die rolle des dopings in einem theater namens tour de france
TRANSCRIPT
DIE ROLLE DES DOPINGS
IN EINEM THEATER NAMENS TOUR DE FRANCE
Eine rekonstruktive Diskursanalyse
Schriftliche Hausarbeit zur
Erlangung des Grades eines Magister Artium (M.A.)
der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Erstgutachter: Prof. Dr. Robin S. Kähler
Zweitgutachter: Prof. Dr. Manfred Wegner
vorgelegt von Alexander Ohrt
Kiel
April 2009
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Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................................................... 3
Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................................................ 4
1. Einleitung ........................................................................................................................................................ 5
1.1 Versuch einer Doping-Definition ................................................................................................................ 8
1.2 Abgrenzung zu nicht behandelten Aspekten ........................................................................................... 11
2. Theoretischer Bezugsrahmen ........................................................................................................................... 14
2.1 Einführung ................................................................................................................................................. 14
2.2 Theorie der Selbstdarstellung im Alltag ................................................................................................... 16
2.2.1 Status der Goffmanschen Theorie ...................................................................................................... 20
2.2.2 Die Rahmentheorie ............................................................................................................................. 21
2.3 Die Macht des Diskurses ........................................................................................................................... 25
2.4 Die Mediale Vermittlung des Sports ......................................................................................................... 28
3. Rekonstruktion diskursiver Dopingpraxis bei der Tour de France .................................................................... 30
3.1 Die Gründung der Tour de France ............................................................................................................ 32
3.2 Rahmung I: Der noch uneingeschränkte Dopingdiskurs .......................................................................... 33
3.2.1 Festlegung des Anforderungsprofils ................................................................................................... 34
3.2.2 1924 - Die Affäre Péllissier .................................................................................................................. 35
3.2.3 Hauptsache im Gespräch .................................................................................................................... 37
3.2.4 Etablierung des politischen Schemas .................................................................................................. 37
3.3 Rahmung II: Kurzfristige Problematisierung eines Kavalierdeliktes ........................................................ 40
3.3.1 Profit- und Dopingmaximierung ......................................................................................................... 40
3.3.2 1967 - Der Tod Tom Simpsons ............................................................................................................ 44
3.3.3 Einführung regelmäßiger Kontrollen .................................................................................................. 48
3.3.4 Etablierung des Geheimhaltungs- und Opferschemas........................................................................ 49
3.4 Rahmung III: Kriminalisierung ................................................................................................................... 53
3.4.1 EPOchaler Radsportboom ................................................................................................................... 53
3.4.2 1998 – Die Festina-Affäre ................................................................................................................... 57
3.4.3 Institutionalisierung der Anti-Doping Bemühungen ........................................................................... 61
3.4.4 Etablierung des Kriminalitäts-Schemas .............................................................................................. 65
3.5 Rahmung IV: Moralische Verdammung .................................................................................................... 69
3.5.1 Das Karriereende von Jan Ullrich ........................................................................................................ 69
3.5.2 2007 - Patrik Sinkewitz als medialer Doping-GAU .............................................................................. 76
3.5.3 Kommunikationskontrolle .................................................................................................................. 80
3.5.4 Etablierung des Täter-Schemas .......................................................................................................... 86
4. Zusammenfassung unter Bezugnahme auf die Rolle der Ethik ......................................................................... 91
4.1 Der Wandel der Sportethik .................................................................................................................... 91
3
4.2 Moral als mediales Konstruktionsprinzip ............................................................................................... 94
4.3. Der Medienskandal ................................................................................................................................ 96
5. Fazit ................................................................................................................................................................. 100
Erklärung ......................................................................................................................................................... 103
Literaturverzeichnis ............................................................................................................................................. 104
Abkürzungsverzeichnis
AFLD Agence française de lutte contre le dopage
AMG Arzneimittelgesetz
ARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der
Bundesrepublik Deutschland
BDR Bund Deutscher Radfahrer
CAS Internationales Sportschiedsgericht (Court of Arbitration for Sports)
DOSB Deutscher Olympischer Sportbund
dpa Deutsche Presse Agentur
EPA Éditions Philippe Amaury
EPO Erythropoetin
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung
FFC Französischer Radsport-Verband (Fédération Française Cyclisme)
FR Frankfurter Rundschau
ICAS International Council of Arbitration for Sport
IOC Internationales Olympisches Komitee (International Olympic Committee)
MPCC Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport
NADA Nationale Anti-Doping-Agentur (National Anti-Doping Agency)
NZZ Neue Zürcher Zeitung
UCI Internationaler Radsport-Dachverband (Union Cycliste Internationale)
SZ Süddeutsche Zeitung
sid Sport Informationsdienst
taz die tageszeitung
WADA Welt-Anti-Doping-Agentur (World Anti-Doping Agency)
WADC Welt-Anti-Doping-Code (World Anti-Doping Code)
WDR Westdeutscher Rundfunk
4
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Grafische Darstellung der Imageverluste im Radsport von 2004 bis
2008……………………………………………………………………………………………………………..79
Abbildung 2: Grafische Darstellung von Einflussfaktoren auf das Image des
Radsports von 2001 bis 2007....................…………………………………………………....80
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1. Einleitung „Der Profiradsport hat etwas von einem Rattenrennen. Aber wenn ich zu den besten Ratten gehöre, kann ich
mich nicht bremsen“ 1
Tom Simpson, Weltmeister und erster Dopingtoter der »Tour de France«
„Der ganze Sport ist eine Bühne, und die Redaktion eines Senders übernimmt die Aufgabe, die im Theater ein
Regisseur hat“ 2
Hans Mahr, ehemaliger Informationsdirektor bei RTL
„Tour der Schande“ (o.V., 26.07.2007), „Die Blutspur des Radsports“ (Geisser, 05.08.2007, S.
23), „Radfahr-Mafia“ (Hoeltzenbein, 26.07.2007, S. 4), „Ist der Sport noch zu retten?“
(Plättner, 30.05.2007), „Ein Krieg, bei dem es Opfer gibt“ (Schallenberg, 12.07.2008). Wer die
Überschriften, Leitartikel und Aufmacher europäischer Tages- und Wochenzeitungen,
Magazin-Sendungen und Brennpunkte der Fernsehsender, sowie die Anzahl der Treffer nach
dem Suchbegriff Doping zwischen Juni und Juli im Verlauf der letzten drei Jahre betrachtet,
kann zu folgenden Schlüssen kommen: Doping bedroht unsere Freiheit, schadet unserer
Gesundheit oder zwingt uns in die Armut. Wie sonst ist es zu erklären, dass Betrugsfälle in
einem erdachten Spiel namens Sport einen medialen Sturm der Entrüstung auslösen? Im Juli
2007 ist das Thema »Doping im Radsport/Tour de France« der am umfassendsten
behandelte Inhalt innerhalb der Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und SAT.1.
Mit 365 Minuten rangiert die Thematik vor „Entführungen und Lage in Afghanistan“ (226
Minuten) und dem „Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn“ mit 165 Minuten (vgl. Schöberl,
26.08.2007). Sportrechtliche Vergehen, die keine umfassenden gesellschaftlichen
Auswirkungen besitzen, werden an prominentester medialer Stelle behandelt. Dort wo
normalerweise von Kriegen, Finanzkrisen, Terrorgefahr, Stagnationen auf dem Arbeitsmarkt
oder dem Klimawandel die Rede ist - Themen, deren Auswirkungen jeden Bürger eines
Landes direkt betreffen - erscheint nun die Großaufnahme eines überführten Konsumenten
von verbotenen Stimulanzien in einem gelben Hemd. Die Rede ist von der Tour de France
und dem in den letzten Jahren Stück für Stück enthüllten Dopingsystem im Radsport. Die
öffentliche Aufregung erscheint umso überaschender, da der Radsport im Allgemeinen und
die Frankreich-Rundfahrt im Speziellen von Beginn an auf das Engste mit dem
Dopingphänomen verknüpft ist.
1 (zitiert nach Fotheringham, 2007, S. 166).
2 (zitiert nach Haupt & Pfeil, 02.08.2007, S. 18).
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Das Phänomen des Dopings scheint in der öffentlichen Wahrnehmung unbestritten. Doper
verstoßen gegen die Moral des Sports und gehören ausgeschlossen. Wenn ein Ausschluss
keinen Sinn mehr macht, weil - wie im Falle der Tour de France - das Doping systematisch
erscheint und kein »sauberer« Fahrer übrig bliebe, wird zunächst die Fernsehübertragung
der Tour de France eingestellt. Im Anschluss werden Forderungen laut, nach denen der
Radsport nicht mehr staatlich gefördert werden dürfe. Optimisten können daraus den
Schluss ziehen, dass Doping damit wirksam verhindert werden kann, während Pessimisten
auf die Vielzahl von betroffenen Sportarten verweisen und insofern nur noch ein Schluss
möglich erscheint: „Der Sport ist tot. Doping hat ihn kaputt gemacht. Die Doper haben ihn
verraten“ (Franke & Ludwig, 2007, S. 10). Schulze und Krauss (2008, S. 7) entgegnen
aufgrund der jahrhundertelangen Dopingtradition mit einer Frage: „Geht der Sport kaputt,
seit es ihn gibt?“ Wenn letzteres der Fall wäre, hätte der Sport nicht den Stellenwert, den er
heute als globaler Wirtschaftsfaktor und staatlich gefördertes Kulturgut besitzt. Selbst die
Tour de France erweist sich, allen Dopingenthüllungen der letzten Jahre zum Trotz, in diesem
Jahr in ihrer 106. Auflage als quicklebendig. Aber warum erfährt das Dopingphänomen eine
derartige gesellschaftliche Aufmerksamkeit, wenn es dem Sport anscheinend doch nicht
gefährlich werden kann?
Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich zwar auf die Tour de France als „Epizentrum“
(Knobbe, 2000, S.139) der aktuellen Dopingdebatte, jedoch ist dieses Phänomen keines, das
außerhalb des Radsports nicht existieren würde. Es tritt nur nicht so deutlich zu Tage. So soll
sich auch zeigen, ob der Radsport mit seinen Superlativen der frühesten Kommerzialisierung,
dem ersten verzeichneten Dopingfall und der scheinbar größten Dichte an öffentlichen
Dopingfällen eher eine Prophezeiung des Spitzensports, als eine Ausnahme darstellt. Wenn
sich im Radsport Entwicklungen zeigen, die aufgrund seiner besonderen Geschichte anderen
Sportarten nur vorweggenommen ist, handelt es sich bei der Tour de France vielleicht
lediglich um eine Stellvertreterdiskussion. Wenn das Dopingphänomen in der Lage ist, das
drittgrößte Sportereignis der Welt (vgl. Leibundgut, 2000, S. 74) mit seiner 106-jährigen
Geschichte in Frage zu stellen, findet am Beispiel des Radsports womöglich eine öffentliche
Verhandlung über die Zukunft des Spitzensports statt. Damit stünde eine der weltweit
größten Unterhaltungsindustrien zur Disposition.
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Das erkenntnisleitende Interesse, dass sich aus den aufgezeigten Phänomenen ableitet,
lautet in der Folge: Welche Rolle spielt das Doping für den Fortbestand des Spitzensports am
Beispiel der Tour de France? Im Laufe dieser Arbeit soll versucht werden, Aufschluss über
diese Frage zu erhalten. Dabei gilt es, mit Hilfe soziologischer Theorien das Doping-
Phänomen der Tour de France in einen anderen Verstehenshorizont zu transformieren.
Diese Maßnahme soll helfen, die Strukturen des öffentlichen Dopingdiskurses offenzulegen,
dessen Zugang beschränkter zu sein scheint, als gemeinhin angenommen. Die Soziologen
Bette und Schimank (2006, S.35) sprechen von der Etablierung einer „ultrastabilen
Deutungsgemeinschaft“ aus Medien, Sportveranstaltern und der werbetreibenden
Wirtschaft, welche das Phänomen des Dopings öffentlich behandeln. Insofern geht es im
Endeffekt darum, mit welchen Strategien ein Problem behandelt wird, das im Zuge der
Professionalisierung des Sports von seinen bestimmenden Akteuren hervorgerufen wurde
und nun im Falle der Tour de France paradoxerweise ihre Machtposition zu gefährden
scheint. Grundlegend ist der Argumentation Gampers (2000, S. 45) zu folgen, der das
Dopingphänomen in zwei verschiedene Dimensionen aufteilt. Auf der einen Seite steht der
Sportler und sein Umfeld, der nach der Definition der »Welt-Anti-Doping-Agentur« (WADA)
verbotene Substanzen zu sich nimmt und in der Regel darüber schweigt. Auf der anderen
Seite steht die Öffentlichkeit, die Doping nicht praktisch, sondern theoretisch in Form der
massenmedialen Berichterstattung erfährt. In Anlehnung an den Philosophen Michel
Foucault unterscheidet Gamper in diesem Zusammenhang die „soziale Praktik“ der
konkreten Tätigkeiten gegenüber der „diskursiven Praktik“ (ebd.) als deren
Wissenshintergrund. Dafür sollen im Rahmen einer Diskursanalyse unterschiedliche
Interessenshintergründe der am Diskurs beteilgten Akteure beleuchtet werden. Anhand von
ausgewählten Schlüsselereignissen sollen im Laufe der massenmedialen Berichterstattung
der letzten Jahrzehnte die argumentativen Standpunkte von Sportlern, Wirtschaft, Medien,
Tour-Veranstalter und Politik dargestellt werden. Dabei ist anzunehmen, dass sich die
Aussagen in Bezug auf ihre soziale Rolle unterscheiden. Dieser „Definitionswettkampf“
(Keller, 2005, S. 55) um die Beurteilung des Dopingphänomens soll dabei in Bezug auf die
massenmediale Bewertung abschließend unter dem Gesichtspunkt der Ethik betrachtet
werden, deren Bedeutung sich deutlich bei den gängigen Semantiken in Form von
»Dopingsumpf« und »sauberer« vs. »schmutziger« Sport zeigt. Es soll darum gehen, die
8
Regeln des Dopingdiskurses aufzuzeigen. Was darf gesagt werden und was nicht? Der
Diskurs markiert die Spielregeln, sozusagen das Drehbuch für die an der Aufführung der Tour
verantwortlichen Akteure. Ziel ist es, einen Einblick in dieses Drehbuch zu erhalten, um ein
Verständnis für die Rolle des Dopings in einem Theater namens Tour de France zu gewinnen.
Der daraus erfolgende Erkenntniszuwachs mag auch bei der Beurteilung von Dopingfällen in
anderen Feldern des Spitzensports behilflich sein, eine möglichst unvoreingenommene
Sichtweise einzunehmen, weil er einen Blick auf die „Hinterbühne“ (Goffman, 1969, S. 104)
des Spitzensports gestattet.
„Wenn […] die Mechanismen, die diese Entwicklung bestimmen, großenteils
symbolische sind, dann kann man meiner Meinung nach von der Analyse, die sie
aufdeckt, erwarten, daß sie an sich schon dazu beiträgt, die symbolische Gewalt
einzudämmen, die mit Hilfe dieser Mechanismen ja nur solange ausgeübt werden
kann, wie sie unerkannt bleiben“ (Bourdieu, 1995, S. 270).
Im Sinne des Soziologen Bruno Latour (2007, S. 438) soll es darum gehen, aus der moralische
Verdammung des Dopings als „unbestreitbare Tatsache“ wieder eine „umstrittene“ zu
machen, um mit Hilfe einer verfremdenden Betrachtungsweise zu neuen Einsichten zu
gelangen. Im Hinblick darauf gilt es zu prüfen, ob das Dopingphänomen nicht wie vielfach
behauptet eine Ende des Spitzensports bedeutet, sondern dessen öffentliche Verhandlung
im Gegensatz dazu erheblich zur Sicherung des spitzensportlichen Schauspiels beiträgt.
1.1 Versuch einer Doping-Definition
Der Einsatz leistungssteigernder Substanzen ist so alt wie der Sport selbst. Sich innerhalb
eines Wettkampfes einen Vorteil beim Erreichen seiner Ziele gegenüber seinen Mitstreitern
zu verschaffen, stellt ein überindividuelles Phänomen dar und geht zurück bis in das antike
Griechenland (vgl. Hoberman, 1994, S. 125). Im Gegensatz zum damaligen Einsatz von
natürlichen Mitteln3 beinhaltet ein modernes Verständnis des Dopingphänomens eine
Steigerung der menschlichen Leistungsfähigkeit durch künstliche Substanzen (vgl. ebd. S.
120). Entstanden ist diese Auffassung mit dem Auftreten des professionell betriebenen
3 Bereits die Griechen griffen vor über 2000 Jahren auf Kräuter, Pilze und Stierhoden zurück (vgl. Christensen,
1999, S. 5).
9
Sports um 1900 durch eine Kombination von Diskurssträngen aus der Medizin, der
Rechtssprechung und der Sportethik (vgl. Schnyder, 2000, S. 73). So wird der erste offiziell
dokumentierte Dopingfall auf das Jahr 1886 datiert. Der Walliser Arthur Linton fällt nach der
Einnahme leistungssteigernder Mittel während des über 600 Kilometer andauernden
Radrennens Bordeaux-Paris tot vom Rad (vgl. Gamper, 03.09.1999, S. 21). Drei Jahre später
erhält das Wort Doping erstmals Einzug in ein englisches Wörterbuch, bezeichnet dort
allerdings den Einsatz von Opiaten und schmerzstillenden Mitteln zur betrügerischen
Erhöhung der Leistungsfähigkeit im Pferderennsport (vgl. Arndt, Singler, & Treutlein, 2004, S.
12). Die Beurteilung des Dopingphänomens erscheint schwieriger als auf den ersten Blick
vermutet. Das beginnt bei seiner Definition. Hoberman (1994) bezeichnet die Festlegung
einer allgemein anerkannten Sprachregelung als ein existenzielles ethisches Problem der
modernen Sportwissenschaft (vgl. Hoberman, S. 121). Dies hänge vor allem mit der
laufenden Entwicklung neuartiger Substanzen und einem sich stetig wandelnden Verständnis
gegenüber Leistungssteigerung und deren Begrenzung zusammen (vgl. ebd. S.122). So
kritisieren Bette und Schimank (2006) die bisherigen Dopingdefinitionen, die auf Ebene der
Sportverbände in zwei verschiedene Ansätze unterteilt werden können. Der Entwurf des
Europarates von 1963 definiert Doping als
„Verabreichung […] oder […] Gebrauch körperfremder Substanzen in jeder Form und
physiologischer Substanzen in abnormaler Form oder auf abnormalem Weg an
gesunde Personen mit dem einzigen Ziel der künstlichen und unfairen Steigerung der
Leistung im Wettkampf“ (Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 259).
Die Autoren führen an, dass sich der Spitzensport grundlegend als chancenungleich, daher
als unfair darstelle, weil Menschen aus aller Welt daran beteiligt und infolge dessen im
direkten Wortsinn weit davon entfernt seien, dieselben Voraussetzungen im Hinblick auf die
gegebenen sozialen oder biologischen Umstände zu teilen. Wer in einem Land wie
Deutschland aufwachse, könne auf ein umfassendes Sportförderungssystem zurückgreifen,
das gerade in nicht entwickelten Ländern fehle (vgl. Bette & Schimank, 2006, S. 177-178).
Weiterhin kann ein Sportler, der in der Höhe lebt, auf natürliche Weise einen
Sauerstoffgehalt im Blut erzielen, der für europäische Athleten neben Höhentrainingslagern
nur durch den Einsatz von Erythropoetin (EPO) zu erzielen ist. In diesem Falle würde erst der
Einsatz von Dopingmitteln die Chancengleichheit wieder herstellen. Der andere Aspekt der
10
Unnatürlichkeit erscheint schon insofern problematisch, da Marijuana oder Kokain ebenso
wie das Eigenblutdoping natürlichen Ursprungs sind, aber gegenüber eines Nichtanwenders
einen unfairen Vorteil verschaffen würden. Auch die Verbindung zur gesundheitlichen
Schädigung lässt die Unnatürlichkeit nicht zweifelsfreier in Bezug auf die Dopingdefinition
werden, da Übertraining und unausgewogene Belastungen über Jahre den Körper des
Spitzensportlers über akute Verletzungen hinaus in gesundheitsgefährdendem Ausmaß
belasten (vgl. ebd. S. 179). „Gesundheit im Leistungssport ist weder Kriterium noch Ziel“
(Heidmann, 2008, S. 40). Sportler lassen sich im Endeffekt den Verbrauch ihrer
Körpersubstanz finanziell erstatten (vgl. ebd. S. 40). Zuletzt zeigt sich der Gebrauch dieser
Begrifflichkeiten im Rahmen der Definition des Europarates besonders in Bezug auf die
Rechtssprechung als problematisch, da ihnen die Trennschärfe fehlt, um Gültigkeit vor einer
sportlichen Gerichtsbarkeit zu besitzen. Deren Notwendigkeit wurde den Sportverbänden
spätestens seit den dopingbedingten Todesfällen der Radfahrer Knud Jensen (1960) und Tom
Simpson (1967) offenkundig.
Die Mängel dieser „Wesensdefinition“ des Europarates sollten durch eine enumerative Liste
vermieden werden, die 1986 vom IOC entwickelt wurde und an die Stelle einer moralischen
Bewertung einen sportrechtlich sanktionierbaren Verbotskatalog setzt. Basierend auf diesem
Ansatz wurde die heute gebräuchliche und rechtlich bindende Doping-Definition im März
2003 auf der Welt-Anti-Doping-Konferenz in Kopenhagen verabschiedet. Die damaligen
Repräsentanten von Sportverbänden aus 80 Nationen und dem IOC verpflichteten sich mit
ihrer Unterschrift zur Umsetzung des »Welt-Anti-Doping-Codes« (WADC). Es wird ein
„Sportsgeist“ propagiert, der auf „Fairness und ehrlicher sportlicher Gesinnung“ im Sinne des
Olympismus fußt (vgl. WADA, 2009, S. 14). Doping stehe folglich im fundamentalen
Widerspruch zu diesen Werten (vgl. ebd.). Die zur Umsetzung des Codes geschaffene »World
Anti-Doping-Agency« (WADA) veröffentlicht mindestens einmal jährlich eine aktuelle Liste
verbotener Wirkstoffe und Methoden. Auf sechs Seiten werden dort folgende Mittel
aufgeführt: Stimulanzien (z.B. Amphetamine), Narkotika (z.B. Heroin), Synthetische anabole
(z.B. Anabolika) sowie körpereigene Steroide (z.B. Testosteron), Beta-2-Agonisten (z.B.
Clenbuterol), Diuretika (zur Verschleierung anderer verbotener Mittel), Peptidhormone (z.B.
Epo) und Kortikoide (zur Steigerung der Belastungsdauer). Weitere vier Seiten verweisen auf
verbotene Methoden zur Leistungssteigerung. Darunter fallen Blutdoping, die Anwendung
11
künstlicher Sauerstoffträger/Plasmaexpander, Urinmanipulation und Gendoping (vgl. Arndt,
2004, S. 48-50). Doping liegt somit vor, wenn ein Athlet oder dessen Umfeld in Form von
Physiotherapeuten, Trainer, Teammanager und weiteren Betreuern gegen die Anti-Doping-
Bestimmungen der WADA verstößt, also beispielsweise bei einer Kontrolle positive Werte
zeigt oder sich der Probenentnahme entzieht (vgl. Arndt, Singler, & Treutelin, 2004, S. 12).
Die definitorischen Unzulänglichkeiten des Europarat Entwurfes konnten zwar behoben
werden, aber neue, unlängst größere Probleme treten an ihre Stelle. Besonders die aus einer
Verbotsliste hervorgehende implizite Aufforderung, dort nicht aufgeführte Mittel verwenden
zu dürfen, wirft erhebliche Defizite auf. „Alles was nicht verboten ist, ist geboten, um mit
den mutmaßlich ebenso kalkulierenden Gegnern mithalten zu können“ (Bette & Schimank,
2006, S. 189). Ein weiteres Problem an der derzeit geltenden Dopingdefinition der WADA
beschreibt Stygermeer (1999, S. 119), indem er deren Rechtssprechung auf die Strafgesetze
überträgt. Demnach könnte ein Giftmörder nur dann verurteilt werden, wenn die Substanz,
die er benutzte, bereits Einzug auf eine Verbotsliste gefunden hat. Zusammenfassend
überrascht die Tatsache, dass die öffentliche Verurteilung des Dopings so eindeutig ausfällt,
wenn gleich das Dopingphänomen so schwer zu definieren ist.
1.2 Abgrenzung zu nicht behandelten Aspekten
Der wissenschaftlichen Umgang mit den Dopingphänomen lässt sich in die Verschärfer
(Franke & Ludwig, 2007), die Präventionalisten (Bette & Schimank, 1995, 2006; Arndt,
Singler & Treutlein, 2004), die Moralisten (Lenk, 2007; Meinberg, 2007), die Anti-Moralisten
(König, 1996; Gebauer, 1997), die Konstruktivisten (Gamper, 2000; Trümpler, 2007) und die
Freigeber (Daumann, 2008; Tamburini, 2000) kategorisieren.
Die Freigeber argumentieren auf der Basis einer grundsätzlichen Unlösbarkeit des
Dopingproblems im Sport, die sich im historischen Verlauf zeige (Daumann, 2008, S. 150).
infolge dessen bliebe als letzte Konsequenz übrig, Doping im Hochleistungssport für
Erwachsene zu liberalisieren, was die Gesundheit der aus der Illegalität befreiten und nun
unter ärztlicher Aufsicht befindlichen Sportler verbessere (ebd. S. 153). Nach rationalen
Aspekten erscheint dieser Zusammenhang nachvollziehbar. Da der Mensch allerdings auch
unter emotionalem Einfluss steht, kann die praktische Durchführbarkeit dieses Ansatzes vor
12
dem Hintergrund der staatlichen Förderung des Spitzensports und der Wahrung des
Kulturguts Sport, inklusive seiner Vorbildfunktion in Zweifel gezogen werden.
Dementsprechend verfolgen die Verschärfer keinen Umsturz, sondern eine Anpassung des
bestehenden Sportsystems. Da das Doping den Sport ermorde (Franke & Ludwig, 2007, S.
10), entwerfen die Autoren einen „Rettungskatalog“ (ebd. S. 231-235), der im Rahmen eines
rigideren Umgangs mit dem Phänomen unter anderem eine Verschärfung der Kontrollen und
lebenslange Sperrung für überführte Sportler fordert.
Im Gegensatz dazu sind die Präventionalisten nicht, wie im Falle der Freigabe oder des
strikteren Verbots, der Ansicht, dass das Dopingproblem lösbar ist, sondern verfolgen das
Ziel, „Doping so unwahrscheinlich, wie möglich zu machen“ (Arndt, Singler, & Treutlein,
2004, S. 19). Dies soll durch eine argumentative Erziehung der Sportler und deren
Verantwortungsträgern erreicht werden. Bette und Schimank (1995, 2006) gehen in ihrem
systemtheoretischen Ansatz grundlegend davon aus, „daß mehrere Akteure durch ihre
Interessenverschränkung transintentinal dazu beitragen, die Dopingfalle herzustellen und
am Leben zu halten“ (Bette & Schimank, 2006, S. 13). Doping entstehe folglich aus der
Tatsache, dass Medien, Wirtschaft, Verbände und der Staat durch die Verfolgung ihrer
individuellen Ziele in Form von positiver Aufmerksamkeit und finanziellen Erträgen den
Sportler dazu bringen, Substanzen einzunehmen, gegen die er sich zu Beginn seiner Karriere
verwehrt hätte. Aus Sicht der Prävention besteht der beste Lösungsansatz darin,
biographische Risiken für den Sportler zu verringern, indem er sich mehr Misserfolg erlauben
kann, wenn ihm sein Umfeld bessere Verdienstmöglichkeiten nach Ende der sportlichen
Karriere in Aussicht stellt (vgl. Bette & Schimank, 2006, S. 236). Die Ergebnisse von Bette und
Schimank erweisen sich als entscheidende Grundlage für das Verständnis des
Dopingphänomens, da nicht nur das Doping, sondern auch das System des Spitzensports als
ein Teil von ihm untersucht wird. Dieser Aspekt ist eine entscheidende Weiterentwicklung
gegenüber der verschärfenden Sichtweise, die es überwiegend dabei belässt, »Dopingtäter«
an den moralischen Pranger zu stellen. Philosophisch und ethisch begründet wird dieser
Pranger durch die Moralisten. Sie setzen sich zum Ziel, eine „Humanisierung“ (Lenk, 2007, S.
60) des Wettkampfes zu bewirken. Dabei dient die Ethik als theoretische Leitlinie, nach der
die Moral als praktische Handlung ausgerichtet werden soll (vgl. Meinberg, 2007, S. 17).
Doping werde in Anlehnung an Bette und Schimank strukturell erzeugt, verstoße gegen die
13
Fairness und solle, wenn das Problem schon nicht lösbar sei, zumindest „kontrollierbar(er)“
(Lenk, 2007, S. 68) gemacht werden. Demgegenüber argumentieren die Anti-Moralisten,
dass eine ebensolche Sichtweise für die Analyse des Dopingphänomen hinderlich ist, da der
wissenschaftlichen Blick zur Wahrung ethischer Ziele beschränkt wird.
„Unter ethischem Aspekt betrachtet, lebt die Antidoping-Moral im Sport von der
Annahme, daß Doping und Sport Antipoden seien, und genau damit verspielt sie die
Chance, am Beispiel des Sports Wesentliches über den Sport in Erfahrung zu bringen“
(König, 1996, S. 233).
Wer die Moral mitsamt ihrer traditionellen Prinzipien wie Chancengleichheit, Fairness und
Gesundheit auf den Spitzensport anzuwenden versucht, impliziert damit eine grundlegende
Ethik in diesem kommerziellen Feld, die nach Gebauer (1997, S. 69-70) nicht vorhanden ist.
„Ein ethischer Sport […] unterstellt dem gegenwärtigen Sport eine geschönte Praxis,
verspricht den punktuellen Einsatz von Heilungskräften der Ethik und läßt alles, wie es ist.
Ein hochwillkommenes intellektuelles Schlafpulver“. Die Kritik an den verschärfenden und
moralisierenden Ansätzen zielt darauf ab, die Systemimmanenz des Dopings im Spitzensport
(vgl. Haug 2006, S. 226; Stygermeer, 1999, S. 129) nicht anzuerkennen. Als problematisch an
dem umfassenden Untersuchungsansatz von Bette und Schimank (1995, 2006) zeigt sich
hingegen die Starrheit des systemtheoretischen Modells. Es stellt zwar alle entscheidenden
Akteure in ihrem gegenseitigen Handeln vor, aber gibt keine Auskunft über die sich
verändernden Machtverhältnisse untereinander. Wie sich im Laufe der Arbeit zeigt, sind die
öffentlichen Ansichten in Verbindung mit definitorischen Entwürfen und dazugehörigen
Repressionen gegenüber dem Doping einem stetigen Wandel unterworfen. Weil es noch bis
zur Mitte des 20. Jahrunderts kein Dopingverbot gab, wurden Sportler mitunter vom
Publikum ermutigt, leistungssteigernde Mittel einzunehmen, während sie in der heutigen
Zeit bei einer entdeckten Anwendung von Dopingmitteln öffentlich als »Sünder« gelten.
Diejenigen Akteure, die dazu beitragen, die öffentliche Wahrnehmung des
Dopingphänomens in ihrem Sinne zu beeinflussen, üben mehr Macht aus als Akteure, die
nicht daran beteiligt sind. Von dieser Annahme gehen die Konstruktivisten aus, die auf Basis
der Anti-Moralisten aus argumentieren.
„Die Kontrolle über den Dopingdiskurs gehört so zu den zentralen
Machterhaltungsstrategien des Sportsystems, an dem vor allem diejenigen
14
interessiert sind, welche in der Machtkonstellation gute Positionen inne haben“
(Gamper, 2000, S. 56).
Basierend auf der Annahme, dass Doping auf der einen Seite untrennbar mit dem
kommerziellen Spitzensport verbunden ist, auf der anderen Seite aber eine massive
Gefährdung dieses Systems zu sein scheint, soll es im Rahmen dieser Untersuchung darum
gehen, auf welche Art und Weise das Dopingphänomen im Laufe der Zeit öffentlich be- und
verhandelt wird. Im Rahmen einer konstruktivistischen Perspektive soll eine rekonstruktive
Diskursanalyse Auskunft darüber geben, auf welche Art und Weise das gesellschaftliche
Wissen über das Doping generiert und aktualisiert wird und welche Auswirkungen damit
verbunden sind.
