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1 Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Mossul oder: Wo ist die Front? Autor: Marc Thörner Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf 2017 Erstsendung: Dienstag, 27.06.2017, 19.15 Uhr Mitwirkende: Autor: Wolfgang Condrus Übersetzer 1: Glenn Goltz Übersetzer 2: Daniel Wiemer Übersetzer 3: Daniel Berger Übersetzerin 1: Maya Bothe Übersetzerin 2: Justine Hauer Zitatorin: Sigrid Burkholder Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

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Page 1: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur · 3 O-Ton Col Ryan Dillon: This week in Mossul, Iraqi Security Forces continued to push forward from the north and west portion, keeping

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature Mossul

oder: Wo ist die Front?

Autor: Marc Thörner Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf 2017 Erstsendung: Dienstag, 27.06.2017, 19.15 Uhr Mitwirkende: Autor: Wolfgang Condrus Übersetzer 1: Glenn Goltz Übersetzer 2: Daniel Wiemer Übersetzer 3: Daniel Berger Übersetzerin 1: Maya Bothe Übersetzerin 2: Justine Hauer Zitatorin: Sigrid Burkholder

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

© - unkorrigiertes Exemplar -

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Musik Atmo: Markt

O-Ton Mohammed Hassan:

Übersetzer 1:

Mit Da'esch ist es aus!

O-Ton Omar: Arab.

Übersetzer 2:

Es gab kein Leben unter dem IS. Kein Essen, keinen Strom, gar nichts. Sie haben alle

möglichen Strafen über die Menschen verhängt. Wer rauchte, dem wurde ein Finger

abgeschnitten. Wer sich rasierte, bekam vierzig Stockschläge. Welche Hosen man

tragen musste, haben sie uns ebenfalls vorgeschrieben.

O-Ton Mohammed Hassan:

Übersetzer 1:

Ja, alles war verboten. Wir durften sogar das Dischdascha-Gewand nicht tragen, unsere

normale Alltagskleidung. Da hab ich jemanden mal gefragt: was hat das mit Islam zu

tun, erklär mir das mal. Der IS-Mann hat darauf nur gesagt: ‚Rede nicht so viel. Her mit

deinem Ausweis!‘ Für mich sind das die Feinde des Islam.

O-Ton Omar: Arab.

Übersetzer 2:

Aber jetzt ist die Ideologie der Teilung vorbei. Egal ob Schiiten, Sunniten, Christen,

Jesiden, wir sind alle Brüder. Ich hoffe, dass auch die Christen wieder zurückkommen.

Ansage:

Mossul

oder: Wo ist die Front?

Ein Feature von Marc Thörner

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O-Ton Col Ryan Dillon:

This week in Mossul, Iraqi Security Forces continued to push forward from the north and

west portion, keeping up pressure on ISIS. As expected, the tight confines of the

remaining neighborhoods, the well defended urban canyons have proven to be very

difficult to liberate.

- Atmo Markt

Autor:

Auf den ersten Blick scheint alles übersichtlich in der zweitgrößten Stadt des Irak –

Mossul war seit 2014 inoffizielle irakische Hauptstadt des so genannten Islamischen

Staates.

Auf einem kleinen Markt am Ostufer des Tigris, in einem vor wenigen Wochen

zurückeroberten Stadtteil. Die Menschen geben sich enthusiastisch, die islamistische

Terrorherrschaft ist vorbei.

- Atmo Markt

O-Ton Col Ryan Dillon:

The ISF are methodically clearing street by street, house by house and room by room.

The ISF have remained focused on the safety of civilians as they clear ISIS-held areas,

moving them out of danger as much as possible. Meanwhile, ISIS perverts to brutalizing

and murdering fleeing civilians.

Atmo: Autofahrt

Autor:

In der Altstadt am Westufer hingegen harren noch Tausende unter der Herrschaft des IS

aus, dem Terror des Da’esch, wie die Kritiker das selbsternannte Kalifat nennen. Die IS-

Kämpfer leisten noch immer heftigen Widerstand. Dort, auf der anderen Seite des

Flusses, sehen wir dicken schwarzen Rauch aufsteigen. Immer wieder erschüttern

Detonationen den Boden unter unseren Füssen.

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O-Ton Fuad:

Das ist der historische Eingang Stadt Mossul. Wir sehen gerade ein sehr großen Rauch

von rechte Seite von Mossul. Entweder infolge Bombardierung oder ein

Selbstmordattentäter von IS gegen irakische Armee. Man hört gerade auch, dass...

Krankenwagen

Atmo: Sirene, Krankenwagen fährt vorbei

Autor:

Wir: das sind Fuad, mein kurdischer Begleiter und Helfer, der ebenfalls einheimische

Fahrer aus Erbil und ich. In einem möglichst unauffälligen alten Taxi versuchen wir uns

im frisch eroberten Teil von Mossul zurechtzufinden.

Die Viertel, die wir durchfahren, wurden schon vor Wochen von der irakischen Armee

eingenommen. Und wenn das so ist, wo sind dann diese Eroberer?

Wir hatten uns überall Armee und Polizei vorgestellt. Befehlsstellen.

Kommandozentralen. Gut organisierte Sieger unter den Augen der US-geführten Anti-

IS-Koalition. Vielleicht auch Presseoffiziere, die man fragen kann, wo hier was zu finden

ist und wo die Front genau verläuft, die diese Stadt noch teilt. Stattdessen: keine

Eroberer weit und breit, nur eine riesige Trümmerwüste,.

O-Ton Fuad:

Überall Zerstörungen, an beiden Seiten der Straßen, Häuser, Gebäude. Durch Schlacht,

aber auch durch Bombardierungen von Alliierten.

Autor:

In manchen Straßenzeilen ist etwa jedes dritte Haus nur noch ein Haufen aus

zerbröseltem Beton.

Anderswo sind die Betondächer V-förmig eingedrückt, so als habe eine gigantische

Hand einen Karateschlag darauf gelandet. Die Art der Beschädigungen weist auf ein

Präzisionsbombardement hin. Allerdings sind so viele Häuser, eins neben dem anderen,

präzise getroffen, dass sich, von außen gesehen, kaum ein Unterschied zum

Flächenbombardement erkennen lässt.

