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Laini Taylor

Muse of Nightmares – Das Geheimnis des Träumers

Buch 1

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Weitere Titel der Autorin:

Strange the Dreamer – Der Junge, der träumteStrange the Dreamer – Ein Traum von Liebe

Titel auch als Hörbuch erhältlich

Über die Autorin:

Laini Taylor wurde 1971 in Kalifornien geboren. Sie hat Lite-ratur und Kunst studiert und schreibt mit großem Erfolg Fant-asy-Romane. Der Roman »Strange the Dreamer« wird in densozialen Netzwerken gefeiert – und erscheint nun endlich inder deutschen Übersetzung. Die Autorin lebt mit ihrem Mannund ihrer Tochter in Portland, Oregon.

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Laini Taylor

Muse of Nightmares –Das geheimnis des Träumers

Buch 1

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch vonUlrike Raimer-Nolte

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Dieser Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erschienen

Titel der amerikanischen Originalausgabe:»Muse of Nightmares« (Teil 1)

Für die Originalausgabe:Copyright © 2018 by Laini Taylor

Originalverlag: Little, Brown and Company; Hachette Book GroupThis edition was published by arrangement with Little, Brown and Company, New

York, New York, USA. All rights reserved.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung einerCoverillustration von Jantine Zandbergen

Satz: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)Gesetzt aus der Adobe Caslon

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN 978-3-8466-0100-6

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Sie finden uns im Internet unter: www.one-verlag.deBitte beachten Sie auch www.luebbe.de

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Teil I

Elilith (gespr.: El!lil!lith), Subst.Tätowierung rund um den Nabel; in der Stadt Weep erhaltenMädchen das Symbol, sobald sie zu Frauen werden.

Archaisch; abgeleitet von Eles (das Ich) & Lilithai (Schicksal);gemeint ist der Zeitpunkt, an dem eine Frau ihr Schicksalselbst in die Hand nimmt und entscheidet, welchen Weg ihrLeben einschlagen soll.

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Juwelen und Rebellion

Kora und Nova hatten die Mesarthim noch nie gesehen, abersie wussten alles über sie. So wie jeder. Sie wussten Bescheidüber ihre Hautfarbe. »Blau wie Saphire«, sagte Nova, obwohldie beiden noch nie einen Saphir gesehen hatten. »Blau wieEisberge«, sagte Kora. Von denen gab es genug, und man hattesie die ganze Zeit vor Augen. Außerdem wussten die beiden,dass Mesarthim ein Wort für ›Diener‹ war, allerdings nicht ver-gleichbar mit gewöhnlichen Mägden und Knechten. Sie warendie Zauberkrieger des Imperiums. Sie konnten fliegen oderFeuer speien, Gedanken lesen, sich in Schatten und wieder zu-rück verwandeln. Sie kamen und verschwanden durch Schnitteim Himmel. Sie konnten Wunden heilen, ihre Gestalt verän-dern, unsichtbar werden oder voraussagen, wie jemand sterben

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würde. Sie hatten kriegerische Gaben von unglaublicher Stärke.Natürlich nicht alles gleichzeitig. Jeder besaß nur ein einzigesTalent, das dem Zufall überlassen war. Es war einfach da,schlummerte in jedem Einzelnen, so wie Kaminglut auf einenWindhauch wartet. Aber damit es aufflammen konnte, mussteman zu den wenigen Gesegneten gehören, die das Glück hat-ten, erwählt zu werden.

So wie Koras und Novas Mutter erwählt worden war, andem Tag vor sechzehn Jahren, als die Mesarthim das letzteMal nach Rieva gekommen waren.

Damals waren die Mädchen noch im Wiegenalter gewesen,also erinnerten sie sich nicht an die blauhäutigen Diener unddas schwebende Himmelsschiff aus Metall. Auch an ihre Mut-ter erinnerten sie sich nicht, denn die Mesarthim nahmen siemit sich fort, damit sie eine von ihnen wurde. Sie kehrte niezurück.