2. Theoretischer Bezugsrahmen
Im Folgenden werden soziologische Theorien als Grundlage eingeführt und die in der
vorliegenden Arbeit verwandte Terminologie erläutert, um begrifflich bedingte
Missverständnisse zu vermeiden. Zentrale Begriffe der in dieser Arbeit verwendeten
Theorien und Untersuchungen sind die Rollentheorie, die Rahmentheorie und der
Diskursbegriff.
2.1 Einführung
Man stelle sich vor, dass ein amerikanischer Austauschschüler zum ersten Mal in seinem
Leben mit dem Fußballspiel in Kontakt gerät. Wie er es vom American Football in seiner
Heimat gewöhnt ist, könnte er den Ball mit der Hand aufnehmen und zu einem Mitspieler
nach vorne werfen. Kinder, die in der europäischen Variante des Fußballs vertraut sind und
mit dem Amerikaner spielen, würden ihn auf seinen Regelverstoß aufmerksam machen und
bei erneutem Verstoß möglicherweise aus dem Spiel aussondern. Will der amerikanische
Junge weiterhin mitspielen, wird es für ihn sinnvoll sein, sich dem gegebenen Regelwerk
anzupassen. Wollen die anderen Kinder auf diesen Spieler nicht verzichten, werden sie sich
15
Mühe geben, ihn an die neuen Regeln zu gewöhnen. In Bezug auf die Theorie des
»Symbolischen Interaktionismus« soll dieses fiktive Geschehen verdeutlichen, dass der
Mensch die Fähigkeit besitzt, sein soziales Umfeld zu interpretieren, um angemessen
handeln zu können. Schlicht und Strauß (2003, S. 11) betonen in Anlehnung an George
Herbert Mead die Flexibilität der sozialen Umgebung. Demnach gibt es keine starren
Handlungsmuster, die bei bestimmten Reizen abgespult werden, sondern eine soziale
Realität, die durch die Interaktion einem steten Anpassungs- und Veränderungsprozess
unterworfen ist. Die Art des Reizes bestimmt die Reaktion und die Reaktion bietet wiederum
einen neuen Reiz im Rahmen einer „wechselseitigen Beeinflussung“ (Mummendey, 1995, S.
113). Basierend auf Gesprächen oder Handlungen mit anderen Menschen schreiben wir
Personen oder Dingen Bedeutungen zu, um in Abgrenzung zu oder Teilnahme mit anderen
zur eigenen Identität zu gelangen (vgl. Schlicht & Strauß, 2003, S. 11). Um in sozialen
Situationen gemeinsames Verhalten gewährleisten zu können, also eine
Kommunikationsgrundlage herzustellen, obliegt es den sozialen Akteuren, einen „sozialen
Konsenz“ (Mummendey, 1995, S. 113), wie im Falle der gemeinsamen Fußballregeln, in der
Deutung der Situation herzustellen. Dies wird vor allem durch „signifikante Symbole“ (ebd.)
deutlich, die eine erlernte Reaktion bei Interaktionspartnern auslösen können. Wenn der
Amerikaner nun in Bezug auf das Fußballspiel anhand des Balles lernt, wie andere ihn nicht
mit der Hand spielen, kommt es zur „Übernahme der Rolle des anderen“ (ebd. 114), wenn er
den Ball in der Folge ausschließlich mit dem Fuß spielt. Symbolische Bedeutungsträger
können im Rahmen der Interaktion auch Sprache oder Personen sein (vgl. ebd.). Im ersten
Falle lösen zum Beispiel ein Hilferuf bestimmte, erlernte Reaktion hervor, während im
zweiten Fall Menschen gegenüber einem Kassierer ein anderes Verhalten zeigen, als
gegenüber einem Polizisten (vgl. ebd.). „Soziales Handeln ist immer Handeln-in-Rolle, sowohl
im Verstehen des Handelns anderer wie auch in der Reflektion auf eigenes Handeln“ (Rapp,
1973, S. 101). Als Rollen werden demnach Positionsinhabern zugehörige Bedeutungs- oder
Wertzuschreibungen bezeichnet, die dessen Verhalten und das seiner sozialen Umwelt in
einem bestimmten Interaktionszusammenhang bestimmen (vgl. ebd. S. 115). In dem
Moment, wo zwei Menschen interagieren, beziehen sie ihre Selbstdarstellung auf die
Selbstdarstellung des anderen. Die Rolle ist dabei „das Dritte, was zwischen Personen
16
kommuniziert wird“ (Rapp, 1973, S. 101). Erst die soziale Rolle ermöglicht die Interaktion,
weil sie eine soziale Position zuweist.
„Indem der Einzelne soziale Positionen einnimmt, wird er zur Person des Dramas, das
die Gesellschaft in dem er lebt, geschrieben hat. […] Soziale Rollen bezeichnen
Ansprüche der Gesellschaft an die Träger von Positionen, die von zweierlei Art sein
können: zum einen Ansprüche an das Verhalten der Träger von Positionen
(Rollenverhalten), zum anderen Ansprüche an sein Aussehen und seinen »Charakter«
(Rollenattribute)“ (Dahrendorf, 2006, S. 37).
So verlangt auch die Position eines Leistungssportlers bestimmte Verhaltensweisen. Die
Gesellschaft erwartet von ihm ein auf Leistung ausgerichtetes Leben, das nicht in Berührung
mit dem Laster zu kommen hat und insofern eine gesellschaftliche Vorbildfunktion erfüllen
kann. Sportler haben sich diesen Anforderungen anzupassen. Beispielhaft wurde dieser
Zusammenhang an Michael Phelps, US-amerikanischer Schwimmer und erfolgreichster
Olympionike aller Zeiten. Ein britisches Boulevardblatt hatte Phelps mit einer Wasserpfeife
am Mund abgebildet. Ohne Anti-Doping Regeln zu verletzen, „habe der achtmalige
Goldmedaillengewinner […] viele Menschen enttäuscht“ (o.V., 02.06.2009). In der Folge
sperrte der US-Schwimmverband den Athleten für drei Monate.
2.2 Theorie der Selbstdarstellung im Alltag
Auf der Grundlage des aufgezeigten sozialtheoretischen Verständnisses entwirft der
Soziologe Erving Goffman in seinem Werk „The Presentation of Self in Everyday Life“ ein
Analyse-Modell, um alltägliche, symbolische Interaktionsmuster zu beschreiben. Ihm geht es
dabei um den Versuch von interagierenden Menschen, das gegenseitige Verhalten zu
kontrollieren (vgl. Goffman, 1969, S. 7). Der Einzelne ist bestrebt bei anderen einen Eindruck
hervorzurufen, der sie dazu bringt, „freiwillig mit seinen Plänen übereinzustimmen“
(Goffman, 1969, S. 8). Goffman benutzt zur Beschreibung dieser Vorgänge basierend auf
dem Konzept der sozialen Rolle des Symbolischen Aktionismus, eine Metaphorik aus der
Welt des Theaters. Soziales Verhalten gleicht demnach einem wechselseitigen Einfluss
zwischen der schauspielerischen Darstellung einer Rolle und dessen Publikum (vgl
Mummendey, 1995, S. 118). Dabei geht es nicht um Fragen der Schauspielkunst oder
17
Bühnentechnik, sondern um die dramaturgischen Aspekte eines sozialen Schauspielers bei
seiner Darstellung (vgl. Goffman, 1969, S. 18). Goffman interessiert als Dramatologe, wie die
Schauspieler „ihre ‚Rollen‘ meistern, welche Drehbücher sie benutzen, und welches
Publikum sie wie ansprechen“ (Hitzler, 1998, S. 93). Goffman geht nicht davon aus, dass
Menschen untereinander ein bereits vohandenes Skript abspulen, sondern begreift sein
Modell als eine mögliche Perspektive zum Verständnis sozialer Interaktionsprozesse (vgl.
Früchtl & Zimmermann, 2001, S. 12). Der Nutzen dieses Theoriekonstruktes liegt in der
Gewinnung neuer Erkenntnisse durch die Verfremdung scheinbar selbtverständlicher
Sichtweisen (vgl. Willems, 1998, S. 25). Das Alltägliche wird sichtbar gemacht, indem man es
in einen anderen Zusammenhang transferiert. Diesen soziologischen »Verfremdungseffekt«,
den bereits Bertold Brecht im Rahmen seines Theaterkonzeptes verfolgte, soll den Leser
bzw. Zuschauer zur Reflektion über den auf der Bühne stattfindenden Alltag anregen, ihn
eine kritische Perspektive einnehmen lassen und abschließend zu einem Lerneffekt führen
(vgl. Langer, 1996, S. 95).
Der Darsteller4 kann verschiedene Strategien anwenden, um sein Publikum in seinem Sinne
zu beeinflussen. Entscheidend dabei ist, dass er sein Publikum von der Richtigkeit seines
Rollenspiels auf der Bühne überzeugt (vgl. Langer, 1996, S. 72). Erst wenn er dies schafft,
vermag er sein Publikum von seiner Darstellung zu „verzaubern“ (ebd. 74) und damit nach
seinen Zielen in Richtung soziale Akzeptanz lenken. Insofern ist es in Bezug auf eine
erfolgreiche Darstellung wichtig, dass der Schauspieler „während der Interaktion das
ausdrückt, was er mitteilen will“ (Goffman, 1969, S. 31). Die Interaktion verläuft daher nicht
ungeplant, sondern wird arrangiert und für andere mit „Deutungs- und Regieanweisungen“
(Soeffner, 2004, 171) versehen. Der Einzelne oder eine Gruppe von Darstellern ist bestrebt
die Intepretation des sie umgebenden sozialen Umfelds in ihrem Sinne zu beeinflussen,
damit sich deren Interpretation nicht als nachteilig für sie auswirkt. Ziel der Darstellung ist
ein für ihre Bestrebungen vorteilhaftes Image als „eine Art schnell lesbarer charkterliche
Kurzbeschreibung“ (Früchtl & Zimmermann, 2001, S. 12).
So können die Darsteller ihre Interaktionsprozesse „dramatisch gestalten“ (Goffman, 1969,
S. 31), indem sie durch Überzeichnungen ihre Aussagekraft erhöhen. Sie können ihre
4 Aus Gründen der Lesbarkeit soll in der folgenden Arbeit in der männlichen Form auch die weibliche enthalten
sein.
18
Interaktionen zudem auch „idealisieren“ (ebd. S. 35), indem sie sich besonders eindringlich
auf angesehene, gesellschaftliche Werte beziehen. Gerade bei der Taktik der Idealisierung
wird es nötig, Eindrücke, die nicht mit den gewünschten übereinstimmen, zu verbergen.
Darsteller betreiben demnach „Ausdruckskontrolle“ (ebd. S. 54), indem sie soziale Disziplin
an den Tag legen. Sollten nämlich Tatsachen ans Licht kommen, die mit der erzeugten
sozialen Rolle unvereinbar erscheinen, kann es den gesamten Status des Darstellers
bedrohen (vgl. ebd. S.60). Wenn sich das Publikum während einer bestimmten Darstellung
getäuscht fühlt, hat ein Betrüger kein Recht mehr auf das Spielen seiner in dieser Situation
vorgeführten Rolle und es wird für ihn unmöglich, die Zuschauer in seinem Sinne zu
beeinflussen. Stimmen die Verhaltensweisen nicht mit der sozialen Rolle überein, fehlt die
Interaktionsgrundlage.
„Die Verkörperung besagt, dass das Individuum sich verbindet mit der in einer
Situation erforderlichen Gestalt. Um sich mit den Partnern verständigen zu können,
muss es Verhaltensweisen annehmen, die eine Interaktion ermöglichen“ (Langer,
1996, S. 10)
Im Umkehrschluss hängt eine erfolgreiche Darstellung davon ab, ob das Publikum die
Darstellung als ehrlich ansieht, unabhängig davon, ob dies zutrifft oder nicht (vgl. Goffman,
1969, S. 66). Wenn mehrere Individuen gemeinsam eine Rolle bilden und damit eine
kollektive Zielsetzung verfolgen, handelt es sich um ein „Ensemble“ (ebd. S. 79). Die
Ensemblemitglieder unterstehen überwiegend den Anweisungen eines „Regisseurs“ (ebd. S.
91-92), der ihre Darstellung koordiniert. Dieser ist innerhalb der Gruppe dafür zuständig,
durch Beruhigung, Maßregelung oder Bestrafung auf unvorteilhafte Darstellungen
einzuwirken, Darsteller gegebenfalls aus der Besetzungsliste zu streichen, aber auch die
Rollenvergabe innerhalb des Ensembles zu übernehmen. Neben der Regie existiert als zweite
Machtposition die des „Hauptdarstellers“ (ebd. S. 92), der meist besonders gekennzeichnet
in der Mitte der Bühne steht und in ähnlicher Weise wie der Regisseur auf das Publikum
einwirken kann. Allen Gruppenmitgliedern ist gemein, den gewünschten Eindruck auf der
dem Publikum zugewandten „Vorderbühne“ (ebd. S. 100) aufrechtzuerhalten und sich in
Folge dessen an die aufgestellten Regeln des Ensembles zu halten (vgl. Willems, 1977, S.
286). Handlungen, die davon abweichen, werden auf die „Hinterbühne“ (Goffman, 1969, S.
104) verlegt und somit der Publikumseindruck durch eine Zugangskontrolle „manipuliert“
19
(ebd S.107). Jedes einzelne Gruppenmitglied trägt die Verantwortung
„Gruppengeheimnisse“ (ebd. S. 130), über die nur ein Mitglied des entsprechenden
Ensembles verfügt, zu bewahren. So kann ein „Wir-Gefühl“ (Langer, 1996, S. 93) entstehen.
Ein „Denunziant“ verstößt gegen diese Regel, indem er als Teil des Ensembles „destruktive
Informationen“ (Goffman, 1969, S. 133) von der Hinterbühne an das Publikum verrät.
Neben „Publikums“- und „Darstellungsensemble“ gibt es noch die „Außenseiter“ (ebd. S.
132), die weder auf die Vor- noch auf die Hinterbühne zugreifen können. Aus ihnen besteht
das soziale Umfeld, die das Schauspiel zwar verfolgen, aber nicht direkt in die Interaktion
eingreifen. Eine besondere Rolle innerhalb der Zuschauer nimmt der „Clacqueur“ (ebd. S.
134) ein. Er handelt im Interesse der Darsteller auf der Bühne, weiß um die Zielsetzung des
darstellenden Ensembles, sitzt aber im Zuschauerraum und wird deshalb von dem
zuschauenden Ensemble als einer der ihren wahrgenommen. Genau andersherum verhält es
sich mit dem „Kontrolleur“ (ebd. S. 134-135). Dieser aus Sicht der Darsteller vermeintlich
harmlose Zuschauer ist formell oder informell legitimiert, sich verborgenes Wissen
anzueignen, um das vorgezeigte Stück im Rahmen „ethischer Strenge“ (ebd. S. 135) zu
überwachen. Die Rolle des „Vermittlers“ (ebd. S. 136-137) lässt sich als eine Art Claqueur in
beide Richtungen beschreiben. Er dient sowohl der Darstellung auf der Bühne, indem er den
gewünschten Eindruck unterstützt, als auch der Kontrolle der Darstellung. Um auf der
Vorderbühne einen vorteilhaften Eindruck gegen Denunzianten und Kontrolleure bewahren
zu können, müssen alle Ensemblemitglieder konform, beherrscht und achtsam handeln.
„Ensemble-Verschwörungen“ (ebd. 162-163) bezeichnen geheime Kommunikationsformen
im Sinne von Regieanweisungen, die Ensemblekollegen vom Publikum unbemerkt
austauschen, um die gegenseitige Vorstellung unter anderem vor Enthüllungen zu schützen.
Allerdings sind sowohl das Publikum als auch die Außenseiter innerhalb ihrer Rolle bis zu
einem gewissen Grad bestrebt, die Darstellung auf der Bühne zu sichern. So gebietet es der
„Takt“ (ebd. 210), nicht ohne Vorwarnung an die Darsteller die Hinterbühne zu betreten,
sowie sich während der Vorstellung möglichst ruhig zu verhalten, aber auch Fehler, die von
den Darstellern begangen werden, bis zu einem gewissen Maß unbeachtet lassen zu können.
Sowohl das Publikum als auch die Schauspieler sind in diesem Sinne aufeinander
angewiesen, um eine erfolgreiche Darstellung zu erleben. Der Zuschauer ist bestrebt, von
der Rolle überzeugt zu werden (vgl. Langer, 1996, S. 76), um sich einfühlen zu können
20
(Goffman, 1969, S. 211). Und der Darsteller kann überzeugend spielen, wenn sich das
Publikum an die Regeln ihrer Rolle hält (vgl. Langer, 1996, S. 76). Zusammengefasst
verpflichten sich alle Akteure zur Einhaltung eines bestimmten Ethos, einer Moral dessen
Einhaltung nur im Sinne der Rolle nötig ist und das Spiel erst ermöglicht (vgl. Goffman, 1969,
S. 230).
„Der ganze Apparat der Selbstinzenierung ist natürlich umständlich; er bricht
manchmal zusammen und enthüllt dann seine Bestandteile: Kontrolle über die
Hinterbühne, Ensembleverschwörung, Publikumstakt usw. Wenn er aber gut geölt ist,
dann bringt er die Eindrücke schnell genug hervor, um uns in einem unserer
Realitätstypen gefangenzunehmen – die Vorstellung gelingt, und das fixierte Selbst,
das jeder dargestellten Rolle zugeschrieben wird, scheint seinem Darsteller selbst zu
entströmen“ (Goffman, 1983, S. 231-232).
2.2.1 Status der Goffmanschen Theorie
Goffman gilt als eigentlicher Motor der Rollentheorie (Miebach, 2006, S. 101). Seine
soziologische Handlungstheorie findet bis heute Verwendung und fand ebenfalls Eingang in
die Sozialpsychologie. Mummendey (1995) erarbeitete eine Kategorisierung von positiven
und negativen Selbstdarstellungstechniken im Sinne der Theorie der Goffmanschen Theorie
der Selbstdarstellung. Mit der erstgenannten Form versucht eine Person sich selbst in
erhöhender Weise darzustellen, indem sie ihre positiven Merkmale betont. Wenn die Person
sich eher entschuldigt oder andere diffamiert, wendet sie negative Darstellungstechniken an
(Mummendey, 1995, S. 140-141; vgl. Mummendey, 2006). Somit behalten die Annahmen
Goffmans nach derzeitigem experimentell überprüftem Forschungsstand ihre Gültigkeit.
Diese Tatsache ist insofern erwähnenswert, da Goffman nahezu unmethodisch vorzugehen
scheint. Sein qualitatives Vorgehen wird von ihm kaum reflektiert, so dass seine Methoden
bis heute Rätsel aufgeben (Willems, 1997, S. 290).
Kritik an seinem Ansatz formuliert Münch (2003), der die Rolle übergeordneter
gesellschaftlicher Einflüsse, wie zum Beispiel von Macht oder Herrschaft auf die Individuen
(vgl. Münch, 2003, S. 307) in seiner Theorie vermisst. Die Kritik von Haug (1972) geht in die
gleiche Richtung, indem sie die allumfassende Anwendbarkeit der Rollentheorie kritisiert.
21
Durch die Rollenmetapher würden alle Menschen ihrer Unterschiede beraubt. Es
interessiere weder Herkunft noch Status, sondern lediglich die Art und Weise wie die Rolle
ausgefüllt werde (vgl. Haug, 1972, S. 123). So werden die Hintergründe der Interaktionen
nicht beleuchtet. Die Rollentheorie verhülle gar den Einfluss von Macht und Herrschaft.
„Es scheint als ob die Welt vorab strukturiert wäre, um im nachhinein die Menschen
in Rollen einzusetzen. Als Aggregatzustand der Bühnenhaftigkeit interessieren Autor
und Inhalt des vorgegebenen Stücks nicht mehr“ (Haug, 1972, S.123).
Mit anderen Worten fragt Goffman nur nach dem Wie, aber nicht nach dem Warum. Wie
Goffman selbst einräumt, bleibt der Widerspruch zwischen künstlichem Schauspiel und
realer Handlung im Endeeffekt unauflösbar, so dass man die Theatermetaphorik lediglich als
Gerüst betrachten sollte. Ein Modell, das man errichtet, um es anschließend wieder
auseinanderzunehmen (vgl. Goffman, 1969, S. 232). Was bleibt, ist ein Analyse-Schemata
mittels eines soziologischen Beschreibungsinstrumentariums für soziale Interaktionen. Mit
Hilfe der hier aufgezeigten Metaphorik lassen sich soziale Situationen beschreiben, in denen
sich Menschen vor anderen Menschen darstellen, sich wechselseitig wahrnehmen und ihr
Schauspiel ineinander verschränken (vgl. Hitzler, 1998, S. 96). Gerade der Aspekt der
Ausdruckskontrolle bietet eine interessante Perspektive, um selbstverständlich gewordenen
Ansichten in Bezug auf das im Verborgenen stattfindende Doping zu verfremden und damit
zu neuen Einsichten zu gelangen. In Bezug auf die Ausdruckskontrolle sozialer Akteure stellt
sich die Frage nach deren Wahrnehmung im sozialen Umfeld.
2.2.2 Die Rahmentheorie
Goffman (1977) vertieft die Prinzipien seiner „Theorie der Selbstdarstellung im Alltag“ in
Form der „Rahmenanalyse“. Der Fokus liegt nun weniger auf der Dramaturgie des
Darstellers, sondern mehr auf der Deutung ihres Spiels. Goffman strebt an, aus der
Perspektive eines Neuankömmlings in einer sozialen Situation eine Antwort auf die Frage zu
finden: „Was geht hier eigentlich vor?“ (Goffman, 1977, S. 35). Er beschreibt die Erfassung
der sozialen Umstände, an deren Interpretation der Darsteller sein zielgerichtetes Handeln
ausrichtet und damit wiederum für seine Zuschauer eine Interpretation derselben Situation
ermöglicht. Menschen versuchen im ersten Schritt, Situationen in denen sie sich befinden, zu
22
deuten, bevor sie darauf durch ihre Handlung im zweiten Schritt antworten. Diese
Deutungen erfolgen durch die Analyse von „Rahmen“ (Goffman, 1977, S. 19). Je nach dem,
welche Rahmen das Individuum aufgrund von Deutungen sozialer Symbole identifiziert,
vermutet es, welche Handlungen ihm aufgrund der gedeuteten Beobachtung erlaubt sind
und welche aus dem Rahmen fallen würden (vgl. Soeffner, 2004, S. 164).
„Durch jene metakommunikativen Beigaben erhält tendenziell jeder
Kommunikationsakt eine fiktionale Qualität: Ich muß anzeigen, daß etwas so und
nicht anders gemeint ist, weil es auch anders gedeutet werden könnte (Soeffner,
2004 , S. 170-171).
So gilt es zum Beispiel, für das Individuum zu klären, ob eine bestimmte direkte oder
indirekte Verhaltensaufforderung aus Sicht des Adressaten ernst zu nehmen oder aber als
ironischen Ursprungs zu werten ist. Im ersten Fall würde die Person aufgrund von
identifizierten, symbolischen Äußerungen oder Gesten der Aufforderung Folge leisten und
im zweiten Fall womöglich lediglich darüber lachen, ohne weitere Handlungen folgen zu
lassen. In beiden Fällen wirkt das Individuum zurück auf seine soziale Umwelt. Aufgrund der
individuellen Deutung der Situation und der darauffolgenden Handlung „hat das Individuum
die Möglichkeit, der Rahmung eine persönliche Note zu verleihen und damit die anderen
Interaktionsteilnehmer zu reizen, darauf zu reagieren“ (Miebach, 2006, S. 66). Erfolgreiches
Handeln im Sinne der Durchsetzung individueller, strategischer Interessen setzt im Endeffekt
eine Identifizierung des geltenden Rahmens voraus, in welchem die Interaktion stattfindet
(vgl. Willems, 1997, S. 40). Somit kann ein „Rahmen“ (ebd. S. 113) vereinfacht als Schemata
symbolhafter sozialer Normen verstanden werden, wohingegen die „Rahmung“ (ebd.) die
Interpretation dieser Normen und die darauf folgende Handlung meint. Willems (1997, S. 46)
versteht die Begriffe als „sozialen Sinn und sinnaktualisierende Praxis“. Während der
Rahmen relativ stabil erscheint, kann eine unpassende Rahmung zu einem Verhalten führen,
das aus dem Rahmen fällt. Wie bereits bei der Ausdruckskontrolle beschrieben, bemühen
sich die Darsteller, einen gewünschten Eindruck bei ihrem Publikum zu hinterlassen. Unter
Eindrucksmanagement kann in diesem Zusammenhang verstanden werden, eine Situation
im Sinne der eigenen Ziele zu rahmen. Somit kommt es zu einem „Wettbewerb zwischen den
Akteuren und Gruppen, die verschiedene Techniken der Rahmung einer Situation voll ins
Spiel zu bringen und zwar so, wie es für ihre Ziele am günstigsten ist“ (Münch, 2003, S. 285).
23
Rahmungen einer Situation werden insofern wiederum dramaturgisch produziert. Als
Deutender bildet sich aus vielen Handlungseindrücken ein Sinnmuster heraus, als
Handelnder fügt sich aus vielen Teilhandlungen eine Darstellung zusammen (vgl. Soeffner,
2004, S. 174). „Alle Interakteure bilden […] im Norm- und Normalfall ein Team im Dienst der
»Framing Order«“ (Willems, 1997, S. 67). Dazu gehören - wie bereits bei der Theorie der
Selbstdarstellung angedeutet - „dramaturgische Loyalität […], dramaturgische Disziplin […]
und dramaturgische Sorgfalt […] “ (Goffman, 1969, S. 193-198).
Das Rahmenkonstrukt vermag in Erweiterung zur Theatertheorie nicht nur Interaktionen in
der empirisch vorliegenden Gegenwart zu untersuchen, sondern auch in ihrem historischen
Verlauf. Das zeigt sich beispielhaft an der Überführung einer sozialen Situation in einen
anderen Interaktionskontext. Goffman führt dies unter anderem am Beispiel des Sports vor.
Ein ursprünglicher Kampf zwischen Menschen wird mittels eines Systems von Konventionen
in einen Wettkampf überführt bzw. moduliert (vgl. Goffman, 1977, S. 69). Im Falle eines
Faustkampfes, der von allen Beteiligten als dieser wahrgenommen wird, spricht Goffman
von einem „primären Rahmen“ (ebd. S.31) als wirkliche Erfahrung. Ein sportlicher Box-
Wettkampf hingegen bildet den primären Rahmen einer kämpferischen Auseinandersetzung
nach, lässt sich nun allerdings von seinen Interaktionspartnern als etwas anderes
interpretieren (vgl. Wittmann, 2007, S. 85), nämlich als Sport. So verhindern die Regeln, dass
die Sportler beim Versuch, die Interaktionen auf dem Spielfeld zu deuten, ihre Handlungen
vor dem Hintergrund einer reellen kämpferischen Auseinandersetzung bis zum blutigen Ende
ausführen. Im historischen Verlauf ändert sich zum Beispiel im Hinblick auf den Regel-
Rahmen der Grundsatz von ‚alles ist erlaubt‘ bis hin zu einer gegenwärtigen Definition
davon, was einen Regelverstoß darstellt und wie dieser geahndet wird (Goffman, 1977, S.
69). Eine weitere Transformation von ursprünglichen, daher primären Rahmen, führt er mit
dem Begriff der „Täuschung“ (Goffman, 1977, S. 98) an. Diese Umdeutung ist gegeben, wenn
ein Täuschender andere Interaktionsteilnehmer hinters Licht führt und sie somit zu
Getäuschten macht. Zur Wahrung der Ziele des Darstellers wird es in diesem Zusammenhang
notwendig, den Zuschauern einen unwahren Eindruck davon zu vermitteln, was vor sich geht
(vgl. ebd.). Wenn ein Sportler dopt, dieses öffentlich aber nicht zugibt, wird die Analogie zur
Täuschung im Goffmanschen Sinne offensichtlich.
24
Zusammengefasst geht es Goffman darum, die handlungsleitenden Rahmen zu analysieren
und damit zu identifizieren. „Man muß sich ein Bild von dem oder den Rahmen einer
Gruppe, ihrem System von Vorstellungen, ihrer »Kosmologie« zu machen versuchen […]
(Goffman, 1977, S. 37). Die Rahmenanalyse vertieft das Beschreibungsinstrumentarium für
soziale Interaktionen, das Goffman innerhalb seiner Theatertheorie entwickelt hat. Der
Fokus liegt nun insbesondere auf dem Rahmungswettbewerb der sozialen Akteure um die
Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele. „Was Goffman lehrt, ist die Ökonomie des
symbolischen Eindrucksmanagements“ (Münch, 2003, S. 306). Gerade dieser Aspekt erweist
sich als fruchtbar für die Analyse der Dopingthematik, da es sich dabei nicht um etwas
Feststehendes, sondern um ein verhandeltes Gut handelt. Davon ausgehend, dass soziale
Interaktionen im Rahmen massenmedialer Vermittlung auf der Grundlage theatraler
Metaphoriken beschrieben werden kann, soll versucht werden, dieses theoretische Konzept
für das Dopingphänomen nutzbar zu machen. Um jedoch einen Erkenntniszuwachs durch
einen »Verfremdungseffekt« zu erzielen, bedarf es eines zusätzlichen
erkenntnisgenerierenden Ansatzes, wie auch Früchtl & Zimmermann (2001, S. 13) betonen.
Auf der einen Seite gilt es, der bereits beschriebenen methodischen Rätselhaftigkeit
Goffmans Herr zu werden. Da er kaum die Grundlagen seiner empirischen Datensammlung
offenlegt 5 , ließe sich seine Theorie schwerlich eins zu eins auf die Dopingthematik
übertragen. Weiterhin sollen die Defizite einer Beschreibung auf der Oberfläche durch eine
stärkere Akzentuierung der gesellschaftlichen Hintergründe sozialer Handlungen innerhalb
der medialen Dopingthematisierung herausgearbeitet werden. So bleibt auch die
Rahmentheorie trotz ihrer neuartigen historischen Komponente bei der Beschreibung des Ist
und erwähnt nicht welche Umstände dazu geführt haben (vgl. Willems, 1997, S. 66). Bei
einer soziologischen Analyse des Dopingphänomens interessieren gerade die »Autoren« und
deren kommunikative Zielsetzungen in einem Stück namens Leistungssport. Als
problematisch zeigt sich dabei jedoch, dass nicht davon ausgegangen werden kann, einen
ungehinderten Zugang zu der Hinterbühne des Spitzensports zu erhalten. Die am
Spitzensport beteiligten Akteure würden sich infolge dessen als wenig auskunftsfreudig über
5 Goffman erläutert lediglich die Wahl seiner Quellen. Neben Bezugnahme auf frühere Forschungsergebnisse
(Goffman, 1969, S. 4) bezieht er sich vor allem auf Presseerzeugnisse (Goffman 1977, S. 23). „Diese Daten haben eine schwache Seite. Ich habe sie im Lauf der Jahre aufs Geratewohl gesammelt[…]. Auch hier liegt eine Karikatur einer systematischen Auswahl vor“ (Goffman, 1977, S. 24).
25
die Hintergründe einer im Geheimen stattfindenden Praxis zeigen, wonach eine Befragung
keinen Erkenntniszuwachs bescheren könnte.
„Es pflegt Situationen zu geben, in denen ein Beobachter auf das angewiesen ist, was
er von einem Beobachteten erfahren kann, weil es keine ausreichenden anderen
Informationsquellen gibt, und in denen der Beobachtete darauf aus ist, diese
Einschätzung zu hintertreiben oder aber unter schwierigen Verhältnissen zu
erleichtern. Es können sich hier spielähnliche Überlegungen entwickeln, auch wenn
es um sehr schwerwiegende Dinge geht. Es kommt zu einem Wettkampf der
Einschätzung. […] Die Information gewinnt strategische Bedeutung , und es kommt zu
Ausdrucksspielen“ (Goffman, 1981, S. 18).
Folglich gilt es, die beschriebenen theoretischen Konzepte in Bezug auf diese
Ausdrucksspiele zu untersuchen. Dabei sollen allerdings „kollektive Akteure“ (Keller,
Diskursanalyse, 1997, S. 314) an Stelle von einzelnen oder Gruppen von Akteuren treten. In
der soziologischen Perspektive erscheint der Schritt von akteurszentrierten Mikroebene im
Sinne Goffmans zu einer gesellschaftlichen Makroebene sinnvoll. Es bedarf eines
ergänzenden Konzepts zur methodologischen Umsetzung des Goffmanschen
Beschreibungsinstrumentariums sozialer Interaktionen in Bezug auf die Dopingthematik: Die
Theorie des Diskurses.
