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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature Mossul
oder: Wo ist die Front?
Autor: Marc Thörner Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf 2017 Erstsendung: Dienstag, 27.06.2017, 19.15 Uhr Mitwirkende: Autor: Wolfgang Condrus Übersetzer 1: Glenn Goltz Übersetzer 2: Daniel Wiemer Übersetzer 3: Daniel Berger Übersetzerin 1: Maya Bothe Übersetzerin 2: Justine Hauer Zitatorin: Sigrid Burkholder
Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
© - unkorrigiertes Exemplar -
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Musik Atmo: Markt
O-Ton Mohammed Hassan:
Übersetzer 1:
Mit Da'esch ist es aus!
O-Ton Omar: Arab.
Übersetzer 2:
Es gab kein Leben unter dem IS. Kein Essen, keinen Strom, gar nichts. Sie haben alle
möglichen Strafen über die Menschen verhängt. Wer rauchte, dem wurde ein Finger
abgeschnitten. Wer sich rasierte, bekam vierzig Stockschläge. Welche Hosen man
tragen musste, haben sie uns ebenfalls vorgeschrieben.
O-Ton Mohammed Hassan:
Übersetzer 1:
Ja, alles war verboten. Wir durften sogar das Dischdascha-Gewand nicht tragen, unsere
normale Alltagskleidung. Da hab ich jemanden mal gefragt: was hat das mit Islam zu
tun, erklär mir das mal. Der IS-Mann hat darauf nur gesagt: ‚Rede nicht so viel. Her mit
deinem Ausweis!‘ Für mich sind das die Feinde des Islam.
O-Ton Omar: Arab.
Übersetzer 2:
Aber jetzt ist die Ideologie der Teilung vorbei. Egal ob Schiiten, Sunniten, Christen,
Jesiden, wir sind alle Brüder. Ich hoffe, dass auch die Christen wieder zurückkommen.
Ansage:
Mossul
oder: Wo ist die Front?
Ein Feature von Marc Thörner
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O-Ton Col Ryan Dillon:
This week in Mossul, Iraqi Security Forces continued to push forward from the north and
west portion, keeping up pressure on ISIS. As expected, the tight confines of the
remaining neighborhoods, the well defended urban canyons have proven to be very
difficult to liberate.
- Atmo Markt
Autor:
Auf den ersten Blick scheint alles übersichtlich in der zweitgrößten Stadt des Irak –
Mossul war seit 2014 inoffizielle irakische Hauptstadt des so genannten Islamischen
Staates.
Auf einem kleinen Markt am Ostufer des Tigris, in einem vor wenigen Wochen
zurückeroberten Stadtteil. Die Menschen geben sich enthusiastisch, die islamistische
Terrorherrschaft ist vorbei.
- Atmo Markt
O-Ton Col Ryan Dillon:
The ISF are methodically clearing street by street, house by house and room by room.
The ISF have remained focused on the safety of civilians as they clear ISIS-held areas,
moving them out of danger as much as possible. Meanwhile, ISIS perverts to brutalizing
and murdering fleeing civilians.
Atmo: Autofahrt
Autor:
In der Altstadt am Westufer hingegen harren noch Tausende unter der Herrschaft des IS
aus, dem Terror des Da’esch, wie die Kritiker das selbsternannte Kalifat nennen. Die IS-
Kämpfer leisten noch immer heftigen Widerstand. Dort, auf der anderen Seite des
Flusses, sehen wir dicken schwarzen Rauch aufsteigen. Immer wieder erschüttern
Detonationen den Boden unter unseren Füssen.
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O-Ton Fuad:
Das ist der historische Eingang Stadt Mossul. Wir sehen gerade ein sehr großen Rauch
von rechte Seite von Mossul. Entweder infolge Bombardierung oder ein
Selbstmordattentäter von IS gegen irakische Armee. Man hört gerade auch, dass...
Krankenwagen
Atmo: Sirene, Krankenwagen fährt vorbei
Autor:
Wir: das sind Fuad, mein kurdischer Begleiter und Helfer, der ebenfalls einheimische
Fahrer aus Erbil und ich. In einem möglichst unauffälligen alten Taxi versuchen wir uns
im frisch eroberten Teil von Mossul zurechtzufinden.
Die Viertel, die wir durchfahren, wurden schon vor Wochen von der irakischen Armee
eingenommen. Und wenn das so ist, wo sind dann diese Eroberer?
Wir hatten uns überall Armee und Polizei vorgestellt. Befehlsstellen.
Kommandozentralen. Gut organisierte Sieger unter den Augen der US-geführten Anti-
IS-Koalition. Vielleicht auch Presseoffiziere, die man fragen kann, wo hier was zu finden
ist und wo die Front genau verläuft, die diese Stadt noch teilt. Stattdessen: keine
Eroberer weit und breit, nur eine riesige Trümmerwüste,.
O-Ton Fuad:
Überall Zerstörungen, an beiden Seiten der Straßen, Häuser, Gebäude. Durch Schlacht,
aber auch durch Bombardierungen von Alliierten.
Autor:
In manchen Straßenzeilen ist etwa jedes dritte Haus nur noch ein Haufen aus
zerbröseltem Beton.
Anderswo sind die Betondächer V-förmig eingedrückt, so als habe eine gigantische
Hand einen Karateschlag darauf gelandet. Die Art der Beschädigungen weist auf ein
Präzisionsbombardement hin. Allerdings sind so viele Häuser, eins neben dem anderen,
präzise getroffen, dass sich, von außen gesehen, kaum ein Unterschied zum
Flächenbombardement erkennen lässt.
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Einige Bewohner ziehen zwischen den Ruinen kleine Karren hinter sich her. Andere
stehen vor den Läden, die in den unversehrten oder nur gering beschädigten Gebäuden
wieder geöffnet haben.
Nirgendwo Spuren irgendeiner Verwaltung.
O-Ton Fuad:
Man sieht zivile Leute. Läden sind auf, aber man sieht keine Polizei. Man sieht überall
Zerstörungen, es gibt keine Sicherheitskräfte, keine Regierung, Polizei. Handbremse
wird angezogen.