Früher einmal hatte sie Briefe aus Aqa, der Hauptstadt desImperiums, geschickt. Dort waren, wie sie schrieb, die Men-schen nicht nur weiß oder blau, sondern von jeder erdenklichenFarbe, und der kaiserliche Palast aus Göttermetall schwebteschwerelos von Ort zu Ort. Meine Lieblinge, hatte in ihremletzten Brief vor acht Jahren gestanden, mein Trupp schifft aus,und ich weiß nicht, wann ich zurückkommen werde. Sicherlich seidihr bis dahin erwachsene Frauen. Kümmert euch an meiner Stelleumeinander, und seid gewiss, gleichgültig was man euch erzählt:Hätte man mir die Wahl gelassen, dann hätte ich mich für euchentschieden.

Ich hätte mich für euch entschieden!Im Winter erhitzten die Bewohner von Rieva flache Steine

im Feuer und steckten sie zwischen die Felle auf den Schlafla-gern, obwohl sie nachts schnell abkühlten und hart unter den

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Rippen lagen, wenn man aufwachte. Nun, diese sechs Wortekamen Kora und Nova vor wie Bettsteine, die nie ihre Wärmeverloren oder blaue Flecken verursachten. Die beiden trugen sieüberall mit sich herum. Oder besser gesagt, sie trugen sie zurSchau. Wie kostbare Juwelen. Wie eine jugendliche Rebellion.Wir werden geliebt stand auf ihren Gesichtern geschrieben,wann immer sie ihre Stiefmutter Skoyë niederstarrten oder sichweigerten, angstvoll vor ihrem Vater zu kuschen. Briefe anstelleeiner Mutter, das war nicht viel. Und inzwischen blieb ihnennur die Erinnerung, denn Skoyë hatte die Nachrichten ihrerMutter ›aus Versehen‹ ins Feuer geworfen. Aber sie hattenauch einander. Kora und Nova: Gefährtinnen. Verbündete.Schwestern. Sie waren so unzertrennlich wie das Reimpaar ei-nes Gedichts, das jede Bedeutung verliert, wenn man es ausdem Zusammenhang reißt. Ihre Namen hätten genauso gut zueinem einzigen verschmelzen können – KoraundNova – so sel-ten wurden sie getrennt genannt. In diesen Ausnahmefällenwirkten die Mädchen unvollständig wie die zwei Hälften einerMuschel, deren Schale aufgebrochen ist. Jede war für die ande-re Seele und Heimat. Auch ohne Magie konnten sie die Ge-danken der anderen lesen, dazu reichten flüchtige Blicke. IhreWünsche und Hoffnungen ähnelten sich wie eineiige Zwillin-ge, auch wenn sie selbst keine waren. Sie standen entschlossenSeite an Seite und blickten gemeinsam in die Zukunft. Wasimmer das Leben ihnen zumuten mochte, mit welchen Män-geln ihr Schicksal auch behaftet war, wenigstens wussten sie,dass sie einander hatten.

Und dann kamen die Mesarthim zurück.

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Nova entdeckte sie als Allererste. Sie stand am Meeresstrandund hatte sich gerade aufgerichtet, um sich die Haare aus denAugen zu wischen. Dazu musste sie den Unterarm benutzen,denn in einer Hand hielt sie ihren Fischhaken und in der ande-ren das Speckmesser. Ihre Finger hatten sich klauenartig umdie Griffe gekrampft. Nova war bis zu den Ellbogen wie eineinziges Gemetzel. Sie spürte, wie halb getrocknetes Blut eineklebrige Spur hinterließ, als sie mit dem Arm über ihre Stirnwischte. Dann glitzerte etwas am Himmel, und sie blickte su-chend in die Höhe.

»Kora«, sagte sie.Aber Kora hörte sie nicht. Ihr verschmiertes Gesicht glich

einer stumpfen blassen Maske. Nur so ließ sich die Arbeit er-tragen. Ihr Messer säbelte vor und zurück, doch ihre Augenwaren blicklos, als hätte sie ihr Bewusstsein an einem angeneh-meren Ort verstaut, da sie es für diese grässliche Tätigkeit nichtbrauchte. Der Kadaver eines Uul türmte sich halb zerlegt zwi-schen den beiden auf. Über den Strand verstreut lagen Dutzen-de weitere Kadaver, an denen krumm gebeugte Gestalten her-umsäbelten. Blut und Tran verklebten den Sand. Kreischendund flatternd kämpften Cyr um Gedärme, und das Flachwasserbrodelte vor Dornenfischen und Greifschnabelhaien, die vondem süßlich-salzigen Gestank angelockt wurden.