2.3 Die Macht des Diskurses
Die Diskurstheorie – zurück gehend auf den Philosophen Michel Foucault - nimmt als
konstruktivistischer Ansatz ebenso wie die Soziologie Goffmans an, dass das menschliche
Wissen nicht unmittelbar durch das Individuum erfahren wird, sondern erst durch soziale
Bedeutungszuschreibungen zusammengesetzt, folglich konstruiert wird (vgl. Keller, 1997, S.
315).
Wissen wird danach durch eine symbolische Ordnung erzeugt: den Diskurs (vgl. ebd.). Dabei
handelt es sich um Vorgänge des Sprechens oder Schreibens, die beispielsweise im
wissenschaftlichen Umfeld teilöffentlichen oder im Rahmen massenmedialer Verbreitung
allgemeinöffentlichen Charakter besitzen (vgl. ebd. S. 312-314). Ein Diskurs kann somit
verstanden werden als „strukturierte und zusammenhängende (Sprach-) Praktiken, die
26
Gegenstände und gesellschaftliche Wissensverhältnisse konstituieren“ (Keller, 2005 , S. 182)
und dadurch zu einer Etablierung allgemeingültiger, symbolischer Ordnungen führen.
Diskurse reduzieren die Vielfalt sozialer Wirklichkeit, indem sie Interpretationsweisen
fixieren und stabilisieren (vgl. Keller, 2004, S. 52). In Bezug auf den Diskurs über das Doping
schafft die Art und Weise, wie darüber in der Öffentlichkeit gesprochen wird, das Wissen
über die Praktik der unerlaubten Leistungssteigerung. Verschiedene, gesellschaftliche
Institutionen kommen darin zu Wort, die basierend auf unterschiedlichen Zielsetzungen
voneinander abweichende Standpunkte, Meinungen und Ansichten in die Doping-Debatte
einbringen können. An diesem Punkt offenbart sich die Ähnlichkeit des Diskurskonzeptes im
Sinne Kellers im Vergleich zu den Rahmungswettbewerben Erving Goffmans.
„Gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion ist ein andauernder und fortschreitender
Prozeß, in dem kollektive Akteure in einem symbolischen Kampf um die Durchsetzung ihrer
Deutungen […] stehen“ (Keller, 1997, S. 314).
Das Diskurskonzept ermöglicht es nun, diese Prozesse analysierbar zu machen. So geht es
der „Wissenssoziologischen Diskursanalyse“ in Anlehnung an den französischen Philosophen
Michel Foucault darum, zu ergründen, auf welche Weise „spezifisches Wissen zur
gesellschaftlichen Wirklichkeit wird“ (Keller, 2005, S. 190). Äußerungen von sozialen
Akteuren werden nicht als einzelne Aussagen, sondern als typisierbares Resultat ihrer
sozialen Rolle aufgefasst, da die Äußerungen bestimmten Gemeinsamkeiten und Regeln
ihres jeweiligen historischen Umfelds unterliegen (vgl. ebd. S. 182). Somit werden auch hier
soziale Akteure als Rollenspieler verstanden (vgl. ebd. S. 212), die durch den Diskurs
Auskunft über Institutionen und Organisationen geben, in denen sie sich befinden (vgl.
Keller, 1997, S. 319). Somit kann auch das soziologische Rollen-Vokabular Goffmans für eine
„Analyse der Strukturierungen von Sprecherpositionen in Diskursen genutzt werden“ (Keller,
2005 , S. 212). Innerhalb des Diskurses fungiert ein Verbot dabei als eine Kontrollinstanz.
Diejenigen Akteure, die eine entscheidende Rolle innerhalb eines Diskurses ausüben, sind in
der Lage, anderen Diskursteilnehmer die Grenzen des Äußerbaren aufzuzeigen und üben
damit Macht aus (vgl. Foucault, 2003, S. 11). „Macht entscheidet also darüber, was wer – vor
einem Horizont unendlicher Möglichkeiten des Sag- und Machbaren – darf und was nicht“
(Karis, 2008, S. 39). Unabhängig von den getätigten Äußerungen ist man nur dann „im
Wahren […], wenn man den Regeln einer diskursiven »Polizei« gehorcht, die man in jedem
27
seiner Diskurse reaktivieren muss“ (Foucault, 2003, S. 25). Die Konstruktion von Wirklichkeit
gleicht demnach einem zyklischen Prozess. In den Diskursen gestalten die Akteure gleichsam
ihre Welt nach den Regeln des Diskurses (vgl. Sarasin, 2005, S. 105), wodurch in jedem
Diskurs die geltenden Regeln aktualisiert werden (vgl. Foucault, 2003, S. 25).
Ziel der Analyse ist nun die Rekonstruktion dieses Regelwerks der Bedeutungsgenerierung
(vgl. Keller, 2004, S. 44). Die Aufgabe der Diskursanalyse definiert sich als Suche hinter
„widersprüchlichen Argumenten, Aussagen und Meinungen […] nach dem Algorithmus […],
mit dem bestimmte Aussagen generiert und andere ausgeschlossen werden können“
(Sarasin, 2005, S. 110). Auf diese Weise lassen sich Denkstrukturen einer Epoche
identifizieren (vgl. ebd. S. 71), die in bestimmten „Schemata“ (Foucault zitiert nach Sarasin,
2005, S. 109) vorliegen. Aufgrund der Ähnlichkeit zu Goffman lassen sich diese Strukturen
auch als die Rahmen des Diskurses identifizieren (vgl. Keller, 1997, S. 315). Diskursrahmen
legen somit im Endeffekt Machtstrukturen offen, die auf den Diskurs und deren Produktion
von Wissen einwirken. Wissen ist dabei als eine Tatsache zu verstehen, die in einer
Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als wahr akzeptiert wird (vgl. Seier.
1999, S. 77). Insofern wirkt der Diskurs auf machtvolle Weise, da er soziale Wirklichkeit
erschafft, indem er Wissen produziert (vgl. Seier, 1999, S. 76-77). Nach Foucault ist in Bezug
auf den Diskurs nicht das bessere Argument, sondern das mächtigere von zentraler
Bedeutung (Tümpler, 2007, S. 15). „Der Diskurs […] ist dasjenige, worum und womit man
kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht“ (Foucault, 2003, S. 11).
Macht ist insofern dafür verantwortlich, was gemacht oder gesagt werden darf und was
nicht (vgl. Karis, 2008, S. 39). Dabei geht es nicht um eine analytische Identifizierung einer
Macht, sondern von Machtverhältnissen (vgl. Engelmann, 1999, S. 191). Foucault spricht in
diesem Zusammenhang auch von „Kräften“, die sich auf einer ortlosen „Bühne“ (Foucault
zitiert nach Sarasin, 2005, S. 118-119) in den Diskursen gegenüberstehen.
Zusammenfassend macht sich die Diskursanalyse auf die Suche nach dem Prozesshaften,
also immer wieder veränderlichen Strukturen, die den Diskurs hervorbringen und fragt
zweitens nach ihren gesellschaftlichen Wirkungen. „Es geht um eine Betonung der
Materialität des Prozessierens von symbolischen Ordnungen und um ihre
wirklichkeitskonstituierenden Effekte“ (Keller et. al., 2005, S. 71). Es geht der Diskursanalyse
darum, was kommuniziert wurde, Stabilität in Form von Rahmen erlangte, bevor es von
28
einer anderen Rahmung verdrängt wurde (vgl. Sarasin, 2005, S. 106). In Bezug auf die
Wahrnehmung des gesamten Spitzensports, dessen Teil das Doping ist, fällt jedoch auf, dass
der Großteil der Interaktion zwischen Athlet und Publikum nicht direkt an der Sportstätte,
sondern indirekt über die Nutzung massenmedialer Angebote erfolgt. Es stellt sich folglich
die Frage nach dem Rahmen der Wahrnehmung. „Medien produzieren, regulieren und
modifizieren gesellschaftliches Wissen und üben damit Macht aus“ (Karis, 2008, S. 40). In
Bezug auf das Doping gilt es deshalb, die Dopingberichterstattung auf ihre Rahmung hin zu
untersuchen.
2.4 Die Mediale Vermittlung des Sports
In Bezug auf die Dopingthematik schiebt sich durch die Massenmedien eine
„Beobachtungsanordnung zwischen Publikum und Bühne“ (Soeffner, 2004, S. 297). Damit
bilden diese Institutionen die Ebene, auf der sich die Interaktionen der Akteure und damit
ihre Rahmungswettkämpfe nachvollziehen lassen.
Bei der Aufführung des Spitzensports spielen die Massenmedien eine Schlüsselrolle. Diese
können dabei grundlegend als alle gesellschaftlichen Einrichtungen verstanden werden, die
sich technischer Hilfsmittel zur Vervielfältigung ihrer Kommunikation bedienen (vgl.
Luhmann, 1996, S. 10). Dazu zählen Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Radio und das
Internet, folglich alle, die der Verbreitung von Kommunikation an unbestimmte Adressaten
dienen. Erst die Massenmedien machen den Spitzensport und damit die Dopingthematik
durch ihre Berichterstattung gesellschaftlich wahrnehmbar, da nach Luhmann (2006, S.9)
das gesellschaftliche Wissen durch die Massenmedien erfahren wird. Insofern sind die
Kommunikationsmittel als zentrales Forum für die Bedeutungsvielfalt des Sports zu
verstehen (vgl. Schwier, 2002, S.2), da sie besonders für das Leitmedium Fernsehen, als
„elektronische Erweiterung“ (Pöttinger, 1989, S. 279) der Stadien, von hohem
wirtschaftlichen Wert sind. Damit bietet das Buch, die Zeitung oder der Bildschirm einen
Ausschnitt der Realität. „Dieser äußere Rahmen setzt dann eine Welt frei, in der eine eigene
fiktionale Realität gilt“ (Luhmann, 1996, S.98). In Abgrenzung zu anderen
Medientheoretikern geht Luhmann allerdings nicht davon aus, dass dieser
Kommunikationsprozess eine manipulierte, sondern eine nach den Gesetzmäßigkeiten des
29
Mediums konstruierte Realität schafft (vgl. Luhmann, 1996, S. 10). Die
Konstruktionsbedingungen der Medienrealität ergeben sich dabei als eine Folge des
grundlegenden Berichterstattungsbedarfes der Massenmedien. Die Unternehmen müssen
regelmäßig Informationen produzieren, um sich durch dessen Verkauf Gewinne zu
erwirtschaften. Je mehr nun über den Sport berichtet wird, desto stärker steigt das
Bedürfnis der interessierten Zuschauer, noch mehr darüber zu erfahren. Da bei der
Wiederholung immer gleicher Informationen Langeweile entstünde, könnte ein wesentlicher
Faktor des Konsumreizes für den Zuschauer in Form der Unterhaltung nicht mehr aufrecht
erhalten werden und einen Verkaufsrückgang bewirken. Da sich eine Information nur einmal
verwenden lässt, folgt daraus, dass die Berichterstattung durch die Vermittlung von
Informationen gleichzeitig einen Mangel an Informationen verursachen (vgl. Berghaus, 2003,
S.201). „Die Informationen machen nicht satt, sondern im Gegenteil immer hungriger nach
neuer Information“ (ebd). Daraus folgt, dass immer wieder etwas Neues und
Außergewöhnliches berichtet werden muss.
Es erfolgt eine Dramatisierung des spitzensportlichen Handelns mit dem Kalkül,
Aufmerksamkeit für sich oder ein Thema zu verschaffen, das Objekt „in Szene“ Horky, 2001,
S. 18) zu setzen. Massenmedien vermitteln somit kein reales Bild der Sportwirklichkeit,
sondern ein konstruierte Mediensportwirklichkeit (vgl. ebd. S. 148). Horky (2001) definiert
vier Vorgänge der dramaturgischen Aufladung, die darauf abzielen, die sportliche Spannung
im Sinne des Zuschauers zu erhöhen, da es dem Spitzensport als Unterhaltungsprodukt
obliegt, affektive Gipfelpunkte zu erzeugen (vgl. Gebauer, 1986, S. 8). Zwei dieser Prozesse
stehen in direktem Zusammenhang mit der Doping-Berichterstattung. Als erstes führt er den
„Inszenierungsprozess Thema“ (Horky, 2001, S. 178-181) ein, bei dem es sich um eine
konstante Struktur der Berichterstattung handelt. Durch die Auswahl von bestimmten
Themen und die Auslassung von anderen wird ein Rahmen erzeugt, indem vor allem
besondere Leistungen oder kontroverse Auseinandersetzungen vorgeführt werden. An
zweiter Stelle folgt der „Inszenierungsprozess Person“ (ebd. S. 182-183). Hierbei wird das
sportliche Geschehen anhand von Sportlerpersönlichkeiten erzählt, deren Erfolg die
Grundlage für eine intensive mediale Beschäftigung mit der betreffenden Person zur Folge
hat. Auf diese Weise werden Stars erzeugt, was wiederum ermöglicht Skandale oder
Misserfolge derselben Person medial zu verwerten, da sie gesellschaftliche Aufmerksamkeit
30
erzeugen. Beiden Inszenierungsprozessen ist gemein, thematisch strukturierte
Informationen über die Realität zu verbreiten, die dazu dienen, der Gesellschaft ein
gemeinsames Hintergrundwissen zu ermöglichen. Massenmedien schaffen somit ein
„soziales Gedächtnis, auf das sich die Gesellschaft in ihrer gesamten Kommunikation stützen
kann“ (Berghaus, 2003, S. 242). Auf diese Art und Weise bildet sich ein Rahmen, der das
gesellschaftliche Bild der spitzensportlichen Realität darstellt. Die massenmedialen
Erzeugnisse werden somit zum symbolischen Bedeutungsträger der sportlichen Akteure.
Massenmedien, die über den Spitzensport berichten, liefern dem Rezipienten einen Rahmen
als Orientierungsmuster, der er ihnen erstens Antwort auf die Frage gibt: „Was geht da
eigentlich vor?“ und damit zweitens ein entsprechendes Handlungsmuster offeriert:
„Schauen sie zu. Dies ist ein Spiel zu ihrer Unterhaltung“. Vor diesem Hintergrund gilt es,
übergeordnete Muster im medialen Dopingdiskurs zu identifizieren.
3. Rekonstruktion diskursiver Dopingpraxis bei der Tour de France
Die am Dopingdiskurs beteiligten spitzensportlichen Akteure interagieren nach bestimmten
Schemata und interagieren dabei sowohl im privaten als auch im öffentlichen Rahmen.
Aufgrund des fehlenden Forschungszugangs kann die Analyse der Dopingthematik bei der
Tour de France lediglich den letzteren Rahmen beschreiben. Dieser öffentliche Diskurs stellt
allerdings auch die entscheidende Analyseperspektive dar, weil der Forscher in diesem
Zusammenhang die Rolle des Zuschauers einnimmt, an den schließlich die gezeigte
Vorstellung adressiert ist. Für die Akteure erweist es sich dabei als taktischer Vorteil, die
anderen Interaktionsteilnehmer inklusive des Publikums über ihre wahren Hintergründe und
Ziele der Interaktion im Unklaren zu lassen. Im Einzelnen soll es nun weniger darum gehen,
die »Wahrheit«, wenn diese als objektive Kategorie überhaupt möglich ist, herauszufinden,
sondern vielmehr Aufschluss über das Regelwerk der Aussagen zu erhalten. Was darf gesagt
werden, was nicht und welche Konsequenzen haben beide Arten von Aussagen. Dabei ist
grundlegend darauf hinzuweisen, dass die Interaktionen der Akteure zu dem Zeitpunkt ihres
Stattfindens einen prozesshaften Charakter besitzen, die Folgen ihres Tuns also nicht
abgesehen werden können (vgl. Soeffner, 2004 , S. 165). Im Gegensatz dazu findet sich in der
31
Forschungsperspektive das fertige Ergebnis der Interaktion in Form eines fixierten Textes
(vgl. ebd.). Dieser Text soll mit Hilfe des rekonstruktiven Ansatzes der Diskursforschung
wieder geöffnet werden, „um die in ihm als Handlungshorizont noch enthaltenen, später
dann ausgeschlossenen Handlungsalternativen zu erschließen“ (ebd.). Auf diese Weise tritt
der darstellende Charakter des Interaktionszusammenhanges zu Tage, da sich aus den nicht-
verfolgten Strategien der Nutzen der angewandten Diskursstrategie erschließen lässt.
Im Zuge der Untersuchung gilt es nun die verwendeten Rahmen im öffentlichen, medial
vermittelten Dopingdiskurs über die Tour de France nachzuzeichnen. Für die Durchführung
der Untersuchung werden dafür im ersten Schritt Zeitpunkte im historischen Verlauf
aufgespürt, in denen das Doping umfassend thematisiert wird. Dreyfus und Rabinow (1987,
S. 301) sprechen in diesem Zusammenhang von „Problematisierungen“ als geschichtliche
Momente, in denen sich ein Rahmen bildet, der die zugrunde liegenden Normen dieser Zeit
widerspiegelt. Grundlage dafür bieten „natürliche Daten“ (Keller, 2008, S. 66), folglich
wissenschaftliche Publikationen, Zeitungs- bzw. Magazintexte, Agenturmeldungen und
audiovisuelle Dokumente wie Dokumentationen. Dabei ist eine vollständige Abbildung eines
identifizierten Zeitraumes schwerlich möglich, so dass an Stelle dessen eine
problemzentrierte Analyse und Rekonstruktion erfolgt (ebd. S. 68). In Anlehnung an Keller
(1997, S. 318-319) geht es dabei um folgende Fragestellungen:
• Wie sind die Dopingdiskurse entstanden?
• Welche Veränderung haben Sie im Lauf der Zeit erfahren?
• Welche kognitiven Wahrnehmungs-, moralische und ästhetische
Bewertungsschemata transportieren sie?
• Wer sind ihre Träger?
• Wie erfolgreich sind ihre Träger, d.h. welche Auswirkungen haben die Diskurse?
Im Versuch diese Fragen zu klären soll der Dopingdiskurs bei der Tour de France
rekonstruiert wird werden, um der Frage nach zu gehen, welche übergeordneten Schemata,
folglich Rahmen, im Dopingdiskurs verwendet werden und in welcher Form die Thematik
einen Bedeutungswandel vollzogen hat. So stellt sich reskonstruktive Analytik anhand von
vier Problematisierungen in einem Vierschritt dar. An erster Stelle werden in jedem der
Zeitabschnitte die diskursiven Rahmenbedingungen aufgezeigt. Im Anschluss wird der medial
vermittelte Dopingdiskurs nachgezeichnet, bevor die Konsequenzen aus dieser öffentlichen
32
Verhandlung aufgezeigt werden. Beendet werden die Problematisierungsabschnitte mit
einer Interpretation des Diskurses unter Zuhilfenahme der Goffmanschen Metaphoriken.
3.1 Die Gründung der Tour de France
„Es ist ein Fest im wahrsten Sinn, das heißt die Gelegenheit für jeden, den Alltag zu unterbrechen, seine Sorgen zu vergessen, an Orte zu fahren, wo ein fröhliches und spannendes Schauspiel geboten wird, das schön und bunt
ist, fesselnd, attraktiver Mittelpunkt einer Präsentation des kommerziellen Einfallsreichtums dank der Werbekarawane, die die langen Wartezeiten rechtfertigt und ausfüllt […]“
Tourdirektor Jacques Goddet, 19636
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt die französische Mittelklasse dank sinkender
Arbeitszeiten und steigender Löhne, sich für Sport im Allgemeinen und Radsport im
Speziellen als eine Form der Freizeitgestaltung zu interessieren (vgl. Thompson, 2006, S. 9).
So entsteht die erste professionalisierte Sportart neben dem Boxen (vgl. Gamper,
15.09.2006) als Konsequenz aus einem lukrativen Markt für Radrennveranstalter, dem
Kampf der Fahrradindustrie um die besten Sportler und dem finanziellen Interesse der
Athleten, bereits um 1895 (vgl. Schröder, 2002 S. 40). Dank ihrer umfangreichen
Berichterstattung leisten die Massenmedien einen erheblichen Beitrag für die
Professionalisierung des Radrennsports, indem sie aufgrund der leistungs- und
fortschrittsbezogenen Charakteristiken des Radsports das vorhandene Interesse des
Publikums bedienen und noch weiter steigern. „Die sportlichen ‚Fortschritte‘ sind einfach so
faszinierend oder gar abstoßend, daß die Presse zur Popularität der Radprofessionals
geradezu beitragen muß“ (Rabenstein, 1996 , S. 89).
Aus Sicht der Rennveranstalter wird es durch ein Überangebot an Steher-, Sechstagerennen
oder Distanzfahrten immer schwieriger, die Unterhaltungslust des Publikums zu befriedigen.
Zwei Unternehmer stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite befindet sich Pierre Giffard,
Chefredakteur der Le Vélo, der mit täglich 80.000 verkauften Exemplaren größten
Sportzeitung Frankreichs. Giffard ist ebenfalls Veranstalter der Langstreckenrennen Paris-
Brest-Paris, Paris-Roubaix und Bordeaux-Paris über Distanzen von rund 600-1200 Kilometern
(vgl. Renggli, 2000, S. 141). Ihm gegenüber steht Henri Desgrange, Chefredakteur der
Sportzeitung L’Auto. Beide realisieren, dass nur eine der beiden Sportzeitschriften den
6 (zitiert nach Nora, 2005, S. 467).
33
gegenseitigen Verdrängungswettbewerb überleben kann (vgl. Krämer, 1998, S. 11). So
entschließt sich Desgrange die Idee seines Mitarbeiters Geo Lefévre von einer neuartigen
Etappen-Rundfahrt durch Frankreich in die Tat umzusetzen. Nach knapp sechsmonatiger
Planungszeit erfolgt am 1. Juli 1903 für 60 Fahrer der Startschuss zur ersten Tour de France,
die mit einem Umfang von 2428 Kilometer und einem Preisgeld von 20.000 Francs die
erforderlichen Superlative bietet (vgl. Renggli, 2000, S. 141). Henri Desgrange kommentiert
das Ereignis in einem Leitartikel seiner Zeitung: „Mit […] mächtigem Elan, […] lanciert L’Auto
als Zeitung mit avantgardistischem Mut heute das größte Rennen der Welt mit den
prächtigsten, unerschrockensten aller Athleten“ (zitiert nach ebd.). Der Franzose Maurice
Garin kann die erste Auflage des Rennens nach insgesamt 94 Stunden für sich entscheiden
(vgl. Thompson, 2006, S. 33). Dabei verbringt er durchschnittlich 15,35 Stunden pro Tag auf
dem Rad (vgl. Rabenstein, 1996, S. 79). Doch die Mühen lohnen sich für Garin. Mit 6075
Francs, die er unterwegs an Prämien verdient, wird er zu einem der bestbezahltesten
Sportler seiner Zeit (vgl. Siemes, 26.06.2003). Begleitet von den „epischen Reportagen über
den heldenhaften Kampf verwegener Männer“ (Krämer, 1998, S. 12) erreicht auch
Desgrange sein Ziel. Die Verkaufsauflage der L’Auto verdoppelt sich innerhalb der Tour von
30.000 auf 65.000 Exemplare, während Giffard seine »Le Vélo« bereits Ende 1903 vom
Markt nehmen muss (vgl. ebd. S. 13).
Von Beginn an tritt das Dopingphänomen am deutlichsten in Verbindung mit dem Radsport
in Erscheinung, den der österreichische Mediziner Clemens Prokop als „Brutstätte des
Dopings“ (o.V., 1985/15, S. 184) bezeichnet. Doping im Radsport werde von Generation zu
Generation vererbt (vgl. Rabenstein, 1996, S.177). Dieser Ruf steht in engem Zusammenhang
mit der Tour de France, da sie schon nach kurzer Zeit zur „wichtigsten Bühne“ (Schröder &
Dahlkamp, 2003, S. 10) für die Radprofis wurde. Der hohe Stellenwert der Veranstaltung gilt
in Verbindung mit der hohen ökonomischen Verwertbarkeit eines erfolgreichen
Abschneidens als Hintergrund des angewandten Dopings und soll im Folgenden
nachvollzogen werden (vgl. ebd.).
3.2 Rahmung I: Der noch uneingeschränkte Dopingdiskurs
34
„Ich bin kein Sportler, ich bin Profi“ 7
Rudi Altig, Radrennfahrer
3.2.1 Festlegung des Anforderungsprofils
Um das gesellschaftliche Interesse an der Tour erstens zu konservieren, zweitens
auszubauen und drittens die Profite der Organisatoren zu steigern, experimentieren die
Tour-Verantwortlichen mit der Streckenplanung und dem Reglement, um ein spannendes,
ereignisreiches Rennen präsentieren zu können. Während 1903 die Fahrer das Tour-Ziel als
Erster zu erreichen haben, um das Rennen zu gewinnen, ändert sich im darauffolgenden Jahr
das Reglement. Die Anzahl an Etappen wird auf elf erhöht und die Abstände in ein
Punktesystem umgerechnet. Damit kann auch ein Fahrer das Tour-Ziel als Vierter erreichen
und trotzdem den Gesamtsieg erreichen, wenn er vorher entsprechend viele Punkte
errungen hat. So bleibt die Spannung des Rennens länger erhalten, da ein Fahrer auch nach
einem schlechten Tagesergebnis noch den Gesamtsieg erreichen kann. Dieses System wird
1912 von dem bis heute üblichen Modus der akkumulierten Zeitrechnung abgelöst, das die
Zeitabstände zwischen dem ersten und den nachfolgenden Fahrern in einem
Gesamtklassement addiert (vgl. Thompson, 2006, 33). Eine fundamentale Neuerung
gegenüber den damaligen Distanzfahrten stellen die Bergüberquerungen dar. Ab 1910
werden mit dem 2.115 Meter hohen Tourmalet die ersten Hochgebirgspässe der Pyrenäen in
das Streckendesign integriert (vgl. ebd. S.34). Diese zusätzlichen Belastungen fallen
zusammen mit ebenfalls steigenden Streckenlängen. Von 1903 bis 1926 verdoppelt sich die
Renndistanz sukzessive auf 5741 Kilometer (vgl. ebd. S. 33). Die Rennbelastungen fordern
ihren Tribut: Zwischen 1903 und 1929 kann das Rennen von nur 30 Prozent aller gestarteten
Fahrer beendet werden (vgl. ebd. S. 112).
Neben der Akkumulierung von Spannung muss Desgrange gleichzeitig den Wünschen seiner
Sponsoren Rechnung tragen, die für die Durchführung des Rennens aus wirtschaftlicher Sicht
unerlässlich sind. Ab 1909 leistet der Renndirektor dem Begehren der werbetreibenden
Wirtschaft folge, die die Gewinnchancen ihre jeweiligen Spitzenfahrer erhöhen möchte,
indem die Gründung von Teams erlaubt wird. Der gesponserte Spitzenfahrer kann somit
seine Risiken minimieren und damit seine Erfolgswahrscheinlichkeit und die seiner
7 (zitiert nach Gremliza H. L., 2008, S. 30).
35
Sponsoren in Form von positivem Imagetransfer erhöhen, wenn ihm Helfer zur Seite gestellt
werden. Diese »Wasserträger« versorgen ihren »Kapitän« während des Rennens mit neuem
Material oder Verpflegung, spenden Windschatten und halten das Tempo hoch, um
Ausreißversuche zu verhindern. Auf diese Weise kann der Star der Mannschaft für die
rennentscheidenden Momente geschont werden (vgl. ebd. S. 36-37). Im Zuge dieser
Entwicklung erfindet Desgrange 1919 das gelbe Trikot, das den Gesamtführenden im Rennen
erkenntlich machen soll. Dies erhöht für die Zuschauer an der Strecke die
Nachvollziehbarkeit des Rennverlaufs und erhöht damit wiederum deren Spannungserleben
(vgl. Boßdorf, 2004, S. 24).
Die frühen Jahre des Dopings bei der Tour de France sind gekennzeichnet von einem
unwissenschaftlichen Prinzip des Versuch-und-Irrtums. Die Fahrer und ihr Umfeld
experimentieren mit pflanzlichen Stoffen wie Koffein, Mate-Extrakten, Opiaten, Kokain,
Alkoholen wie Äther oder Strychnin, aber auch mit synthetischen Stoffen wie Nitroglyzerin
und Amphetaminen (vgl. Thompson, 2006, S. 225). Die Einnahme dieser Substanzen erfolgt
einzeln oder in Kombination von mehreren Stoffen mit dem Ziel, entweder die
Leistungsfähigkeit des Athleten zu erhöhen oder seine Regeneration zu beschleunigen. Um
die Wirkung in höherer Dosis im Wettkampf zu erfahren, setzen sich die Fahrer außerhalb
des Wettkampfes geringen Dosen aus (ebd.). Der erste bekannt gewordene Dopingfall der
Tour de France ereignet sich beim französischen Fahrer Paul Duboc im Jahre 1911. Nach der
Einnahme einer „zweifelhaften Flüssigkeit“ (o.V., www.radsport-news.com, 04.07.2003)
zieht er sich eine Vergiftung zu und gibt das Rennen auf. Die Radsportler müssen sich zur
damaligen Zeit nicht vor öffentlicher Ächtung fürchten. Die Zuschauer unterstützen die
Fahrer beim Doping, indem sie unter anderem Champagner oder Cognac, zur damaligen Zeit
als stimulierend bekannt, an die Tourteilnehmer reichen (vgl. Thompson, 2006, S. 225). Bis
zum ersten Weltkrieg gibt es selbst unter Medizinern kein Problembewusstsein für
Stimulanzien wie das Kokain (vgl. Rabenstein, 1996 , S. 175). So äußert sich auch Henri
Desgrange in zustimmender Weise in Bezug auf das Doping: „Ich habe nichts dagegen, wenn
ein Fahrer sich vorübergehend künstlich stimuliert, wenn es nicht mehr anders geht“ (Moll,
2007/07, S. 154).
3.2.2 1924 - Die Affäre Péllissier
36
1924 steigen die Vorjahressieger Henri und sein Bruder Francis Péllissier zusammen mit dem
an zweiter Stelle liegenden Maurice Ville aus Protest gegen die Behandlung durch die
Rennleitung aus dem Wettbewerb aus (vgl. Boßdorf, 2004, S. 26). Henri Péllissier ist bei
dieser Tour bereits mehrmals mit den Tour-Kontrolleuren aneinander geraten, bis schließlich
eine zweiminütige Zeitstrafe für ein weggeworfenes Trikot zum Rennabbruch führt. In der
Folge treffen sich die drei Athleten mit einem Reporter der Zeitung Le Petit Parisien, um ihre
Behandlung publik zu machen (vgl. Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 56). Henri Pélisser: „We
do things you would not force mules to do. […] We don´t want to be humiliated!”8 (zitiert
nach Thompson 2006, S. 191). Darüber hinaus zeigen sie dem betreffenden Journalisten
Albert Londres mitgeführtes Kokain, Chloroform, Cremes und Pillen, sogenanntes
»Dynamit«. Obwohl ihnen die Schädlichkeit dieser Substanzen bewusst sei, fühlten sie sich
zur Einnahme dieser Stoffe aufgrund der Rennbelastung gezwungen. Ersteres zur
Leistungssteigerung, letzteres zur Schmerzstillung (vgl. Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 56).
Die drei Fahrer sprechen damit erstmals aus, dass Doping bei der Tour de France von Beginn
an mit dem Rennen verknüpft ist (vgl. ebd.). Am folgenden Tag berichtet Londres von der
Rundfahrt als „Tour der Leiden“ (zitiert nach Thompson, 2006, S. 191). Die Fahrer glichen
leeren Kadavern und seien „Zwangsarbeiter der Landstraße“ (ebd.). So dreht sich die
öffentliche Diskussion, die dem Zeitungsartikel folgt, nicht um Doping, sondern um die Rolle
der „Pedal-Arbeiter“ (ebd. S. 180). Die kommunistische Tageszeitung L’Humanité kritisiert,
dass die Fahrer Krankheiten, Hunger, Durst und Todesfälle erleiden müssten, nur um
Desgranges Reichtum zu mehren. Außerdem müssten sie zu der heißesten Zeit des Tages
fahren, damit L’Auto die Ergebnisse den Franzosen am nächsten morgen zum Frühstück
präsentieren könne (vgl. ebd S. 196-197). Desgrange beantwortert die Kritik von Péllissier
und L’Humanité in seiner Zeitung mit dem Argument, dass kein Fahrer gezwungen sei an der
Tour teilzunehmen und sie eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs für die Teilnehmer
darstelle (vgl. ebd S.198). Zuletzt schreibt Desgrange in L’Auto, dass sich nur derjenige über
eine sogenannte Sklaventätigkeit beklagen könne, dem es an Kraft und Tapferkeit fehle (vgl.
ebd. 208).