Autor:
Plötzlich stoppt uns auf der Straße heftig winkend ein älterer Mann, offenbar ein Zivilist.
Er spricht Fuad auf Kurdisch an. Er sei Kurde, sagt der Mann, kein sunnitischer Araber,
wie die meisten Einwohner von Mossul. Und er wolle uns warnen. Den Menschen in
diesen Stadtteilen sei nicht zu trauen, auch wenn sie noch so sehr auf den IS
schimpften und die Eroberer rühmten, die schiitisch dominierte irakische Armee.
O-Ton Kurde: kurd.
Übersetzer 3:
In diesem Stadtteil ist der IS noch immer da. Ihre Kämpfer verstecken sich nur vor der
irakischen Armee. Ihr Netzwerk ist völlig intakt.
- O-Ton läuft als Atmo weiter
Autor:
Der Kurde lotst uns in einen kleinen Innenhof. Empfiehlt uns, erst mal hier zu bleiben,
bis er draußen die Lage gepeilt, also herausgefunden hat, ob wir von hier aus
unbeachtet weiter Richtung Front kommen können. In einen Stadtteil, in dem die
irakische Armee präsent ist.
Atmo: Innenhof
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Autor:
Sollen wir tun, was er uns vorschlägt oder ist dieses Angebot eine Falle?
Fuad beruhigt mich, er glaubt unbesehen, was ihm der andere Kurde sagt. Die
sunnitischen Araber hier sind ein Risikofaktor, meint er.
Ursprünglich, erklärt er, war Mossul eine kurdische Stadt im kurdisch dominierten
Norden des Irak. Durch eine forcierte Arabisierung habe sie sich seit den 1960er-Jahren
dann allerdings zum Aushängeschild des sunnitischen arabischen Nationalismus
entwickelt.
- Atmo Innenhof läuft weiter
O-Ton Fuad:
Die Stadt Mossul war die Hochburg für Baathisten. 90 Prozent von irakischer Armee,
Deswegen, man sieht IS immer noch in Mossul. Im Prinzip, die Leute aus Stadt Mossul,
die meisten waren mit IS. Das ist Wahrheit.
Autor:
Was haben Baathisten mit den radikalen Islamisten des IS zu tun? Der Baathismus ist
eine betont weltliche, arabisch-nationalistische oder arabisch-sozialistische Ideologie.
Staatsdoktrin im Irak von 1963 bis 2003. Staatsdoktrin in Syrien bis heute; getragen vom
Assad-Clan.
Die Anhänger solch national betonter Führerkulte wollen die vergangene arabische
Größe wiederherstellen und zu neuer Macht führen. Sie setzen offiziell auf Fortschritt,
möchten modern und international geachtet sein und beteuern immer wieder, wie sehr
sie gegen den religiösen Fanatismus seien.
Fuad kramt in seiner Tasche und zeigt mir, was er sein „schwarzes Souvenir“ nennt.
Eine irakische Fibel für Schulkinder, gedruckt Anfang der 1990er-Jahre.
Auf ihrem Einband prangt ein schnurrbärtiger Saddam Hussein im Kampfdress. Das
Buch enthält verschiedene arabische Gedichte.
Atmo: Marsch der Baath-Partei
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Autor:
Die Verse sind mit bunten Zeichnungen illustriert. Kinder in Uniform. Kinder im Panzer.
Kinder salutieren vor Soldaten. Auffallend viele blonde Kinder. Die Jungen tragen kurze
Hosen.
Die Mädchen in ebenfalls kurzen, luftigen Kleidchen, blicken aus großen Kulleraugen
und haben bunte Blumen im Haar. Ein Knabe in einer Art Pfadfinderkluft reißt vor
Freude die Arme empor, weil über ihm ein iranischer Kampfjet explodiert.
Zitatorin:
„Unterhaltung der Helden.
Der Führer hat gesagt: Ohne euch gäbe es keine Revolution.
Das Volk antwortet: Ohne Dich gäbe es keine Idee.
Der Führer sagt: Wir haben entschieden – im Namen des Volkes.
Das Volk sagt: Wir folgen Dir auf Deinem Weg.
Der Führer sagt: Ohne Sieg kehren wir nicht heim.
Das Volk sagt: Wir sind hinter dir, ein Leben lang.
Der Führer sagt: Hoch das Volk, das widersteht!
Das Volk ruft: Hoch das Militär!“
Atmo: Innenhof / Stimme des Kurden
Autor:
Inzwischen taucht der ältere Kurde wieder auf. Er könne uns jetzt einen relativ sicheren
Weg empfehlen, sagt er und weist uns auf die Straßen hin, durch die wir unbedenklich
weiterfahren könnten, in die Stadtviertel unter besserer Kontrolle der irakischen Armee.
Atmo: Autofahrt
Autor:
So steuern wir unser Taxi über die empfohlenen Verbindungslinien, immer darauf
bedacht, nicht in allzu verlassene und daher verdächtige Zonen zu geraten….
Ich erzähle derweil Fuad von meiner einzigen Begegnung mit einem Baathisten. Einer
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Baathistin, besser gesagt, 2004, rund ein Jahr, nachdem die US-Armee Bagdad erobert
hatte.
Nada, so nannte sie sich, gehörte bereits dem Widerstand gegen die US-
amerikanischen Befreier an.
Sie hatte überaus säkular ausgesehen, so weltlich, wie sich der Baathismus eben gibt.
Ohne Kopftuch, mit blondierten Haaren, goldenen Ohrgehängen, stark geschminkt. Sie
war Biologin, selbstbewusst und fortschrittlich. Eine Frau, so wie sie die noch bis vor
wenigen Monaten herrschende Ideologie zum Ideal erklärt hatte. Allerdings, darauf wies
Nada mich hin, definiere sich die Partei inzwischen nicht länger nur über den
Säkularismus.
O-Ton Baathistin:
Übersetzerin 2:
Ich bin Muslimin. Gleichzeitig glaube ich an die Baath-Ideologie und an den Sozialismus.