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Einige Bewohner ziehen zwischen den Ruinen kleine Karren hinter sich her. Andere

stehen vor den Läden, die in den unversehrten oder nur gering beschädigten Gebäuden

wieder geöffnet haben.

Nirgendwo Spuren irgendeiner Verwaltung.

O-Ton Fuad:

Man sieht zivile Leute. Läden sind auf, aber man sieht keine Polizei. Man sieht überall

Zerstörungen, es gibt keine Sicherheitskräfte, keine Regierung, Polizei. Handbremse

wird angezogen.

Autor:

Plötzlich stoppt uns auf der Straße heftig winkend ein älterer Mann, offenbar ein Zivilist.

Er spricht Fuad auf Kurdisch an. Er sei Kurde, sagt der Mann, kein sunnitischer Araber,

wie die meisten Einwohner von Mossul. Und er wolle uns warnen. Den Menschen in

diesen Stadtteilen sei nicht zu trauen, auch wenn sie noch so sehr auf den IS

schimpften und die Eroberer rühmten, die schiitisch dominierte irakische Armee.

O-Ton Kurde: kurd.

Übersetzer 3:

In diesem Stadtteil ist der IS noch immer da. Ihre Kämpfer verstecken sich nur vor der

irakischen Armee. Ihr Netzwerk ist völlig intakt.

- O-Ton läuft als Atmo weiter

Autor:

Der Kurde lotst uns in einen kleinen Innenhof. Empfiehlt uns, erst mal hier zu bleiben,

bis er draußen die Lage gepeilt, also herausgefunden hat, ob wir von hier aus

unbeachtet weiter Richtung Front kommen können. In einen Stadtteil, in dem die

irakische Armee präsent ist.

Atmo: Innenhof

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Autor:

Sollen wir tun, was er uns vorschlägt oder ist dieses Angebot eine Falle?

Fuad beruhigt mich, er glaubt unbesehen, was ihm der andere Kurde sagt. Die

sunnitischen Araber hier sind ein Risikofaktor, meint er.

Ursprünglich, erklärt er, war Mossul eine kurdische Stadt im kurdisch dominierten

Norden des Irak. Durch eine forcierte Arabisierung habe sie sich seit den 1960er-Jahren

dann allerdings zum Aushängeschild des sunnitischen arabischen Nationalismus

entwickelt.

- Atmo Innenhof läuft weiter

O-Ton Fuad:

Die Stadt Mossul war die Hochburg für Baathisten. 90 Prozent von irakischer Armee,

Deswegen, man sieht IS immer noch in Mossul. Im Prinzip, die Leute aus Stadt Mossul,

die meisten waren mit IS. Das ist Wahrheit.

Autor:

Was haben Baathisten mit den radikalen Islamisten des IS zu tun? Der Baathismus ist

eine betont weltliche, arabisch-nationalistische oder arabisch-sozialistische Ideologie.

Staatsdoktrin im Irak von 1963 bis 2003. Staatsdoktrin in Syrien bis heute; getragen vom

Assad-Clan.

Die Anhänger solch national betonter Führerkulte wollen die vergangene arabische

Größe wiederherstellen und zu neuer Macht führen. Sie setzen offiziell auf Fortschritt,

möchten modern und international geachtet sein und beteuern immer wieder, wie sehr

sie gegen den religiösen Fanatismus seien.

Fuad kramt in seiner Tasche und zeigt mir, was er sein „schwarzes Souvenir“ nennt.

Eine irakische Fibel für Schulkinder, gedruckt Anfang der 1990er-Jahre.

Auf ihrem Einband prangt ein schnurrbärtiger Saddam Hussein im Kampfdress. Das

Buch enthält verschiedene arabische Gedichte.

Atmo: Marsch der Baath-Partei

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Autor:

Die Verse sind mit bunten Zeichnungen illustriert. Kinder in Uniform. Kinder im Panzer.

Kinder salutieren vor Soldaten. Auffallend viele blonde Kinder. Die Jungen tragen kurze

Hosen.

Die Mädchen in ebenfalls kurzen, luftigen Kleidchen, blicken aus großen Kulleraugen

und haben bunte Blumen im Haar. Ein Knabe in einer Art Pfadfinderkluft reißt vor

Freude die Arme empor, weil über ihm ein iranischer Kampfjet explodiert.

Zitatorin:

„Unterhaltung der Helden.

Der Führer hat gesagt: Ohne euch gäbe es keine Revolution.

Das Volk antwortet: Ohne Dich gäbe es keine Idee.

Der Führer sagt: Wir haben entschieden – im Namen des Volkes.

Das Volk sagt: Wir folgen Dir auf Deinem Weg.

Der Führer sagt: Ohne Sieg kehren wir nicht heim.

Das Volk sagt: Wir sind hinter dir, ein Leben lang.

Der Führer sagt: Hoch das Volk, das widersteht!

Das Volk ruft: Hoch das Militär!“

Atmo: Innenhof / Stimme des Kurden

Autor:

Inzwischen taucht der ältere Kurde wieder auf. Er könne uns jetzt einen relativ sicheren

Weg empfehlen, sagt er und weist uns auf die Straßen hin, durch die wir unbedenklich

weiterfahren könnten, in die Stadtviertel unter besserer Kontrolle der irakischen Armee.

Atmo: Autofahrt

Autor:

So steuern wir unser Taxi über die empfohlenen Verbindungslinien, immer darauf

bedacht, nicht in allzu verlassene und daher verdächtige Zonen zu geraten….

Ich erzähle derweil Fuad von meiner einzigen Begegnung mit einem Baathisten. Einer

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Baathistin, besser gesagt, 2004, rund ein Jahr, nachdem die US-Armee Bagdad erobert

hatte.

Nada, so nannte sie sich, gehörte bereits dem Widerstand gegen die US-

amerikanischen Befreier an.

Sie hatte überaus säkular ausgesehen, so weltlich, wie sich der Baathismus eben gibt.