8 Übersetzung des Verfassers: “Wir machen Dinge, zu denen man noch nicht einmal Maultiere zwingen würde.
[…] Wir wollen nicht erniedrigt werden!”
37
3.2.3 Hauptsache im Gespräch
Dem Rennen wird erstmals öffentliche Kritik im umfassenden und langanhaltenden Maßstab
in Frankreich zu Teil, nachdem vorher vor allem elaborierte Kreise die Auswirkungen des
professionellen Radsports in Zweifel gezogen haben. Berufsfahrer gelten dort als eine Art
moderner Schaukämpfer, die ihre Gesundheit und ihr Leben der Unterhaltung der Massen
und dem Werbebedarf der Fahrradindustrie opfern (vgl. Rabenstein, 1996, S. 97). Als
Reaktion auf die öffentliche Kritik der drei streikenden Fahrer, belegt Desgrange die Athleten
mit der Zahlung von jeweils 600 Francs und vermerkt im Regelwerk der Tour ab 1925, dass
imageschädigendes Verhalten in Bezug auf das Rennen oder das Anstiften dazu mit einem
Startverbot im folgenden Jahr bestraft werde (vgl. Thompson, 2006, S. 207). Weiterhin
spricht er den Fahrern das Recht ab, sich für kollektive Aktionen zu versammeln. Desgrange
ist in Sorge, dass mögliche Geschwindigkeitsreduzierungen die Attraktivität des Rennens
mindern könnten (vgl. ebd.). Zugeständnisse macht er den Athleten in Form des
Rennumfangs. Während die Renndistanz bis 1926 auf 5745 Kilometer kontinuierlich
gesteigert wird, verringert sie sich ab diesem Zeitpunkt sukzessive bis sie sich 1933 über
Jahre um 4400 Kilometer bewegt (vgl. Boßdorf, 2004, S. 134). Damit liegen die Umfänge
allerdings immer noch rund 1000 Kilometer über den heutigen Ausmaßen.
Die Auflage von L’Auto steigt trotz der öffentlichen Kritik und der Verkürzung des Rennens.
Zwischen 1920 und 1930 erzielt die Zeitung eine Auflagensteigerung von 100.000 auf
300.000 Exemplare (vgl. Thompson, 2006, S. 42). Während der Tour verdoppelt sich die
Auflage noch einmal und findet besonderen Absatz in den Jahren 1923 (500.000) und 1933
(730.000) als jeweils ein Franzose die Tour gewinnt (vgl. ebd.). Die Tour hat sich
zusammenfassend als erfolgreiches Marketinginstrument behauptet. Öffentliche Kritik kann
Desgrange wirkungsvoll abfedern und das Preisgeld der Tour von 20.000 Francs auf
1.059.350 Francs steigern (vgl. ebd. 39-41). Damit scheint sich zu bestätigen, was Desgrange
bereits 1905 vermutet, als mehrere Regelübertretungen der Fahrer das Rennen bereits als
gescheitertes Projekt haben erscheinen lassen: „Besser üble Nachrede als gar kein Gerede“
(Krämer, 1998, S. 15).
3.2.4 Etablierung des politischen Schemas
38
Der von dem Radsporthistoriker Rüdiger Rabenstein (1996, S. 95) attestierte „Gigantismus“,
der in dieser Zeit den Bereichen von Technik und Sport auftritt, resultiert aus einer
„Rekordsucht“ des Publikums. Desgrange übernimmt in Bezug auf die Tour de France die
Rolle des Regisseurs, der durch die Realisierung seines sportlichen Theaterstücks mit den
daran interessierten Zuschauern in Kontakt tritt. Das Drehbuch des Stücks muss daher vor
allem spannende Unterhaltung versprechen und industrielle Prinzipien in Form der
Professionalisierung, des stetigen Überbietungsanspruchs und der sozialen
Aufstiegsmöglichkeit durch Leistung vorgeben. Durch die Ähnlichkeit zu der
gesellschaftlichen Realität, erhofft der Regisseur, eine Einfühlung des Zuschauers in die
Darsteller zu ermöglichen. Desgrange arrangiert im Goffmanschen Sinne die Interaktion, um
das Publikum zu verzaubern und infolge dessen mit seinen Zielen der
Aufmerksamkeitsgenerierung übereinstimmen zu lassen. Dabei kann Desgrange auf zwei
Ebenen der Vermittlung zurückgreifen, um sicher zu gehen, das auszudrücken, was er
mitteilen will. Auf der ersten Bühne stellt sich der sportliche Wettkampf für die Zuschauer
am Straßenrand in natura dar. Der Regisseur dramatisiert diesen Interaktionsprozess, indem
er die Fahrer unter strengen Auflagen gegen sich selbst, ihre direkten Gegner und die gerade
in den Höhen der Berge noch vielfach unbezähmte Natur antreten lässt. Je härter die
vorgegebenen Bedingungen, desto größer erscheint der im Erfolgsfalle daraus
hervorgehende, erzeugte Held, der noch umso heller strahlt, je weniger Fahrer in das Ziel
kommen. Das Doping wird somit zur notwendigen Requisite für den professionellen Fahrer,
der dafür im Erfolgsfalle überdurchschnittlich gut entlohnt wird und offen darüber sprechen
darf. Auf der zweiten, medial vermittelten Bühne, kann Desgrange mit Hilfe seiner
Theaterzeitung »L’Auto« den Interaktionsprozess idealisieren. Hier verwandelt sich ein
Rennfahrer zu einem Helden „von anderem Blut, von anderem Fleisch als wir“ (Hénard,
2001, S. 45). Aus einem Menschen wird ein „Kampftier von außergewöhnlichem Format […]
mit Atemzügen wie ein Schmiedebalg“ (ebd.). Zuschauer, die zum ersten Mal dem Spektakel
beiwohnen, erschließt sich auf die Goffmansche Frage, »Was geht hier eigentlich vor?« eine
eindeutige Antwort, wenn in der Zeitung von den »Giganten der Landstraße« die Rede ist.
L’Auto erfüllt damit die Rolle des Clacquers.
Nicht im Drehbuch steht jedoch der öffentliche Protest seiner Darsteller gegen ihre
Arbeitsbedingungen, der sich in dreifacher Hinsicht negativ für Desgrange auswirken kann.
39
Erstens können Denunzianten wie die Pélissiers ein Einfühlen des Zuschauers verhindern,
weil sie einen Einblick auf die Hinterbühne ermöglichen, der desillusionieren kann. Zweitens
können politische Gegner die entstehende Diskussion dafür nutzen, das gesamte
Theaterstück in Frage zu stellen. Abschließend handelt es sich drittens um einen
Machtkampf um die Kontrolle im Stück, da die Péllisiers, die für das Publikum aufgrund ihrer
besonderen Schauspielleistungen in der Vergangenheit sehr populär sind, gegen Desgramges
Führungsgewalt opponieren. Der Regisseur muss die Revolte gewinnen, um innerhalb seines
Schauspielensembles weiterhin den Ton im Drehbuch angeben zu können. Eine mögliche
Absenkung des Anforderungsprofils hätte einen erheblichen Verlust an Dramatik und damit
an Aufmerksamkeitspotential des Publikums zur Folge. Desgrange ist in Folge dessen
gezwungen, sein Darsteller-Ensemble an die Wahrung ihrer Ausdruckskontrolle zu erinnern.
Da es sich bei den betreffenden Fahrer allerdings um Protagonisten des Stücks handelt, kann
er sie nicht einfach aus der Besetzungsliste streichen, sondern muss sie diskreditieren,
finanziell sanktionieren und zusammen mit entsprechenden Änderung des Regelwerkes
seinem Ensemble verdeutlichen, dass solch ein Verhalten Konsequenzen in Form eines
Spielverbotes haben kann. Da Desgrange als Theaterregisseur allerdings auch darauf
angewiesen ist, dass weiterhin Darsteller Teil seines Stücks werden möchten, muss er sich
auch nach ihren Bedürfnissen richten. Allerdings nur insoweit, als es für das Publikum keine
Spannungseinbußen zur Folge hat.
Obwohl es Desgrange vermochte, die Darsteller-Revolte siegreich zu überstehen, haben sich
basierend auf der öffentlichen Auseinandersetzung zwei Lager gebildet, die sich innerhalb
der öffentlichen Rahmungswettkämpfe über das Stück jahzehntelang gegenüberstehen
werden. Auf der einen Seite befindet sich der marktwirtschaftlich orientierte Desgrange, der
mit seinem Theater eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs für alle Beteiligten postuliert und
den Darstellern freie Entscheidungsgewalt über Ruhm und Gesundheit einräumt. Auf der
anderen Seite formiert sich eine linkspolitisch ausgerichtete Akteurskonstellation, die den
Mensch im sozialen Gefüge vor den Verlockungen des Kapitals und den damit verbundenden
Schattenseiten bewahren möchte. Der mediale Diskurs spiegelt diese Strömungen im ersten
Falle durch Zeitungen wie L‘Auto, die sich darum bemüht, ein glorifizierendes Heldenbild der
Darsteller zu entwerfen. Ihr gegenüber stehen Presse-Organe wie L’Humanité, die den
Schauspieler als Opfer des kapitalistischen Regisseurs begreifen. Dieser
40
Rahmungswettberwerb beeinflusst das Stück in diesem Fall und in der Folge erheblich auf
seiner zweiten, medialen Wahrnehmungsebene im Sinne einer politischen Grundsatzdebatte,
die von außen in das Stück integriert im Sinne des Ausdrucksmanagements auf die erste
Wahrnehmungsebene zurückwirkt. Das Doping tritt im Rahmen dieses politischen Schemas
der Berichterstattung als ein Argument unter vielen in Erscheinung, da es aufgrund der
allgemeinen Akzeptanz und der noch größtenteils unbekannten gesundheitlichen Folgen zu
wenig Polarisierungspotential besitzt. Der Dopingdiskurs erweist sich dahingehend als
nahezu unbegrenzt. Abgesehen von den politischen Lagern, dessen Sicht sich in Wahlfreiheit
contra Opferrolle darstellt, besteht noch keine Eingrenzung in Form des Sag- oder
Machbaren.
3.3 Rahmung II: Kurzfristige Problematisierung eines Kavalierdeliktes
„To take start of the Tour is to sign a moral contract. You accept the rules and all their implications, or you don´t enter the race”
9
Alec Taylor, Teammanager von Tom Simpson
3.3.1 Profit- und Dopingmaximierung
1947, Desgrange ist mittlerweile verstorben, kommt es zur Wiederaufnahme der großen
Schleife durch Frankreich. Mit dem Rennen sind auch die »Giganten der Landstraße« als ein
Symbol zur nationalen Wiedergeburt der Franzosen zurück (vgl. Thompson, 2006, S. 204-
214). Unterbrochen nur vom ersten Weltkrieg organisiert Desgrange mit seiner Zeitung die
Tour bis 1939 bevor der zweite Weltkrieg eine Pause bis 1947 und gleichzeitig das Ende von
L’Auto zur Folge hat. Jacques Goddet, der bereits unter Desgrange gearbeitet hat, gründet
1946 die Zeitung L’Équipe, mit der er die Restbestände von L’Auto und die Hälfte der Rechte
an der Tour übernimmt. Die andere Hälfte erwirbt die Zeitung Le Parisien Libéré hinter der
wiederum die Verlagsgruppe Éditions Philippe Amaury (EPA) steht. Beide Zeitungen sind
knapp 20 Jahre für die Austragung der Tour verantwortlich sind, bis 1964 die L’Équipe
ebenfalls von der EPA gekauft wird (vgl. ebd. S. 35). Diese gründet für die Organisation von
Sport-Events wie der Tour die Amaury Sport Organisation (ASO), die sich neben dem
9 Übersetzung des Verfassers: „Bei der Tour zu starten, bedeutet, einen moralischen Vertrag zu unterzeichnen.
Du akzeptierst die Regeln und all ihre Auswirkungen oder du startest nicht im Rennen” (zitiert nach Thompson, 2006, S. 236).
41
Radsport unter anderem für die Autorallye Paris-Dakar verantwortlich zeichnet. Auf
unterster Ebene wird die Aktiengesellschaft Société du Tour de France mit der
Verantwortung für die Tour betraut (vgl. Komm, 2007, S. 141).
Im Zuge der Neustrukturierung des Betreiberkonsortiums der Tour de France wächst auch
der Einfluss der Sponsoren, der im Laufe der Jahrzehnte mit Unterbrechung durch den
zweiten Weltkrieg durch die zunehmende Verbreitung medialer Kommunikationsangebote
immer weiter zunimmt. Nach der Entwicklungsförderung der Zeitung und des Radios, die
durch die Berichterstattung von der Tour ein massenwirksames Argument zum Erwerb ihrer
medialen Erzeugnisse besitzen, plant auch das Fernsehen, seine Popularität durch die
Übertragung des Rennens zu erhöhen (vgl. Thompson, 2006, S. 38-40). 1949 startet die
Ausstrahlung der ersten werktäglichen Nachrichtensendung während der Tour. Der Plan
geht auf und lässt in den frühen 50er Jahren die Absatzzahlen von Fernsehgeräten in diesem
Zeitraum besonders stark ansteigen (vgl. ebd. 41-48). Da die dramatischen Geschehnisse des
Radsports erstmals in bewegten Bildern vermittelt werden können und mit Begeisterung
vom Publikum in Fernsehclubs und Lokalen aufgenommen werden, steigt der Werbewert
der »Großen Schleife« in den Grenzen Frankreichs beträchtlich. Sponsoren fordern von dem
stärkeren Verbreitungsgrad im Hinblick auf Bekanntmachung ihrer Produkte zu profitieren
und präsentieren in der Folge Etappenstädte, die offizielle Zeitmessung und die
Gesundheitsversorgung der Fahrer. Weiterhin nutzen sie das Gelbe Trikot des Gesamt-
Führenden, das Grüne für den besten Sprinter sowie das Weiß-Rote Bergtrikot für ihre
Werbe-Botschaften. Perrier und Coca Cola zahlen für ein Foto des Etappensiegers, der ihr
Getränk zu sich nimmt. 1962 wird der Druck auf die Veranstalter zu groß, was zu einer
Wiedereinführung des Teamsponsorings führt, nachdem zwischenzeitlich nur Nationalteams
startem durften. Der Weg der „kontinuierlichen Profitmaximierung“ (Komm, 2007, S. 142) ist
damit beschritten.
Sportler, Trainer und Wissenschaftler experimentieren weiterhin mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln (vgl. Krüger, 2000, S. 15). Das hat auch damit zu tun, dass ab 1952 der
Sport mit zunehmender Intensität zur symbolischen Austragung des Kalten Kriegs gebraucht
und in der Folge staatlich systematisierte Leistungsförderung inklusive des Dopings
betrieben wird (vgl. Krüger, 2000, S.15). Erstmals erfolgt in dieser Zeit auch die Einnahme
von anabolen Steroiden in der Trainingsphase, während zuvor lediglich vor
42
Wettkampfbeginn gedopt wird (vgl. Haug T., 2007, S.35). Die Nebenwirkungen der
leistungssteigernden Substanzen treten bei einigen Fahrern in Form von Verletzungen oder
schwerwiegenden Erkrankungen auf. So kollabiert beispielsweise der Franzose Jean Malléjac
1955 nach Amphetamin-Gebrauch am Fuße des Mont Ventoux, verliert für eine
Viertelstunde das Bewusstsein, überlebt aber als der Tour-Arzt Dr. Pierre Dumas ihm den
Kiefer bricht und sein Herz reanimiert (vgl. Thompson, 2006, S. 228). Eine öffentliche
Reaktion auf diese Vorgänge bleibt aus, da sie von den Organisatoren nicht publik gemacht
werden (vgl. Fotheringham, 2007, S. 207). Der Zusammenbruch von insgesamt sechs Fahrern
unter ähnlichen Umständen dient einer epischen Beschreibung des Leidens bei der Tour
seitens der Organisatoren. Ein Artikel von Jacques Goddet in der L’Équipe verdeutlicht dies.
„Auf diesem verfluchten Terrain tobte der Kampf, während überall auf dem
brennenden Berg Männer zur Seite fielen, niedergestreckt vom Hitzschlag, leer,
berauscht von der Anstrengung und Leiden, ein Haufen tapferer Männer, die einst so
felsenfest entschlossen waren…Nichts kann dem Rhythmus der Tour de France 1955
aufhalten“ (zitiert nach Fotheringham, 2007, S. 252).
Während Dopingmittel nicht erwähnt werden, stellt Goddet heraus, dass diese Zwischenfälle
keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Tour haben können. Weiterhin bleiben
öffentliche Reaktionen auf die negativen Folgen des Dopinggebrauchs aus, da aufgrund der
sich noch im Entwicklungsstadium befindlichen medizinischen Kenntnis die Vorkommnisse
nicht in jedem Fall mit der Einnahme der Stoffe in Verbindung gebracht werden (vgl.
Thompson, 2006, 226). So erfolgt der Medikamenteneinsatz im Fahrerfeld weiterhin im
großen Umfang, auch weil weder ein Problembewusstsein der Fahrer, noch organisatorische
oder gesetzliche Repressalien zu befürchten sind (vgl. Fotheringham, 2007, S. 202-206). Ab
1955 beginnt jedoch ein reflektierterer Umgang mit den Dopingmitteln. Dumas
veranschaulicht diese Entwicklung durch den erstmaligen Gebrauch von wissenschaftlichen
Erkenntnissen in Form des »Vidals«, einem unter Fahrern verbreiteten Medizinhandbuch
(vgl. Fotheringham, 2007, S. 202). An die Stelle persönlicher Wirkstoff-Mixturen tritt der von
Dumas benannte »Anquetil-Cocktail« mit Bezug auf Jacques Anquetil, dem fünfmaligen
Sieger der Tour de France. Dabei handelt es sich um eine Zusammenstellung aus
Schmerzmitteln, Stimulanzien, Schlaftabletten, Morphium und Palfium (vgl. ebd. S. 203). Die
erste offizielle Dopingkrontrolle erfolgt ebenfalls 1955, indem von den Fahrern Urinproben
43
im Hotel genommen werden. Am nächsten Tag streiken die Fahrer aufgrund von „Eingriffen
in die inviduelle Freiheit der Sportler“ (Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 140). Das Rennen wird
erst forgesetzt als der damalige Tour-Direktor Goddet versichert, auf solcherlei Maßnahmen
in Zukunft zu verzichten (vgl. ebd.). Veranlasst durch den amphetaminbedingten Tod des
dänischen Radprofis Knut Jensen im Jahre 1960 wird bei den Olympischen Spielen erstmalig
eine offizielle Dopingdefinition formuliert (vgl. Daumann, 2008, S. 11). Auf strafrechtlicher
Ebene folgt am 1. Juli 1965 ein Verbot von bewusst angewendeten, leistungssteigernden
oder gesundheitsschädlichen Substanzen in sportlichen Wettkämpfen durch das französische
Parlament (vgl. Fotheringham, 2007, S. 214). Ein Jahr darauf werden die ersten Doping-
Kontrollen bei der Tour de France von dem Ministerium für Jugend und Gesundheit
durchgeführt (vgl. Thompson, 2007, S. 228-232). Wiederum protestieren die Fahrer und
gehen die ersten 50 Meter der darauffolgenden Etappe zu Fuß. Die Organisatoren der Tour
versuchen daraufhin die Anführer der Revolte ausfindig zu machen, scheitern damit, drohen
aber bei einem weiteren derartigen Protest mit „ernsthafen Konsequenzen“ (Thompson,
2006, S. 233). Die protestierenden Fahrer handeln aus der Gewissheit heraus, dass die
Organisatoren gerade bei den Radstars keineswegs ernsthafte Maßnahmen ergreifen. Kurz
zuvor haben die ersten sechs Fahrer bei der Weltmeisterschaft 1965, darunter Jacques
Anquetil und der dortige WM-Sieger Rudi Altig, die Urinprobe verweigert, woraufhin sie
keine Konsequenzen zu tragen hatten (vgl. Fotheringham, 2007, S. 216-217). Da die
Organisatoren bei ihren Rennen nicht auf die Topfahrer verzichten können, stellt sich die
Dopingfahndung als „eine Wattefaust in einem Eisenhandschuh“ (vgl. ebd.) dar. Als Anquetil
gegenüber der Presse von der Einnahme von leistungssteigernden Mitteln berichtet, muss er
2000 Francs Strafe zahlen und darf weiter fahren (vgl. ebd.). Doping gilt in dieser Zeit als
„Kavaliersdelikt“ (Krämer, 1998, S. 107), da auch die Medien das Doping erst seit kurzer Zeit
problematisieren. Der englische Radweltmeister von 1965, Tom Simpson, erklärt diesen
Zusammenhang in einem Interview: „Die misstrauischen Offiziellen mit ihren zwanghaften
Nachforschungen und Dopingtests bereiten mir keine Sorgen. […] Es gibt im Radsport
keineswegs soviel Doping, wie Zeitungen und Fernsehen uns glaubhaft machen wollen“
(Fotheringham, 2007, S. 191-192). 1967 investiert der Brite ein Jahresgehalt eines
Profiradfahrers in Höhe von 800 Pfund in Amphetamine (vgl. ebd. S. 185). Im Laufe der
44
siebziger Jahre zeigt sich im Radsport im Vergleich zu anderen Profisportarten der
umfassendste Einsatz von Dopingmitteln (vgl. Krämer, 1998, S. 109).
3.3.2 1967 - Der Tod Tom Simpsons
Der bislang aufsehenerregendste Fall eines Dopingvergehens ereignet sich am 13. Juli 1967
auf der 13. Etappe der Tour de France (vgl. Boßdorf, 2004, S. 69). Der 29-jährige Tom
Simpson folgt den Führenden Raymound Poulidor und Julio Jimenez bei 45 Grad Celsius auf
den Gipfel des 2.ooo Meter hohen Mont Ventoux, obwohl er bereits während der gesamten
Tour mit Magenproblemen zu kämpfen hat (vgl. Thompson, 2006, S. 236). Drei Kilometer vor
dem Gipfel fährt Simpson Schlangenlinien und verliert schließlich das Gleichgewicht. Sein
Mechaniker Harry Hall will ihn zur Aufgabe überreden, als Simpson protestiert und Hall ihn
nach dem Einverständnis seines Teammanagers Alec Taylor wieder auf dessen Rad hilft (vgl.
Fotheringham, 2007, S. 48). Nach wenigen Metern verliert Simpson abermals das
Gleichgewicht und vor laufender Fernsehkamera das Bewusstsein (vgl. Schröder, 2002,
S.102). Erste-Hilfe-Maßnahmen von einem Zuschauer und dem nachfolgenden Tourarzt
bleiben erfolglos, so dass er mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus von Avignon geflogen
wird. Um 17.40 Uhr stellen die dortigen Ärzte seinen Tod fest (vgl. Thompson, 2006, S. 237).
Harry Hall erklärt gegenüber Fotheringham (2007, S. 52) seine Reaktion auf Simpsons Tod:
„Wir waren uns im Klaren darüber, dass es einen Aufruhr wegen Doping geben würde und
dass wir darüber Stillschweigen bewahren mussten“. Zu diesem Zeitpunkt wisse Hall noch
nicht, dass Dumas in der Rückentasche von Simpsons Trikot drei Röhrchen mit
Amphetaminen findet und daraufhin dessen Beerdigung verweigert (vgl. ebd. S.212-213).
Um 18.30 Uhr verkündet Félix Levitan, Chefredakteur von Parisien Libéré den Tod Simpsons
auf einer anberaumten Pressekonferenz mit dem Verweis auf die stattfindende Obduktion,
ohne allerdings bereits von dem Amphetamin-Fund zu berichten (vgl. Fotheringham, 2007, S.
53). Dumas übergibt die zwei geleerten und ein halbgefülltes Röhrchen der Polizei, da das
französische Anti-Doping-Gesetz seit zwei Jahren in Kraft ist und zeigt sie vorher Goddet
(ebd. 213). Vom Doping wissend, deutet Goddet diese Tatsache am 14. Juli in einem
Leitartikel der L’Équipe lediglich in Form einer Frage an, ohne jedoch die gefundenen
Amphetamine zu erwähnen:
45
„Wir hatten uns bereits gefragt, ob dieser Athlet, dessen Schmerzen unter Druck
offensichtlich waren, nicht richtig auf sich acht gegeben hatte…Doping? Wir können
die öffentliche Enthüllung einer Tragödie befürchten, die diese Geißel verursacht hat“
(Fotheringham, 2007, S. 213).
Dementsprechend berichtet das Hamburger Abendblatt am 14. Juli auf der Titelseite und im
Sportteil. In dem Artikel ist die Rede von weinenden englischen Journalisten-Kollegen im
Pressebereich der Tour und einer Dopingvermutung, als die Nachricht von Simpsons Tod
verbreitet wird. „Der Engländer ist ein Opfer der furchtbaren Geißel des Sports geworden,
ein Opfer des Dopings, jener Wunderdroge, die den Menschen an den Rand seiner
Leistungsfähigkeit, aber auch an den Rand des Todes bringt“ (Schröder U. , 14.07.1967, S. 8).
Somit hält sich die Zeitung eng an die Worte Goddets. In einer abgetrennten Spalte findet
ein Kurzportrait über Simpson Platz. Er sei ein feiner Kerl außerhalb des Sports, würde aber
während des Rennens keine Skrupel kennen und beim Zielsprint auch schon mal
Faustschläge verteilen (vgl. ebd.). Die auf den Tod Simpsons folgende Debatte beherrscht die
Schlagzeilen in Frankreich und wird durch existierende Fotografien und Filmaufnahmen von
seinem Ableben maßgeblich unterstützt (vgl. Thompson, 2006, S. 237). Der
Obduktionsbericht ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht und erscheint erst
Anfang August (vgl. ebd.). Schnell geht es in der öffentlichen Debatte um die Frage der
Schuld an seinem Tod. Die Fahrer, die sich öffentlich äußern, sowie der Journalist und
ehemalige Fahrer Jean Bobet machen seinen unbedingten Siegeswillen dafür verantwortlich
(vgl. ebd.). Diese Sichtweise findet sich ebenfalls in einem Bericht der FAZ wieder, die am 14.
Juli 1967 eine Zusammenfassung von Agenturmeldungen veröffentlicht. Als Todesursache
wird ein Hitzschlag angegeben, da sich Simpson beim Anstieg auf den Ventoux
„offensichtlich übernommen hat“ (o.V., 14.07.1967, S. 6). Darüber hinaus ist von einer
Oduktion die Rede, deren Hintergründe allerdings unerwähnt bleiben (vgl. ebd.). Jacques
Anquetil plädiert für eine Reduzierung der Anzahl der Rennen und verweist im »Spiegel«,
ohne auf die Dopinggerüchte um Simpson Bezug zu nehmen, auf den verantwortlichen
Doping-Gebrauch der professionellen Fahrer. „Seit 50 Jahren schlucken die Fahrer
Aufputschmittel. Es geht auch ohne Doping – aber nur mit 25 Stundenkilometern“ (o.V.,
1967/31, S. 88). Der Zeitplan der Tour sei allerdings auf einen Schnitt von 37
Stundenkilometern ausgerichtet (vgl. ebd.). Auf die Frage, warum die Fahrer Rennen wie
46
Tour nicht einfach meiden oder sie die Verantwortlichen nicht dazu drängten, das Rennen zu
vereinfachen, antwortet Anquetil: „If anyone could do it, it would no longer be the Tour“10
(Popkin, zitiert nach Thompson, 2006, S. 238). Diese Äußerung veranschaulicht nach
Thompson (2006, S. 238), dass es bei der Tour weniger um das fahrerische Können der
Fahrer, als mehr um das Veranschaulichen einer außergewöhnliche Leidensfähigkeit und
Tapferkeit geht. Die Fahrer demonstrieren diese Eigenschaften, indem sie das Rennen
beenden. Laut Goddet sind die Athleten „freiwillige Märtyrer“ (zitiert nach Fotheringham,
2007, S. 240), die ihre Bekanntheit der Legende der Tour schulden würden. Aus dieser
Sichtweise heraus aktualisiert sich die Kritik an den Veranstaltern von Zeitungen wie
L’Aurore oder Le Monde, weil die Rennleitung trotz der extremen Temperaturen nicht von
der Überquerung des Ventoux abrückte (zitiert nach Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 142)
und darüber hinaus durch die übermäßig hohen körperlichen Anforderungen die Fahrer zum
Doping zwängen. Ohne die unterstützenden Maßnahmen könne die Tour nur von ein oder
zwei außergewöhnlichen Fahrern gewonnen werden (vgl. Thompson, 2006, S. 239). Goddet
und dessen Mitarbeiter widersprechen in der L’Équipe diesen Äußerungen damit, dass die
Tour 1967 nicht besonders schwierig für die Fahrer zu bewältigen sei, da einhundert Fahrer
ohne Probleme über den Ventoux gekommen wären und auch in anderen Sportarten
extreme Wetterlagen vorkämen. Dopen würden nur Fahrer, die zu ehrgeizig seien (vgl. ebd.
S. 239-241).
Am 15. Juli wird in Deutschland über die Trauer der übrigen Fahrer, zurückhaltendes
Klatschen der Zuschauer und die Entscheidung von Simpsons Teamleiter, dessen Mannschaft
weiter fahren zu lassen, berichtet (vgl. o.V., 15./16.07.1967, S. 19). Darüber hinaus seien
Amphetamine von der Polizei gefunden worden, woraufhin Dumas zitiert wird: „Es muß
doch als nicht normal gelten, daß ein junger, gut trainierter, physisch starker Athlet bei
einem Wettkampf stirbt“ (ebd.). Der Tourarzt scheint damit eine natürliche Todesursache
ausschließen zu wollen und verweist damit bereits implizit auf leistungsfördernde
Substanzen. Auch andere Zeitungen zitieren ihn: „Es ist von großer Bedeutung, die genaue
Ursache von Simpsons Tod herauszufinden. Deswegen haben mein Kollege und ich die
Leiche nicht zur Bestattung freigegeben“ (o.V., 15.07.1967, S. 11). Die „Tragödie“ (ebd.) um
Englands besten Rennfahrer ist in dem Blatt das dominierende Thema und wird infolge
10
Übersetzung des Verfassers: „Wenn es jeder machen könnte, wäre es nicht mehr die Tour“.
47
dessen mit drei Artikeln behandelt. Ein Kommentar verweist auf Stimmen aus Frankreich, die
einen Abbruch der „Hitze-Tour“ (o.V., 15.07.1967, S. 11) forderten, was allerdings nicht
passieren würde, da der Sport einen Zug der Unerbittlichkeit beinhalten würde (vgl. ebd.).
Der Medien-Tenor in Deutschland wird kritisch. Die Rede ist von Simpson als „Opfer des
organisierten Abenteuers“ (o.V., 15.07.1967, S. 9) und der Tour de France als „sportliche
Kirmes“ (ebd.). Die Tourleitung habe durch den Tourarzt Dumas ein Geständnis abgelegt,
obwohl das Doping noch nicht als Todesursache bezeichnet, sondern neben dem Hitzschlag
als zweite Möglichkeit erachtet werde: „Gejagt vom eigenen Ehrgeiz. Gehetzt vom
Tourkoller: dem Willen in Paris, […], anzukommen. Dort eine zinsabwerfende Ehrenrunde zu
genießen. Simpson bezahlte seinen Elan – ob er nun gedopt war oder einen Hitzschlag erlitt
– mit dem Tod“ (ebd.).
Neben Simpsons Mechaniker und dessen Teamchef, die den Engländer wieder auf das Rad
setzten, sieht sich besonders Dumas starker Kritik ausgesetzt (vgl. Schröder & Dahlkamp,
2003, S. 142). Jacques Anquetil und dessen Manager Raphael Géminiani machen den Arzt
für Simpsons Tod verantwortlich, da er ihn nicht angemessen vor Ort behandelt hätte:
„Pierre Dumas ließ Simpson sterben“ (zitiert nach Fotheringham, 2007, S. 235). Beide
berufen sich auf den Arzt Dr. Philippe Decourt, der laut Fotheringham selbst an der
Herstellung von Amphetaminen beteiligt sei und infolge dessen argumentiere. Demnach sei
er nicht aufgrund der Amphetamine gestorben, sondern weil angemessene Hilfe gefehlt
habe (vgl. ebd. S. 236-237). Nach Ansicht von Simpsons Teamkollegen Jean Stablinski habe
sich Dumas des Todes von Simpsons lediglich bedient, um seinen Forderungen nach
Dopingtests Nachdruck zu verleihen (vgl. ebd. S. 221).