Ich sehe da keine Unterschiede. Besonders nicht in dieser Phase. Dies ist die Phase
des Befreiungskampfes. Die Baath-Partei hatte bereits vor längerem eine ihrer
Fraktionen dazu abgestellt, das islamische Bewusstsein in der Bevölkerung zu stärken.
Das nannte sich: die islamische Etappe.
Autor:
Und auch bei den Formen des Widerstandes sei man durchaus offen für neue
Techniken und Taktiken.
O-Ton Baathistin:
Übersetzerin 2:
Ich habe Biopharmazie studiert, deshalb erzähle ich immer gern Beispiele aus diesem
Bereich.(/)Unlängst habe ich einen wundervollen Artikel gelesen, über
Selbstmordattentate. Die Selbstmordattentate wurden darin als Beispiel benutzt. Es ging
um bestimmte Bakteriengruppen. Wenn die von einem Feind angegriffen werden,
bereiten sich einige von ihnen auf einen Selbstmordangriff vor. Sie bewegen sich auf
den Feind zu und versprühen ein Gift, das sie selbst tötet. Aber gleichzeitig töten sie den
Feind! Um den Rest der Gruppe zu beschützen! Und das sind bloß winzig kleine
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Bakterien, ohne Kultur, ohne Religion. Nur Zellen, denen ihre DNA aufträgt, was sie tun
sollen. Und jetzt stellen Sie sich eine ganze Nation vor, mit einer 7000-jährigen
Geschichte. Mit einer sehr stark ausgeprägten arabischen, islamischen Kultur. Wenn Sie
das Beispiel der Mikroben verstehen, verstehen Sie auch, warum Menschen bereit sind
so lange zu warten, bis es an ihnen ist zu sterben.
Autor:
Was sie beschrieb, sei keine Theorie, betonte sie und lieferte ein Beispiel für die
täglichen Aktionen gegen die US-Besatzer.
O-Ton Baathistin:
Übersetzerin 2:
Einer unserer Freunde saß bei Bekannten zu Hause, man sprach über den irakischen
Widerstand: wie wichtig er sei, für den Irak und für die ganze Welt. Und eines der
Kinder, die zuhörten, ein elfjähriger Junge fing plötzlich an zu lachen. Der Junge gehörte
nämlich selbst zum Widerstand, zu einer kleinen Gruppe, die sich in der Stadt gebildet
hatte. Ihre Aufgabe war, auf einen Knopf zu drücken und eine Bombe auszulösen. (/) Er
hörte wie die Großen redeten über den Widerstand und der Junge leistete ihn Tag für
Tag vor Ort. Aber zwei Tage später wurde derselbe Junge bei dem Versuch getötet, am
Straßenrand eine Bombe zu legen. Er tat das unsachgemäß und die Bombe ging mit
ihm zusammen hoch. Das ist wundervoll!: Denn andere Kinder in seinem Alter
interessieren sich für Schokolade und Coca Cola. Aber dieser großartige kleine Junge
hat sich dafür entschieden, gegen die Besatzer zu kämpfen.
Autor:
Fuad ist wenig überrascht von dem, was mir die Baathistin Nada damals sagte. Diese
Denkweise, so meint er, sei nahtlos in die Logik des IS übergegangen.
O-Ton Fuad.
Die haben gemeinsame Linien. (/) Die meisten ISIS-Mitglieder sind Anhänger von
Baathisten. Sie ergänzen dieselben Linien von Saddams Politik. Zum Beispiel gegen
Menschlichkeit. Ermordung, Arabisierung, Unterdrückung. Das ist alles, was Saddam
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begonnen hat. Es geht immer noch weiter. Aber diesmal nicht im Namen einer
politischen Partei, sondern im Namen einer (/) terroristischen Organisation, die ISIS
heißt.
Atmo: Ausgabestelle
Autor:
An einer Ecke stoßen wir auf eine Ausgabestelle für Medikamente und steigen aus dem
Auto. Viele Kinder stehen hier für ihre Eltern an, die meisten sind zwischen zehn und
fünfzehn Jahre alt. Sie gehören der Generation nach der Baathistin Nada an, könnten
also ihre Söhne sein.
Atmo Ausgabestelle
Autor:
Nein, ich kann nicht lesen und schreiben, sagt ein etwa Vierzehnjähriger. Als der IS die
Schulbildung übernahm, habe er mit der Schule aufgehört.
Atmo: Ausgabestelle
Autor:
Sie alle sind unter der IS-Herrschaft zur Schule gegangen, erzählen seine Freunde. Ab
2014, nachdem der IS Mossul erobert hatte. Im Mathematikunterricht hätten sie nicht
mehr wie früher mit Äpfeln, sondern mit Munition rechnen müssen. Deshalb sei er
schließlich ganz vom Unterricht weggeblieben, sagt der etwa 12-jährige Barzan. Seit
drei Jahren sei er in keiner Schule mehr gewesen.
Nachdem die Lehrer sie aufgefordert hätten, sich wie kleine Afghanen anzuziehen, habe
sein Vater ihn nicht mehr in die Schule geschickt.
Atmo: Stimmen Barzan und Freunde
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Autor:
Patrone plus Patrone, Bombe plus Bombe, erzählen die anderen, so sei der
Mathematikunterricht unter dem IS gelaufen. Im Schulbuch vom IS seien
unterschiedliche Waffen abgebildet gewesen. Und Barzans Freund ergänzt: Der IS-
Lehrer sei mal mit einem großen Teddy angekommen. An diesem Modell habe die
Klasse dann lernen müssen, wie man einen Menschen enthauptet.
- Atmo Ausgabestelle
Autor:
Barzan will trotzdem später mal Lehrer, sogar Schuldirektor werden. Sein Freund ist
bescheidener: Einfach nur lesen und schreiben können, das ist sein Ziel.
Die Gesellschaft, die der Da’esch hinterlassen hat, erscheint mir als eine Gesellschaft
des geistigen Nichts. Ein Nichts, das nur noch Raum für die angemaßte
Selbstbehauptung lässt und für die Vernichtung der ‚Anderen‘, der Feinde.