Ohne Kopftuch, mit blondierten Haaren, goldenen Ohrgehängen, stark geschminkt. Sie

war Biologin, selbstbewusst und fortschrittlich. Eine Frau, so wie sie die noch bis vor

wenigen Monaten herrschende Ideologie zum Ideal erklärt hatte. Allerdings, darauf wies

Nada mich hin, definiere sich die Partei inzwischen nicht länger nur über den

Säkularismus.

O-Ton Baathistin:

Übersetzerin 2:

Ich bin Muslimin. Gleichzeitig glaube ich an die Baath-Ideologie und an den Sozialismus.

Ich sehe da keine Unterschiede. Besonders nicht in dieser Phase. Dies ist die Phase

des Befreiungskampfes. Die Baath-Partei hatte bereits vor längerem eine ihrer

Fraktionen dazu abgestellt, das islamische Bewusstsein in der Bevölkerung zu stärken.

Das nannte sich: die islamische Etappe.

Autor:

Und auch bei den Formen des Widerstandes sei man durchaus offen für neue

Techniken und Taktiken.

O-Ton Baathistin:

Übersetzerin 2:

Ich habe Biopharmazie studiert, deshalb erzähle ich immer gern Beispiele aus diesem

Bereich.(/)Unlängst habe ich einen wundervollen Artikel gelesen, über

Selbstmordattentate. Die Selbstmordattentate wurden darin als Beispiel benutzt. Es ging

um bestimmte Bakteriengruppen. Wenn die von einem Feind angegriffen werden,

bereiten sich einige von ihnen auf einen Selbstmordangriff vor. Sie bewegen sich auf

den Feind zu und versprühen ein Gift, das sie selbst tötet. Aber gleichzeitig töten sie den

Feind! Um den Rest der Gruppe zu beschützen! Und das sind bloß winzig kleine

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Bakterien, ohne Kultur, ohne Religion. Nur Zellen, denen ihre DNA aufträgt, was sie tun

sollen. Und jetzt stellen Sie sich eine ganze Nation vor, mit einer 7000-jährigen

Geschichte. Mit einer sehr stark ausgeprägten arabischen, islamischen Kultur. Wenn Sie

das Beispiel der Mikroben verstehen, verstehen Sie auch, warum Menschen bereit sind

so lange zu warten, bis es an ihnen ist zu sterben.

Autor:

Was sie beschrieb, sei keine Theorie, betonte sie und lieferte ein Beispiel für die

täglichen Aktionen gegen die US-Besatzer.

O-Ton Baathistin:

Übersetzerin 2:

Einer unserer Freunde saß bei Bekannten zu Hause, man sprach über den irakischen

Widerstand: wie wichtig er sei, für den Irak und für die ganze Welt. Und eines der

Kinder, die zuhörten, ein elfjähriger Junge fing plötzlich an zu lachen. Der Junge gehörte

nämlich selbst zum Widerstand, zu einer kleinen Gruppe, die sich in der Stadt gebildet

hatte. Ihre Aufgabe war, auf einen Knopf zu drücken und eine Bombe auszulösen. (/) Er

hörte wie die Großen redeten über den Widerstand und der Junge leistete ihn Tag für

Tag vor Ort. Aber zwei Tage später wurde derselbe Junge bei dem Versuch getötet, am

Straßenrand eine Bombe zu legen. Er tat das unsachgemäß und die Bombe ging mit

ihm zusammen hoch. Das ist wundervoll!: Denn andere Kinder in seinem Alter

interessieren sich für Schokolade und Coca Cola. Aber dieser großartige kleine Junge

hat sich dafür entschieden, gegen die Besatzer zu kämpfen.

Autor:

Fuad ist wenig überrascht von dem, was mir die Baathistin Nada damals sagte. Diese

Denkweise, so meint er, sei nahtlos in die Logik des IS übergegangen.

O-Ton Fuad.

Die haben gemeinsame Linien. (/) Die meisten ISIS-Mitglieder sind Anhänger von

Baathisten. Sie ergänzen dieselben Linien von Saddams Politik. Zum Beispiel gegen

Menschlichkeit. Ermordung, Arabisierung, Unterdrückung. Das ist alles, was Saddam

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begonnen hat. Es geht immer noch weiter. Aber diesmal nicht im Namen einer

politischen Partei, sondern im Namen einer (/) terroristischen Organisation, die ISIS

heißt.

Atmo: Ausgabestelle

Autor:

An einer Ecke stoßen wir auf eine Ausgabestelle für Medikamente und steigen aus dem

Auto. Viele Kinder stehen hier für ihre Eltern an, die meisten sind zwischen zehn und

fünfzehn Jahre alt. Sie gehören der Generation nach der Baathistin Nada an, könnten

also ihre Söhne sein.

Atmo Ausgabestelle

Autor:

Nein, ich kann nicht lesen und schreiben, sagt ein etwa Vierzehnjähriger. Als der IS die

Schulbildung übernahm, habe er mit der Schule aufgehört.

Atmo: Ausgabestelle

Autor:

Sie alle sind unter der IS-Herrschaft zur Schule gegangen, erzählen seine Freunde. Ab

2014, nachdem der IS Mossul erobert hatte. Im Mathematikunterricht hätten sie nicht

mehr wie früher mit Äpfeln, sondern mit Munition rechnen müssen. Deshalb sei er

schließlich ganz vom Unterricht weggeblieben, sagt der etwa 12-jährige Barzan. Seit

drei Jahren sei er in keiner Schule mehr gewesen.

Nachdem die Lehrer sie aufgefordert hätten, sich wie kleine Afghanen anzuziehen, habe

sein Vater ihn nicht mehr in die Schule geschickt.

Atmo: Stimmen Barzan und Freunde

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Autor:

Patrone plus Patrone, Bombe plus Bombe, erzählen die anderen, so sei der

Mathematikunterricht unter dem IS gelaufen. Im Schulbuch vom IS seien

unterschiedliche Waffen abgebildet gewesen. Und Barzans Freund ergänzt: Der IS-

Lehrer sei mal mit einem großen Teddy angekommen. An diesem Modell habe die

Klasse dann lernen müssen, wie man einen Menschen enthauptet.