Am 19. Juli vermeldet die französischen Untersuchungskommission, dass Amphetamin-
Doping als Hauptursache für Simpsons Tod gelte (vgl. o.V., 19.07.1967, S. 5). Der offizielle
Obduktionsbericht spricht von Herzversagen durch Erschöpfung, wobei die Hitze und die
Einnahme der Amphetamine Simpson über seine Leistungsgrenzen hinaus geführt haben
sollen (vgl. Fotheringham, 2007, S. 226). Ebenfalls beteiligt an seiner Dehydrierung waren
eine Diarrhö-Erkrankung (vgl. ebd. 226) und die Einnahme von Alkohol während der Fahrt,
die Simpson, wie zur damaligen Zeit üblich, zur Linderung der Schmerzen in seine
Trinkflasche gefüllt hatte (vgl. ebd. S. 45). Im Dopingdiskurs wird Simpsons Tod zum Anlass
genommen, Doping als logische Entwicklung des Berufssports zu beschreiben (vgl. (o.V.,
48
Spiel mit dem Tod - Doping - der schmutzige Weg zur Höchstleistung, 21.07.1967). Als eine
Folge davon beginne sich „die Einsicht, daß Doping-Kontrollen auf Dauer unerläßlich sind […]
durchzusetzen“ (ebd.).
3.3.3 Einführung regelmäßiger Kontrollen
Aus der öffentlichen Entrüstung über Simpsons Tod geht eine Handlungsanweisung an die
beteiligten Institutionen hervor, gegen Doping vorzugehen (vgl. Gamper, 2000, S. 54). So
erlässt der Radsportweltverband UCI noch im November 1967 einen neuen internationalen
Strafenkatalog. Fahrer, denen Doping nachgewiesen werden kann, werden beim ersten
Vergehen einen Monat und nach dem vierten lebenslang gesperrt (vgl. Fotheringham, 2007,
S. 220). Als eine Folge von Simpsons Tod existiert nun erstmals ein Strafenkatalog mit
weltweiter Gültigkeit (vgl. ebd.). Weiterhin erhält der Begriff »Doping« 1968 Einzug in das
Regelwerk des IOCs (vgl. Schiffer, zitiert nach Daumann, 2008, S. 26).
Auf der Ebene der Tour räumt Goddet „wichtige Korrekturen“ (zitiert nach Fotheringham,
2007, S. 240) ein, ohne jedoch den Sport in Gänze verändern zu wollen. Basierend auf dem
Gedanken der „freiwilligen Märtyrer“ (ebd.) sollen die Fahrer durch veränderte
Routenplanung und Zeitabläufe vor ihren „eigenen Fehlern“ (ebd.) bewahrt werden. Im
ersten Jahr nach Simpson reduziert Goddet die Streckenlänge von 4779,8 Kilometern als eine
der längsten der Nachkriegszeit, auf 4684,1 Kilometer. Erst 1971 fällt sie mit einer Distanz
von 3584,2 Kilometern deutlich kürzer aus und bewegt sich damit in dem Umfang, den sie
regelmäßig seit Ende der 80er Jahre bis heute besitzt (vgl. Boßdorf, 2004, S.141-150). Da die
Organisatoren und Berichterstatter um Goddet von einem spektakulären Leiden der Fahrer
durch den intensiven Zuschauerzuspruch profitieren, befinden sie sich in einem moralischen
Konflikt (vgl. Fotheringham, 2007, S. 208-209), der allerdings nicht öffentlich kommuniziert
wird. Goddet schreibt in einem Leitartikel am Vortag der Tourstarts 1968, einen posthumen
Beitrag an Simpson und streicht darin abermals die alleinige Verantwortung für eine
„Seuche“ (ebd. S. 220) namens Doping auf Seiten der Fahrer heraus.
„Lieber Tom Simpson […]. Du bist nicht umsonst in der Geröllwüste des Ventoux
gestorben. Doping ist keine mysteriöse Krankheit mehr, versteckt, unkontrollierbar,
49
unkontrolliert. Jetzt scheint es unter den Fahrern eine allgemeine Entschlossenheit zu
geben, sich von dieser Geißel zu lösen“ (zitiert nach Fotheringham, 2007, S. 218).
Im darauffolgenden Jahr rufen die Organisatoren ihr Rennen folglich als »Tour de Santé«11
aus und starten das Rennen in dem Kurort Vittel (vgl. ebd. S. 220). Neuerdings werden die
Kontrollen verschärft, indem sie von nun an regelmäßig im Zielbereich vorgenommen
werden (vgl. ebd.). Die Tour habe sich nach Aussauge von Dumas für immer verändert, da
Fahrern und Organisatoren die Risiken des Rennens vor Augen geführt worden wären (vgl.
ebd.). Ungeachtet eines möglichen Interessenkonfliktes, sich bei positiven Tests selbst in
Verruf zu bringen, überträgt der französische Staat die Kontrolle über die Durchführung der
Dopingkontrollen an Sportverbände wie die UCI (vgl. Thompson, 2006, S. 241). Als Folge
davon sind die Kontrollen bei der Tour 1968 derart uneffektiv, dass dopende Fahrer
systematisch Behältnisse mit Fremdurin bereithalten können, ohne damit aufzufallen (vgl.
ebd.).
Zusammenassend liegt die Konsequenz aus Simpsons Tod in einer kurzfristigen öffentlichen
Empörung mit regulativen Konsequenzen, die langfristig den status quo unangetastet lässt.
So habe der Tod Simpsons nach Ansicht der »SZ« den Mythos der „Tour der Leiden“ eher
verstärkt, als dem Image der Tour geschadet (vgl. Hacke D. , 1992, S. 19). Darüber hinaus tritt
zum ersten Mal deutlich der innere Widerspruch des Profiradsports zu Tage: Auf der einen
Seite erwarten Publikum, Journalisten und Sponsoren Bestleistungen der Fahrer, während
sie gleichzeitig als Botschafter von Fairness und Gesundheit dienen sollen (vgl. Schröder &
Dahlkamp, 2003, S. 142), wie die Titelierung des Rennens als »Tour de Santé« unter Beweis
stellt.
3.3.4 Etablierung des Geheimhaltungs- und Opferschemas
Anstelle von Desgrange sind nun Jacques Goddet und Félix Levitan mit der Aufgabe der
Regieführung betraut, während das Drehbuch weiterhin hohe körperliche Anforderungen für
das Schauspielensemble im Sinne einer dramatischen Darstellung vorsieht. Vergrößert hat
sich allerdings die Anzahl an Institutionen, die am Drehbuch beteiligt sind. Da das Stück im
11 Übersetzung des Verfassers: „Tour der Gesundheit“
50
Laufe der Jahre seine aufmerksamkeitsgenerierende Anziehungskraft unter Beweis gestellt
hat, verlangen Unternehmen für ihren finanziellen Beitrag ein Mitspracherecht beim
Drehbuch, um sicherzustellen, dass sie auch von den Zuschauern wahrgenommen werden.
Sie profitieren dabei von dem Stück, indem sie mit ihren Produkten in seinem Umfeld in
Erscheinung treten und darauf hoffen dürfen, das ein Teil des heldenhaften Images der
Darsteller auf ihre Produkte abfärbt. Die Ziele der Sponsoren stimmen mit den Zielen des
Regisseurs insofern überein, dass sich für beide Parteien eine möglichst positive
Wahrnehmung der sportlichen Darsteller als vorteilhaft erweist. Insofern steigt die Anzahl
der Claqueure auf beiden Bühnenebenen - auf der sportlichen Bühne durch die Wirtschaft
und auf der medialen Vermittlungsebene durch das Fernsehen. Das sportliche Theater dehnt
sich erheblich aus, da es nun nicht mehr nur vor Ort oder in der Zeitung wahrgenommen
werden kann. Somit steigert sich über höhere Verdienstanreize auch die Verwendung der
Requisite namens Doping, dessen negative Folgen in selbem Maße zunehmen. Sowohl
Darsteller als auch Regisseure erkennen die Nebenwirkungen und verstehen sie als
Berufsrisiko. Da diese Ansicht nicht mit den unterhaltungssuchenden Zuschauern in Einklang
zu bringen ist, schweigen sie darüber auf der Vorderbühne und verwenden die Gefährdung
im Sinne der positiven Imagebildung als Zeichen für die Dramatik des Stücks als die »Tour
der Leiden«. Insofern wehren sich die Fahrer, als der französische Staat beginnt, zum
Kontrolleur zu werden und ihnen die Wahl der Requisiten in Zukunft vorschreiben will, da sie
fürchten eines großen Teils ihres dramatischen Potentials beraubt zu werden. Goddet und
Levitan stehen als Regisseure zwischen den Fronten, da sie sowohl von den besten, mit allen
Mitteln arbeitenden Darstellern profitieren, aber auch auf das Wohlwollen ihrer
Kontrolleure angewiesen sind. Indem sie die Kontrollen möglichst uneffektiv gestalten,
können sie das Problem vorerst auf die Hinterbühne verschieben. Mit dem Tod Jensens
vergrößert sich für das staatliche Kontrollgremium des Stücks jedoch der Handlungsdruck, so
dass es die Überprüfung der Darsteller schließlich gesetzlich regelt und damit Einfluss auf das
sportliche Drehbuch zu nehmen versucht. Da dieses Skript nun allerdings auf Prinzipien wwie
hohen körperlichen Anforderungen beruht sowie wenig Regeneration, hoher Gage im
Erfolgsfall und infolge dessen starker Konkurrenz, sind die Requisiten ein elementarer
Bestandteil der Aufführung, die in dieser Form Gefallen beim Publikum finden. So befinden
sich die Regisseure erneut in einem Dilemma und behelfen sich damit, das bereits im Falle
51
Mallèjac bewährte Geheimhaltungs-Schema zur Doktrin zu machen und den Dopingdiskurs
dahingehend einzuschränken. Der Tod Simpsons auf ihrer Bühne verschärft die Problematik
für Goddet und Levitan zusätzlich, zumal ihr Publikum ihm vor laufender Kamera beim
Sterben zusehen kann, was nicht unbedingt einer angenehmen Unterhaltung entspricht. Als
kein anderer Ausweg mehr bleibt und die Regisseure Gefahr laufen, die Kontrolle über die
eigene Hinterbühne zu verlieren, entschließen sie sich im Sinne des Angriffs als beste
Verteidigung, die Requisite als eine Plage von Simpson zu brandmarken und damit die
Normalität ihrer Existenz auf der Hinterbühne zu verneinen. Zudem gibt er später die
Richtung und folglich den Rahmen vor, der sich als ein zweites Diskursmuster der Regie
beschreiben lässt. Wenn sich aufgrund von äußeren Einflüssen das Schema der
Geheimhaltung nicht mehr aufrechterhalten lässt, erfolgt die moralische Verurteilung in
Form kraftvoller Semantiken aus dem naturkatastrophlichen Bereich. Doping impliziert
damit, einer höheren Gewalt zu unterliegen, die nur schwer zu kontrollieren sei und in
keinem Falle durch das Drehbuch strukturell erzeugt werden könne.
Da das Darstellerensemble weiterhin unreglementiert bleiben möchte, halten sie sich an die
vorgegebene Diskursstrategie in Form der Ausdruckskontrolle und machen das Doping nicht
für Simpsons Tod verantwortlich, sondern dessen Naturell. Anfangs übernehmen auch
andere Berichterstatter diese Rahmung. Jacques Anquetil setzt das sportliche Drehbuch
besonders erfolgreich um, besitzt in Folge dessen einen besonderen Status innerhalb des
Darstellerensembles und kann als ein Hauptdarsteller bezeichnet werden. Entsprechend
seiner Rolle ist er weniger als andere Fahrer an die Weisungen der Regie gebunden, so dass
er sich über die Sprachregelung der Regie hinwegsetzt und versucht, den Vorfall im Interesse
der Fahrer zu rahmen. Durch eine Reduzierung des Rennkalenders und eine Dopingfreigabe,
müssten die Darsteller nicht mehr die seit ein paar Jahren notwendige Geheimniskrämerei
über ihre Requisiten auf der Hinterbühne betreiben. Ausdrücklich spricht sich Anquetil dabei
allerdings gegen eine Reduzierung der Schwierigkeiten bei der »Tour« aus, da er seine
Popularität und seinen Heldenstatus den außergewöhnlichen Anforderungen verdankt, die
im Drehbuch gefordert sind. Sein diskursiver Vorstoß findet allerdings keinen Anklang im
medialen Diskurs, sondern stärkt im Gegenteil die Opposition aus dem linken Lager. Goddet
weist die Kritik im Rahmen des politischen Rollenspiels zurück und streitet die umfassende
52
Verbreitung des Dopings ab, indem er entsprechend seiner Diskursstrategie dessen
Anwendung ausschließlich mit schädlichem Ehrgeiz in Verbindung bringt.
Der Stellenwert von Dumas Entscheidung Simpsons Begräbnis zu verweigern, lässt sich tags
darauf am medialen Echo ablesen. Ohne das Wort Doping zu erwähnen, tritt er mit seinen
Aussagen in direkte Konfrontation mit der von den Fahrern und Regisseuren angewandten
Diskursstrategie der Verharmlosung, da er den Todesfall Simpsons als ungewöhnlich
einordnet. Für kritische Medien bietet sich auf der dritten Wahrnehmungsebene durch diese
Aussage nun die Möglichkeit, den Fahrer Simpson in das Opfer-Schema zu überführen, nach
dem die Fahrer durch Anforderungen der Rennleitung zum Doping gezwungen würden.
Dumas hat sich damit gegenüber dem Darsteller-Ensembles als Denunziant entpuppt, da er
Gruppengeheimnisse offenlegt und damit destruktive Informationen von der Hinterbühne
an das Publikum verrät. So ist Anquetil als Hauptdarsteller in der Pflicht, Dumas Vergeltung
zu Teil werden zu lassen. Die Heftigkeit seiner Sanktionierung, ihn für Simpsons Tod
verantwortlich zu erklären, veranschaulicht ebenfalls den Grad der Grenzüberschreitung. So
wird Dumas für seinen Verrat bestraft, während auch das Restensemble durch
Veranschaulichung der negativen Konsequenzen dazu angehalten wird, soziale Disziplin in
ihren Aussagen an den Tag zu legen. Der diskursive Grenzübertritt wird durch Anquetil
indirekt mit einem Verbot markiert, auch und gerade wegen der Folgen.
Trotz der Reglementierung Dumas stehen die Fahrer den Konsequenzen aus dessen
diskursiven Regelbruch nun machtlos gegenüber. Der Denunziant erreicht durch die
Erregung starker öffentlicher Empörung einer Ausweitung der Kontrollen, so dass er den
Rahmungswettbewerb gegenüber den Regisseuren und Darstellern für sich entscheiden
kann. Der Dopingdiskurs hat eine neue Qualität erfahren, da er erstmalig eine
problematisierende und gesundheitsgefährdenen Rahmung erhält. Doping ist von nun an
negativ besetzt. Dieser Entwicklung muss auch Goddet Rechnung tragen. Da er allerdings
nicht das über die Jahre etablierte und erfolgreiche Drehbuch umschreiben kann, ohne das
Stück fundamental zu verändern, muss er vor allem symbolischen Handlungswillen
demonstrieren und keinen Zweifel daran lassen, in welch starker Intensität er den Kampf
gegen Doping aufgenommen hat. Die »UCI« hilft den Regisseuren, indem sie Kontrollen
weiterhin nachlässig betreibt, zumal es auch nicht in ihrem Interesse liegen kann, die
eigenen Schauspieler durch ein besonders enges Kontrollnetz und damit einer Vielzahl
53
aufgedeckter Verstöße, zu diskreditieren. Flankiert von Idealisierungen wie der „Tour der
Erneuerung“ gelingt es den Regisseuren schließlich im Laufe der Zeit, wiederum ihre
altbewährte Rahmung des Verschweigens zu etablieren und durch ein Verbergen der
Requisite auf der Hinterbühne zu einer Entregulierung des Dopingdiskurses beizutragen.
3.4 Rahmung III: Kriminalisierung
„Wir sind ja irgendwo ’ne Unterhaltung“ 12
Jan Ullrich, Radrennfahrer
3.4.1 EPOchaler Radsportboom
Weder diverse Dopingfälle nahezu aller prominenten Fahrer der Tour, darunter Ferdi Kübler,
Jacques Anquetil, Freddie Maertens, Joop Zootemelk, Bernard Thévenet, Rudi Altig, Dietrich
Thurau und Eddy Merckx (vgl. Krämer, 1998, S. 107), noch spektakuläre Zwischenfälle führen
bis zum Ende der neunziger Jahre zu einer umfassenden öffentlichen Problematisierung des
Dopings. Fahrer, wie Dieter Thurau sprechen 1978 offen über Doping, ohne, dass sie sich um
sportrechtliche oder juristische Konsequenzen sorgen müssen: „Wer nichts nimmt, der
bringt auch nichts“ (zitiert nach Hénard, 2001, S. 45). Doping ist wiederum zu eine
Randerscheinung in der Wahrnehmung des Publikums geworden (vgl. Nuschke, 2007, S.
117).
Entweder umgehen die Fahrer auf kreative Art und Weise den Kontrollen oder sie
gebrauchen neue Präparate, für die noch keine geeigneten Kontrollmethoden existieren (vgl.
Nuschke, 2007, S. 117). Obwohl auf der jährlich aktualisierten Negativliste der UCI neben
Heroin, Kokain und Morphium auch Herz−Kreislauf−Präparate wie Ephedrin und
Amphetamin aufgeführt sind, existiert lediglich für letzteres eine Testmethode (ebd.)
Ebenfalls 1978 wird der im gelben Trikot fahrende Michel Pollentier von der laufenden Tour
ausgeschlossen, als er seine Urinprobe am Ende der Etappe nicht aus seiner Blase, sondern
mit Hilfe eines präparierten Gummischlauches abgibt, um seine positiven Werte zu
verschleiern (vgl. Krämer, 1998, S. 113). In den achtziger Jahren wandelt sich das Doping von
einer erfahrungsbasierten Verabreichung durch die Teampfleger hin zu einer
wissenschaftlichen Methodik. Italienische Forscher entwickeln nun langfristige Saisonpläne
12 (zitiert nach Schüle, 2003/24, S. 19)
54
an Stelle von kurzfristigen Wettkampfunterstützungen (vgl. Gamper, 1999, S. 21). Der
ehemalige Radprofi Peter Winnen berichtet gegenüber dem Niederländischen NCR
Handelsblad von seinen Doping-Erfahrungen zu Beginn der achtziger Jahre. Doping sei
demnach in dieser Zeit im Fahrerfeld normal und akzeptiert gewesen: „Sponsoren und
Betreuer waren auf der Suche nach dem Zaubertrank. Man wurde als Fahrer gelobt, wenn
man Sachen geheim hielt“ (Winnen, 03.07.1999). Es seien meist harmlose Produkte auf der
Dopingliste aufgeführt worden, die nur deshalb als „böse“ (ebd.) galten und den Fahrer zum
Betrüger machten, weil sie auf eben dieser Liste stünden: „Das Unrecht rief eine riesige
Geschlossenheit in der Szene hervor. Diese rigorose Trennung zwischen gut und böse war zu
absurd“ (ebd.) .
1988 weist die Urinprobe des Gesamtführenden der Tour, Pedro Delgado, Rückstände eines
Rheumamittels auf. Weil dieses Mittel allerdings nur auf der Antidopingliste des IOC und des
französischen Radsportverbandes, nicht aber bei der UCI aufgeführt ist, gewinnt der Spanier
die »Tour« (vgl. Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 194). Im folgenden Jahr wäre Delgado für
dasselbe Vergehen gesperrt worden. Die Berichterstattung darüber erfolgt im Sinne eines
Kavalierdeliktes. Die »dpa« spricht davon, dass er „mit einem blauen Auge
davongekommen“ sei (Zellmer, 21.07.1988). Bei der Tour dominiert das Verständnis:
„Sicher das gelbe Trikot sei befleckt, schrieben die Tageszeitungen […]. Aber wer hat
es befleckt? Delgado? Wenn schon ein staatliches Untersuchungslabor und eine
Tourjury zweieinhalb Tage brauchen, um herauszufinden, das Probenocid gar nicht
auf dem UCI-Index steht: Wer soll denn überhaupt noch durchblicken in der großen
Apotheke? […] Ist es also nicht höchste Eisenbahn, endlich einmal zu relativieren,
wenn es um Doping geht? […] Handelt ein Radprofi, der sich dopt nicht als
schwächstes Glied in einer Kette, deren Antriebsrad – ohne Pardon – das liebe Geld
ist?“ (Betram, 1988/8, S. 15).
Seit 1988 ist für die Behandlung von Nierenpatienten ein Medikament namens
Erythropoetin (EPO) auf dem Markt. Die Substanz regt die Bildung von roten Blutkörperchen
an und gilt aufgrund seiner ausdauerleistungssteigernden Wirkung Anfang der 1990er Jahre
in Radsportkreisen als „Wundermittel“ (Breidbach, 2007, S.208). EPO löst damit die in
Fahrerkreisen zuvor verbreitete Methode des Eigenblutdopings ab, die in den 1960er Jahren
Einzug in den Leistungssport erhält (vgl. o.V., 2007, S.137). Die Wirkung ist identisch. Auch
55
beim Eigenblutdoping wird die Anzahl der sauerstoffbindenden Erythrozyten durch
wettkampfnahe Zufuhr von vorher abgenommenem Blut erhöht. Während diese Methode
allerdings sehr aufwendig ist und eine Leistungszufuhr von fünf Prozent ermöglicht, bietet
EPO einen bis zu doppelt so hohen Zuwachs (vgl. Tolsdorf, 2007, S.63). Darüber hinaus kann
es von den Sportlern jederzeit selbst angewendet werden (vgl. o.V., 2007, S.37). Da es bis
Anfang der neunziger Jahre nicht auf der Verbotsliste steht, handelt es sich nach dem
institutionell vermittelten Doping-Verständnis nicht um eine sportrechtlich illegale Praxis
(vgl. Wagner, 2000, S. 34) Viele Radsportler leiden gerade in den Anfangsjahren der EPO-
Anwendung an den Nebenwirkungen, vor allem an Verklumpungen im Blut, die vermutlich
mit einer Reihe ungeklärter Todesfälle in Zusammenhang stehen (vgl. Breidbach, 2007,
S.208). 1997 führt die UCI in Ermangelung eines geeigneten EPO-Nachweises verbindliche
Blutkontrollen ein, in denen der Hämatokritwert des Blutes nicht über 50 Prozent betragen
darf. Wenn ein Fahrer mit einem höheren Wert auffällt, ist die Wahrscheinlichkeit eines
Dopingvergehens hoch, da der Durchschnittswert eines tranierten Athleten um 44 Prozent
liegt (vgl. Breidbach, 2007, S.209). Der Fahrer wird in diesem Fall einer sogenannten
Schutzsperre unterzogen, die endet, wenn sich der Wert normalisiert hat (ebd.). Der
ehemalige französische Radprofi Erwan Mentheour wird 1998 als erster Fahrer wegen eines
zu hohen Hämatokrit-Wertes aus den Rennen Paris-Nizza ausgeschlossen. Er berichtet später
von einem ritualisierten Gebrauch des Dopings, das Zugehörigkeit schaffe. „Es ist demnach
eine Art Ritterschlag, die höchste Weihe, um als vollwertiges Mitglied in der Radsport-Szene
Anerkennung zu finden“ (Severin, 2007, S. 17). Ein Schweizer Radprofi, der anonym bleiben
möchte, beschreibt, dass den Fahrern gegenüber kein Druck erzeugt wurde, um sie zur
Einnahme des EPO zu bewegen: „Es blieb mein persönlicher Entscheid“ (Wagner, 2000, S.
35). Innerhalb der öffentlichen Kommunikation, bleibt den Fahrern hingegen weniger
Freiheit: „Nun haben wir in der Dopingdiskussion lediglich zwei Möglichkeiten; lügen oder
nichts sagen“ (ebd. S. 40).
Nach Winnen (03.07.1999) erhalte die Chancengleichheit durch die Maßnahmen der UCI
wieder Einzug unter den Rennfahrern, führe zu einem neuen Dopingverständnis und halte
die Gesundheitsschädigung in Grenzen. „EPO ist selbst erlaubt, solange der Hämatokritwert
nicht über 50% ist. EPO ist nicht gefährlich, wenn man es mit der richtigen Betreuung
anwendet“. Die Regelung der »UCI« dient demnach einer Eindämmung und damit
56
verbunden einer stillschweigenden Akzeptanz und nicht einer Verhinderung des EPO-
Dopings (vgl. Breidbach, 2007, S.208). Mitte der neunziger Jahre erfolgen zwei Doping-
Geständnisse von aktiven Radprofis und lösen damit jeweils identische Reaktionen im
deutschen Radsport aus. 1996 gesteht Uwe Ampler mit EPO gedopt zu haben, dessen
Karriere danach beendet ist (vgl. Salden, 23.05.2007). Ein Jahr später bekennt Jörg Paffrath
Spiegel: „Ohne Chemie läuft in dem Geschäft gar nichts" (zitiert nach ebd.). Damit hat auch
er keine Chance mehr, im Radsport Fuß zu fassen. Der verantwortliche Spiegel-Redakteur
Udo Ludwig erklärt: „Man hat ihn […] aussortiert“ (zitiert nach ebd.) Darüber hinaus wird
Paffrath vom BDR mit lebenslangem Lizenzentzug bestraft, da er „dem Ansehen des BDR
schweren Schaden zugefügt habe" (o.V., 1998/11, S. 246). Eine öffentliche Reaktion darauf
bleibt aus. Im selben Jahr wird Jan Ullrich zur „Lichtgestalt“ (o.V., 02.07.2007).
Die gesamte Tour de France erlebt Mitte der neunziger Jahre einen rasanten Aufschwung als
die Nachfrage aus der Bundesrepublik sprunghaft steigt (vgl. Schröder R., 2002, S.53). Nach
Boris Becker und Steffi Graf im Tennis, Michael Schuhmacher im Rennsport oder Henry
Maske im Boxen löst Jan Ullrich einen Radsportboom aus (Franke, 2007, S. 92). Nach einem
zweiten Platz bei der Tour de France 1996, gewinnt Ullrich ein Jahr später als erster
Deutscher die Frankreich-Rundfahrt, wird als „weltbester Radsportler“ ausgezeichnet und
zum „Sportler des Jahres“ gewählt (Schüle, 2003/24, S. 24). Mit seinen Erfolgen steigt das
Zuschauer- und Medieninteresse an der Tour de France. So berichten die öffentlich-
rechtlichen Sender erstmals live über das Rennen. In der ARD steigt der Umfang der
Berichterstattung von 340 Minuten im Jahr 1994 auf über 100 Stunden (vgl. Bernreuther,
2003). Sechsstündige Tourübertragungen erreichen einen Marktanteil von 21,5 Prozent (ARD
zitiert nach Föst & Kammann, 2007, S. 163) und führen zusammen mit täglichen
Kurzzusammenfassungen in der Tagesschau zu einer Ausweitung der Sendezeit um 1720
Prozent (vgl. Bernreuther, 2003). Die Berichterstattung über die Tour de France im
Allgemeinen und Jan Ullrich im Speziellen ist positiv. „Die sportbegeisterten Journalisten
dankten ihm [Ullrich] den eigenen Rausch, die steigende Eigenbedeutung und das
dazugewonnene Sendevolumen mit Protektion und Überschwänglichkeit“ (Schüle, 2003/24,
S. 24). Eine „mediale Randsportart“ (Hidde, 2005, S. 20) wird in kürzester Zeit zu einem
Wirtschaftsfaktor (vgl. Bernreuther, 2003). Fahrradfahren wird zum Volkssport (vgl. Schüle,
2003, S. 24). Die Deutsche Telekom verzeichnet als Sponsor des gleichnamigen Rennstalls
57
dank Ullrich während der Tour eine 4041 minütige TV-Präsenz und steigert damit ihren PR-
Wert von 1996 auf 1997 um 52,5 Millionen auf 81 Millionen DM (vgl. Föst & Kammann,
2007, S.163). Somit steigen auch die Gehälter der Radprofis in Dimensionen anderer
populärer Profisportarten (vgl. Schröder R. , 2002, S. 52-53), im Falle von Jan Ullrich auf über
zwei Millionen DM (vgl. Föst & Kammann, 2007, S. 163).
3.4.2 1998 – Die Festina-Affäre
Im Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich wird die öffentliche Debatte über die
Tour de France in ähnlicher Dimension wie bei dem Tod Simpsons beherrscht. Neben der
üblichen Sportberichterstattung beschäftigen sich in Deutschland erstmals
gesellschaftspolitische Magazine wie Sabine Christiansen oder Monitor mit dem Radrennen
(vgl. Christensen, 1999, S .1). Die Verantwortlichen des Rennens werden mit der
sogenannten Festina-Affäre, einem der größten, öffentlich verhandelten Doping-Skandale
der Sportgeschichte konfrontiert (vgl. Lenze, 2006, S. 27).
Als Auslöser für die Festina-Affäre gilt Frankreichs kommunistische Sportministerin Marie-
Georges Buffet. Knobbe (2000, S. 145) spricht in diesem Zusammenhang von einer „gezielten
Aktion des französischen Staates […] gegen das Doping im Leistungssport“. Im Gegensatz zu
Deutschland, in dem bis dato die Kontrolle und Sanktionierung des Dopings mit Ausnahme
der „Fremdschädigung“, des Arzneimittelhandels oder des umstrittenen Betrugtatbestands
der Sportsgerichtsbarkeit unterstellt ist (vgl. Arndt, Singler, & Treutlein, 2004, S. 76), verfügt
Frankreich seit 1965 über ein Anti-Doping-Gesetz. Die Dopingverabreichung kann dort bis zu
vier Jahre Haft einbringen (Fischer, 1998/08, S. 82). Buffet hat im Laufe ihrer einjährigen
Amtszeit den Anti-Doping-Etat der französischen Regierung bereits verdreifacht (vgl. Hahn,
1998) als am 8. Juli 1998 Willy Voets, sogenannter »Soigneur« und damit medizinischer
Betreuer der französischen Festina-Mannschaft am belgisch-französischen Grenzübergang
Neuville-en-Ferrain um 6.30 Uhr in eine Polizeikontrolle gerät. Während der nachfolgenden
Ermittlungen stellt sich heraus, dass die Überprüfung wohl kein Zufall darstellte, da die
Route des Belgiers der Polizei vorher bekannt war (vgl. Lenze, 2006, S. 33). Es wird vermutet,
dass der behördliche Eifer auch gegen den Präsidenten der Société der Tour, Jean-Claude
58
Killy, ein politischer Rechtsaußen, gerichtet ist (vgl. Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 221). Die
linke Zeitung Humanité titelt „Buffets Kreuzzug verändert Europa“ (Hénard, 2001, S. 45).
Die französischen Beamten finden in seinem Teamfahrzeug 250 Flaschen, Erythropoetin, 80
Ampullen Wachstumshormone, 160 Dosen Testosteron und 60 Gelantinekapseln eines
Blutverdünnungsmittels (vgl. o.V., 06.05.2001). Die L’Équipe berichtet als erstes, allerdings
mit drei Tagen Verspätung von einer „kleinen Bombe“ (Knobbe, 2000, S. 144) und am
darauffolgenden Tag von einem „Schock“ (ebd.). Die SZ bezieht sich am 13. Juli auf diese
Berichterstattung, wertet die Geschehnisse allerdings als einen „Monstersprengsatz, der
unter Umständen die ganze Veranstaltung in die Luft jagt“ (Burghardt, 13.07.1998, S. 23).
Am 16. Juli erhält die aufgeheizte Mediendiskussion neues Material, als die französische
Boulevardzeitung France Soir den Chefarzt des Lausanner Klinikums, Gerald Gremion, zitiert:
„99 Prozent der Fahrer sind gedopt“ (Knobbe, 2000, S. 148). Lothar Heinrich, Arzt des Team
Telekoms kritisiert die Aussagen: „99 Prozent – das ist doch lächerlich und sagt etwas über
die Glaubwürdigkeit Gremions aus“ (Zellmer, 15.07.1998). Auch die deutsche Presse, allen
voran das öffentlich-rechtliche Fernsehen, hält sich mit Dopingvermutungen gegenüber dem
Bonner Rennstall zurück. Seit diesem Jahr tritt die ARD als Sponsor des Teams in
Erscheinung, zahlt für ihr Logo auf den Magenta-Trikots bis 1999 jeweils vier Millionen DM
und befindet sich damit in einem Interessenkonflikt zwischen dem Programmauftrag
entsprechender, objektiver Berichterstattung und Imageaufwertung (vgl. Bernreuther,
2003). Der damalige ARD-Tour-Moderator Jürgen Emig erklärt: „Soll ich etwa Jan Ullrich
fragen, ob er gedopt ist? Das ist nicht mein Stil" (Leyendecker, 04.07.2008, S. 12). Der
Direktor des Team Telekoms, Walter Godefroot, wiegelt Doping in seiner Mannschaft ab und
gibt sich betroffen: „Es tut weh, und es wäre schade, wenn das wirklich alles stimmt. Im
Sport darf es so etwas eigentlich nicht geben“ (Knobbe, 2000, S. 146).