Khalaf Obeid, Stadtrat: Arab.
Übersetzer 1:
Vor zweieinhalb Jahren hat die Regierung in Bagdad beschlossen, alle Schulzeugnisse,
die unter dem IS ausgestellt werden, nicht anzuerkennen. Seitdem haben die Eltern
aufgehört, ihre Kinder dort in die Schulen zu schicken. Auch deshalb, weil viele mit dem
Bildungssystem des IS nicht einverstanden waren.
Atmo: Muezzin, Rühren in Teetassen, Generator.
Autor:
Khalaf Obeid sitzt in einem Plüschsessel à la Louis XVI., neben sich ein
Marmortischchen mit winzigen Teetassen. Hinter sich die irakische Fahne. Ein
Generator sorgt für eiskalte Luft. Obeid repräsentiert die hiesigen Sunniten und fungiert
als Planungschef beim Rat von Niniveh, der Provinz, deren Hauptstadt Mossul ist.
In seinem Büro versucht er mit dem etwas zusammengewürfelten neo-osmanischen
Rokoko auf fast rührende Art so etwas wie Regierungsatmosphäre herzustellen. Doch
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mit dieser Fassade lässt sich kaum etwas an der Lage ändern, mit der sich der Rat
auseinandersetzen muss. Die heute Zehnjährigen, meint Khalaf Obeid, seien eine
verlorene Generation.
Khalaf Obeid Arab.
Übersetzer 1:
2014, als Mossul vom IS erobert wurde, war mein Sohn in der zweiten Klasse. Ich
konnte ihn von hier rausbringen. Deshalb ist er jetzt in der fünften Klasse. Aber seine
Schulkameraden, die noch in der Stadt geblieben sind, sind bis heute auf dem
Wissensstand der zweiten Klasse. Auch im bereits befreiten Teil von Mossul gibt es
immer noch keine Schule. Die Lehrer bekommen seit zwei Jahren kein Gehalt. Und in
den Flüchtlingslagern ringsum hat man insgesamt acht große Zelte für die
provisorischen Schulen vorgesehen. Acht Zelte für 7500 Kinder. Wenn das so
weitergeht, bekommen wir neben dem Problem mit dem Terror noch ein anderes
Problem mit Jugendkriminalität.
Autor:
Und diese Generation weitgehend ohne Schulbildung, so Planungschef Obeid, treffe auf
einen neuen Konflikt. Einen, der wohl nach der endgültigen Eroberung Mossuls
ausbrechen werde. Herbeigeführt von einem Teil der Truppe, die jetzt als Eroberer in die
Stadt einziehen: Den schiitischen Freiwilligenmilizen: Hascht al Schaabi.
O-Ton Khalaf Obeid: Arab.
Übersetzer 1:
Die Schiitenmilizen sind noch gefährlicher als der IS. Der IS ist eine Gruppe, die offen
außerhalb jeglicher Gesetze agiert, außerhalb von Recht und Ordnung. Aber die Hascht
al Schaabi wurden durch irakische Gesetze ins Leben gerufen. Diese Kämpfer machen
einfach, was sie wollen und sind dabei durch das Gesetz geschützt. Wenn sie die
Mehrheitsbevölkerung Mossuls weiter unter Druck setzen, kann das bewirken, dass der
IS wieder zurückkehrt.
Atmo: Fuad: „Checkpoint, ja. “
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Fuad: „Man merkt hier ein Auto, steht darauf: Hascht al Schaabi. Checkpoint von Hascht
al Schaabi-Milizen.“ Checken durch Hascht al Schaabi.
Autor:
Die Hascht al Schaabi, übersetzt: Volksmobilisierungskräfte, sind im eroberten Teilen
Mossuls überall anzutreffen: Junge stoppelbärtige Männer, schwarz gekleidet mit
Halstüchern und um den Körper geschlungenen Patronengurten.
An ihren Fahrzeugen und Kontrollposten flattern Fahnen, auf denen die von den
Schiiten verehrten Heilsbringer zu sehen sind: Prophetenschwiegersohn Ali und dessen
Sohn Hussein. Wir werden angehalten und sollen unsere Presseausweise zeigen.
Milizionär:Almania? How are you? Autor: Fine! Milizionär klopft auf Auto. „OK.“
Fuad: „Das war ein Checkpoint von Hascht al Schaabi.“
- Atmo Autofahrt
Autor:
Rund 70 Prozent der Iraker sind Schiiten. Bis zum Sturz des Saddam-Hussein-Regimes
wurden sie aber von einer sunnitischen Minderheit regiert, derselben, deren Hochburg
Mossul war.
Zum ersten Mal seit Menschengedenken erscheinen mitten in der Sunnitenhochburg
Mossul an prominenten Stellen die schiitischen Symbole. Je mehr wir uns der Front
nähern, desto häufiger entdecken wir Fahnen mit den Konterfeis von Ali Ibn Abi Talib,
dem Stammvater der Schiiten und dessen Sohn Hussein. Auf Militärfahrzeugen und
über Stellungen flattern die schwarzen Trauerfahnen der Schiiten.
Atmo: Predigt Schiitengeistlicher
Autor:
Nachdem die Radikalsunniten vom Da‘esch 2014 große Teile des Irak erobert hatten,
rief die schiitische Geistlichkeit im Land die Gläubigen dazu auf, den tausendjährigen
Kampf gegen die Usurpatoren und um die gerechte Führung der Gemeinde wieder
aufzunehmen.
Schon nach dem Tod des Propheten hätte aus ihrer Sicht die Führung der Gläubigen an
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den rechtmäßigen Nachfolger übergehen sollen: an Mohammeds Schwiegersohn Ali,
von Mohammed seit langem dazu bestimmt. Doch die Schiiten gerieten auf die
Verliererseite, zugunsten der sunnitischen Mehrheitsmuslime, die etwa 90 Prozent der
islamischen Welt beherrschen. Viele Schiitengeistliche interpretieren die jüngste
irakische Geschichte als ein Ringen um Gerechtigkeit.
