und Medikamente mit geringem Nutzen
• Geprüfte Ansätze des Absetzen nutzen• Gemeinsame Edukation des Gesundheitsteams• Absetzen über einen längeren Zeitraum in Verantwortung
eines Behandlers
Anspruch auf Medikationsplan
Antipsychotikaverordnungenbei Menschen mit Demenz
The primary outcome of the study was involuntary treatment, including physical restraints, psychotropic medication, and nonconsensual care.
Prävalenz Bewohner > 1 PM, % (MORIN)
27,8
83,3
0
20
40
60
80
100
Verhaltensbeeinträchtigungen bei Demenz(Behavioral and psychological symptoms of dementia / BPSD)
• Neben kognitiven Einschränkungen treten bei der Mehrzahl der Betroffenen neuropsychiatrische Symptome auf, wie• Agitation, Aggression
• Ruhelosigkeit, Umherwandern
• Repetitive Vokalisation, Rufen
• Unangemessene Verhaltensweisen
• Zum Teil erhebliche Herausforderung und Belastung für Angehörige, Pflegende, Behandler
• Hauptursache für körperliche und psychische Belastungen bei Angehörigen und Pflegenden
Zuidema 2007, Sink 2005, Howard 2001, Black & Almeida 2004
Behandlung von BPSD
• Breite Verordnung von Neuroleptika als Behandlung der ersten Wahl trotz …
• mäßiger bis fehlender Wirksamkeit (Sink et al. 2005) und ausgeprägtem Placeboeffekt
• einschlägig belegtem Profil unerwünschter kurzfristiger und längerfristiger Nebenwirkungen (Hartikainen et al. 2007; Rochon et al. 2005; Sink et al. 2005)
• Symptomunspezifische Verordnungsmuster (Majic et al. 2010)
Pharmakologische InterventionenTherapie nicht-kognitiver Störungen
• Nur als ultima ratio!
• Laut S3- und S2e-Leitlinie bestehen medikamentöse Empfehlungen als letzter Therapieschritt zur Kurzzeitbehandlung von
• Agitiertem Verhalten und Aggressivität
• Gesteigerter Psychomotorik
• Psychotischen Symptomen wie Wahn und Halluzination
• Affektive Symptome (Depression)
• (Schlafstörungen)
• Delir
• Keine Empfehlungen gibt es für die medikamentöse Behandlung von
• Disinhibition / Enthemmung
• Euphorie
34DEGAM S2e-Leitlinie Nr. 12 Demenz; DGPPN S3-Leitlinie Demenzen
Pharmakologische InterventionenTherapie nicht-kognitiver Störungen
• Einsatz von psychotropen Wirkstoffen:• Antipsychotika (Neuroleptika)
• Typische/konventionelle Antipsychotika
• Atypische Antipsychotika
• Antidepressiva (Citalopram)
• Antikonvulsiva (Carbamazepin)
35Fachinformationen; DEGAM S2e-Leitlinie Nr. 12 Demenz; DGPPN S3-Leitlinie Demenzen
• Leitlinienempfehlungen (DGPPN S3-Leitlinie, DEGAM-S2e-Leitlinie)• Einsatz NACH der psychosozialen Intervention und
umgebungsmodifizierenden Ansätzen
• Genaue Überprüfung der Indikation (Erhebung eines psychopathologischen Befundes, erneute Überprüfung nach drei Monaten)
• Beginn der Behandlung mit Antipsychotika mit geringstmöglicher Dosis über einen möglichst kurzen Zeitraum (max. drei Monate)
• dann Ausschleichversuch
• engmaschige Kontrolle des Behandlungsverlaufs
• Meidung von Medikamenten mit sedierender Wirkung: erhöhte Sturzgefahr, mögliche Reduktion der kognitiven Leistung
• Benzodiazepine vermeiden!
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Pharmakologische InterventionenTherapie nicht-kognitiver Störungen
DEGAM S2e-Leitlinie Nr.12 Demenz; DGPPN S3-Leitlinie Demenzen
Pharmakologische InterventionenTherapie nicht-kognitiver Störungen
Nebenwirkungen• können bei Demenzpatienten besonders ausgeprägt sein
• Psychisch (z. B. übermäßige Sedierung, Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen, Somnolenz, Lethargie)
• Motorisch (z. B. Parkinsonismus, Dyskinesien, Tremor, Gangstörungen, erhöhte Sturzgefahr)
• Gastrointestinal (z. B. Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe)
• Kardiovaskulär (z. B. Lagerungshypotension, orthostatischeDysregulation u. U. mit reflektorischer Tachykardie, QT-Intervall-Verlängerung)
38Fachinformationen; DEGAM S2e-Leitlinie Nr. 12 Demenz; DGPPN S3-Leitlinie Demenzen
Barrieren des Verzichts auf Verschreibung
• Keine direkten (medikamentösen) Alternativen• Verschreibende Ärzte „unter Druck“• Ursachen von Agitation und Aggression unzureichend abgeklärt und behandelt• Unzureichende Implementierung von Schulung und Information zum besten Wissen
Fazit für den gesamten Vortrag
• Es werden eher zu viele Medikamente verschrieben
• Damit einhergehend treten häufiger UAW auf
• Eine gezielte Reduktion erst einmal verschriebener Medikamente scheitert an diversen Barrieren
• Programme zum Deprescribing sind häufig komplex und lassen sich nicht einfach von einem Gesundheitssystem in ein anderes übertragen
Vielen Dank!