Gegenüber der Polizei gibt Voets zunächst an, die Mittel für den Eigenbedarf zu verwenden
(vgl. Nuschke, 2007, S. 121). In einem Interview mit der »Tour« begründet er diese Lüge
später mit den Regeln des Dopingdiskurses: „Wer auspackt ist erledigt“ (zitiert nach
Christensen, 1999, S. 17). Erst im Laufe der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen belastet
der 53-jährige die Verantwortlichen des Festina-Rennstalls, sowie deren Teamärzte und
Fahrer, die den Anschuldigungen allesamt widersprechen (vgl. Christensen, 1999, S. 122).
Bruno Roussel, Teamleiter von Festina wird festgenommen und zieht einen Anwalt zu seiner
59
Verteidigung hinzu: „Das Team hat sich nichts vorzuwerfen“ (Christensen, 1999, S. 14).
Tourdirektor Jean Marie Leblanc widerspricht Forderungen Buffets, die Festina-Mannschaft
auszuschließen (vgl. Burghardt, 13.07.1998, S. 23) und verteidigt die Rennfahrer: „Sofern
nichts Neues in der Festina Angelegenheit hinzukommt, betrifft die Sache die Rennfahrer
nicht“ (zitiert nach Christensen, 1999, S. 14). Nach zwei Tagen in Untersuchungshaft gesteht
Roussel am 17. Juli, ein langjähriges Dopingsystem installiert zu haben (vgl. Schindel,
09.07.2008). Unter medizinischer Überwachung investierte das Team jährlich rund 400.000
Francs für Dopingmittel und stattet seine Fahrer mit Messgeräten zur Einhaltung des von der
UCI tolerierten 50-prozentigen Hämatokritwertes aus (vgl. Lenze, 2006, S. 32). Noch am
selben Tag wird Festina als erstem Team in der Geschichte der Tour de France die
Starterlaubnis entzogen (vgl. Schindel, 09.07.2008). Leblanc begründet die Entscheidung,
obwohl keinem der Fahrer innerhalb einer Kontrolle Doping nachgewiesen werden kann, mit
einem kollektiven Verstoß „gegen die Regeln der Tour de France, gegen ihre fundamentalen
Prinzipien, zuallererst gegen die Ethik des Sports“ (Meusel, 1998/08, S. 79). Die Fahrer von
Festina wollen trotzdem zur nächsten Etappe antreten, werden aber von Leblanc zur
Aufgabe überredet. Einer der Favoriten der Tour und Vorjahreszweite, Richard Virenque,
weint vor Enttäuschung vor laufenden Kameras und erklärt:
„Es ist heute die Entscheidung der ganzen Mannschaft, sich von
der Tour de France zurückzuziehen, nachdem wir von Rechts und Links
Druck erfahren haben […]. Juristisch gesehen hätten wir weitermachen
können, aber des Sports wegen verlassen wir die Tour“ (Zellmer, 18.07.1998).
Für die L’Équipe seien die Probleme somit überstanden und die 3705 Mitarbeiter des
Rennens würden auf eine Konzentration auf das Sportliche hoffen: „Der Dampfer Tour de
France scheint also seine Kreuzfahrt auf einem Meer der Glückseligkeit fortzusetzen“ (Hoyer,
19.07.1998). Obwohl auch die dpa von einem „heilsamen Tour-Schock“ (Deister, 19.07.1998)
spricht, überwiegt bei der Mehrzahl der Berichterstatter der kritische Fokus. Im Zuge der
polizeilichen Ermittlungen tritt das sportliche Geschehen mehr und mehr in Hintergrund.
Ermöglicht durch das französische Antidoping-Gesetz (vgl. Lenze, 2006, S. 64) zeigen die
Medien Bilder von Verhaftungen und Razzien. Der ursprüngliche Sport rückt zu Gunsten
einer Kriminalitätsberichterstattung in den Hintergrund. Die Zeitung Le Figaro beschreibt die
Szenerie: „Man sprach nicht über Ausreißmanöver, Sprints, Durchschnittszeiten. Man sprach
60
über Verhöre, Polizeigewahrsam, Suspendierung, Verdacht“ (zitiert nach Schröder &
Dahlkamp, 2003, S. 22). Die Polizei steht zusammen mit 800 Journalisten 147 Fahrern
gegenüber (vgl. Zellmer, 26.07.1998). Dazu Bjarne Riis, Vorjahressieger der Tour de France
und Fahrer des Team Telekom: „Ich denke die Presse braucht uns, wir brauchen denen
nicht“ (Knobbe, 2000, S. 147-148). Am 23. Juli wird in einem Beitrag des französischen
Senders Antenne 2 der Müll der Asics-Mannschaft überprüft und leere
Arzneimittelverpackungen als Dopingmittel präsentiert, die sich erst später als
Vitaminpräperate entpuppen (vgl. Schindel, 09.07.2008; Zellmer, 26.07.1998). Die
französische Tageszeitung Le Monde verlangt den Tour-Abbruch (vgl. Schindel, 09.07.2008),
während die Fahrer auf ihre Skandalisierung mit einem zweistündigen Sitzstreik am Start der
12. Etappe reagieren. Der franzose Laurent Jalabert ist Innitiator des Protests: „Wo der Sport
jetzt sekundär geworden ist und wir wie Vieh behandelt werden, haben wir beschlossen,
nicht zu fahren“ (Meusel, 1998/08, S. 79). Nach einer weiteren Durchsuchung des Teams
TVM-Farm Frites folgt ein weiterer Streik der Fahrer, die damit auf die in ihren Augen
unverhältnismäßige Härte der Polizei aufmerksam machen wollen. Im Anschluss steigen
TVM und fünf weiteren Teams aus der Tour aus (vgl. Nuschke, 2007, S. 123). Als keine neuen
Entwicklungen in Form von Disqualifikationen mehr zu berichten sind, verstärkt sich in der
Berichterstattung der Fokus auf andere Medien, während die Etappenergebnisse kaum noch
Relevanz besitzen.
„Die Experten werden von Zeitung zu Zeitung gereicht […]. Ob L’EQUIPE, FRANCE
SOIR, LE FIGARO, LE MONDE, LE PARISIEN (alle Frankreich), ob LA REPUBBLICA oder
GAZETTA DELLO SPORT (Italien), ob LE SOIR (Belgien), BLICK (Schweiz) oder DE
TELEGRAAF (Niederlande), alle finden Eingang in die deutsche Presse und
wahrscheinlich auch umgekehrt und untereinander“ (Knobbe, 2000, S. 149)
Am Ende erreichen 96 von 190 gestarteten Fahrern das Ziel in Paris und das Rennen erhält
Beinamen wie „Tour de Farce“ (Nuschke, 2007, S. 124) oder „Tour de Dopage“ (Löhle,
1998/08, S. 101). Sowohl in der FAZ als auch in der Tour kommt der Schweizer
Krisenmanager Martin Zenhäuser zu Wort. Er beschreibt den Imageschaden der Tour de
France als beträchtlich: „Die Doping-Krise hat das Vertrauen in den Radsport erschüttert. Das
Publikum verliert das Interesse, Sponsoren verabschieden sich, die Medien wenden sich
vermehrt anderen Sportarten zu“ (Gerth, 1998/08, S. 80). Auch die SZ sieht mit Andeutung
61
auf die neue Rolle der französischen Judikative schwarz für die Zukunft der Tour, schließlich
würden Staatsanwälte intensivere Bemühungen als Verbandsfunktionäre betreiben
(Burghardt, 20.07.1998, S. 26). In dem meisten überregionalen Tageszeitungen findet sich
nun eine Chronologie der Dopinggeschehnisse bei der Tour in diesem und in den
vergangenen Jahren (vgl. Knobbe, 2000, S. 148). Trotzdem wird im medialen Tenor Nachsicht
mit den Fahrern geübt, um im gleichen Atemzug die organisatorischen Strukturen zu
kritisieren. Die Anwendung von Dopingmitteln seien zwar moralisch fragwürdig, aber
medizinisch nachvollziehbar. „Anbetung und Argwohn haben die gleiche Quelle: modernes
Gladiatorentum. Die Tour de France ist eine Tortur, die jeden normalen Menschen zugrunde
richten würde, […] falls sie nicht nachhelfen“ (Waldbröl, 17.17.1998, S. 14). Der Spiege«
bezieht sich ebenfalls auf die Hintergründe des Spektakels. Die Tour sei erst durch Doping
ermöglicht worden.
„Und die Zuschauer? Warum sind sie süchtig nach der Tour? Weil sich in den
Radprofis der Wunsch nach eigener Stärke und tödlichem Risiko personifiziert, die
Angstlust, das Mysterium. Eine faszinierende Grenzerfahrung, die durch Television
keinen Schaden nimmt, wie die Einschaltziffern beweisen. Die Tour ist ein Fest fürs
Leben. Sie ist tot? So ein Blödsinn. Das Volk läßt die Tour nicht sterben. Denn alles
verstehen, heißt alles verzeihen. Vive le Tour! Vive la France!“ (Halter, 1998/32, S.
97).
Ein Blick auf die Folgen der Festina-Affäre, geben der Meinung des Magazins Recht.
3.4.3 Institutionalisierung der Anti-Doping Bemühungen
1998 wird die Öffentlichkeit erstmalig über systematisches, überindividuelles Doping im
Radsport informiert. Die Affäre hat gezeigt, „dass von der Normalität abweicht, wer sich
nicht dopt, wer keine verbotenen Medikamente nimmt“ (Brissoneau, 2007, S. 186).
Weiterhin wird durch die Sanktionierung des französischen Staates der Radsport in
Verbindung mit der Kriminalität gebracht (vgl. Lenze, 2006, S. 26). So wird Bruno Roussel zu
einem Jahr und Willy Voets zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Strafmildernd wirkt nach
Aussage der Staatsanwaltschaft, dass die Haltung der verantwortlichen Radsportverbände
UCI und FFC keine Unrechtmäßigkeit des Dopings erkennen ließen (vgl. Nuschke, 2007, S.
62
123). So argumentiert auch der französische Fahrer Richard Virenque vor Gericht im Jahr
2000, wonach man nur im Falle eines positven Tests gedopt sei und kein Betrüger sein
könne, wenn alle betrügen (L’Équipe vom 25.10.2000 zitiert nach Treutlein, 2007, S. 244-
245). Die Verwicklung in die Dopingaffäre haben, abgesehen von seinem Verdienstausfall
wegen der gegen ihn und seine sechs Teamkollegen verhängten Sperre von bis zu sieben
Monaten, keinen negativen Einfluss. Seine Popularität in Frankreich steigt sogar (vgl.
Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 255). So berichtet die SZ von Spruchbändern mit „Richard,
komm‘ bald wieder“ (o.V., 23.07.1998, S. 9), während dem Team Telekom nach einem
Etappensieg Festina-Sprechchöre entgegenschlagen (vgl. Löhle, 1998, S. 101).
In Bezug auf das Image des Leistungssports im Allgemeinen und des Radsports und der Tour
de France im Speziellen herrscht bei den Verantwortlichen rege Geschäftigkeit. Die Angst vor
negativen Konsequenzen führt in Kombination mit dem öffentlich erzeugten Druck zur
Bezeugung ihres Handlungswillens im Rahmen ihrer Anti-Doping-Bemühungen (vgl. Lenze,
2006, S. 34). So erhöht die UCI den Jahresetat 1999 auf rund fünf Millionen Mark und führt
einen von den Teams unabhängigen Gesundheitstest ein (vgl. Christensen, 1999, S. 36). Der
sogenannte »medical follow-up« solle im Falle einer Auffälligkeit keine Sanktionen nach sich
ziehen, sondern in Kombination mit dem im Jahr 2000 folgenden »Gesundheitspass« die
medizinische Transparenz der Fahrer erhöhen, indem dort der gesundheitliche Werdegang
und die dafür benötigten Medikamente nachvollziehbar werden (vgl. Lenze, 2006, S. 35-37).
Weitere Maßnahmen sind eine Reduzierung der Renntage, erhöhte Kontrollbudgets und die
Einrichtung eines Kontrollgremiums. Darüber hinaus fordern die UCI die Unterstützung
nationaler Rechtssprechung (ebd. S. 38-39). Auch das IOC sieht sich gezwungen, in
Anbetracht des öffentlichen Aufruhrs das Dopingproblem in Angriff zu nehmen und legt auf
der Welt-Anti-Doping-Konferenz in Lausanne im Februar 1999 die Grundlage zu Schaffung
der WADA im November desselben Jahres. Unter dem Dach dieser neuen Institution sollen
nun erstmals Sportverbände und Regierungen auf internationaler Ebene gegen das Doping
vorgehen und zudem nationale Anti-Doping-Agenturen ins Leben rufen (vgl. Lenze, 2006, S.
42-43). Auf staatlicher Ebene kritisiert Sportministerin Buffet - für den Spiegel mittlerweile
die „Jeanne d’Arc im Kampf gegen das Doping“ (Halter, 1998/32, S. 97) - die Entscheidung
der UCI, Richard Virenque gegen den Willen der Tourleitung an der kommenden
Frankreichrundfahrt teilnehmen zu lassen. Der Radsportverband lasse es an der nötigen
63
Konsequenz fehlen (vgl. Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 225). Darüber hinaus erarbeitet
Buffet eine weitere Verschärfung des französischen Anti-Doping-Gesetzes. Demnach können
überführte Sportler weiterhin sportrechtlich gesperrt werden, während sich für die
dopingverabreichenden Teamärzte und Betreuer die strafrechtlichen Konsequenzen in Form
einer Höchststrafe von 76.200 Euro oder fünf Jahre Gefängnis erhöhen (vgl. Hellmuth,
09.08.2006). Angeklagte Personen gelten demnach als »kriminellen Vereinigung«. Begleitet
wird das Gesetz von einem nationalen Anti-Doping-Rat mit weitgehenden Ermittlungs- und
Sanktionsbefugnissen (vgl. Hahn D., 25.07.1998). Mit Rückenwind aus der Festina-Affäre tritt
das Gesetz am 23. März 1999 in Kraft (vgl. Hellmuth, 09.08.2006).
Im Rahmen der Tour de France hält sich die Tourleitung symbolisch an die Vorgabe der
L’Équipe, nach dem Ende der Skandal-Tour 1998 einen „neuen Anfang im Radsport“ (zitiert
nach o.V., 31.07.1998) zu begehen. Es handelt sich nach Renndirektor Leblanc um eine
„Überlebensfrage des Radsports“ (Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 225), so dass er
dementsprechend 31 Jahre nach dem Todesfall Simpsons anstelle einer »Tour de Santé« die
„Tour der Erneuerung“ (Schröder R. , 2002, S. 129) ausruft. Vor dem Start sind erstmals alle
Fahrer aufgefordert, den Bluttest der UCI zu absolvieren. Weitere Kontrollen stehen den drei
Erstplatzierten plus zwei zufällig ausgelosten Fahrern bevor (vgl. Schröder & Dahlkamp,
2003, S. 225). Darüber hinaus verschwindet mit Bezug auf Willy Voets das Wort »soigneur«
aus dem offiziellen Sprachgebrauch des Radsports und wird durch »Teamassistent« ersetzt
(vgl. Fotheringham, 2007, S. 185). Sowohl Festina auch auch die Mannschaft des Team
Telekom führen eine sogenannte »Ethik-Charta« ein, in der sich die Fahrer verpflichten, auf
Dopingmittel zu verzichten (vgl. Christensen, 1999, S. 44). Weiterhin spenden sie 1,2 bzw.
eine Million Mark für den Kampf gegen das Doping, engagieren wissenschaftliche Berater
und unterziehen sich freiwilligen Gesundheitskontrollen (vgl. ebd.). Ein ehemaliger Radprofi
und Teilnehmer der Tour de France, der unerkannt bleiben möchte, beschreibt die Folgen
auf sportlicher Ebene: „Ich bin überzeugt, dass beim Saisonstart 1999 fast hundert Prozent
der Profis sauber fuhren. […] Bald schlichen sich aber Zweifel ein: […] Die Angst vor den
Kontrollen verflog jedenfalls schnell, weil wir merkten, dass das alles zur Verbesserung des
Images initiiert worden war“ (Wagner, 2000, S. 41).
Der Radprofi Christophe Basson erlangt in Frankreich Berühmtheit, da er als einziger Fahrer
des Festina-Teams, wie von Willy Voets bestätigt wird (Ducion, 06.07.2001), nicht auf
64
Dopingmittel zurückgegriffen hat. In einer Kolummne der Zeitung Le Parisien kritisiert der
Franzose die »Tour der Erneuerung« ebenfalls als „Heuchelei“ (Woller, 2007, S. 95),
allerdings öffentlich. Nach zwei Wochen bricht Basson die Rundfahrt ab, nachdem er von
dem gesamten Peloton inklusive seines Teams und dem Träger des gelben Trikots, Lance
Armstrong, unter Druck gesetzt wird (ebd.). „Er hat mir zu verstehen gegeben, dass ich dem
Radsport schade, […] dass es Zeit wäre, den Beruf zu wechseln“ (Woller, 2007, S. 101).
Tourdirektor Leblanc bewertet das Ausscheiden des Franzosen als folgerichtig: „The rider […]
hinted that the progress we have made to clean up the sport was unsuccessful. He irritated
the peloton by using his tongue to get media attention instead of his legs”13 (o.V.,
18.07.1999). Am Ende der Tour zeigt sich Leblanc nach dem erstmaligen Sieg von Armstrong
und dem Ausbleiben einer positiven Dopingprobe erleichtert: „Die Tour ist gerettet“
(Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 229).
Zusammenfassend wird Doping im Rahmen der Festina-Affäre umfassend problematisiert, so
dass im Vergleich zu den sechziger bis achziger Jahren ein Regelverstoß vom „Bagatelldelikt
zum Großbetrug ausgewachsen“ (Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 261) ist, ohne dabei jedoch
einen nachhaltigen Wandel in der Dopingpraxis zu bewirken. Die Kriminalisierung führt nach
Aussagen Voets im Gegenteil zu einer verstärkten Abkapselung und Professionalisierung des
Dopingsystems. „Die Kontrollen, in denen in der Regel nichts nachgewiesen werden kann,
dienen als Beglaubigung der Unschuld der Fahrer, das Verbot bewährter Substanzen treibt
dazu an, neue Mittel zu entdecken und zu entwickeln“ (Gamper M. , 03.09.1999, S. 11). 1998
veröffentlicht die NZZ ein ausführliches Dopinggeständnis des Schweizer Radprofis Rolf
Järmann: „Bis zur Tour de France 1998 wurde offen über EPO geredet, innerhalb der
Mannschaft und unter den anderen Teams“ (zitiert nach Forst, 09.06.2008). Nach dem
Skandal sei ein Ende der offenen Kommunikation zu beobachten gewesen, obwohl weiter
gedopt werde (vgl. ebd.) Ein Jahr darauf beendet Järmann seine Karriere. Die
öffentlichkeitswirksamen Anti-Doping-Maßnahmen zeigen sich aus Sicht der
verantwortlichen Institutionen erfolgreich. Die Tour de France erlebt nach dem größten
Skandal ihrer Geschichte langfristig eher eine Imageaufwertung als eine Verschlechterung
(vgl. Nuschke, 2007, S. 124). In einer Vergleichsstudie von 1996 zu 2006 wird die Tour in fast
13 Übersetzung des Verfasser: „Der Fahrer vermittelte dein Eindruck, dass unsere Maßnahmen für einen
sauberen Sport nicht erfolgreich waren. Er irritierte das Fahrerfeld, indem mediale Aufmerksamkeit mit seiner Zunge und nicht mit seinen Beinen erregte“.
65
allen erhobenen Imagedimensionen, wie unterhaltend, spannend, dynamisch oder attraktiv
gleichbleibend oder verbessert wahrgenommen (vgl. ebd). Entgegen der Einschätzung
Zenhäusers bleiben auch alle Sponsoren der Tour treu (vgl. Knobbe, 2000, S. 152). Ein Grund
dafür liegt vermutlich in der hohen Medienpräsenz, wie das Beispiel Festina zeigt. Die
spanische Uhrenmarke trägt keinen gravierenden Schaden davon, sondern profitiert gar im
Rahmen des Dopingdiskurses. 1998 erscheinen rund 10.000 Artikel über die nach dem
Unternehmen benannten Affäre (vgl. o.V., 22.08.2007). Nach dem Mitglied der
Geschäftsführung, Manfred Stoffers, sei die Marke über Nacht jedem fünften deutschen als
Uhrenhersteller bekannt geworden und man habe eine Flucht nach vorne betrieben: „Wir
haben gestanden, uns entschuldigt und Besserung gelobt und das, obwohl wir für das
Doping gar nicht verantwortlich waren“ (ebd.). Das Unternehmen kann seine
Umsatzerwartungen 1998 nach oben korrigieren und spricht aus Marketinggesichtspunkten
über den Skandal von einem „sensationellen Erfolg“ (o.V., 28.08.1998). Ähnlich sieht es
Helmut Thoma, damaliger Geschäftsführer des Fernsehsenders RTL, für das gesamte
Rennen:
„In diesem Jahr hat die Tour de France ungeheuer von den Skandalen profitiert. Da
haben die Leute darauf gewartet, ob irgendwann einmal jemand vom Rad fällt, weil
er gedopt war oder ob die Gendarmerie einen herausgreift. Das war ein richtiges
Medienereignis. Wenn die einfach so vor sich hinradeln, schalten auch wieder viele
aus“ (zitiert nach o.V., 28.08.1998).
So wirkt sich Festina-Affäre entgegen vieler Befürchtungen insgesamt kaum negativ aus. Die
Tour de France und ihre Protagonisten können sogar von ihr profitieren, gerade wenn der
öffentliche Eindruck erweckt wird offensiv, konsequent und handlungsorientiert gegen das
Doping vorzugehen.
3.4.4 Etablierung des Kriminalitäts-Schemas
Die Aussagen des deutschen Darstellers Dieter Thurau belegen die aus Sicht des Theaters
erfolgreiche Diskurstaktik des Verharmlosens und Verschleierns im Dopingdiskurs auf der
Vorderbühne. Das Publikum zeigt sich taktvoll, indem es diesen Fehler innerhalb der
Darstellung unbeachtet lässt, um sich im Anschluss wiederum von den dargebotenen Rollen
66
überzeugen zu lassen. Wenn das Gesamtbild mit den positiven Erwartungen des Zuschauers
übereinstimmt, lassen sich Nachlässigkeiten verschmerzen. Auch der Tenor des medialen
Dopingdiskurses klingt entsprechend und übernimmt damit bewusst oder unbewusst die
Rolle des Claqueurs. Damit dies aber so bleibt, muss hinter den Kulissen gerade von Seiten
der Sponsoren darauf hingewiesen werden, die Doping-Requisite geheim zu halten, während
auf der Bühne ein intensiver Anti-Doping-Kampf propagiert wird. Für diese symbolische
Politik setzt sich die UCI als Schauspielerverband ein. Indem sie ab und an unvorsichtige
Darsteller sanktioniert, können sie ihre eigentliche Rolle des Clacqeurs in der öffentlichen
Wahrnehmung zu einem Kontrolleur umdeuten und damit zur Glaubwürdigkeit des Stückes
beitragen. Zwischen den staatlich verordneten Repressalien gegen das Doping und dem
Wunsch der Zuschauer nach einer dramatischen Darstellung, die den Einsatz dieser Requisite
erfordert, sind vor allem die Darsteller gefordert mit diesen widersprüchlichen
Rollenerwartungen umzugehen. Der äußere Druck führt dabei zu einer stetig stärker werden
Ensemble-Verschwörung und der intensiven Ausprägung eines Wir-Gefühls. Auf der
Hinterbühne kann offen über den Gebrauch der Requisite gesprochen werden, dessen
Gebrauch den Darsteller erst zum vollwertigen Ensemble-Mitglied macht, während auf der
Vorderbühne alle Darsteller bemüht sein sollen, die Existenz des Dopings zu verneinen. Mit
der zunehmenden Perfektionierung des Requisiten-Gebrauchs gewinnt auch das Schauspiel
mehr und mehr an Dramatik. Da gerade die EPO-Substanz einen deutlichen Zuwachs an
schauspielerischer Darstellungskraft liefert, wächst auch das Misstrauen unter den
Darstellern, weil jeder die mit Prestige und hohen Gagen entlohnte Hauptrolle des Stücks
spielen möchte. Als die zunehmende Gesundheitsgefährdung durch den
konkurrenzbedingten, übermäßigen EPO-Konsum zu Tage tritt, reagiert der Intendant mit
Kontrollmaßnahmen auf der Hinterbühne, um schlagzeilenträchtige Unfälle auf der
Vorderbühne zu vermeiden. Wenn es trotzdem einmal zur Erregung öffentlicher
Aufmerksamkeit kommt, weil ein Darsteller aus der zweiten Reihe zum Denzianten
geworden ist, erfordert es eine strikte Sanktionierungsreaktion von allen
Ensemblemitgliedern auf und hinter der Bühne, um den labilen status quo aus
widersprüchlichen Erwartungen im Gleichgewicht zu halten. Das gilt um so stärker in einer
Aufschwungphase des Theaters, die für alle Beteiligten einen Zuwachs an Salär,
Aufmerksamkeit, Macht und Rollenstatus bedeutet. Die Schattenseite dieser exponierteren
67
gesellschaftlichen Stellung stellt sich allerdings in Form einer größeren Angriffsfläche dar, die
auf politischer Ebene ebenfalls aus Gründen der Aufmerksamkeiterzeugung, Profilbildung
und Machtvermehrung genutzt werden kann. Ein kleines, unbedeutendes Theater würde
sich weniger gut dafür eignen, zumal die Tour automatisch große mediale Resonanz
verschafft. So bereitet Sportministerin Buffet ihren »Coup« gewissenhaft vor und schreitet
zur Tat, als das mediale Interesse mit Beginn des Theaterstücks am höchsten ist. Als politisch
links orientiert kann sie sicher sein, mit dieser Maßnahme gegen einen komplementär
ausgerichteten »Gegner«, in ihrem eigenen Lager zu punkten. In der Folge wird die bisherige
Rahmung des Diskurses ab dem Moment der Verhaftung Voets durch die neue Rolle der
Staatsgewalt auf der Bühne mit zunehmender Intensität von einem Kriminalitäts-Schema
überlagert.
Während die Theaterzeitung L’Équipe noch mit Hilfe von scheibchenweiser Einräumung der
Geschehnisse versucht, zu deeskalieren, besitzt das Tour-Theater mittlerweile einen
Stellenwert und das Dopingthema in Verbindung mit dem neuartigen Kriminalitäts-Schema
ein Konfliktpotential, das hohe mediale Resonanz hervorruft. Das Diskurs-Schema der
Geheimhaltung kann gegen die Staatsgewalt nur kurz bestehen und fordert im Sinne der
Wahrung des »sauberen«Eindrucks eine Reinigung der Tour durch ein Entfernen des Festina-
Teams aus der Besetzungsliste. Um wirklich sicher zu gehen, dass die Öffentlichkeit versteht,
was sie mitteilen will, greift die Regie in Form von Leblanc zum ersten Mal auf die Ethik als
offensives, symbolisches Erklärungsmuster zurück. Die drastische, überwiegend negativ
konnotierte Berichterstattung auf der zweiten, medialen Wahrnehmungsebene führt dazu,
dass Leblanc stärker als jemals zuvor in das Skript des Stücks auf der ersten Ebene eingreifen
muss, um seinen Handlungswillen im Sinne des Eindrucksmanagements zu bezeugen. So übt
er Druck auf Virenque als einen seiner Hauptdarsteller aus, damit dieser die Tour verlässt,
obwohl sportrechtlich und damit in den Statuten des Drehbuchs nichts gegen ihn vorliegt.
Tags darauf versucht Leblanc mit Hilfe seines Clacquers in Form der L’Équipe, die
Geschehnisse für beendet zu erklären, um damit in das alte Diskurs-Schema der
Geheimhaltung überzuwechseln. Der Großteil der Medien hat sich allerdings bereits auf den
Kriminalitäts-Rahmen festgelegt, der durch weitere Festnahmen und Razzien immer wieder
verstärkt und erneuert wird, so dass die weiteren Ereignisse in diesem Schema behandelt
werden und den eigentlichen Inhalt des Stückes überlagern. Da dieses Schema Anklang bei
68
den Zuschauern findet, verstärken die Medien den Kriminalitäts-Fokus noch zusätzlich,
indem sie sich wie im Falle des französischen Senders Antenne 2 als Kontrolleure darstellen.
So versuchen die Medien auch durch immer stärker werdenden Selbstbezug, auf der zweiten
Ebene selbst die Rolle des Regisseurs zu übernehmen. Die Darsteller reagieren, da sie sich als
Bauernopfer der widersprüchlichen Anforderungen begreifen und gleichzeitig aber aufgrund
der umso stärker von Leblanc propagierten Geheimhaltung keine Möglichkeit auf eine
Äußerung dieser Widersprüche besitzen, mit Protest. Im Dopingdiskurs sind sie zur
Sprachlosigkeit gezwungen, während auf ihrem Rücken politische und mediale
Rahmungswettbewerbe ausgetragen werden, dessen Folgen sie ebenfalls zu tragen haben.
Eine Perspektive, die sich bis zu diesem Zeitpunkt auch noch auf der zweiten Ebene finden
lässt, wie sich bei der FAZ und im Spiegel zeigt.
Das Publikum hat im Laufe der Affäre nicht nur einen umfassenden Einblick auf die
Hinterbühne der Tour de France, sondern - laut dem medialen Tenor - auch hinter den
Vorhang des gesamten Spitensports erhalten. Dem Publikum kann deutlich werden, was sich
hinter der jahrzehntelang aufgebauten Fassade verbirgt: Doping ist die Regel statt die
Ausnahme. Es herrscht daher kein Unrechtsbewusstsein bei den Sportlern und es handelt
sich bei der Rolle der Sportverbände entgegen ihres Eindrucksmanagements um die eines
Clacqueurs und nicht eines Kontrolleurs. Dementsprechend fühlen sich die Akteure, die ihre
berufliche Beschäftigung dem Spitzensport verdanken, aufgefordert, den - wie sie
befürchten - nachteiligen Eindruck des Publikums gegenüber dem Spitzensport zu
korrigieren. Umfangreiche Bemühungen mit semantisch unzweifelhaften Begriffen wie
»Gesundheitspass«, die internationale Institutionalisierung der Anti-Doping-Bemühungen in
Form der WADA, Gesetzes-Verschärfungen, die »Tour der Erneuerung«, eine »Ethik-Charta«
der Teams und besonders die Verbannung des Wortes »soigneur« veranschaulichen den
symbolischen Handlungswillen. Mit den widersprüchlichen Anforderungen gegenüber an die
Sportlern, die auf der einen Seite nur für Leistung entlohnt werden, auf der anderen Seite
dabei allerdings auch noch moralischer als ihr institutionelles Umfeld handeln müssen, wird
sich dagegen nicht auseinandergesetzt. So wächst auch das gegenseitige Misstrauen unter
den Fahrern, da jede weitere Enthüllung weitere negative Konsequenzen für die Fahrer nach
sich zieht. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang das Mobbing gegen Christoph Basson,
dessen Kritik nicht einmal gegen andere Fahrer, sondern gegen die symbolische Anti-Doping-
69
Politik der Regie gerichtet war. Die Zurechtweisung Bassons durch Leblanc soll den Darsteller
an seine Rolle erinnern: »Radfahren, einen sauberen Eindruck dabei vermitteln und dabei
den Mund halten«. Aus Sicht von Leblanc war sein Krisenmanagement allerdings erfolgreich.