Es war Schlachtsaison, die schlimmste Zeit des Jahres aufder Insel Rieva… zumindest für Frauen und Mädchen. FürMänner und Jungen hingegen war es ein Genuss. Sie schwan-gen keine Fischhaken und Speckmesser, sondern Speere.Wenn sie ihre Beute erlegt hatten, schnitten sie die Stoßzähneab, um daraus Trophäen zu schnitzen, und ließen den Resteinfach liegen. Für die Schlachtarbeit war das Weibsvolk zu-ständig, auch wenn dafür mehr Muskeln und Durchhaltever-

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mögen nötig waren als fürs Töten. »Unsere Frauen sind stark«,prahlten die Männer auf dem Hochland des Kaps, wo sie vorGestank und Fliegen sicher waren. Und stark waren sie tat-sächlich. Außerdem waren sie ausgelaugt, grimmig, verbissen,zitternd vor Anstrengung und besudelt mit jeder denkbarenKörperflüssigkeit, die aus einem toten Körper tropfen konnte.So wie Nova, als ihr das ferne Glitzern ins Auge stach.

»Kora«, sagte sie erneut, und diesmal schaute ihre Schwesterhoch, folgte ihrem Blick und starrte ebenfalls in den Himmel.

Fast war es, als hätte Nova nicht wirklich verarbeiten kön-nen, was sie dort sah. Doch sobald Koras Blick auf das Objektfiel, durchfuhr beide der gleiche freudige Schreck.

Dort war ein Himmelsschiff.Was bedeutete: Mesarthim.Was wiederum bedeutete …Ein Fluchtweg. Fort vom ewigen Eis, von den Uuls und der

Schinderei. Von Skoyës Tyrannei, der Gleichgültigkeit ihresVaters und neuerdings – dringlich – fort von den Männern. ImLaufe des letzten Jahres hatten die Männer des Dorfes ange-fangen, im Vorübergehen stehen zu bleiben und zwischen Koraund Nova hin- und herzuschauen, als würden sie ein Huhnzum Schlachten aussuchen. Kora war siebzehn, Nova sechzehn.Ihr Vater konnte sie verheiraten, wann immer es ihm gefiel.Sein einziger Hinderungsgrund war bisher, dass Skoyë keineLust hatte, auf ein Paar Arbeitssklavinnen zu verzichten. Diebeiden verrichteten den Großteil der häuslichen Pflichten undhüteten auch noch die Horde ihrer kleinen Halbbrüder. AberSkoyë konnte sie nicht ewig für sich behalten. Mädchen waren›Gaben des Himmels, die es zu verschenken, nicht zu behaltengalt‹. Tatsächlich waren sie eher wie Zuchtvieh zum Verkaufbestimmt, wie jeder Vater einer begehrenswerten Tochter in

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Rieva wusste. Kora und Nova waren hübsch, mit flachsblondenHaaren und strahlend braunen Augen. Ihre schmalen Handge-lenke ließen die Kraft darin höchstens erahnen. Obwohl ihreKörperformen unter Schichten von Wolle und Uul-Leder gutverborgen waren, ließen sich Hüften schwerlich verstecken.Ihre Kurven waren sicherlich geeignet, um ein Bettlager warmzu halten, und außerdem waren sie bekannt dafür, hart zu ar-beiten. Also würde es nicht mehr lange dauern. Spätestens zuTiefwinter, wenn der Monat der Dunkelheit begann, würdensie verheiratet sein. Sie würden nicht länger zusammenleben,sondern im Haus des Mannes, der ihrem Vater das beste Kauf-angebot gemacht hatte.

Am schlimmsten war nicht einmal, dass man sie trennenwürde oder dass sie keineswegs den Wunsch hatten, Ehefrauenzu werden. Viel schlimmer war das nahende Ende ihrer ge-meinsamen Lüge.