Atmo: Predigt Schiitengeistlicher Ende
Autor:
Schiiten wurden immer wieder unter den Mehrheitsmuslimen verfolgt. Saddam Hussein
ließ ihre prominenten Geistlichen verhaften, Tausende und Abertausende Anhänger
dieser Glaubensgemeinschaft ließ er ermorden und in Massengräbern verscharren,
Menschen von denen er annahm, sie seien mit dem schiitischen Iran verbündet – oder
könnten auf andere Weise seiner Herrschaft gefährlich werden.
Welches Ausmaß diese Verbrechen erreicht hatten, sah ich kurz nach der US-
amerikanischen Eroberung Bagdads. Damals tauchten schiitische Organisationen aus
dem Untergrund auf und sicherten in den verlassenen Verwaltungsstellen und
Polizeistationen Dokumente
O-Ton Walid al Hilli:
Übersetzer 2:
Bis jetzt sind 200 000 Akten sichergestellt worden. Sie betreffen Menschen, die vom
Saddam-Regime exekutiert wurden.
Atmo: Computertasten, Frage des Angestellten und Antwort der Angehörigen
Autor:
Die ‚Free Prisoner‘s Association‘ war eine Art Selbsthilfegruppe, in der sich die Opfer
des Saddam-Regimes und ihre Angehörigen organisierten. Tagtäglich standen viele
Schlange, um aus den durch die Free Prisoners beschlagnahmten Akten Aufschluss
über das Los ihrer Väter oder Söhne zu erhalten, die in den Gefängnissen
verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren. Zum Vorstand dieser NGO gehörte
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auch Walid al Hilli, führendes Mitglied der Dawa. Einer religiös orientierten Partei, die
zugleich über eine eigene Miliz verfügte.
O-Ton Walid al Hilli:
Übersetzer 2:
Ich bin im Besitz der Namen sämtlicher Sicherheitsleute des Saddam-Regimes samt
ihrer Adressen. Ich habe eine CD mit ihren Lebensläufen, ihrem beruflichen Werdegang:
Vier Jahre in Bagdad, vier Jahre in Hilla, vier Jahre in Kerbela und so weiter, aktualisiert
bis ins Jahr 2003. Ich habe die Namen der Fedayin-Saddam, der Geheimdienstagenten.
Ich habe ihre Adressen, ihre Telefonnummern ihre Privatanschlüsse zu Hause.
Autor:
Schon damals hatte eine kaum verhüllte Drohung mitgeschwungen:
O-Ton Walid al Hilli:
Übersetzer 2:
Wir erwarten von diesen Leuten, dass sie sich freiwillig der Justiz stellen und uns sagen,
was sie getan haben und weshalb sie es getan haben. Wir erwarten zweitens eine
Entschuldigung und die Bitte um Vergebung. Sollten sie sich entscheiden, ihre
Geheimnisse bewahren zu wollen, dann werden sie vor ein Gericht gestellt.
Autor:
Heute, vierzehn Jahre später, gehört Walid al Hillis Dawa-Partei zu denen, die die
schiitischen Freikorps, die Hascht al Schaabi, stützen. Aus ihren Reihen rekrutieren sich
die jungen Männer, die gegen den IS in den Krieg ziehen. Für sie geht es auch um
Rache für ihre ermordeten und gefolterten Väter, Onkel und Brüder. Und diese
Verbände werden von der US-geführten Koalition mit Vorliebe dort eingesetzt, wo die
härtesten Bodenkämpfe stattfinden – man kann das in den täglichen Briefings der
Koalition in Bagdad hören.
O-Ton Col Ryan Dillon:
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Übersetzer 3:
Den Volksmobilisierungskräfte unter dem Schirm der irakischen Sicherheitskräfte ist es
gelungen, Baash zurückzuerobern. Damit konnten sie in dieser Woche auf einem Gebiet
von rund 1000 Quadratkilometern die Landstriche und Dörfer bis zur irakisch-syrischen
Grenze erobern.
Autor:
Der religiöse Impetus der Milizen, oft verbunden mit dem Drang nach Rache, mache
ihren Einsatz in sunnitischen Gegenden so brisant, hatte Ratsmitglied Khalaf Obeid in
Mossul gewarnt. Denn dadurch könnte der internationale Einsatz gegen Terror und
Gewalt zu einem neuen Religionskrieg uminterpretiert werden.
O-Ton Khalaf Obeid:
Übersetzer 1:
Als Niniveh-Rat haben wir deshalb mit Mehrheit entschieden, dass die Hascht al
Schaabi nicht nach Mossul vorrücken sollen. Aber Premierminister al Abadi interessiert
sich für unser Votum nicht.. Sie sind also entgegen unserer ausdrücklichen
Entscheidung in die Stadt eingerückt. Aber die Einwohner Mossuls wollen diese
schiitischen Milizen nicht. Immer wieder findet man jetzt neue Leichen in der Stadt,
Menschen, von denen niemand weiß, wie sie zu Tode gekommen sind. In anderen
Gegenden, in der sunnitischen Anbar-Provinz, in Ramadi, gab es bereits viele
Übergriffe, die ich als Kriegsverbrechen bezeichne. Außerdem sind die Hascht al
Schaabi nichts anderes als der verlängerte Arm des Iran.
Autor:
Wie sieht man bei der irakischen Armee diese Freikorps, diese aus dem Boden
gestampften Hilfstruppen? Als Konkurrenz, als unprofessionelle Amateursoldaten oder
als Kameraden, die für die gleiche Sache, die Befreiung vom IS, eintreten?
Atmo: Straße, Soldatenstimmen
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Autor:
In der Nähe der Universität von Mossul treffen wir auf eine Patrouille von zwei irakischen
Soldaten:
Atmo: Irakische Soldaten
Autor:
Gut, sehr gut funktioniere die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen, sagt der eine. Man
arbeite Hand in Hand zusammen. Die Hascht al Schaabi seien jetzt ebenfalls organisiert
wie eine richtige Armee. Mit Panzern, Artillerie, also der gleichen Ausrüstung, die auch
die Regulären einsetzten.