Das Publikum hat sich nicht von seinem Stück abgewandt. Im Gegenteil. Es lässt sich
vielmehr deuten, dass durch die erhebliche Medienpräsenz, wie im Fall Festina, ein
zusätzliches Interesse generiert werden konnte und in diesem Zusammenhang auch von
zwei Publikumsebenen gesprochen werden kann. Auf der ersten Wahrnehmungsebene am
Streckenrand befinden sich die Fans, denen es wie im Falle Virenque relativ egal ist, ob ihr
Held dopt oder nicht, weil sie wissen, dass es nicht ohne Doping geht. Oder sie verwehren
sich standhaft dem Eindruck, dass Doping Teil des Radsports ist, indem Sie sich mit Hilfe der
symbolischen Anti-Doping-Politik, tränenreichen Geständnissen und jedem negativen Test
wieder bereitwillig beruhigen lassen. Sie sind das eigentliche Publikumsensemble im
Goffmanschen Sinne. Die zweite, mediale Wahrnehmungsebene hingegen besteht einerseits
aus dem Publikumsensemble, dass es in diesem Falle vorzieht, das Stück vor dem Fernseher
zu verfolgen und andererseits aus den Außenseitern. Dieses nicht-sport interessierte
Publikum zeigt kein direktes Interesse an der Handlung des Stückes, sondern erfreut sich an
realer live-Action mit Sondersendungen, Lügen, Blutwäschern und Razzien im Rahmen des
Kriminalitäts-Schemas. Insofern bot das Stück namens Tour de France im Jahre 1998 alles,
was der Zuschauer sehen wollte. Noch erfolgreicher scheint nur noch ein Phänomen zu sein,
das sich in den folgenden Jahren im Tourverlauf andeuten soll, aber erst in dem Moment
auffällig wird, wenn es wieder vorbei ist. Eine Nation und ihr Held. Deutschland und Jan
Ullrich.
3.5 Rahmung IV: Moralische Verdammung
„Wenn ich in der Öffentlichkeit gefragt wurde, ob ich gedopt habe, habe ich natürlich immer nein gesagt. Das gehört zu meinem Job“
14.
Patrik Sinkewitz, Radrennfahrer
3.5.1 Das Karriereende von Jan Ullrich
14 (zitiert nach Hacke & Ludwig, 2007/45, S. 216).
70
Die Jahre von 1999 bis 2006 stehen im Zeichen eines Duells, zwischen Jan Ullrich und Lance
Armstrong. Ullrich ist wertvoll für die Medien und Sponsoren. Als der Spiegel 1999 auf sechs
Seiten über angebliches Doping beim Team Telekom berichtet, bestreitet das Unternehmen
die Vorwürfe vor Gericht und droht mit einem Anzeigenboykott (vgl. Salden, 23.05.2007).
Ullrich und sein Team verschaffen der Telekom einen Werbewert von 200 Millionen Euro pro
Jahr (vgl. Schüle, 2003/24). Der betreffende Spiegel-Journalist wird von einigen seiner
Kollegen daraufhin ignoriert, während er von anderen Zuspruch erfährt: „Ihr habt natürlich
alles richtig geschrieben, das wissen wir seit langem, wir haben uns nur nicht getraut, es zu
schreiben“ (zitiert nach Salden, 23.05.2007). Negative Dopingtests werden positiv bewertet
und gelten als Legitimation dafür, dass die Anti-Doping-Maßnahmen greifen. Darüber hinaus
wird das Doping als nicht zum Sport zugehörig erklärt, wie der Kommentar der ARD-
Moderatorin Monica Lierhaus veranschaulicht: „Es wird zumindest etwas getan und das ist
die gute Nachricht dabei. Es sind schon weit über einhundert Fahrer getestet worden bei
dieser Tour. Jetzt aber zurück zum Sportlichen“ (in Sportschau live vom 13.07.2005 zitiert
nach Ihle, 2008, S. 112). Die deutschen Medien beginnen regelmäßig bereits im Winter
damit, anhand von Ullrichs Gewicht, seine Siegeschancen für die Tour zu prognostizieren
(vgl. Hacke, 2005/28, S. 134). Das „Jahrhunderttalent“ (Schüle, 2003/24, S. 24) belegt bis
2005 »nur« viermal den Zweiten und jeweils einmal den Dritten und Vierten Platz des
Gesamtclassements der Tour. „Sein Sieg war wie ein Versprechen, das er bis heute nicht
einlösen konnte“ (Hacke, 2005/28, S. 134). Mit Ullrichs Teilnahme und seinen Erfolgen bei
der Tour stehen und fallen die Einschaltquoten. Als er im Jahr 2002 wegen Knieproblemen
den Tourstart absagen muss, verfolgen knapp zwei Millionen Deutsche das Rennen und
sorgen für ein Marktanteil von 19,6 Prozent (ARD zitiert nach Föst & Kammann, 2007, S.
166). Im Juni befindet sich Ullrich in der Rehabilitation, nimmt eine Ecstasy Tablette, wird am
kommenden Tag positiv getestet und für sechs Monate gesperrt (vgl. Föst & Kammann,
2007, S. 165). Millionenschwere Sponsorenverluste und eine Vertragsauflösung beim Team
Telekom sind die Folge (vgl. ebd.). Ullrich empfindet die nachfolgende Berichterstattung als
fair. „Man hat halt ein paar Tage darauf rumgetreten, dann war es gut. Dann haben sie
geschrieben, wie es letztlich ja auch war, dass das nichts mit Sportbetrug zu tun hatte“
(zitiert nach Schüle, 2003/24, S. 24). In der kommenden Saison startet Ullrich im Team
Bianchi bei der Tour und die Marktanteile steigen auf 28,5 im Schnitt und 50 Prozent in der
71
Spitze (vgl. ebd.). Mit neun Millionen Zuschauern am Nachmittag erreichen die öffentlich-
rechtlichen Sender Rekordquoten (vgl. Hacke D. , 2005/28, S. 136).
„Mehr als 120 Stunden Sendezeit, täglich ab 14 Uhr, Live-Übertragung,
Nachbetrachtung, Analyse, Statistik, TourRetour, TourKultur, TourPorträt,
TourEnbloc, Sportschau, Nachrichtensendungen, Interviews, Pressekonferenzen,
Sondersendungen. Die Programmdirektoren haben die Programme leer gefegt für die
Tour. Spektakuläre Spezialkameras! Hubschrauberaufnahmen! Verbesserter Ton!
(Schüle, 2003/24, S. 24)
Als im Jahr 2004 beim Bergzeitfahren nach Alpe d`Huez eine Entscheidung im Duell zwischen
Armstrong und Ullrich ansteht, befindet auch die SZ: „Der Mythos lebt“ (o.V., 20.07.2004, S.
20), während der »Spiegel« prognostiziert, dass der Aufstiegsrekord von Marco Pantani aus
dem Jahr 1997 gebrochen werden könnte (vgl. Hacke D. , 2004/30, S. 151). Das Doping wird
im Zusammenhang mit der Tour de France nur vereinzelt diskutiert, selbst wenn, wie im
Falle des Spaniers Jesus Manzano, ein Fahrer über systematisches Eigenblut-Doping bei
seinem Kelme Team berichtet (vgl. Forst, 09.06.2008). Der öffentliche Aufschrei bleibt aus,
obwohl Doping noch immer im großen Umfang praktiziert wird. Das von der UCI mit der
Durchführung des Blutpasses beauftragte Antidoping-Labor in Lausanne untersucht die
Blutwerte der Fahrer vor allen größeren Rundfahrten, um im Zweifelsfall die Schutzsperre
aussprechen zu können (vgl. Geisser, 05.08.2007, S.26). Eine neuartige Prävalenz-Methode
erlaubt eine exakte Bestimmung von Blutmanipulation, sei es durch EPO-Doping, Eigen- oder
Fremdblut-Transfusion, die allerdings nach UCI keinen sportrechtlichen Charakter besitzen
soll (vgl. ebd.). Demnach sinkt der Anteil der Fahrer, die EPO verwenden von 80 Prozent im
Jahr 1996 geringfügig, bis er 1999 nach der Festina-Affäre bis 2000 in ähnliche Dimensionen
steigt. Als 2001 die erste reliable Nachweismethode für EPO-Doping angewendet wird (vgl.
Lenze, 2006, S. 17), ist das Peloton vor der Tour de France „praktisch sauber“ (Geisser,
05.08.2007, S.26). Erst gegen Ende des Rennens zeige sich wieder eine Zunahme, da es um
den Sieg gehe und die Fahrer zudem die Grenzen des Tests erkannt hätten (vgl. ebd). 2002
steigen die Prävalenz-Zahlen im Feld erneut bis 2003 flächendeckend gedopt wird, da EPO in
sehr geringen Dosen und Fremdbluttransfusionen nicht nachgewiesen werden können (ebd).
Der erste Test für Fremdblut-Transfusionen wird Anfang 2005 eingeführt und überführt zwei
Fahrer. Bei 50 Prozent der Fahrer lässt sich Eigenblutdoping nachweisen (ebd.). Diese
72
Doping-Methode sorgt für die nächste, aufmerksamkeitserregende Affäre bei der Tour de
France.
Bei der sogenannten »Operación Puerto« führt die Fahndung der spanischen Polizei am 23.
Mai 2005 zur Aushebung eines Dopinglabors, welches durch den spanischen Sportarzt
Eufemiano Fuentes betrieben wird. Im Kühlschrank finden sich über 100 präparierte
Blutkonserven, die im Laufe der Ermittlungen überwiegend Radfahrern zugeordnet werden
können. Das Ausmaß des Skandals steht für die SZ schnell fest: „Schlimmer als 1998“
(Cáceres, 26.05.2006, S. 23). Wenige Tage vor Beginn der Tour de France wird der
Ermittlungsbericht der spanischen Behörden veröffentlicht. Daraufhin werden 21 zur
Frankreichrundfahrt nominierte Fahrer durch die Tourleitung oder ihre Teams suspendiert,
darunter auch die Favoriten auf das Gesamtclassement Ivan Basso und Jan Ullrich (vgl.
Mustroph, 2007, S. 134-137). Ullrich, seit 2004 wieder bei der Telekom, steht damit nach
seiner Entlassung aus dem Team vor dem Karriereende und gehöre laut Spiegel und der
nachfolgenden medialen Debatte auf den „Scheiterhaufen“ (Hacke D. , 2006/27, S. 150).
„Ullrich hat uns belogen. Uns, die wir ihm Millionen zahlen, und die ganze Welt“ (ebd.).
Obwohl die spanische Justiz per DNA-Analyse sein Blut in der Praxis von Fuentes identifiziert,
leugnet Ullrich gedopt zu haben. Der Ausfall der Favoriten hat erhebliche Auswirkungen auf
die Einschaltquoten. Statt 3,38 Millionen sehen nur noch 1,48 Millionen Zuschauern den
Prolog der Tour de France. Obwohl sich die Quoten im Laufe der Tour erhöhen, lässt sich im
Schnitt ein Absinken um 1,1 Millionen auf nun 1,81 Millionen Zuschauer feststellen (vgl.
Weis, 03.08.2006). Im Februar 2007 richtet der WDR eine Doping-Fachredaktion ein. Der
Intendant des Senders, Fritz Pleitgen, erklärt, dass man die Sportberichterstattung wegen
Doping-Verdachts nicht einstellen könne, „aber wir müssen dazu beitragen, diese Seuche
einzudämmen“ (o.V., 17.01.2007). In künftigen Lizenzverträgen bei Sportübertragungen solle
es eine so genannte Doping-Klausel geben. Diese sieht vor, dass ein Verband, dessen
Sportler gegen die Dopingregeln der nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA) verstoßen, mit
Sanktionen rechnen muss (vgl. ebd.).
Bewirkt durch den neuerlichen Skandal sinkt die Zahl der Dopingnutzer im Fahrerfeld auf
den Stand von 2001 (vgl. Geisser, 05.08.2007, S.26). Der Öffentlichkeit vermittelt sich
allerdings ein umgekehrtes Bild, da sie nun wieder erheblich stärker mit Doping im Radsport
konfrontiert wird. Der Gewinner der Tour, Floyd Landis, wird nachträglich des Dopings
73
überführt, bevor am 30. April 2007 ein Vorabdruck eines Enthüllungsbuches des ehemaligen
Telekom-Betreuers Jeff D`hont eine Geständniswelle im deutschen Radsport auslöst (vgl.
Weber, 2007/7, S. 68). Im Spiegel belastet der Belgier Fahrer, Mediziner und die damaligen
Team-Verantwortlichen. Doping sei bis 1996 die Regel im Team gewesen. Im Radsport gelte
das Gesetz der Omertá: „Man muss schweigen, oder das System bricht zusammen, und die
Sponsoren springen ab“ (zitiert nach Geyer, Gorris, & Ludwig, 2007/18, S. 54). Alle wüssten
vom Doping, nur die Öffentlichkeit habe man stets für dumm verkauft (vgl. ebd.). Im Tages-
und Wochenrhythmus folgen nun Doping-Bekenntnisse der ehemaligen Telekom-Fahrer Bert
Dietz, Christian Henn, Udo Bölts, Erik Zabel, Rolf Aldag und Bjarne Riis. Ein weiterer
Blutbeutel aus der »Operación Puerto« kann dem deutschen Rennfahrer Jörg Jaksche
zugeordnet werden. Sein damaliger Teamchef, Manolo Saiz, wird im Zuge der Ermittlungen
als einer der Hauptakteure in dem Skandal identifiziert, woraufhin Jaksche, der aus
gesundheitlichen Gründen nicht an der Tour 2006 teilnehmen kann, seinen Arbeitsplatz
verliert. Auch Jaksche leugnet anfangs mit Fuentes in Kontakt getreten zu sein, verkauft aber
schließlich Informationen über seine Doping-Vergangenheit in einem exklusiv-Interview am
2. Juli an den Spiegel für 25.000 Euro (o.V., 2007/8, S. 24), nachdem er keinen Ausweg mehr
für seine Karriere gesehen habe (vgl. Schlickmann & Psotta, 2007/27, S. 50). Auf insgesamt
14 Seiten gibt Jaksche ein umfassendes Geständnis seiner Doping-Vergangenheit zu
Protokoll und berichtet dabei auch über die Omertá als das Gesetz des Schweigens. „Wäre
der Radsport eine Mafia, würden sie sagen: Halt ein Jahr lang deine Klappe, und danach
stellen wir dich zu guten Konditionen wieder ein. Aber der Radsport ist nicht mafiös, der
Radsport ist skrupellos“ (zitiert nach Gorris, Hacke, & Ludwig, 2007/27, S. 71). Für den
Spiegel wird das Geständnis zum Erfolg. Diese Ausgabe gehört zu den bestverkauften des
Jahres (vgl. Sundermeyer, 2007/10, S. 14).
Bei der Tour de France 2007 greifen weniger als 25 Prozent aller Teilnehmer auf
manipuliertes Blut zurück, allerdings ist „unter den ersten 30 des Gesamtklassements […] die
Prävalenz höher als in den hinteren Rängen“ (Geisser, 05.08.2007, S. 23). Aufgrund der
Enthüllungen der letzten Monate zeigt sich bei der Einschätzung der Öffentlichkeit ein
gegenteiliges Bild. Eine ZDF-Umfrage ergibt, dass 89 Prozent der deutschen Zuschauer vor
Beginn der Tour Doping für die Regel im Radsport halten (vgl. Dobbert, 29.07.2007). So sieht
sich auch die UCI unter Zugzwang und verlangt im Vorfeld des Rennens die Unterzeichnung
74
einer Ehrenerklärung von allen Fahrern, Ärzten und Teammanagern, welche die
Verpflichtung auf eine dopingfreien Ausübung der Sportart beinhaltet. Ohne Unterschrift
wird den Mannschaften keine Starterlaubnis erteilt.
"Ich erkläre auf meine Ehre vor meiner Mannschaft, meinen Kollegen, der UCI, der
Radsportfamilie und dem Publikum, dass ich weder in die Puerto-Affäre noch in
irgendeine andere Dopinggeschichte verwickelt bin, und dass ich keinen Verstoß
gegen das Antidopingreglement der UCI begehen werde. Ich will meine Verpflichtung
damit unter Beweis stellen, dass ich zusätzlich zu den Sanktionen des Reglements
einen Beitrag an die Dopingbekämpfung in der Höhe meines Jahreslohns für 2007
leisten werde für den Fall, dass ich das Reglement verletzt haben sollte und zur
Standardsanktion der zweijährigen oder zu einer längeren Suspendierung verurteilt
werde […]“ (o.V., 19.07.2007).
Alle 21 teilnehmenden Teams unterschreiben die Erklärung. Vielsagend ist dabei der letzte
Absatz des Dokuments, in der die Bereitschaft dazu eingefordert wird, sich dem Willen der
UCI anzuschließen, die Erklärung publik zu machen (vgl. ebd.). Dieser Satz verdeutlicht die
angestrebte Öffentlichkeitswirksamkeit der Aktion. Es soll Transparenz und
Nachvollziehbarkeit demonstriert werden, um das verunsicherte Publikum zu beruhigen. Der
deutsche Astana-Fahrer Andreas Klöden willigt unter Protest ein: "Ich fühle mich erpresst,
finde das sittenwidrig und menschenunwürdig“ (Dobbert, 29.07.2007).
Die massenmediale Umgehensweise mit der Dopingthematik zeigt sich uneinheitlich. Auf der
einen Seite werden gegenüber den Anti-Doping-Maßnahmen erhebliche Zweifel geäußert.
Die taz zitiert dazu die ehemalige Präsidentin des DRV, Sylvia Schenck: „Erstens wird kaum
einer erwischt. Und zweitens ist diese Erklärung rechtlich völlig irrelevant. Das ist reine
Augenwischerei“ (Völker, 07.07.2007, S. 14). So sieht es auch die SZ. Damit das System
Leistungssport nicht in die Luft fliege, suggeriere man hartes Durchgreifen, welches nur zur
weiteren Verhüllung des Problems beitrage: „Keine Kronzeugenregelung für geständige
Sünder, dazu saftige Geldstrafen. Das schützt nicht den Radsport vorm Dopen, wohl aber das
System vor beichtwilligen Athleten“ (Kistner, 19.07.2007, S. 20). In Bezug auf die
Berichterstattung entschließt sich die Berliner Zeitung zu einer neuartigen Vorgehensweise.
Als Teil der „Verwertungskette der Tour“ (Weinreich, 07./08.07.2007, S. 18) soll an Stelle
einer Nichtachtung, nur in kritischer Form über die Geschehnisse berichtet werden. „Es wird
75
immer noch […] verheimlicht und bestritten. Wer in Gelb fährt, ist völlig unerheblich“ (ebd.).
Statt Etappenberichten erscheint in der Folge eine dopingzentrierte Berichterstattung. Im
Laufe der Tour de France entfallen mit 42 Artikeln 17,9 Prozent des Sportteils auf das
Rennen, von denen sich 98,1 Prozent mit der Doping-Problematik auseinandersetzen
(Eberle, 2008, S. 62). Die FAZ berichtet im Vergleich dazu umfassender und neutraler. 31,3
Prozent der gesamten Sportberichterstattung entfallen über die Tour und davon wiederum
86,7 Prozent auf Dopinginhalte. Zu Beginn der Tour erscheint ein Appel an den Zuschauer, da
unter anderem die unangemeldeten Kontrollen im Vorfeld der Tour verfünffacht seien:
„Sehen Sie selbst Skandale wie den Ausschluss von Ullrich und Basso […] nicht mehr als Teil
der Krankheit, sondern schon der Therapie. Geben Sie ihm [dem Radprofi] noch eine
Chance“ (Eichler, 08.07.2007, S. 17). Gegenteilig wird die Thematik von der »Sport Bild« im
Rahmen einer Kriminalitätsberichterstattung behandelt. Die deutschen Fahrer sollen sich
dabei einem Lügendetektortest unterziehen (vgl. Psotta & Schlickmann, 2007/28, S. 48).
Darüber hinaus kontrolliert ein Reporter des Magazins ein französisches Hotelzimmer der
Astana-Mannschaft um den deutschen Tour-Favoriten und Vorjahreszweiten Andreas Klöden
und findet neben Tablettenpackungen von erlaubten Schmerzmitteln, „kreisrunde
Blutlachen“ (Psotta, 2007/29, S. 53) auf dem Laken.
Der Fernsehsender Eurosport räumt dem Dopingkomplex im Rahmen seiner Live-
Übertragung einen untergeordneten Stellenwert ein. Der Sprecher des Sportsenders,
Werner Starz, erklärt: „Selbstverständlich steht das Thema Doping bei uns auf dem
Notizzettel. Aber unsere erste Rolle ist nun mal die des Berichterstatters über den Sport“
(Pohlmann & Sagatz, 18.07.2007). Eine Einschätzung, die in dieser Zeit den Geschmack des
Publikums trifft. Eurosport kann seine Quoten im Vergleich zum Vorjahr im Durchschnitt von
114.000 auf 327.000 Zuschauer mehr als verdreifachen (vgl. ebd.). Der Sportsender kann vor
allem zulegen, weil die Zuschauer von den Öffentlich-Rechtlichen flüchten. Nachdem die
Sender im Vorfeld der Tour bereits in Richtung der Veranstalter gedroht haben, die
Übertragungen einzustellen, "wenn das Thema Doping noch mal hochkommt“ (ARD-
Chefredakteur Thomas Baumann zitiert nach o.V., 05.07.2007), haben sich die Anstalten für
eine dopingzentrierte Berichterstattung enschieden. „Wir haben der Doping-Diskussion im
Vorlauf viel Platz eingeräumt. Mit diesem Thema treffen wir nicht den Geschmack vieler
Leute“, (o.V., 10.07.2007) erklärt ARD/ZDF-Programmchef Peter Kaadtmann. Die
76
Zuschauerredaktion des mit Übetragung der Tour betrauten Saarländischen Rundfunks
werde von Beschwerden wegen der "übertriebenen Doping-Erwähnung bombardiert“ (o.V.,
09.07.2007). So halbieren sich beim ZDF mit 820 000 Zuschauern bei der ersten Etappe im
Vergleich zum Vorjahr mit 1,65 Millionen bei der ARD die Zuschauerzahlen. Die Quote
verbessert sich jedoch sprungartig auf vier Millionen Zuschauer und einem Marktanteil von
30 Prozent, als der deutsche Telekom-Fahrer Linus Gerdemann auf der siebten Etappe das
gelbe Trikot erringt (vgl. Pohlmann & Sagatz, 18.07.2007). Gerdemann erklärt: „Ich will mit
meiner Mannschaft für den neuen Radsport stehen“ (Dobbert, 29.07.2007). Die taz
kommentiert sarkastisch, aber angesichts des nachfolgenden, überwiegend euphorischen
medialen Echos zutreffend:
„Ein neue Epoche des Radsports wurde eingeläutet, die mit dem 24-jährigen,
blitzsauberen Linus Gerdemann vom selbst ernannten Anti-Doping-Rennstall T-
Mobile ein bis über beide Ohren grinsendes neues Gesicht hat. Da fährt ein deutscher
Nobody das Rennen seines Lebens und - schwupp - gewinnt der Radsport seine
Glaubwürdigkeit zurück“ (Rüttenhauer, 18.07.2007).
Eine Glaubwürdigkeit, die bereits vier Tage später mit umso größerer Heftigkeit medial in
Frage gestellt wird.
3.5.2 2007 - Patrik Sinkewitz als medialer Doping-GAU
Am 18. Juli 2007 informiert der BDR den T-Mobile-Teammanager Bob Stapleton per E-Mail
über eine positive Dopingkontrolle des deutschen Fahrer Patrick Sinkewitz vom 8. Juni (vgl.
Friebe, 2007/9). Der 26 jährige prallte zwei Tage zuvor mit einem Zuschauer zusammen und
äußert sich zu den Vorwürfen aus einem Hamburger Krankenhaus: „Ich?
Wieso ich? Davon weiß ich nichts. Das kann nicht sein“ (Richter & Zellmer, 18.07.2007).
Stapleton zeigt sich entsetzt, führt aber an, dass der Kampf gegen Doping Erfolg zeige. Drei
Stunden später verkünden die öffentlich-rechtlichen Sender einen sofortigen Tour-
Übertragungssausstieg in Fernsehen, Radio und Internet, bis der Fall aufgeklärt sei. ARD-
Tour Teamchef Roman Bonnaire erklärt als Hintergrund, dass es sich bei Sinkewitz um einen
„spektakulären Fall“ (o.V., 18.07.2007) handele, der für den deutschen Radsport zum
77
Hoffnungsträger hätte werden können (vgl. ebd.). ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender
fordert die Organisatoren zum Handeln auf: „Wir wollen einen sauberen Sport" (ebd.).
Das mediale Echo auf die Entscheidung der Anstalten ist beträchtlich und europaweit. Der
Ausstieg wird auf den Titelseiten behandelt, da es ein Novum in der Tourgeschichte darstellt.
Die L’Équipe zitiert ausschließlich kritische Kommentare von Verantwortlichen und Fahrern
und titelt: „Schwarzer Bildschirm in Deutschland“ (o.V., 20.07.2007). Der Radprofi Jens Voigt
fühle sich in die DDR zurückversetzt: „Zwei Leute entscheiden gegen den Willen des Volkes,
schließlich haben sich zwei Drittel der Fernsehzuschauer gegen den Ausstieg ausgesprochen“
(o.V., 19.07.2007). Die Schweizer NZZ hingegen begrüßt die Entscheidung: „Nur das
Fernsehen hat die Macht, den Druck auf die heuchlerische Radszene so stark zu erhöhen,
dass auch ein Selbstreinigungsprozess einsetzt“ (o.V., 19.07.2007). Der holländische De
Telegraf spricht von einer Positionierung der Sender als Gewissen des Radsports, fragen
aber, ob dies Aufgabe von Berichterstattern sei (vgl. ebd). La Repubblica fragt nach den
Konsequenzen für andere Sportarten und den Olympischen Spielen, während der englische
Daily Telegraph die Kritik des Rennveranstalters ASO behandelt, dessen zweitgrößte
Einnahmequelle der Erlös aus den deutschen Fernsehrechten sei (vgl. o.V., 19.07.2009).
ASO-Chef Patrice Clerc erklärt: „Man kann nicht von uns fordern, alles zu tun, die Betrüger zu
erwischen und uns dann dafür zu bestrafen, wenn wir es schaffen“ (Burkert, 20.07.2007, S.
27). Dementsprechend uneinheitlich erfolgt die Bewertung der SZ: „Der Umgang des
öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit dem Thema ist schizophren und folgerichtig zugleich“
(Leyendecker, 18.07.2007). Was Patrick Sinkewitz und seinen Rennstall angeht, herrscht
hingegen Einigkeit. Der Kommentar der Berliner Zeitung wird vom Großteil der
Presselandschaft geteilt: „Der Dopingfall Sinkewitz ist der größtmögliche Unfall für das Team
T-Mobile“ (Schwager, 19.07.2007, S. 16). Dementsprechend lautet auch das Fazit des
Spiegels. „Der goldene Schuss“ eines „Junkies“ (Gorris & Hacke, 2007/30, S. 109) habe das
Fass nach den Dopingenthüllungen der letzten Monate zum Überlaufen gebracht und damit
den Sport seine Unschuld verlieren lassen: „Sport ist kein Sport, Sport ist keine Unterhaltung
mehr, Sport ist Wirtschaftkriminalität, Sport ist Medikamentenmissbrauch, Sport ist Betrug,
Sport ist Mediendiskurs, Sport ist Symbolpolitik“ (ebd.). 24 Stunden nach dem Sendestopp
sichert sich die Pro-Sieben-Sat-1-Sendegruppe die Übertragungsrechte an der Tour de
France, was für die SZ den Unterschied zwischen gebührenfinanziertem und kommerziellem
78
Fernsehen verdeutliche: „So ist die Moral“ (Leyendecker & Keil, 20.07.2007, S. 15). Auf
politischer Ebene wird die Kritik geteilt. SPD, CDU, Linksfraktion und die Grünen verurteilen
die Berichterstattung des Senders. Winfried Hermann von den Grünen erklärt:
„Ich halte die Entscheidung für einen Skandal. Man kann auch von den privaten
Sendern erwarten, dass sie ethische Maßstäbe bei ihrer Programmauswahl ansetzen
und nicht nur auf den schnellen Profit achten" (zitiert nach o.V., 19.07.2007).
Im Vergleich zu den öffentlich-rechtlichen Sendern wird Doping bei SAT.1 wenig thematisiert
(vgl. Dobbert, 29.07.2007). Eine Halbierung der üblichen Einschaltquoten auf 500 000
Zuschauer machen aus dem Experiment zusammen mit einer notwendigen Halbierung der
Werbepreise ein "wirtschaftliches Desaster" (Riedner, 25.07.2007). Kurz darauf folgen
weitere spektakuläre Dopingfälle, die im Rahmen des aufgeheizten Dopingdiskurses im
Zusammenhang mit der Sinkewitz-Affäre betrachtet werden können. Zwei Fahrer werden
von der Tour aufgrund unerlaubter Praktiken ausgeschlossen und in beiden Fällen spielen
die Massenmedien dabei eine Schlüsselrolle.
Am 21. Juli beobachtet ein deutsches Kamerateam Indizien für eine Blutransfusion beim
kasachischen Fahrer Alexandre Winokourow und melden dies bei der französischen Polizei.
Im Ziel muss Winokourow daraufhin zu einer überaschenden Blutprobe, die sich nach drei
Tagen als positiv herausstellt. „Ich kann es nicht glauben, dass ich positiv getestet wurde. Ich
bin das Opfer einer neuen Provokation“ (Friebe, 2007/9, S. 60). Als Reaktion darauf tritt die
»Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport« (MPCC), ein Zusammenschluss von acht
Tour-Teams, darunter Gerolsteiner und T-Mobile, am 25. Juli öffentlich in Aktion und
versucht, einen Fahrerstreik vor Beginn der Etappe durchzusetzen, der durch die übrigen
Fahrer nach kurzer Zeit aufgelöst wird. Am selben Tag muss der derzeitige Träger des gelben
Trikots, Michael Rasmussen, aufgrund von Falschaussagen über seine Trainings-
Aufenthaltsorte die Tour verlassen. Nachdem der Verstoß gegen die Dopingregularien seit
Tagen bekannt war, aber weder UCI noch der Tour-Veranstalter trotz entsprechender
Bestimmungen darauf reagieren, führt ein Interview des dänischen Fernsehens mit dem
italienischen Kommentator Davide Cassani, der Rasmussen entgegen dessen Angaben „am
13. oder 14. Juni“ (zitiert nach Friebe, 2007/9, S. 64) in Italien gesehen haben will, zur
Suspendierung des Dänen auf Drängen des Teamsponsors Rabobank (vgl. ebd.). Rasmussen
79
ist entsetzt: „Ich war überhaupt nicht in Italien. […] es gibt nicht den geringsten Beweis.
Meine Karriere ist ruiniert“ (ebd.).
Nachdem die Sinkewitz-Affäre zu 50 Prozent den Sportteil der FAZ und der Berliner Zeitung
bestimmte, erreichen die jüngsten Dopingentwicklungen den Spitzenwert von 100 Prozent
(vgl. Eberle, 2008, S. 29-30). Rufe nach einem Abbruch des Rennens werden auf den
Titelseiten laut. Die FAZ fordert „Absitzen“ (Hahn J. , 26.07.2007, S. 1), die »Bild-Zeitung« ein
„Ende der Spritz-Tour“ (Logisch & Dreher, 26.07.2007, S. 1). Die französischen Zeitungen
France Soir und Liberation verzichten in der Folge auf die Erwähnung des
Gesamtclassements und drucken Todesanzeigen: „Die Tour starb am 25. Juli, im Alter von
104 Jahren, an den Folgen einer langen Krankheit“ (Rogge, 27.07.2007). Die L’Équipe
beklagt, dass der Sieger auf dem Podium „uns nicht mehr träumen lässt“ (zitiert nach ebd.).
Tourdirektor Christian Prudhomme setzt das Rennen fort: „Wir haben die heilige Pflicht,
dieses französische Kulturgut zu retten“ (Logisch & Dreher, 27.07.2007, S. 10). Die SZ sieht
den Radsport in Deutschland im „totalen Niedergang“ (Rühle, 26.07.2007, S. 2) begriffen und
berichtet von Amateur-Radfahrern, die auf der Straße beschimpft würden (vgl. Ritzer,
26.07.2007, S. 2). Der professionellen „Radfahr-Mafia“ (Hoeltzenbein, 26.07.2007, S. 4)
könne hingegen nur mit Maßnahmen aus dem Waffen- oder Drogenhandel begegnet
werden (vgl. ebd). „Überall dort, wo viel Geld im Spiel ist, wird das Böse weiterhin wirken.
Aber es wäre fatal, den Kampf nicht zu führen“ (Hoeltzenbein, 26.07.2007, S. 4). Die taz
ironisiert den medialen Doping-Diskurs und druckt auf ihrer Titelseite Bilder ihrer
Redakteure: „Wir haben gedopt“ (Mika, 26.07.2007, S. 1). Dazu zitiert sie den Ex-ZDF-
Reporter Michael Palme, der die aktuelle Aufregung nicht nachvollziehen kann, da allen
Sport-Journalisten das Ausmaß des Dopings bei der Tour de France seit Jahren bekannt sei
(vgl. Hees, 26.07.2007, S. 12) und stellt demensprechend fest: „Doping ist Sport“
(Rüttenhauer, 26.07.2007, S. 3).