- Atmo Ausgabestelle

Autor:

Barzan will trotzdem später mal Lehrer, sogar Schuldirektor werden. Sein Freund ist

bescheidener: Einfach nur lesen und schreiben können, das ist sein Ziel.

Die Gesellschaft, die der Da’esch hinterlassen hat, erscheint mir als eine Gesellschaft

des geistigen Nichts. Ein Nichts, das nur noch Raum für die angemaßte

Selbstbehauptung lässt und für die Vernichtung der ‚Anderen‘, der Feinde.

Khalaf Obeid, Stadtrat: Arab.

Übersetzer 1:

Vor zweieinhalb Jahren hat die Regierung in Bagdad beschlossen, alle Schulzeugnisse,

die unter dem IS ausgestellt werden, nicht anzuerkennen. Seitdem haben die Eltern

aufgehört, ihre Kinder dort in die Schulen zu schicken. Auch deshalb, weil viele mit dem

Bildungssystem des IS nicht einverstanden waren.

Atmo: Muezzin, Rühren in Teetassen, Generator.

Autor:

Khalaf Obeid sitzt in einem Plüschsessel à la Louis XVI., neben sich ein

Marmortischchen mit winzigen Teetassen. Hinter sich die irakische Fahne. Ein

Generator sorgt für eiskalte Luft. Obeid repräsentiert die hiesigen Sunniten und fungiert

als Planungschef beim Rat von Niniveh, der Provinz, deren Hauptstadt Mossul ist.

In seinem Büro versucht er mit dem etwas zusammengewürfelten neo-osmanischen

Rokoko auf fast rührende Art so etwas wie Regierungsatmosphäre herzustellen. Doch

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mit dieser Fassade lässt sich kaum etwas an der Lage ändern, mit der sich der Rat

auseinandersetzen muss. Die heute Zehnjährigen, meint Khalaf Obeid, seien eine

verlorene Generation.

Khalaf Obeid Arab.

Übersetzer 1:

2014, als Mossul vom IS erobert wurde, war mein Sohn in der zweiten Klasse. Ich

konnte ihn von hier rausbringen. Deshalb ist er jetzt in der fünften Klasse. Aber seine

Schulkameraden, die noch in der Stadt geblieben sind, sind bis heute auf dem

Wissensstand der zweiten Klasse. Auch im bereits befreiten Teil von Mossul gibt es

immer noch keine Schule. Die Lehrer bekommen seit zwei Jahren kein Gehalt. Und in

den Flüchtlingslagern ringsum hat man insgesamt acht große Zelte für die

provisorischen Schulen vorgesehen. Acht Zelte für 7500 Kinder. Wenn das so

weitergeht, bekommen wir neben dem Problem mit dem Terror noch ein anderes

Problem mit Jugendkriminalität.

Autor:

Und diese Generation weitgehend ohne Schulbildung, so Planungschef Obeid, treffe auf

einen neuen Konflikt. Einen, der wohl nach der endgültigen Eroberung Mossuls

ausbrechen werde. Herbeigeführt von einem Teil der Truppe, die jetzt als Eroberer in die

Stadt einziehen: Den schiitischen Freiwilligenmilizen: Hascht al Schaabi.

O-Ton Khalaf Obeid: Arab.

Übersetzer 1:

Die Schiitenmilizen sind noch gefährlicher als der IS. Der IS ist eine Gruppe, die offen

außerhalb jeglicher Gesetze agiert, außerhalb von Recht und Ordnung. Aber die Hascht

al Schaabi wurden durch irakische Gesetze ins Leben gerufen. Diese Kämpfer machen

einfach, was sie wollen und sind dabei durch das Gesetz geschützt. Wenn sie die

Mehrheitsbevölkerung Mossuls weiter unter Druck setzen, kann das bewirken, dass der

IS wieder zurückkehrt.

Atmo: Fuad: „Checkpoint, ja. “

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Fuad: „Man merkt hier ein Auto, steht darauf: Hascht al Schaabi. Checkpoint von Hascht

al Schaabi-Milizen.“ Checken durch Hascht al Schaabi.

Autor:

Die Hascht al Schaabi, übersetzt: Volksmobilisierungskräfte, sind im eroberten Teilen

Mossuls überall anzutreffen: Junge stoppelbärtige Männer, schwarz gekleidet mit

Halstüchern und um den Körper geschlungenen Patronengurten.

An ihren Fahrzeugen und Kontrollposten flattern Fahnen, auf denen die von den

Schiiten verehrten Heilsbringer zu sehen sind: Prophetenschwiegersohn Ali und dessen

Sohn Hussein. Wir werden angehalten und sollen unsere Presseausweise zeigen.

Milizionär:Almania? How are you? Autor: Fine! Milizionär klopft auf Auto. „OK.“

Fuad: „Das war ein Checkpoint von Hascht al Schaabi.“

- Atmo Autofahrt

Autor:

Rund 70 Prozent der Iraker sind Schiiten. Bis zum Sturz des Saddam-Hussein-Regimes

wurden sie aber von einer sunnitischen Minderheit regiert, derselben, deren Hochburg

Mossul war.

Zum ersten Mal seit Menschengedenken erscheinen mitten in der Sunnitenhochburg

Mossul an prominenten Stellen die schiitischen Symbole. Je mehr wir uns der Front

nähern, desto häufiger entdecken wir Fahnen mit den Konterfeis von Ali Ibn Abi Talib,

dem Stammvater der Schiiten und dessen Sohn Hussein. Auf Militärfahrzeugen und

über Stellungen flattern die schwarzen Trauerfahnen der Schiiten.

Atmo: Predigt Schiitengeistlicher

Autor:

Nachdem die Radikalsunniten vom Da‘esch 2014 große Teile des Irak erobert hatten,

rief die schiitische Geistlichkeit im Land die Gläubigen dazu auf, den tausendjährigen

Kampf gegen die Usurpatoren und um die gerechte Führung der Gemeinde wieder

aufzunehmen.