Atmo: Soldaten irakische Armee
Autor:
Beide seien sie Schiiten, sagen die zwei, aber in der Hauptsache seien sie Muslime. Alle
Städte gehörten zum gleichen Land Irak. Alle gemeinsam verteidigten den Irak gegen
Da‘esch. „Wir verteidigen auch Christen, Jesiden und Sunniten“, sagen sie. Und „wenn
der IS in Deutschland zur Bedrohung werde, dann sind wir auch bereit für einen
Auslandseinsatz dort“.
Atmo: Straße Mossul (mit Generator)
Autor:
Die Universität, vor der die beiden patrouillieren, ist schwer zerstört, das Hauptgebäude
durch einen Präzisionsschlag der US-geführten Anti-IS-Luftwaffe. Gemäß der
allgegenwärtigen Ikonographie der Zerstörung V-förmig eingedrückt und in zwei Teile
gespalten. Metallgestänge und geborstene Eisenträger ragen heraus.
Der Lehrbetrieb sei provisorisch wieder aufgenommen informiert uns ein junger Dozent.
Ob er zu einem kurzen Interview bereit sei? Er blickt sich nach den zwei
patrouillierenden Soldaten um. Die lehnen erst ab, akzeptieren schließlich aber ein
kurzes Statement. Der Dozent nickt ihnen zu.
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O-Ton Dozent:
Übersetzer 3:
Die irakische Armee gibt sich die größte Mühe, die verbleibenden Rückstände von
Bomben und Raketen aus der Universität zu entfernen. Die Bevölkerung von Mossul hat
diese Armee begrüßt, weil sie weiß, dass sie weder die eine, noch die andere Seite
vorzieht.
- Atmo vor der Universität
Autor:
Immer mehr Studenten umringen uns. Die zwei Soldaten
behalten uns im Auge, befinden sich jetzt aber auf der anderen Straßenseite.
Und auf einmal ändern sich die Aussagen des jungen Dozenten.
O-Ton Dozent:
Übersetzer 3:
Wir haben große Angst angesichts all dieser Milizen. Und ich befürchte, dass der Iran
alles tut, um diesen Teil der Niniveh-Provinz unter Kontrolle zu bekommen (/), um seine
Macht mehr und mehr zu erweitern. Vor ein paar Tagen hat ein prominenter schiitischer
Milizenführer gesagt: Unsere künftige Einflusszone wird kein schiitischer Halbmond sein,
sondern ein schiitischer Vollmond.
Autor:
Ein Student ergänzt:
O-Ton Student:
Übersetzer 2:
Der Iran konzentriert sich meiner Meinung nach nicht speziell auf Mossul. Ihm geht es
um die Kontrolle über den gesamten Irak.
Autor:
Zum ersten Mal hören wir jetzt auch Kritik am Vorgehen der Anti-IS-Allianz.
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O-Ton Student: Arab.
Übersetzer 2:
Viele Zivilisten sind auch durch die Bombardierungen der alliierten Flugzeuge ums
Leben gekommen. Dieses Universitätsgebäude wurde allein von acht Raketen getroffen
und in zwei Teile auseinandergesprengt. Das war ein alliiertes Flugzeug. Das Gebäude
war zu der Zeit leer, aber die Opfer waren Menschen, die sich auf der Straße davor
befanden.
Autor:
Eine Studentin mischt sich ein:
O-Ton Studentin:
Übersetzerin 1:
Es gab viele Opfer durch die Luftangriffe. Durch einen davon wurde meine Freundin
getötet. Nicht nur sie hat es getroffen, viele, viele Zivilisten sind auf diese Art gestorben.
Aus meiner Sicht haben die Alliierten das absichtlich getan. Die Stellungen des IS sind
doch bekannt. Aber manchmal haben die Alliierten nicht diese Stellungen, sondern zivile
Häuser angegriffen. (/)Ich glaube, dass es ihnen darum geht, unsere Stadt gezielt zu
zerstören. Wie zum Beispiel dieses Universitätsgebäude.
Atmo: Straße
Autor:
Die irakischen Soldaten merken inzwischen, dass von einem kurzen Statement nicht
mehr die Rede sein kann, fuchteln mit den Armen herum und kommen auf uns zu.
- verblenden mit:
Atmo: Fuad: „Wir kriegen Ärger, glaub ich.“
Autor:
Wir grüßen höflich und beeilen uns weiterzukommen.
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Atmo: Klettern über Trümmer
Autor:
Jenseits des Univiertels erreichen wir Straßen, auf denen sich der Schutt der
umliegenden Gebäude so hoch auftürmt, dass das Pflaster darunter nicht mehr zu
erkennen ist. Einzelne sind durch Barrieren aus Schutt abgesperrt, vermutlich um auf
die Gefahr von Minen oder nicht explodierten Projektilen hinzuweisen.
Wir gehen die Straße entlang der zerstörten Straßenzeile weiter, so weit wie es uns
noch vertretbar erscheint.
Von einem Schuttberg blicken wir hinab aufs Tigrisufer. Von der anderen Seite des
Flusses steigt noch immer dicker schwarzer Qualm auf. In unregelmäßigen Abständen
erschüttern dumpfe Einschläge den Boden.
Atmo: Klettern über Trümmer Ende
Autor:
Was die Leute vor der Universität sagten, gibt mir zu denken. Vor allem, wie sie es
sagten. Geduckt und willfährig, solange die irakischen Soldaten zuhören – und wie um
Hilfe rufend, sobald die weg waren.
Von einer vorsätzlichen Zerstörung der Stadt hatte die Studentin gesprochen… das
würde bedeuten, Teile der Allianz verfolgen das Ziel, die Sunniten in ihrer
angestammten Hochburg zu vernichten… und das wiederum wäre der Grundriss eines
Religionskonflikts, angefacht durch internationale Beteiligung.