Das hier ist nicht unser Leben.Solange sie sich erinnern konnten, hatten sie einander von

einer besseren Zukunft erzählt, manchmal mit Worten,manchmal wortlos. Ein Blick zwischen ihnen hatte genügt, umüberdeutlich auszusprechen, was sie dachten. Wann immer siean einem Tiefpunkt angelangt waren – wenn zur Schlachtzeitein Kadaver den nächsten ablöste, wenn Skoyë sie schlug, wenndie Essensvorräte früher endeten als die Winterzeit –, schürtensie ihre Lüge wie ein Herdfeuer. Das hier ist nicht unser Leben.Denk daran, wir gehören nicht hierher. Die Mesarthim werdenzurückkommen und uns erwählen. Das hier ist nicht unser Leben.Ganz gleich, wie schlimm alles wurde, daran konnten sie sichklammern und durchhalten. Wären sie allein gewesen, einMädchen statt zwei, wäre die Lüge schon lange erloschen wieeine Kerzenflamme, die eine Kinderhand allein vorm Wind ab-

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schirmt. Aber sie waren nun einmal zu zweit und hauchten ihrimmer wieder neues Leben ein. Sie liehen einander Hoffnung,sahen ihren Glauben in der anderen widergespiegelt, nie allein,nie ganz besiegt.

Nachts flüsterten sie einander zu, welche Gaben wohl in ih-nen schlummerten. Mächtige, wie bei ihrer Mutter, da warensie sicher. Sie waren dazu bestimmt, Zauberkriegerinnen zuwerden, keine schuftenden Eheweiber, keine rechtelosenTöchter, und das Schicksal würde sie im Handumdrehen fortnach Aqa wirbeln. Dort würden sie das Kämpfen lernen, Gött-ermetall auf der Haut tragen, und eines Tages ebenfalls mit ih-rem Trupp ausschiffen, durch einen Schnitt im Himmel, umHeldinnen des Imperiums zu werden, Blau wie Saphire undGletschereis, makellos schön wie die Sterne.

Doch die Jahre vergingen, keine Mesarthim erschienen, unddie Lüge zog sich in die Länge, bis sie immer durchscheinen-der wurde. Wenn sich die Blicke der beiden nun begegnetenund nach der Hoffnung suchten, die sie gemeinsam nährten,entdeckten sie stattdessen wachsende Furcht. Was, wenn dashier doch unser Leben ist?

Jedes Jahr erkletterten Kora und Nova am Tiefwinterabendden eisig glatten Kliffweg, um kurz die Sonne auftauchen zusehen, die danach einen Monat lang nicht wiederkehren wür-de. Der Verlust ihrer Lebenslüge war wie das Verschwindender Sonne. Nicht für einen Monat, sondern für immer undewig.

Und daher war der Anblick des Himmelsschiffs… Es war,als würde das Licht zurückkehren.

Nova stieß einen Jubelschrei aus. Kora lachte vor Freudeund Erleichterung, konnte sich aber einen Tadel nicht verbei-ßen. »Ausgerechnet heute?«, rief sie dem Schiff am Firmament

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entgegen. Ihr Gelächter perlte wunderbar über das Strandufer.»Wirklich?«

»Ihr hättet nicht schon letzte Woche kommen können?«,rief Nova und warf lachend den Kopf zurück, die Worte ge-nauso freudig, erleichtert und mit rügendem Unterton wie beiihrer Schwester. Sie beide waren klebrig vor Schweiß, stankennach Blut und Innereien, hatten rote Augen von den scharfenDünsten der Gedärme. Und ausgerechnet jetzt kamen die Me-sarthim? Den ganzen Strand entlang, zwischen den ausgehöhl-ten, triefenden Körperhülsen halb ausgeweideter Tiere undWolken von Stechfliegen, schauten nun auch die übrigen Frau-en in die Höhe. Die Messer kamen zur Ruhe. Die leeren, ab-gestumpften Gesichter der Schlachterinnen füllten sich mitEhrfurcht, als das Schiff näher schwebte. Es war aus demGöttermetall gefertigt, strahlend blau und spiegelblank, fingdie Sonne ein und brannte ein Funkenmuster in ihre Pupillen.

Welche Form die Himmelsschiffe der Mesarthim annah-men, wurde von den Gedanken ihrer Kapitäne bestimmt, unddieses glich einer riesigen Wespe. Die Flügel waren scharf wieMesserklingen, der Kopfteil ein spitzes Oval mit zwei großenRundungen als Augen. Der Insektenrumpf war in einen Brust-und Bauchbereich unterteilt, den eine schmale Taille verband.Das Schiff hatte sogar einen Stachel. Es flog über sie hinweg,steuerte auf das Hochland des Kaps zu, und verschwand hinterden Felsbrocken, die als Windschutz das Dorf umzäunten.