Schon nach dem Tod des Propheten hätte aus ihrer Sicht die Führung der Gläubigen an

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den rechtmäßigen Nachfolger übergehen sollen: an Mohammeds Schwiegersohn Ali,

von Mohammed seit langem dazu bestimmt. Doch die Schiiten gerieten auf die

Verliererseite, zugunsten der sunnitischen Mehrheitsmuslime, die etwa 90 Prozent der

islamischen Welt beherrschen. Viele Schiitengeistliche interpretieren die jüngste

irakische Geschichte als ein Ringen um Gerechtigkeit.

Atmo: Predigt Schiitengeistlicher Ende

Autor:

Schiiten wurden immer wieder unter den Mehrheitsmuslimen verfolgt. Saddam Hussein

ließ ihre prominenten Geistlichen verhaften, Tausende und Abertausende Anhänger

dieser Glaubensgemeinschaft ließ er ermorden und in Massengräbern verscharren,

Menschen von denen er annahm, sie seien mit dem schiitischen Iran verbündet – oder

könnten auf andere Weise seiner Herrschaft gefährlich werden.

Welches Ausmaß diese Verbrechen erreicht hatten, sah ich kurz nach der US-

amerikanischen Eroberung Bagdads. Damals tauchten schiitische Organisationen aus

dem Untergrund auf und sicherten in den verlassenen Verwaltungsstellen und

Polizeistationen Dokumente

O-Ton Walid al Hilli:

Übersetzer 2:

Bis jetzt sind 200 000 Akten sichergestellt worden. Sie betreffen Menschen, die vom

Saddam-Regime exekutiert wurden.

Atmo: Computertasten, Frage des Angestellten und Antwort der Angehörigen

Autor:

Die ‚Free Prisoner‘s Association‘ war eine Art Selbsthilfegruppe, in der sich die Opfer

des Saddam-Regimes und ihre Angehörigen organisierten. Tagtäglich standen viele

Schlange, um aus den durch die Free Prisoners beschlagnahmten Akten Aufschluss

über das Los ihrer Väter oder Söhne zu erhalten, die in den Gefängnissen

verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren. Zum Vorstand dieser NGO gehörte

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auch Walid al Hilli, führendes Mitglied der Dawa. Einer religiös orientierten Partei, die

zugleich über eine eigene Miliz verfügte.

O-Ton Walid al Hilli:

Übersetzer 2:

Ich bin im Besitz der Namen sämtlicher Sicherheitsleute des Saddam-Regimes samt

ihrer Adressen. Ich habe eine CD mit ihren Lebensläufen, ihrem beruflichen Werdegang:

Vier Jahre in Bagdad, vier Jahre in Hilla, vier Jahre in Kerbela und so weiter, aktualisiert

bis ins Jahr 2003. Ich habe die Namen der Fedayin-Saddam, der Geheimdienstagenten.

Ich habe ihre Adressen, ihre Telefonnummern ihre Privatanschlüsse zu Hause.

Autor:

Schon damals hatte eine kaum verhüllte Drohung mitgeschwungen:

O-Ton Walid al Hilli:

Übersetzer 2:

Wir erwarten von diesen Leuten, dass sie sich freiwillig der Justiz stellen und uns sagen,

was sie getan haben und weshalb sie es getan haben. Wir erwarten zweitens eine

Entschuldigung und die Bitte um Vergebung. Sollten sie sich entscheiden, ihre

Geheimnisse bewahren zu wollen, dann werden sie vor ein Gericht gestellt.

Autor:

Heute, vierzehn Jahre später, gehört Walid al Hillis Dawa-Partei zu denen, die die

schiitischen Freikorps, die Hascht al Schaabi, stützen. Aus ihren Reihen rekrutieren sich

die jungen Männer, die gegen den IS in den Krieg ziehen. Für sie geht es auch um

Rache für ihre ermordeten und gefolterten Väter, Onkel und Brüder. Und diese

Verbände werden von der US-geführten Koalition mit Vorliebe dort eingesetzt, wo die

härtesten Bodenkämpfe stattfinden – man kann das in den täglichen Briefings der

Koalition in Bagdad hören.

O-Ton Col Ryan Dillon:

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Übersetzer 3:

Den Volksmobilisierungskräfte unter dem Schirm der irakischen Sicherheitskräfte ist es

gelungen, Baash zurückzuerobern. Damit konnten sie in dieser Woche auf einem Gebiet

von rund 1000 Quadratkilometern die Landstriche und Dörfer bis zur irakisch-syrischen

Grenze erobern.

Autor:

Der religiöse Impetus der Milizen, oft verbunden mit dem Drang nach Rache, mache

ihren Einsatz in sunnitischen Gegenden so brisant, hatte Ratsmitglied Khalaf Obeid in

Mossul gewarnt. Denn dadurch könnte der internationale Einsatz gegen Terror und

Gewalt zu einem neuen Religionskrieg uminterpretiert werden.

O-Ton Khalaf Obeid:

Übersetzer 1:

Als Niniveh-Rat haben wir deshalb mit Mehrheit entschieden, dass die Hascht al

Schaabi nicht nach Mossul vorrücken sollen. Aber Premierminister al Abadi interessiert

sich für unser Votum nicht.. Sie sind also entgegen unserer ausdrücklichen

Entscheidung in die Stadt eingerückt. Aber die Einwohner Mossuls wollen diese

schiitischen Milizen nicht. Immer wieder findet man jetzt neue Leichen in der Stadt,

Menschen, von denen niemand weiß, wie sie zu Tode gekommen sind. In anderen

Gegenden, in der sunnitischen Anbar-Provinz, in Ramadi, gab es bereits viele

Übergriffe, die ich als Kriegsverbrechen bezeichne. Außerdem sind die Hascht al

Schaabi nichts anderes als der verlängerte Arm des Iran.

Autor:

Wie sieht man bei der irakischen Armee diese Freikorps, diese aus dem Boden

gestampften Hilfstruppen? Als Konkurrenz, als unprofessionelle Amateursoldaten oder

als Kameraden, die für die gleiche Sache, die Befreiung vom IS, eintreten?