Atmo: Ankunft der Flüchtlinge
Autor:
Die gegenwärtige menschliche Katastrophe in Mossul kommt insbesondere aus Sicht
der betroffenen Sunniten, auch einer historischen Katastrophe gleich. Sie, die
Privilegierten von einst sind über Nacht in die Rolle der Vertriebenen und Besitzlosen
geraten.
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O-Ton Fuad:
In der Geschichte des Irak, das erste Mal wir sehen Leute aus Mossul als Flüchtlinge.
Sie waren immer mit dem Regime. Sie waren hochnationalistisch, sie hatten als
sunnitische baathistische Partei, sie waren starke Unterstützer von Saddam Hussein.
Autor:
Eine junge Frau trägt ein Neugeborenes auf dem Arm, dessen Bein stark gerötet und
ballonförmig angeschwollen ist.
O-Ton weiblicher Flüchtling: Arab.
Übersetzerin 1:
Wir konnten nachts fliehen. Es gab kein Essen, kein Wasser. Der IS hatte alles, aber hat
uns nichts abgegeben. Deshalb hatten wir kein sauberes Wasser, eine Dreckbrühe und
Mehl. Mein Baby braucht dringend eine Spritze, die kostet 200 Dollar, aber die haben
wir nicht.
O-Ton Flüchtling: Arab.
Übersetzer 1:
Ich komme aus dem umkämpften West-Mossul. Da bin ich vor zwei Tagen weg. Von
allen Seiten werden wir beschossen. Vom IS, der irakischen Armee, Flugzeuge werfen
Bomben ab. Viele schaffen es zwar, aus ihren Häusern rauszukommen, aber wenn sie
das tun, nimmt der IS sie unter Beschuss.(/)Für die, die noch in West-Mossul ausharren,
gibt es keine Lebensmittel mehr, kein Wasser, die Menschen ernähren sich von rohem
Teig.
Musik
Autor:
Wir verlassen Mossul, nehmen wieder Kurs auf Erbil und das kurdische
Autonomiegebiet. Eine Fahrt an unzähligen Checkpoints vorbei. Bewaffnete mit
unterschiedlichen Emblemen kontrollieren uns immer wieder.
Ich erinnere mich, was General Petraeus vor einiger Zeit geäußert hat, der langjährige
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Kommandeur der US-Truppen im Irak und spätere CIA-Chef.
Übersetzer 3/ Zitator Petraeus:
„Langfristig ist die erste Bedrohung für das innere Gleichgewicht im Irak nicht der
Islamische Staat…
Autor:
… sagte er 2015 im Interview mit der Washington Post.
Übersetzer 3/Zitator Petraeus:
„Der Islamische Staat ist drauf und dran besiegt zu werden. (…) Wird Da‘esch aus dem
Irak vertrieben, ist die Konsequenz, dass dann iranisch gestützte Milizen als mächtigste
Player aus dem Konflikt hervorgehen, dass sie die irakische Armee ähnlich in den
Hintergrund drängen wie das die Hisbollah mit der Armee des Libanon tut. Dann wäre
das nicht nur äußerst schädlich für die Stabilität und Souveränität des Irak, sondern
auch für unsere Interessen in der Region.“
Atmo: Checkpoint
Autor:
Der iranische Fußabdruck zeigt sich auch an der Abzweigung zu dem größten
christlichen Siedlungsgebiet des Irak – oder genauer: bis zu dem, was bis 2014 das
größte christliche Siedlungsgebiet war.
O-Ton Fuad:
Wir sind gerade neben der Stadt Karakusch. Eine christliche und historische Stadt für
Christen. IS hatte diese Stadt auch kontrolliert, 2014. Aber jetzt wieder frei.(/)Nach
meinen Informationen sind nur wenige Leute da. Und Bewaffnete von Hascht al Schaabi
sind in dieser Stadt.
Autor:
In Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion im Irak, scheinen die Christen
alarmiert. Einer ihrer wichtigsten Vertreter ist Romeo Hakari, von der Partei BET
Nahrain:
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O-Ton Romeo Hakari:
Übersetzer 2:
Wir befinden uns im siebten Monat nach Befreiung Karakuschs. Und wir stellen fest,
dass hunderte Häuser verbrannt sind und alles Mobiliar i geplündert oder zerstört ist.
Unsere Menschen fangen nun an zu glauben, dass es einen neuen Plan gegen sie gibt.
Autor:
Romeo Hakari nimmt an, dass die iranisch gestützten Schiitenkämpfer das Gebiet der
Christen nicht mehr räumen werden. Und die Familien, die riskieren wollen unter der
neuen Herrschaft zu leben, könnten sich dann ähnlichen Restriktionen ausgesetzt
sehen wie unter dem Terror des IS. Darauf, so sagt er gebe es ernst zu nehmende
Hinweise.
Er zeigt uns das Video einer Predigt von Scheich Musawi, Leiter der schiitischen
Wohlfahrtsstiftungen im Irak und als solcher einer der höchsten religiösen Würdenträger
des Landes.
Atmo: Predigt Schiitengeistlicher Musawi
Autor:
Für die Christen im Irak, so Scheich Musawi, gelte das Gleiche wie für die Juden und die
anderen nichtmuslimischen Religionen, etwa die Feueranbeter und die Sabäer.
O-Ton Romeo Hakari:
Übersetzer 2:
Scheich Musawi hielt die Predigt vor Studenten der religiösen Fakultät von Kerbela.
Es ist genau die Denk- und Handlungsweise von Da‘esch, als sie nach Mossul
einrückten: Sie gaben den Nichtmuslimen drei oder vier Möglichkeiten zur Auswahl:
Entweder da bleiben, aber als Muslime und die Rechte eines Menschen genießen oder
vertrieben werden. Und wer das nicht akzeptiert wird entweder mit dem Richtschwert
geköpft oder zahlt eine Schutzsteuer, die jeder Nichtmuslim monatlich dem Islamischen
Staat entrichten musste. Daraufhin haben etwa 99 Prozent unserer Menschen ihr
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Siedlungsgebiet verlassen. Sie wollten nicht wie Feinde im eigenen Land behandelt
werden. Und was Musawi nun sagt, ist genau der gleich Da‘esch-Diskurs, deshalb
protestieren wir dagegen.