Den beiden Schwestern klopften die Herzen bis zum Hals.Sie waren wie berauscht, zitterig vor Aufregung, Nervosität,Ehrfurcht und Hoffnung, weil sie trotz allem Recht behaltenhatten. Mit Schwung versenkten sie die Speckmesser undFischhaken im Uul und lösten ihre klammen Finger von den

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abgenutzten Schäften. Beide wussten, dass sie nicht zurück-kommen würden, um ihr Werkzeug wieder einzusammeln.

Das hier ist nicht unser Leben.»Was tut ihr da?«, fauchte Skoyë, als sie auf die Dünung zu-

stolperten.Die beiden ignorierten ihre Stiefmutter und ließen sich im

Flachwasser auf die Knie sinken, um sich das eisige Nass überdie Köpfe zu schütten. Der Meeresschaum war rostrot, Knor-pelfetzen und Fett dümpelten auf den Wellen, aber der Spül-saum war immerhin sauberer als sie selbst. Sie schrubbten sichHaut und Haare, zuerst allein und dann gegenseitig. Dabei sa-hen sie sich vor, dass sie nicht zu tief ins Wasser gerieten, wodie Haie und Dornenfische um Platz rangen.

»Zurück an die Arbeit, ihr zwei!«, schimpfte Skoyë. »Ihrseid noch nicht fertig.«

Sie starrten ihre Stiefmutter ungläubig an. »Die Mesarthimsind hier«, sagte Kora, und das Wunder ließ ihre Stimme ganzwarm klingen. »Sie werden uns testen wollen.«

»Nicht, bevor ihr mit dem Uul fertig seid. Bildet euch dasgar nicht erst ein.«

»Mach die Arbeit doch selbst«, sagte Nova. »Dich brauchensie schließlich nicht zu sehen.«

Skoyës Miene wurde noch säuerlicher. Sie war Widerwortenicht gewohnt, und außerdem hatte sie den Unterton von No-vas Antwort deutlich vernommen. Skoyë war vor sechzehn Jah-ren getestet worden, und die Mädchen kannten das Ergebnis.Damals war jeder einzelne Bewohner von Rieva getestet wor-den, Wickelkinder ausgenommen, aber es hatte nur eine Aus-erwählte gegeben: Nyoka, ihre Mutter. Sie besaß eine Kriegs-gabe von umwerfender Macht. Buchstäblich umwerfend, dennsie konnte Schockwellen aussenden, durch den Boden oder die

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Luft. Das Erwachen ihrer Gabe hatte das ganze Dorf zum Er-beben gebracht und einen Erdrutsch ausgelöst, unter dem derPfad zu den stillgelegten Minen vergraben worden war.

Prinzipiell war Skoyës Talent ebenfalls eine Kriegsgabe,aber von lachhafter Stärke. Sie konnte das Gefühl piksenderNadeln hervorrufen … zumindest für die kurze Dauer desTests. Nur die Auserwählten durften ihre aktiven Gaben be-halten und zwar ausschließlich im Dienst des Imperiums. Alleanderen mussten sich damit abfinden, wieder zu ihrem norma-len Ich zu verblassen. Wertlos. Machtlos. Farblos.

Erbost holte Skoyë mit der Hand aus, um Nova eine Ohr-feige zu verpassen, aber Kora fing ihren Arm ab. Dabei sagtesie kein Wort. Sie schüttelte nur den Kopf. Skoyë riss sich los,und ihre Fassungslosigkeit war fast so groß wie ihre Rage. DieMädchen hatten sie schon immer zu rasender Wut reizen kön-nen. Nicht durch Ungehorsam, sondern allein durch ihre Aus-strahlung: als wären sie unberührbar, über die Dorfbewohnererhaben, als würden sie aus unverschämter Höhe auf alle ande-ren herabschauen, obwohl sie dazu kein Recht hatten. »Ach,ihr glaubt wohl, man wird euch erwählen, nur wegen ihr!«,stieß sie hervor. Skoyë hätte vor Wut spucken können. Nyoka.Die perfekte Nyoka. Nicht genug, dass man sie auserwählt undvon diesem höllischen, vereisten Inselfelsbrocken im Nirgend-wo gepflückt hatte. Nein, sie blieb natürlich trotzdem allgegen-wärtig. Im Herzen des Ehemanns, in den Tagträumen derTöchter und in den wohlwollenden Erinnerungen aller ande-ren. Nyoka war entkommen und durfte gleichzeitig als falschesIdealbild fortbestehen, für immer und ewig die hübsche jungeMutter, die zu Höherem berufen worden war. Skoyë kräuseltehöhnisch die Lippen. »Bildet ihr euch ein, ihr seid besser alsder Rest von uns? Oder dass sie es war?«