Atmo: Straße, Soldatenstimmen

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Autor:

In der Nähe der Universität von Mossul treffen wir auf eine Patrouille von zwei irakischen

Soldaten:

Atmo: Irakische Soldaten

Autor:

Gut, sehr gut funktioniere die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen, sagt der eine. Man

arbeite Hand in Hand zusammen. Die Hascht al Schaabi seien jetzt ebenfalls organisiert

wie eine richtige Armee. Mit Panzern, Artillerie, also der gleichen Ausrüstung, die auch

die Regulären einsetzten.

Atmo: Soldaten irakische Armee

Autor:

Beide seien sie Schiiten, sagen die zwei, aber in der Hauptsache seien sie Muslime. Alle

Städte gehörten zum gleichen Land Irak. Alle gemeinsam verteidigten den Irak gegen

Da‘esch. „Wir verteidigen auch Christen, Jesiden und Sunniten“, sagen sie. Und „wenn

der IS in Deutschland zur Bedrohung werde, dann sind wir auch bereit für einen

Auslandseinsatz dort“.

Atmo: Straße Mossul (mit Generator)

Autor:

Die Universität, vor der die beiden patrouillieren, ist schwer zerstört, das Hauptgebäude

durch einen Präzisionsschlag der US-geführten Anti-IS-Luftwaffe. Gemäß der

allgegenwärtigen Ikonographie der Zerstörung V-förmig eingedrückt und in zwei Teile

gespalten. Metallgestänge und geborstene Eisenträger ragen heraus.

Der Lehrbetrieb sei provisorisch wieder aufgenommen informiert uns ein junger Dozent.

Ob er zu einem kurzen Interview bereit sei? Er blickt sich nach den zwei

patrouillierenden Soldaten um. Die lehnen erst ab, akzeptieren schließlich aber ein

kurzes Statement. Der Dozent nickt ihnen zu.

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O-Ton Dozent:

Übersetzer 3:

Die irakische Armee gibt sich die größte Mühe, die verbleibenden Rückstände von

Bomben und Raketen aus der Universität zu entfernen. Die Bevölkerung von Mossul hat

diese Armee begrüßt, weil sie weiß, dass sie weder die eine, noch die andere Seite

vorzieht.

- Atmo vor der Universität

Autor:

Immer mehr Studenten umringen uns. Die zwei Soldaten

behalten uns im Auge, befinden sich jetzt aber auf der anderen Straßenseite.

Und auf einmal ändern sich die Aussagen des jungen Dozenten.

O-Ton Dozent:

Übersetzer 3:

Wir haben große Angst angesichts all dieser Milizen. Und ich befürchte, dass der Iran

alles tut, um diesen Teil der Niniveh-Provinz unter Kontrolle zu bekommen (/), um seine

Macht mehr und mehr zu erweitern. Vor ein paar Tagen hat ein prominenter schiitischer

Milizenführer gesagt: Unsere künftige Einflusszone wird kein schiitischer Halbmond sein,

sondern ein schiitischer Vollmond.

Autor:

Ein Student ergänzt:

O-Ton Student:

Übersetzer 2:

Der Iran konzentriert sich meiner Meinung nach nicht speziell auf Mossul. Ihm geht es

um die Kontrolle über den gesamten Irak.

Autor:

Zum ersten Mal hören wir jetzt auch Kritik am Vorgehen der Anti-IS-Allianz.

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O-Ton Student: Arab.

Übersetzer 2:

Viele Zivilisten sind auch durch die Bombardierungen der alliierten Flugzeuge ums

Leben gekommen. Dieses Universitätsgebäude wurde allein von acht Raketen getroffen

und in zwei Teile auseinandergesprengt. Das war ein alliiertes Flugzeug. Das Gebäude

war zu der Zeit leer, aber die Opfer waren Menschen, die sich auf der Straße davor

befanden.

Autor:

Eine Studentin mischt sich ein:

O-Ton Studentin:

Übersetzerin 1:

Es gab viele Opfer durch die Luftangriffe. Durch einen davon wurde meine Freundin

getötet. Nicht nur sie hat es getroffen, viele, viele Zivilisten sind auf diese Art gestorben.

Aus meiner Sicht haben die Alliierten das absichtlich getan. Die Stellungen des IS sind

doch bekannt. Aber manchmal haben die Alliierten nicht diese Stellungen, sondern zivile

Häuser angegriffen. (/)Ich glaube, dass es ihnen darum geht, unsere Stadt gezielt zu

zerstören. Wie zum Beispiel dieses Universitätsgebäude.

Atmo: Straße

Autor:

Die irakischen Soldaten merken inzwischen, dass von einem kurzen Statement nicht

mehr die Rede sein kann, fuchteln mit den Armen herum und kommen auf uns zu.

- verblenden mit:

Atmo: Fuad: „Wir kriegen Ärger, glaub ich.“

Autor:

Wir grüßen höflich und beeilen uns weiterzukommen.

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Atmo: Klettern über Trümmer

Autor:

Jenseits des Univiertels erreichen wir Straßen, auf denen sich der Schutt der

umliegenden Gebäude so hoch auftürmt, dass das Pflaster darunter nicht mehr zu

erkennen ist. Einzelne sind durch Barrieren aus Schutt abgesperrt, vermutlich um auf

die Gefahr von Minen oder nicht explodierten Projektilen hinzuweisen.

Wir gehen die Straße entlang der zerstörten Straßenzeile weiter, so weit wie es uns

noch vertretbar erscheint.

Von einem Schuttberg blicken wir hinab aufs Tigrisufer. Von der anderen Seite des

Flusses steigt noch immer dicker schwarzer Qualm auf. In unregelmäßigen Abständen

erschüttern dumpfe Einschläge den Boden.

Atmo: Klettern über Trümmer Ende

Autor:

Was die Leute vor der Universität sagten, gibt mir zu denken. Vor allem, wie sie es

sagten. Geduckt und willfährig, solange die irakischen Soldaten zuhören – und wie um

Hilfe rufend, sobald die weg waren.

Von einer vorsätzlichen Zerstörung der Stadt hatte die Studentin gesprochen… das

würde bedeuten, Teile der Allianz verfolgen das Ziel, die Sunniten in ihrer

angestammten Hochburg zu vernichten… und das wiederum wäre der Grundriss eines

Religionskonflikts, angefacht durch internationale Beteiligung.