Autor:
Die Verhandlungen über die Zeit nach dem Sieg über den IS haben längst begonnen.
Und die Christen seien dabei offensichtlich auf der Verliererseite, meint Romeo Hakari.
O-Ton Romeo Hakari:
Übersetzer 2:
Ehe die Operation zur Befreiung der Niniveh-Ebene begann, ist das Operationsgebiet in
zwei Teile gegliedert worden. Der eine wurde den kurdischen Peschmerga-Kräften
zugeschlagen und unseren eigenen Niniveh-Milizen, die an der Befreiung mitgewirkt
haben. Und eine Art Demarkationslinie ist zwischen der irakischen Armee und den
Peschmerga gezogen worden.
Wir haben der Kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung
gesagt, dass wir damit nicht zufrieden sind. Sie haben uns erwidert, dass es nur um eine
vorläufige militärische Einteilung geht, so lange bis die Operation beendet ist. Aber wir
fürchten, dass diese Linie bestehen bleiben wird. (/)Und wir wollen nicht, dass unser
historischer Siedlungsraum zwischen Kurden und Arabern aufgeteilt wird.
-arabs.
Autor:
Das erinnert ein wenig an das geheime britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen
von 1916, mit dem man nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches den Nahen Osten
unter sich aufteilte. Die irakischen Christen, aber auch Teile der kurdischen
Bevölkerung, werden nun wohl, ohne sie zu fragen, einer neuen schiitischen Herrschaft
unterstellt.
General Hallgurt gehört zum Oberkommando der von Deutschland ausgerüsteten
kurdischen Peschmerga-Armee. Er bestätigt, dass die mutmaßlichen Sieger über den
Islamischen Staat dessen Gebiet bereits untereinander aufgeteilt haben.
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O-Ton General Hallgurt: Kurd.
Übersetzer 1:
Diese Aufteilung gilt bis zur endgültigen Befreiung Mossuls. Danach ist eine Änderung
der Abkommen möglich.
Autor:
Dass die Schiitenmilizen sich dank dieser Demarkationslinie der christlichen
Siedlungsgebiete bemächtigt haben, heißt der Kurdengeneral ausdrücklich nicht gut.
O-Ton General Hallgurt: Kurd.
Übersetzer 1:
Das ist nicht normal. Wir möchten, dass die betroffenen Familien in ihre Heimat
zurückkehren. Aber so lange die Hascht al Schaabi da sind, wollen die Leute nicht
zurück.
Bei denen gibt es ein Problem: Sie bestehen aus mehr als 60 unterschiedlichen
Einzelgruppen. Sie haben kein gemeinsames Kommando. Sie gehen so vor, dass wir
befürchten müssen, dass es sich um keine zuverlässige und berechenbare Einheit
handelt. Leider mischt sich der Iran in die irakische Krise ein. Er hat einen großen
Einfluss auf die irakische Regierung. Strategisch arbeitet der Iran daran, einen Korridor
durch diese Gebiete Richtung Syrien aufzubauen.
Atmo: Café, arabische Musik, Rühren im Glas
Autor:
Nach unserer Rückkehr aus Mossul sitzen Fuad und ich auf der Terrasse eines
Altstadtcafés in Erbil. Ein Gutteil der Viertel lässt sich von hier oben überblicken. Und
dieser Blick ist aufschlussreich. Denn diese Stadt Erbil, ist zur Zeit noch, was Mossul
einmal war: Ein großes Mosaik aus Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionen.
Atmo: Muezzinchor
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Autor:
Hier gibt es schiitische ebenso wie sunnitische Moscheen.
Atmo: Irakischer Kirchengesang
Autor:
Und etwas weiter hinten, im Stadtteil Ainkawa, stehen die Kirchen der assyrischen,
neben denen der katholischen und anglikanischen Christen.
Die internationale Koalition war angetreten gegen den IS, um religiösen Extremismus
einzudämmen und die Voraussetzungen für eine funktionierende Staatlichkeit zu
schaffen. Der Erfolg scheint mehr als zweifelhaft.
- Atmo
Autor:
Mein Blick fällt auf ein sonderbares Strohbündel, das in der großen Moschee vor uns auf
dem Minarett steckt. Ein Storchennest, sagt Fuad. Alle in Erbil kennen die Geschichte
und für alle, auch für ihn waren die Störche, die Jahr um Jahr zurückkamen, ein
vertrauter Anblick.
O-Ton Fuad:
Es gab hier immer Störche. Leider, Mitte der 90er-Jahre, genau im November 1994 gab
es hier einen Bruderkrieg. (/) Und (/) bewaffnete Männer hatten diese Störche
erschossen. Lieder, leider. Seitdem – die sind nicht mehr da.
Atmo: Straße, Café
Autor:
Dass dieser Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden Kurdenparteien bald ein
neuer, ungleich grausamerer Krieg folgen sollte, wusste zu dieser Zeit noch niemand.
Ein melancholischer Dichter hat damals am Fuß des verlassenen Minaretts etwas
eingraviert, das „Lied vom Storch“
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Zitatorin:
Jahr um Jahr
Blieb ich bei euch, als Zeuge eurer Wunden
Ich weinte über euer Blut und über euer Leid.
Und kam das Neujahrsfest,
so brachte Jahr um Jahr ich euch
Als erster diese gute Nachricht
Die Liebe zu euch ließ mich bleiben
Der ich so leicht in alle Winde fliegen konnte
Jetzt sterbe ich
Von eurer Hand
Absage:
Mossul
oder: Wo ist die Front?
Ein Feature von Marc Thörner
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2017.
Es sprachen: Wolfgang Condrus, Daniel Wiemer, Maya Bothe, Daniel Berger, Sigrid
Burkholder, Glenn Goltz und Justine Hauer
Ton und Technik: Hendrik Manook und Hanna Steger
Regie: Thomas Wolfertz
Redaktion: Karin Beindorff