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»Oh ja«, zischte Nova auf die erste Frage. »Ja und noch malja«, auf die zweite und dritte. Ihre Zähne waren gefletscht. Amliebsten hätte sie zugebissen. Aber Kora ergriff ihre Hand undzog sie fort, dem Fußpfad entgegen, der sich die Felsenhöheemporwand. Sie strebten nicht als Einzige darauf zu. Auch alleübrigen Frauen und Mädchen hatten sich auf den Weg hinaufins Dorf gemacht. Schließlich waren Fremde zu Besuch. Rievabefand sich am untersten Ende des Globus. Hätten Welten ei-nen Abfluss für Dreckwasser, läge er genau hier. Fremde warenso selten wie vom Sturm verwehte Schmetterlinge, und diesewaren noch dazu Mesarthim. Ein solches Schauspiel wollteniemand verpassen, selbst wenn die Uuls dafür am Strand ver-rotteten.

In der Luft lagen erregtes Geplauder, unterdrücktes Ge-lächter, fiebriges Stimmensurren. Von den anderen hatte sichkeine um eine hastige Wäsche bemüht. Natürlich konnte manKora und Nova nicht gerade als sauber bezeichnen, aber im-merhin waren ihre Hände und Gesichter vom Schrubben frischgerötet. Die salzfeuchten Haare hatten sie sich ordentlich mitden Fingern zurückgekämmt. Alle übrigen waren schmierig,fettig, voller dunklem Blut, und hielten teilweise sogar nochihre Fischhaken und Messer umklammert.

Sie wirkten wie ein mordlüsterner Schwarm, der surrend auseiner Bienenwabe quoll.

Als sie das Dorf erreichten, stand das Wespenschiff mittenauf dem freien Platz. Die Männer und Jungen hatten sich dar-um geschart, und die Blicke, die sie ihren Frauen zuwarfen,waren voller Abscheu und Scham. »Ich bitte um Entschuldi-gung für den Geruch«, sagte der Dorfälteste Shergesh zu dengeehrten Besuchern.

Und so sahen Kora und Nova die Mesarthim zum ersten

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Mal – oder vielleicht zum zweiten, denn vor sechzehn Jahrenmussten sie als Babys in den Armen von Nyoka gelegen haben,während das Leben ihrer Mutter genau an diesem Platz eineradikale Wendung nahm.

Die Mesarthim waren zu viert, drei Männer und eine Frau.Sie waren tatsächlich so blau wie Eisberge. Falls die Mädchennoch einen Rest von Hoffnung gehegt hatten, dass ihre Muttersich unter ihnen befand, starb diese nun. Nyoka hatte genausohellblondes Haar gehabt wie ihre Töchter. Diese Frau hinge-gen hatte schwarze Ringellocken. Was die Männer betraf, sowar einer hochgewachsen mit geschorenem Kopf, und einemhingen dicke weiße Zöpfe bis zur Taille. Der letzte in der Rei-he wirkte durchschnittlich, abgesehen von der blauen Haut.Zumindest auf den ersten Blick – braune Haare und ein un-scheinbares Gesicht. Er war weder groß noch klein, wederschön noch hässlich, und dennoch hatte er etwas an sich, dasden Blick gewaltsam auf sich zog und ihn von seinen Kamera-den abhob. Vielleicht seine breitbeinige Haltung und das arro-gant gehobene Kinn?

Ohne sichtbaren Grund war Kora und Nova sofort klar,dass er der Kapitän sein musste, der das Göttermetall zu einemWespenkörper geformt und das Schiff hierher geflogen hatte.Er war der Schmied.