Atmo: Ankunft der Flüchtlinge

Autor:

Die gegenwärtige menschliche Katastrophe in Mossul kommt insbesondere aus Sicht

der betroffenen Sunniten, auch einer historischen Katastrophe gleich. Sie, die

Privilegierten von einst sind über Nacht in die Rolle der Vertriebenen und Besitzlosen

geraten.

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O-Ton Fuad:

In der Geschichte des Irak, das erste Mal wir sehen Leute aus Mossul als Flüchtlinge.

Sie waren immer mit dem Regime. Sie waren hochnationalistisch, sie hatten als

sunnitische baathistische Partei, sie waren starke Unterstützer von Saddam Hussein.

Autor:

Eine junge Frau trägt ein Neugeborenes auf dem Arm, dessen Bein stark gerötet und

ballonförmig angeschwollen ist.

O-Ton weiblicher Flüchtling: Arab.

Übersetzerin 1:

Wir konnten nachts fliehen. Es gab kein Essen, kein Wasser. Der IS hatte alles, aber hat

uns nichts abgegeben. Deshalb hatten wir kein sauberes Wasser, eine Dreckbrühe und

Mehl. Mein Baby braucht dringend eine Spritze, die kostet 200 Dollar, aber die haben

wir nicht.

O-Ton Flüchtling: Arab.

Übersetzer 1:

Ich komme aus dem umkämpften West-Mossul. Da bin ich vor zwei Tagen weg. Von

allen Seiten werden wir beschossen. Vom IS, der irakischen Armee, Flugzeuge werfen

Bomben ab. Viele schaffen es zwar, aus ihren Häusern rauszukommen, aber wenn sie

das tun, nimmt der IS sie unter Beschuss.(/)Für die, die noch in West-Mossul ausharren,

gibt es keine Lebensmittel mehr, kein Wasser, die Menschen ernähren sich von rohem

Teig.

Musik

Autor:

Wir verlassen Mossul, nehmen wieder Kurs auf Erbil und das kurdische

Autonomiegebiet. Eine Fahrt an unzähligen Checkpoints vorbei. Bewaffnete mit

unterschiedlichen Emblemen kontrollieren uns immer wieder.

Ich erinnere mich, was General Petraeus vor einiger Zeit geäußert hat, der langjährige

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Kommandeur der US-Truppen im Irak und spätere CIA-Chef.

Übersetzer 3/ Zitator Petraeus:

„Langfristig ist die erste Bedrohung für das innere Gleichgewicht im Irak nicht der

Islamische Staat…

Autor:

… sagte er 2015 im Interview mit der Washington Post.

Übersetzer 3/Zitator Petraeus:

„Der Islamische Staat ist drauf und dran besiegt zu werden. (…) Wird Da‘esch aus dem

Irak vertrieben, ist die Konsequenz, dass dann iranisch gestützte Milizen als mächtigste

Player aus dem Konflikt hervorgehen, dass sie die irakische Armee ähnlich in den

Hintergrund drängen wie das die Hisbollah mit der Armee des Libanon tut. Dann wäre

das nicht nur äußerst schädlich für die Stabilität und Souveränität des Irak, sondern

auch für unsere Interessen in der Region.“

Atmo: Checkpoint

Autor:

Der iranische Fußabdruck zeigt sich auch an der Abzweigung zu dem größten

christlichen Siedlungsgebiet des Irak – oder genauer: bis zu dem, was bis 2014 das

größte christliche Siedlungsgebiet war.

O-Ton Fuad:

Wir sind gerade neben der Stadt Karakusch. Eine christliche und historische Stadt für

Christen. IS hatte diese Stadt auch kontrolliert, 2014. Aber jetzt wieder frei.(/)Nach

meinen Informationen sind nur wenige Leute da. Und Bewaffnete von Hascht al Schaabi

sind in dieser Stadt.

Autor:

In Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion im Irak, scheinen die Christen

alarmiert. Einer ihrer wichtigsten Vertreter ist Romeo Hakari, von der Partei BET

Nahrain:

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O-Ton Romeo Hakari:

Übersetzer 2:

Wir befinden uns im siebten Monat nach Befreiung Karakuschs. Und wir stellen fest,

dass hunderte Häuser verbrannt sind und alles Mobiliar i geplündert oder zerstört ist.

Unsere Menschen fangen nun an zu glauben, dass es einen neuen Plan gegen sie gibt.

Autor:

Romeo Hakari nimmt an, dass die iranisch gestützten Schiitenkämpfer das Gebiet der

Christen nicht mehr räumen werden. Und die Familien, die riskieren wollen unter der

neuen Herrschaft zu leben, könnten sich dann ähnlichen Restriktionen ausgesetzt

sehen wie unter dem Terror des IS. Darauf, so sagt er gebe es ernst zu nehmende

Hinweise.

Er zeigt uns das Video einer Predigt von Scheich Musawi, Leiter der schiitischen

Wohlfahrtsstiftungen im Irak und als solcher einer der höchsten religiösen Würdenträger

des Landes.

Atmo: Predigt Schiitengeistlicher Musawi

Autor:

Für die Christen im Irak, so Scheich Musawi, gelte das Gleiche wie für die Juden und die

anderen nichtmuslimischen Religionen, etwa die Feueranbeter und die Sabäer.

O-Ton Romeo Hakari:

Übersetzer 2:

Scheich Musawi hielt die Predigt vor Studenten der religiösen Fakultät von Kerbela.

Es ist genau die Denk- und Handlungsweise von Da‘esch, als sie nach Mossul

einrückten: Sie gaben den Nichtmuslimen drei oder vier Möglichkeiten zur Auswahl:

Entweder da bleiben, aber als Muslime und die Rechte eines Menschen genießen oder

vertrieben werden. Und wer das nicht akzeptiert wird entweder mit dem Richtschwert

geköpft oder zahlt eine Schutzsteuer, die jeder Nichtmuslim monatlich dem Islamischen

Staat entrichten musste. Daraufhin haben etwa 99 Prozent unserer Menschen ihr

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Siedlungsgebiet verlassen. Sie wollten nicht wie Feinde im eigenen Land behandelt

werden. Und was Musawi nun sagt, ist genau der gleich Da‘esch-Diskurs, deshalb

protestieren wir dagegen.