Von allen Gaben der Mesarthim – und es gab unzählige, diesich immerzu in weitere Mutationen ausfächerten und ein ste-tig wachsendes Register der Magie bildeten – stand nur eine anoberster Stelle. Jedes Neugeborene auf Mesaret besaß einschlummerndes Talent, das erweckt wurde, wenn man das sel-tene blaue Element Mesarthium berührte, das auch Götterme-tall genannt wurde. Doch nur eine Handvoll unter Millionenbesaß die wertvollste Gabe: Diese wenigen vermochten das

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Göttermetall zu beeinflussen. Sie konnten das Mesarthium be-arbeiten, so wie sonst ein gewöhnlicher Schmied mit gewöhnli-chem Metall hantierte. Deshalb nannte man sie Schmiede, ob-wohl sie weder Feuer noch Hammer und Amboss benutzten,sondern bloß die Kraft ihres Geistes. Mesarthium war das här-teste aller bekannten Materialien. Es blieb völlig unbeeindrucktvon Schneidewerkzeugen, Hitze oder Säure und behielt nieauch nur einen Kratzer zurück. Aber vom Geist einesSchmieds ließ es sich beliebig formen und reagierte auf seineGedankenbefehle. Nur wer die Gabe besaß, konnte das Metallaus den Minen fördern, ihm Gestalt geben und erstaunlicheEigenschaften in ihm wecken. Die Schmiede konnten mit Me-sarthium bauen, darin fliegen, sich geistig mit ihm verbinden,sodass es regelrecht lebendig wirkte.

Von dieser Gabe träumten die Dorfkinder, wann immer sieDiener spielten. Jetzt flüsterten sie sich erhitzt und eifrig zu,wie ihre eigenen Schiffe aussehen würden: geflügelte Haie,schwerelose Schlangen, metallische Greifvögel, Dämonen undRiesenrochen. Manche Vorschläge waren weniger bedrohlich:Singvögel, Libellen und Meerjungfrauen. Aoki, der zu Korasund Novas kleinen Halbbrüdern gehörte, verkündete stolz, seinSchiff würde aussehen wie ein Hintern.

»Die Tür ist dann das Po-Loch«, kiekste seine Knabenstim-me, und er zeigte bei sich auf die entsprechende Stelle.

»Gütige Thakra, hoffentlich wird Aoki kein Schmied«,sandte Kora ein geflüstertes Stoßgebet an die weltenwanderndeSeraphim, die sie in ihrer kleinen Felsenkirche verehrten.

Nova unterdrückte ein Lachen. »Ein fliegender Arsch alsKriegsschiff wäre wirklich furchterregend«, sagte sie. »Wennsich herausstellt, dass ich eine Schmiedin bin, sollte ich ihm dieIdee vielleicht stibitzen.«

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»Nein, solltest du nicht«, sagte Kora. »Unser Schiff wird na-türlich ein Uul, in zärtlicher Erinnerung an unsere Heimat.«

Diesmal konnten sie ihr Lachen nur ungenügend dämpfen,sodass ihr Vater sie hörte. Ein Blick von ihm brachte sie zumSchweigen. Darin war er wirklich gut. Sie fanden, die passendeGabe für ihn hätte gelautet: Stimmungstöter, Feind jedes Ge-lächters.

Tatsächlich hatte seine Testung ergeben, dass er ein Ele-mentar war. Er konnte Objekte zu Eis gefrieren lassen, wasebenfalls zu seinem Charakter passte. Allerdings war sein Ta-lent gering, genau wie Skoyës und das aller anderen Bewohnervon Rieva … und im Grunde von fast jedem auf der Welt.Starke Gaben waren selten. Genau deshalb wurden die Dienerauch auf Reisen wie diese geschickt, testeten Leute an jedemdenkbaren Ort und suchten die Nadeln im Heuhaufen, um siein ihre Reihen aufzunehmen.

Kora und Nova wussten, dass sie zu den Nadeln gehörten.So musste es einfach sein.

Ihre heitere Laune wurde jäh fortgewischt, was nicht so sehram strafenden Blick ihres Vaters lag, sondern an den Mienender Diener, als diese die versammelten Frauen betrachteten…und rochen. Sie konnten ihren Ekel kaum verbergen. Einermurmelte seinem Nachbarn etwas zu, der darauf ein kurzesharsches Lachen ausstieß, als hätte er Husten. Kora und Novakonnten es ihnen nicht einmal verdenken. Der Gestank warselbst dann grotesk, wenn man an ihn gewöhnt war. Wiemusste er erst auf Leute ohne Uul-Erfahrung wirken, die nieim Leben gezwungen gewesen waren, ein solches Untier zuenthäuten oder auszuweiden? Der Gedanke war schmerzhaft,denn für die fremden Besucher waren sie beide nur Teil einesabstoßenden Menschengewühls, ununterscheidbar von den an-

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deren. In ihren Köpfen formte sich der gleiche verzweifelteSatz. Den Schwestern war nicht klar, dass sie im selben Mo-ment dasselbe dachten, allerdings wäre keine der beiden über-rascht gewesen, hätte sie es gewusst.

Seht her, flehten sie in Richtung der Mesarthim. Ihr müsstuns sehen.

Und als hätten sie den Gedanken laut ausgesprochen, nein,als hätten sie ihn geschrien, brach einer der vier mitten im Re-den ab, drehte sich um und starrte sie an.

Die Schwestern waren starr vor Schreck. Sie umklammertengegenseitig ihre von der Arbeit steifen Finger und schaudertenunwillkürlich vor seinem Blick zurück. Bei dem Mann handel-te es sich um den hünengroßen Diener mit dem kahlgeschore-nen blauen Haupt. Er hatte sie gehört. Offenbar war er ein Te-lepath. Seine Augen bohrten sich in ihre, und… er tauchte insie ein. Er durchstreifte sie wie ein Windhauch das Gras, blät-terte ihr Innerstes auf. Er sah sie, genau wie sie es sich ge-wünscht hatten. Dann sagte er etwas zu der Frau, und siewandte sich an Shergesh.

Der Dorfälteste kräuselte bei ihren Worten wenig erfreutdie Lippen. »Vielleicht die Jungen zuerst …«, setzte er an.

Doch die Frau sagte: »Nein. Ihr habt Dienerblut bei euch.Wir werden mit den beiden anfangen.«

Und so wurden Kora und Nova in das Wespenschiff ge-führt. Die Tür schmolz hinter ihnen zu.

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Ungewohnte Schrecken

Für Sarai waren Albträume wie die Luft zum Atmen gewesen.Seit ihrem sechsten Lebensjahr, viertausend lange Nächte, hat-te sie die Träume von Weep durchschritten, Horrorvisionengesehen und erschaffen. Sie war die Muse der Albträume. IhreMottenspäher hatten sich auf jeder Braue der Stadt niederge-lassen, und weder Mann, Frau noch Kind waren vor ihr sichergewesen. Sie kannte das Leid und die Scham der Menschen,ihre Ängste und Schmerzen, und sie hatte gedacht … sie hattemit Sicherheit geglaubt, jeder Schrecken sei ihr bekannt undnichts könne sie mehr überraschen.

Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie auch noch nicht in ei-nem Blumenbeet des Zitadellengartens knien müssen, um ih-ren eigenen Körper zur Einäscherung vorzubereiten.

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Das arme Ding lag zerbrochen zwischen weißen Blüten undergab einen wunderhübschen Farbkontrast: blaue Haut, rosaro-te Seide, zimtfarbene Haare, rotes Blut.

Siebzehn Jahre lang war das hier ihr Ich gewesen. DieseFüße waren in rastlosen Kreisen über den Zitadellenboden ge-tigert. Mit diesen Lippen hatte sie gelächelt, Motten in denHimmel geschrien und Regenwasser aus silbernen Prunkbe-chern getrunken.

Ihr ganzes Selbst war darin verankert, in dem Fleisch undden Knochen, die vor ihr lagen. Doch der Tod hatte sie her-ausgerissen und gehäutet, sodass dieser Körper nun nicht mehrwar als… ja, was? Ein Objekt. Ein Artefakt ihres beendetenLebens. Und gleich würden sie ihn verbrennen.

Es würde immer wieder neue, ungewohnte Schrecken ge-ben. Das wusste sie jetzt.

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