Autor:

Die Verhandlungen über die Zeit nach dem Sieg über den IS haben längst begonnen.

Und die Christen seien dabei offensichtlich auf der Verliererseite, meint Romeo Hakari.

O-Ton Romeo Hakari:

Übersetzer 2:

Ehe die Operation zur Befreiung der Niniveh-Ebene begann, ist das Operationsgebiet in

zwei Teile gegliedert worden. Der eine wurde den kurdischen Peschmerga-Kräften

zugeschlagen und unseren eigenen Niniveh-Milizen, die an der Befreiung mitgewirkt

haben. Und eine Art Demarkationslinie ist zwischen der irakischen Armee und den

Peschmerga gezogen worden.

Wir haben der Kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung

gesagt, dass wir damit nicht zufrieden sind. Sie haben uns erwidert, dass es nur um eine

vorläufige militärische Einteilung geht, so lange bis die Operation beendet ist. Aber wir

fürchten, dass diese Linie bestehen bleiben wird. (/)Und wir wollen nicht, dass unser

historischer Siedlungsraum zwischen Kurden und Arabern aufgeteilt wird.

-arabs.

Autor:

Das erinnert ein wenig an das geheime britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen

von 1916, mit dem man nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches den Nahen Osten

unter sich aufteilte. Die irakischen Christen, aber auch Teile der kurdischen

Bevölkerung, werden nun wohl, ohne sie zu fragen, einer neuen schiitischen Herrschaft

unterstellt.

General Hallgurt gehört zum Oberkommando der von Deutschland ausgerüsteten

kurdischen Peschmerga-Armee. Er bestätigt, dass die mutmaßlichen Sieger über den

Islamischen Staat dessen Gebiet bereits untereinander aufgeteilt haben.

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O-Ton General Hallgurt: Kurd.

Übersetzer 1:

Diese Aufteilung gilt bis zur endgültigen Befreiung Mossuls. Danach ist eine Änderung

der Abkommen möglich.

Autor:

Dass die Schiitenmilizen sich dank dieser Demarkationslinie der christlichen

Siedlungsgebiete bemächtigt haben, heißt der Kurdengeneral ausdrücklich nicht gut.

O-Ton General Hallgurt: Kurd.

Übersetzer 1:

Das ist nicht normal. Wir möchten, dass die betroffenen Familien in ihre Heimat

zurückkehren. Aber so lange die Hascht al Schaabi da sind, wollen die Leute nicht

zurück.

Bei denen gibt es ein Problem: Sie bestehen aus mehr als 60 unterschiedlichen

Einzelgruppen. Sie haben kein gemeinsames Kommando. Sie gehen so vor, dass wir

befürchten müssen, dass es sich um keine zuverlässige und berechenbare Einheit

handelt. Leider mischt sich der Iran in die irakische Krise ein. Er hat einen großen

Einfluss auf die irakische Regierung. Strategisch arbeitet der Iran daran, einen Korridor

durch diese Gebiete Richtung Syrien aufzubauen.

Atmo: Café, arabische Musik, Rühren im Glas

Autor:

Nach unserer Rückkehr aus Mossul sitzen Fuad und ich auf der Terrasse eines

Altstadtcafés in Erbil. Ein Gutteil der Viertel lässt sich von hier oben überblicken. Und

dieser Blick ist aufschlussreich. Denn diese Stadt Erbil, ist zur Zeit noch, was Mossul

einmal war: Ein großes Mosaik aus Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionen.

Atmo: Muezzinchor

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Autor:

Hier gibt es schiitische ebenso wie sunnitische Moscheen.

Atmo: Irakischer Kirchengesang

Autor:

Und etwas weiter hinten, im Stadtteil Ainkawa, stehen die Kirchen der assyrischen,

neben denen der katholischen und anglikanischen Christen.

Die internationale Koalition war angetreten gegen den IS, um religiösen Extremismus

einzudämmen und die Voraussetzungen für eine funktionierende Staatlichkeit zu

schaffen. Der Erfolg scheint mehr als zweifelhaft.

- Atmo

Autor:

Mein Blick fällt auf ein sonderbares Strohbündel, das in der großen Moschee vor uns auf

dem Minarett steckt. Ein Storchennest, sagt Fuad. Alle in Erbil kennen die Geschichte

und für alle, auch für ihn waren die Störche, die Jahr um Jahr zurückkamen, ein

vertrauter Anblick.

O-Ton Fuad:

Es gab hier immer Störche. Leider, Mitte der 90er-Jahre, genau im November 1994 gab

es hier einen Bruderkrieg. (/) Und (/) bewaffnete Männer hatten diese Störche

erschossen. Lieder, leider. Seitdem – die sind nicht mehr da.

Atmo: Straße, Café

Autor:

Dass dieser Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden Kurdenparteien bald ein

neuer, ungleich grausamerer Krieg folgen sollte, wusste zu dieser Zeit noch niemand.

Ein melancholischer Dichter hat damals am Fuß des verlassenen Minaretts etwas

eingraviert, das „Lied vom Storch“

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Zitatorin:

Jahr um Jahr

Blieb ich bei euch, als Zeuge eurer Wunden

Ich weinte über euer Blut und über euer Leid.

Und kam das Neujahrsfest,

so brachte Jahr um Jahr ich euch

Als erster diese gute Nachricht

Die Liebe zu euch ließ mich bleiben

Der ich so leicht in alle Winde fliegen konnte

Jetzt sterbe ich

Von eurer Hand

Absage:

Mossul

oder: Wo ist die Front?

Ein Feature von Marc Thörner

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2017.

Es sprachen: Wolfgang Condrus, Daniel Wiemer, Maya Bothe, Daniel Berger, Sigrid

Burkholder, Glenn Goltz und Justine Hauer

Ton und Technik: Hendrik Manook und Hanna Steger

Regie: Thomas Wolfertz

Redaktion: Karin Beindorff