Am folgenden Tag fährt das Peloton die Etappe ohne gelbes Trikot, zwei Teams verlassen die
Tour und Alberto Contador, der ebenfalls in die Fuentes-Affäre verwickelt ist, wird neuer
Spitzenreiter. Nach Ansicht des Molekularbiologen Werner Franke gebe es einen Vertrag
zwischen der UCI und den spanischen Justizbehörden, Contador nachträglich aus der Akte
Puerto entfernen zu lassen und spricht in diesem Zusammenhang von dem „größten
Schwindel der Sportgeschichte“ (zitiert nach o.V., 31.07.2007). Sowohl die SZ (Burkert,
27.07.2007, S. 31), die Bild-
Berliner Zeitung (Schwager, 30.07.2009)
Gesamtclassements, dem Belgier Wim Vansevenant, das gelbe Trikot z
dieser »sauber« sein müsse. Die deutschen Medien befinden sich zwischen Zynismus,
Resignation und Hoffnung. Die FAZ
der Tour herbei: „Morgen ist der Spuk vorbei“
düstere Prognosen. Stephan Schröder vom Marktforschungsinstitut Sport + Markt geht
davon aus, dass 70 bis 80 Prozent der großen Radsport
stünden (vgl. Hungermann, 28.07.2007, S. 26)
Sehnsucht nach Anstand und Fairness“ offenbaren, „zeigt der Skandal, dass es diese Moral
gibt […]. Das macht die Tour 2007 am Ende fast zur Tour der Hoffnung“
S. 1). Diese Meinung teilt die Zeit
früher Kavalliersdelikte gewesen
Doping“ (Hürter, 02.08.2007).
des modernen Hochleistungssports verhandelt würden und auf der insofern auch e
wird, wie es um dessen Zukunft bestellt sei
3.5.3 Kommunikationskontrolle
Nachdem sich die Festina-Affäre nicht nachhaltig negativ auf das Image der Tour de France
ausgewirkt hat, zeigen sich nun schlechtere Werte bei der Einschätzung der Sportart von
deutschen Radsportinteressierten.
80
-Zeitung (Logisch & Dreher, 27.07.2007, S. 10)
(Schwager, 30.07.2009) plädieren dafür, de
dem Belgier Wim Vansevenant, das gelbe Trikot z
sein müsse. Die deutschen Medien befinden sich zwischen Zynismus,
. Die FAZ (o.V., 29.07.2009) sehnt ebenso wie die Welt das Ende
der Tour herbei: „Morgen ist der Spuk vorbei“ (Hungermann, 28.07.2007, S. 26)
düstere Prognosen. Stephan Schröder vom Marktforschungsinstitut Sport + Markt geht
us, dass 70 bis 80 Prozent der großen Radsport-Sponsoren vor dem Absprung
Hungermann, 28.07.2007, S. 26). Da die Dopingenthüllungen aber eine „tiefe
Sehnsucht nach Anstand und Fairness“ offenbaren, „zeigt der Skandal, dass es diese Moral
[…]. Das macht die Tour 2007 am Ende fast zur Tour der Hoffnung“ (Clauss, 28.07.2007,
. Diese Meinung teilt die Zeit: Da heute Fahrer für Vergehen aus dem Rennen flögen, die
gewesen seien, ist die Tour „ein Lehrstück für den Kampf gegen
. Für die taz wird die Tour zu einer Bühne, auf der die Probleme
des modernen Hochleistungssports verhandelt würden und auf der insofern auch e
wird, wie es um dessen Zukunft bestellt sei (Moll, 30.07.2007, S. 14).
3.5.3 Kommunikationskontrolle
Affäre nicht nachhaltig negativ auf das Image der Tour de France
ausgewirkt hat, zeigen sich nun schlechtere Werte bei der Einschätzung der Sportart von
interessierten.
Abbildung 1:
Imageverluste im Radsport
(Logisch & Dreher, 27.07.2007, S. 10), als auch die
dem letzten des
dem Belgier Wim Vansevenant, das gelbe Trikot zu überlassen, da
sein müsse. Die deutschen Medien befinden sich zwischen Zynismus,
sehnt ebenso wie die Welt das Ende
(Hungermann, 28.07.2007, S. 26) und bieten
düstere Prognosen. Stephan Schröder vom Marktforschungsinstitut Sport + Markt geht
Sponsoren vor dem Absprung
die Dopingenthüllungen aber eine „tiefe
Sehnsucht nach Anstand und Fairness“ offenbaren, „zeigt der Skandal, dass es diese Moral
(Clauss, 28.07.2007,
Da heute Fahrer für Vergehen aus dem Rennen flögen, die
seien, ist die Tour „ein Lehrstück für den Kampf gegen
Für die taz wird die Tour zu einer Bühne, auf der die Probleme
des modernen Hochleistungssports verhandelt würden und auf der insofern auch ersichtlich
Affäre nicht nachhaltig negativ auf das Image der Tour de France
ausgewirkt hat, zeigen sich nun schlechtere Werte bei der Einschätzung der Sportart von
Imageverluste im Radsport (o.V., 2008/4, S. 3)
In allen vier Imagedimensionen zeigen sich von 2004 bis 2008 deutliche Rückgänge.
Allerdings zeigt das wachsende Interesse an der Tour de France in anderen Ländern, dass
daran weniger das Doping, als eher die mediale Berichterstattung darü
entscheidenden Anteil besitzt. So wird i
Toursieg Contadors abzeichnet
„sprunghafte Anstiege“ (Hungermann
Sportzeitung As „das seriöseste Gelbe Trikot der Tourgeschichte“ (zitiert nach o.V.,
30.07.2007, S. 22). In Frankreich bietet sich dasselbe Bild. Die dortigen Einschaltquoten
erhöhen sich im Laufe der Tour auf sieben Millionen Zuschauer, womit die dortigen Sender
im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von sechs Prozent erzielen können (vgl. Haschnik,
20.02.2007). Verdeutlicht wird dieser nationale Zusammenhang im Hinblick auf die
Bewertung der Tour unter dem Einfluss des Dopings auch durch die Ablehnung
Sendeboykotts nach dem Vorbild von ARD und ZDF. In Spanien sprechen sich
gegen einen Tour-Ausstieg aus, während sich in Deutschland die öffentliche Meinung durch
die „massive Thematisierung“
Sportwissenschaftler Josef Hackforth ermittelt hat.
Zusammenfassend wirken sowohl der hohe Umfang der überwiegend kritischen und
dopingfokussierten Berichterstattung, als auch der Faktor des nach 2003 abnehmenden
nationalen Erfolgs damit in negativer Weise auf die gesellschaftliche Bewertung des
Radsports ein. Die folgende Abbildung veranschaulicht diese Entwicklung seit 2001.
Patrik Sinkewitz gesteht sein Dopingvergehen am 31. Juli über seinen Anwalt Michael
Lehner. Er bedaure seinen Fehler zutiefst, spontan und ohne nachzudenken eine
Testosteronsalbe auf die Arme geschmiert zu haben (vgl. Moll, 02.08.2007, S. 19). Das
Doping sei ohne Wissen seines T
81
In allen vier Imagedimensionen zeigen sich von 2004 bis 2008 deutliche Rückgänge.
Allerdings zeigt das wachsende Interesse an der Tour de France in anderen Ländern, dass
daran weniger das Doping, als eher die mediale Berichterstattung darü
entscheidenden Anteil besitzt. So wird in Spanien die Tour gerade gegen Ende, als sich der
abzeichnet, mit Begeisterung verfolgt. Die Einschaltquoten verzeichnen
(Hungermann, 28.07.2007, S. 26). Contador ist für die spanische
Sportzeitung As „das seriöseste Gelbe Trikot der Tourgeschichte“ (zitiert nach o.V.,
In Frankreich bietet sich dasselbe Bild. Die dortigen Einschaltquoten
der Tour auf sieben Millionen Zuschauer, womit die dortigen Sender
im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von sechs Prozent erzielen können (vgl. Haschnik,
Verdeutlicht wird dieser nationale Zusammenhang im Hinblick auf die
unter dem Einfluss des Dopings auch durch die Ablehnung
nach dem Vorbild von ARD und ZDF. In Spanien sprechen sich
aus, während sich in Deutschland die öffentliche Meinung durch
sierung“ (Hackforth, 2007/31, S. 51) gedreht habe, wie der
Sportwissenschaftler Josef Hackforth ermittelt hat.
Zusammenfassend wirken sowohl der hohe Umfang der überwiegend kritischen und
dopingfokussierten Berichterstattung, als auch der Faktor des nach 2003 abnehmenden
s damit in negativer Weise auf die gesellschaftliche Bewertung des
Radsports ein. Die folgende Abbildung veranschaulicht diese Entwicklung seit 2001.
Sinkewitz gesteht sein Dopingvergehen am 31. Juli über seinen Anwalt Michael
Lehner. Er bedaure seinen Fehler zutiefst, spontan und ohne nachzudenken eine
Testosteronsalbe auf die Arme geschmiert zu haben (vgl. Moll, 02.08.2007, S. 19). Das
Wissen seines T-Mobile-Teams erfolgt. Anstatt eines erlaubten Testosteron
Abbildung 2:
Einflussfaktoren auf das Image des Radsports (Horizont Sportbusiness, 2007, S. 4)
In allen vier Imagedimensionen zeigen sich von 2004 bis 2008 deutliche Rückgänge.
Allerdings zeigt das wachsende Interesse an der Tour de France in anderen Ländern, dass
daran weniger das Doping, als eher die mediale Berichterstattung darüber einen
n Spanien die Tour gerade gegen Ende, als sich der
mit Begeisterung verfolgt. Die Einschaltquoten verzeichnen
. Contador ist für die spanische
Sportzeitung As „das seriöseste Gelbe Trikot der Tourgeschichte“ (zitiert nach o.V.,
In Frankreich bietet sich dasselbe Bild. Die dortigen Einschaltquoten
der Tour auf sieben Millionen Zuschauer, womit die dortigen Sender
im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von sechs Prozent erzielen können (vgl. Haschnik,
Verdeutlicht wird dieser nationale Zusammenhang im Hinblick auf die
unter dem Einfluss des Dopings auch durch die Ablehnung eines
nach dem Vorbild von ARD und ZDF. In Spanien sprechen sich 75 Prozent
aus, während sich in Deutschland die öffentliche Meinung durch
gedreht habe, wie der
Zusammenfassend wirken sowohl der hohe Umfang der überwiegend kritischen und
dopingfokussierten Berichterstattung, als auch der Faktor des nach 2003 abnehmenden
s damit in negativer Weise auf die gesellschaftliche Bewertung des
Radsports ein. Die folgende Abbildung veranschaulicht diese Entwicklung seit 2001.
Sinkewitz gesteht sein Dopingvergehen am 31. Juli über seinen Anwalt Michael
Lehner. Er bedaure seinen Fehler zutiefst, spontan und ohne nachzudenken eine
Testosteronsalbe auf die Arme geschmiert zu haben (vgl. Moll, 02.08.2007, S. 19). Das
erlaubten Testosteron
Einflussfaktoren auf das Image des Radsports (Horizont Sportbusiness, 2007, S. 4)
82
zu Epitestosteron-Grenzwertes von 4:1 fand sich bei Sinkewitz eine Konzentration von 24:1
(vgl. Kistner, 01.08.2007, S. 28). Als Reaktion darauf entlässt ihn sein Rennstall und fühlt sich
in seiner Anti-Doping-Politik bestätigt. Der Fall zeige, „dass unser eigenes, das
Kontrollsystem der NADA und Trainingstests wirksam sind“ (T-Mobile-Teamchef Rolf Aldag
zitiert nach ebd.). Nach wochenlangen Spekulationen verkündet die Telekom am 9. August,
mit 12 Millionen Euro pro Jahr (vgl. Moll, 02.08.2007, S. 19) Hauptsponsor des T-Mobile-
Teams, ihren Vertrag bis 2010 zu erfüllen. Man wolle sich der Verantwortung nach 16 Jahren
im Radsport und der Herausforderung, mehr Sauberkeit im Sport zu schaffen, stellen. Der
Pressesprecher, Christian Frommert betont: „Wer verändern will, darf nicht weglaufen“
(Seele, 10.08.2007, S. 32). Erst nach einem weiteren Dopingfall wolle der Konzern das
Sponsoring „umgehend beenden“ (Völker, 15.08.2007, S. 19). Im Anschluss folgen am 5. und
24. November zwei umfangreiche Interviews mit Sinkewitz im Spiegel, und der SZ. Nach
vorherigen Aussagen beim Bundeskriminalamt, Staatsanwaltschaft und BDR hofft der Ex-T-
Mobile-Fahrer auf die Kronzeugenregelung, die seine Sperre auf ein Jahr halbieren würde:
„Natürlich hieß es: kein Doping! Ich habe die Botschaft so verstanden: Lasst euch nicht
erwischen!“ (Hacke & Ludwig, 2007/45, S. 218). Innerhalb seines Teams würden die
Teamärzte Lothar Heinrich und Andreas Schmid das Eigenblut verabreichen, eine Frage nach
systematischem Doping in der Mannschaft verneint er. Nach Ansicht der SZ hat ihn die
„Omertá, das Schweigegebot in einer mafiös strukturierten Sportart, mit spürbarer Brutalität
im Griff“ (Kistner, 05.11.2007, S. 29). Drei Tage danach folgt am 27. November die einseitige
Vertragsauflösung durch den Bonner Telekommunikationskonzern. Christian Frommert
erklärt: „Wir waren an dem Punkt angelangt, an dem wir unsere Marke schützen mussten“
(Hacke D. , 2007/49, S. 204). Der frühere Imagegewinn hat sich in einen angenommenen
Imageschaden gewandelt. Hartmut Zastrow, Vorstand der Agentur Sport + Markt, erklärt
gegenüber dem Focus, dass es aus Sicht von T-Mobile zwar gelungen sei, sich als „Wohltäter
des Sports und Anti-Doping-Kämpfer glaubhaft zu positionieren“, aber nun das Image des
Radsports negativ auf das Unternhehmen wirken könne (vgl. Heise, 28.11.07). Während die
SZ aufgrund der Entscheidung „Respekt“ (Kistner, 28.11.2007) zollt, kommentiert die Zeit
kritisch. Nach einem Profilierungsversuch als Retter des Sports, ziehe man sich zurück, wenn
der Radsport nach der öffentlichen Meinung eh nicht mehr zu retten sei und in
Vergessenheit gerate (vgl. Dobbert, 03.12.2007). Die vorzeitige Trennung werde die Telekom
83
nach Angaben des Spiegel zwischen 20 und 25 Millionen Euro kosten, weil eine vorher
festgelegte Ausstiegsklausel nur für einen aktuellen Dopingfall greife (vgl. Hacke D., 2007/49,
S.206). Nachdem bereits vorher der Geflügelproduzent Wiesenhof-Felt, der
Schraubenhersteller Würth, das Nutzfahrzeugunternehmen MAN und der
Sprudelwasservertreiber Gerolsteiner von der Finanzierung ihrer Tour-Teams zurückgetreten
sind, folgt nach der Telekom der Sportartikelhersteller Adidas am 29. November (vgl. o.V.,
29.11.2007). Zastrow beziffert den Wertverlust des Produktes Radsport teamübergreifend
zwischen 100 und 150 Millionen Euro. Weil es für massive Proteste der Aktionäre sorgen
würde, sei es für börsennotierte Unternehmen zudem „auf Jahre hinaus“ (o.V., 29.11.2007)
undenkbar, ein Sponsoring in dieser Disziplin einzugehen.
Die persönlichen Verluste aus der Dopingaffäre belaufen sich für Sinkewitz nach dessen
Angaben auf eine Million Euro (vgl. Pfeiffer, 25.04.2008). Ein ehemaliger Sponsor verlangt
Schadenersatz in Höhe von 308.000 Euro (vgl. ebd.), der BDR verhängt eine Geldstrafe in
Höhe von 40.000 Euro (vgl. ebd.). „Die Strafe schreckt ab und torpediert die Kronzeugen-
Regelung. Jetzt habe ich alles gesagt, was ich weiß und was man hören wollte. Und nun muss
ich für die Wahrheit bezahlen. Denn du fällst in jeder Hinsicht ins Loch, nicht nur finanziell“
(Burkert & Kistner, 23.11.2007, S. 22). Die ebenfalls geständigen Ex-Fahrer vom Team
Telekom Erik Zabel und Rolf Aldag räumen im Gegensatz zu Sinkewitz juristisch bereits
verjährte Dopingpraktiken ein, woraufhin der DOSB vorschlägt, sie als Vorbilder im Anti-
Doping-Kampf zu installieren: „Mit den zwischen uns verabredeten Maßnahmen machen
Aldag und Zabel deutlich, dass sie die Schwere ihrer Taten erkennen und nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen“ (Thomas Bach, Präsident des »DOSB« zitiert nach Mertens,
23.12.2007). Die umfassenderen Äusserungen von Jörg Jaksche und Patrick Sinkewitz ließen
dagegen nicht auf große Einsicht schließen: „Vielmehr bedauern sie, dass sie gesperrt sind
und keine neuen Verträge erhalten haben. Hier fehlt mir die Einsicht in eigenes
Fehlverhalten“ (ebd.). Patrik Sinkewitz glaubt die Gründe für dieses scheinbar ambivalente
Verhalten zu kennen und vermutet, dass Aldag und Zabel „belohnt“ worden wären, weil sie
keinem geschadet hätten:
„Nach außen heißt es immer, wir wollen, wir müssen, alles auf den Tisch. Sie werden
nicht öffentlich sagen, dass ich das jetzt ganz schlecht gemacht habe. Aber in
Wirklichkeit wär’s anscheinend für alle das Beste, wenn […] niemand mehr über mich
84
reden und schreiben würde und ich auch nix mehr von mir gebe (Burkert & Kistner,
23.11.2007, S. 22).
Der Anwalt der geständigen und des Dopings überführten Radprofis Jörg Jaksche und Patrick
Sinkewitz, Micheal Lehner, spricht von Bemühungen der UCI, die verhindern sollen, dass
beide Sportler nach Ablauf ihrer Sperre einen neuen Rennstall finden. Dabei würden bei
einem „verräterischem Team“ (zitiert nach Hoeltzenbein, 26.07.2007, S. 4) Blutkontrollen
intensiviert oder während Rennen wie der Tour de France schlechtere Hotels zugewiesen
werden (vgl. ebd.). „Lehner selbst will sogar schon Direkteres gehört haben: ‚Dass einem
Teamleiter bedeutet wurde: Passt auf eure Lizenz auf‘" (ebd.). Als am 17. Juli 2008 seine
Dopingsperre abläuft, besitzt Sinkewitz noch keinen neuen Arbeitsvertrag. Wie bei Jörg
Jaksche rufe keiner an (vgl. Burkert, 12./13.07.2008, S. 35). Französische Mannschaften
würden kein Interesse zeigen, ein italienisches Team befürchete nach Aussage von Sinkewitz
Probleme mit der deutschen Presse, während in Spanien der Sponsor sein Veto eingelegt
hätte (vgl. Pfeiffer, 25.04.2008). Der in die »Operación Puerto« verwickelte Ivan Basso macht
nicht von der Kronzeugenregelung gebrauch und findet im April 2008, sechs Monate vor
Ablauf seiner zweijährigen Sperre mit dem italienischen Team Liquigas einen neuen
Rennstall (ebd.). Einen Monat später wird er von der UCI zum Anti-Doping-Botschafter des
Radsportweltverbandes ernannt. UCI-Präsident Pat McQuaid erklärt: „Er hat einen Fehler
gemacht und dafür bezahlt. Ich glaube, dass er diese Rolle […] bestens ausfüllen wird“ (o.V.,
06.05.2008). Der Anwalt von Sinkewitz, Michael Lehner, könne keinem Mandanten mehr
raten, als Kronzeuge aufzutreten (vgl. Schallenberg, 11.10.2008). Sinkewitz selbst antwortet
auf dieselbe Frage entgegen der SZ:„Nein. […] Es geht an die Substanz, mit allem, was auch
noch juristisch kommt, den Strafverfahren. […] Ich lebe jetzt eher von der Hand im Mund.
Weshalb soll also jemand den Kronzeugen machen?“ (Burkert & Kistner, 23.11.2007, S. 21)
In Deutschland führt die öffentliche Empörung über die Doping-Vorkommnisse wie in
Frankreich zu einem Anti-Doping-Gesetz, das genau genommen eine Ergänzung zum
bisherigen Arzneimittelgesetz darstellt (vgl. Summerer, 01.08.2007). Während bislang nur
der Handel mit Dopingmitteln oder die Fremdanwendung geahndet wurde, ist nun der Besitz
von „nicht geringen Mengen“ verboten (ebd.). Weiterhin werden die Sanktionen gegen
Banden oder gewerbsmäßige Doping-Vergehen verschärft, die in besonders schweren
Vergehen eine Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren nach sich ziehen können (ebd.).
85
Der französische Staat verabschiedet im Vorfeld der Tour 2008 ein wiederum verschärftes
Anti-Doping-Gesetz. Erstmals werden nun die überführten Besitzer mit einem Jahr Gefängnis
und 3750 Euro Geldstrafe belegt, während für den Handel mit Dopingmitteln fünf Jahre Haft
und bis zu 75.000 Euro Strafe drohen (o.V., 01.05.2008). In diesem Jahr ist darüber hinaus
die französische Antidoping-Agentur AFLD zum ersten Mal mit der Durchführung der
Dopingkontrollen bei der Tour betraut, da es nach den Ereignissen des letzten Jahres zum
Zerwürfnis zwischen der UCI und der ASO gekommen war. Die Gründe für den Disput waren
auf der einen Seite durch Vermarktungsstreitigkeiten begründet, da beide Institutionen das
Rennen zentral vermarkten wollten (ebd.). Darüber hinaus warf Tourdirektor Proudhomme
dem Radsportverband im Falle von Rasmussen vor, ihn trotz Regelverstoßes nicht
disqualifiziert zu haben: „Die UCI wollte niemals eine saubere Tour de France“ (Ostermann,
2007/09, S. 41). Ihr Präsident, Pat McQuaid, antwortete entsprechend: „Vielleicht ist die
Tour sogar der Grund für das Dopingproblem. Sie ist nur geldorientiert“ (ebd.). Sowohl die
taz als auch die dpa bezogen sich damals auf Vermutungen Proudhommes, dass der
Vizepräsident der UCI, Hein Verbruggen, die bereits vorher erfolgten Dopingvergehen von
Sinkewitz und Rasmussen gezielt während der Tour de France lanciert habe (vgl. Zellmer &
Engel, 22.07.2007), um den Preis der Veranstaltung zu drücken, die er mit Hilfe eines
holländischen Investmentfonds übernehmen wolle (vgl. Moll, 30.07.2007, S. 14). So
verkündete die L’Équipe im Anschluss an die Tour: „Um aus dem Schlamassel
herauszukommen, […], muss man sich von einigen Gewohnheiten und all denen trennen, die
im Schatten Ziele verfolgen, die nichts mit dem Sport zu tun haben“ (o.V., 31.07.2007, S. 27).
Und Proudhomme kündigte an, in Zukunft nur noch mit der WADA und der AFLD
zusammenarbeiten zu wollen (vgl. Burkert, 28./29.07.2007, S. 35), was die Tour infolge
dessen zu einem nationalen Rennen unter dem Dach des französischen Verbandes FFC
machte (vgl. Burkert, 04.07.2008, S. 21).
Im Verlauf des Rennens im Jahr 2008 werden die Fahrer Manuel Beltrán, Moisés Dueñas, der
zweifache Etappensieger Riccardo Riccò sowie Leonardo Piepoli, dessen Team ebenfalls
abreisen musste, positiv getestet. Nach Ende der Tour werden erstmals Nachkontrollen
durch die AFLD vorgenommen, aus denen der Gewinner der Bergwertung, Bernhard Kohl,
und der zweifache Etappensieger und zwischenzeitlicher Träger des gelben Trikots, Stefan
Schumacher, ebenfalls positiv hervorgehen. Am 2. Oktober trennt sich die ASO von ihrem
86
Präsidenten Patrice Clerc, während Verbruggen seinen Rücktritt erklärt. Zuvor haben sich
beide Organisationen auf eine erneute Zusammenarbeit geeinigt (vgl. o.V., 02.10.2008). Am
16. Oktober entscheiden die öffentlich-rechtlichen Anstalten trotz eines laufenden Vertrages
bis 2011, der im Sommer verlängert wurde, nicht mehr live von der Tour de France zu
berichten (vgl. Bouhs, 16.10.2008). Am 1. Dezember erklärt der siebenfache Tourgewinner
Lance Armstrong sein Tour-Comeback:
„[…] in Frankreich hat sich an entscheidender Stelle einiges geändert. ASO-Chef
Patrice Clerc musste gehen. Er glaubte, allein die Tour sei der Star, nicht die Athleten.
Aber so läuft das nicht im Sport. L'Equipe hat einen neuen Chefredakteur und einen
neuen Radsportchef“ (Scherzer, 27.01.2009).
Die L’Èquipe hatte 2005 nach seinem damaligen Karriereende in sechs Urinproben des
Amerikaners von 1999 ein Blutdopingmittel entdeckt und veröffentlicht. Weil keine juristisch
notwendige Gegenanalyse der Proben möglich war, blieb Armstrong straffrei (vgl. Altwegg,
05.03.2009). Im März 2008 sollen die Redakteure der Zeitung nach Angaben des Spiegel von
der Verlegerin Marie-Odile Amaury angewiesen worden sein, sich in ihrer Berichterstattung
„nicht länger mit dem Thema Doping aufzuhalten" (o.V., 2009/7, S. 103). Ein Redakteur, der
für das Doping zuständig war, sei versetzt worden (vgl. Altwegg, 05.03.2009).
3.5.4 ETABLIERUNG DES TÄTER-SCHEMAS
In den Jahren von 1999 bis 2005 zeigt sich in den deutschen Medien besonders deutlich der
nationale Rahmen in Bezug auf die Berichterstattung über die Tour de France und über das
Dopingphänomen. Jan Ullrich ist der Hauptdarsteller der ersten und zweiten
Wahrnehmungsebene, letzteres besonders in Deutschland. Die Medien verdienen an und
mit ihm, weil das Publikum alles über ihn wissen will. Selbst Doping wird ihm umstandlos
verziehen, wenn er im Jahr darauf wieder der Held des Stücks werden kann. Im Sinne des
bestehenden Rahmens werden Journalisten, die kritische Berichterstattung über den
Radsport leisten von ihren Kollegen direkt oder indirekt dazu aufgefordert, in den positiven
Tenor einzusteigen. Die Regisseure der zweiten Ebene lassen Ullrich von Experten zum
»Jahrhunderttalent« erklären, um im Spannungsfeld übertriebener Erwartungshaltung und
ausbleibender Erfüllung den täglichen Berichterstattungsbedarf zu sichern. Selbst kritische
87
Medien wie die SZ und der Spiegel liefern in dieser Zeit überwiegend positive
Rekordberichterstattung, obwohl das umfassende Geständnis über systematisches Doping in
einer spanischen Mannschaft demonstriert, wie wenig sich auf der Hinterbühne geändert
hat. Der mediale Aufschrei der Entrüstung erfolgt erst, als Ullrich zwei Jahre später in die
»Operación Puerto« verwickelt ist und klar wird, dass sein Karriere-Ende bevorsteht. Nicht
nur die deutsche Bevölkerung, auch die Journalisten sind enttäuscht. Interessanterweise
erweisen sich in diesen Jahren die tatsächliche Dopingdurchsetztheit des Feldes und die vom
Publikum wahrgenommene »Verseuchung« als komplementär. Solange deutsche
Siegchancen dank Ullrich im Bereich des Möglichen liegen, halten sich die deutschen Medien
an das Geheimhaltungs-Schema von Goddet, obwohl im großem Umfang gedopt wird. Ist
Ullrich aus der Besetzungsliste gestrichen, lauert das Doping überall, obwohl sich die
Dopingdurchsetzheit des Feldes stark verringerte. Es gilt erneut der Kriminalitäts-Rahmen im
Sinne von Desgrange: »Besser üble Nachrede als gar kein Gerede«. So entwickelt sich in
nachfolgenden Monaten eine selbstverstärkende Enthüllungseskalation in den deutschen
Medien, dessen Schwungrad gegenseitig angefeuert soviel Wind entfacht, dass es auf die
erste Wahrnehmungsebene einwirkt. Dort erhält der Geheimhaltungs-Rahmen mehr und
mehr Risse und der Sanktionierungsdruck auf die Denunzianten sinkt, je mehr Geständige
hinzukommen. Damit die Medien auch sicher gehen, während der Interaktion das
auszudrücken, was sie mitteilen wollen, erfreuen sich Metaphoriken aus der kriminellen
Unterwelt besonderer Beliebtheit, besonders wenn sie zitabel sind. Das Theater auf der
zweiten Wahrnehmungsebene strahlt in dieser Zeit in Deutschland heller als auf der ersten
und gipfelt in dem wiederaufgelegten Rollenbild der Medien als Kontrolleur. Der Vorhang
der Hinterbühne wird nun eigenhändig beiseite gezerrt, es werden Geständnisse erwirkt und
Blutlachen entdeckt.
Allerdings führt die massive Thematisierung zu Abnutzungserscheinungen beim Publikum,
nachdem das Thema aufhört eine Überaschung zu sein. So neutralisiert sich die
Berichterstattung der FAZ vor Beginn der Tour, während die Berliner Zeitung mit
Aufmerksamkeit für das Stück geizt, aber im Falle einer Berichterstattung ausschließlich über
die Hinterbühne berichtet. Nachdem das Publikum seinen Takt beweist, indem es lieber die
dopingfreie Bericherstattung bei Eurosport verfolgt und Gerdemann durch seine Sieg kurz
davor ist, erneut den Aufbau des Geheimhaltungs-Rahmens in der Berichterstattung zu
88
bewirken, ereignet sich der dramatische Höhepunkt auf der zweiten Wahrnehmungsebene
durch den Fall Sinkewitz. Die Argumentation der öffentlich-rechtlichen Sender offenbart die
Regieprinzipien im Sinne des nationalen Rahmens. Der Ausstieg erfolgte, weil es sich um
einen symbolischen Fall eines deutschen Hoffnungsträgers handelt. Für die Regisseure der
ersten Ebene beinhaltet das Ende der Berichterstattung eine Handlungsanweisungen in
Form einer verdeckten Ensembleverschwörung. Erstens darf »Sauberkeit« durch die
Regisseure der ersten Ebene nur an nicht-deutschen oder zumindest deutschen Altprofis
demonstriert werden und erhält zweitens nur dann in den medialen Diskurs Einzug, wenn es
das Publikum wahrnimmt und deutsche Siege weniger wahrscheinlich werden. Verstöße
gegen diese Regiebemühungen der ersten werden auf der auf der zweiten Ebene mit
Aufmerksamkeitsentzug zur Disziplinierung bestraft. Damit nutzen die Berichterstatter der
zweiten Ebene nun einen moralischen an Stelle des durch die erste Ebene verdrängten
nationalen Rahmens im Sinne eines Eindrucksmanagements. Die Theaterzeitung L’Équipe
kommentiert nachvollziehbarerweise kritisch, weil ihnen in Deutschland die zweite Bühne
und damit ein Großteil der Einnahmen Gefahr läuft, wegzubrechen. In Deutschland hingegen
verfestigt sich die moralische Betrachtungsweise im Dopingdiskurs. Trotz stetiger
Verweisung auf die ambivalente Haltung von ARD und ZDF, der die Zeitungen wie sich
gezeigt hat, ebenfalls unterliegen, wird die Entscheidung überwiegend wohlwollend
kommentiert. Dass sich mittlerweile ein neuer Rahmen etablieren konnte, zeigt sich in
diesem Zusammenhang anhand der Schmähungen gegenüber SAT.1. Der Privatsender
verhält sich aus Sicht der Moralhüter nicht nur unmoralisch, weil sie noch über das
Theaterstück berichten, sondern wagt es noch dazu, das Dopingphänomen nicht in den
Mittelpunkt der Berichterstattung zu rücken. Der Berliner Sender wird als Abweichler im
Diskurs stigmatisiert, auch auf politischer Ebene. »ARD« und »ZDF« haben diesen
Rahmungswettkampf damit eindeutig für sich entschieden.
Die ethische Deutungsanweisung an das Publikum erweist sich auch deswegen als so
erfolgreich, weil mit der Verbrechens-Perspektive zum Täter-Rahmen in Verbindung zu
bringen ist und dadurch doppelte Durchschlagskraft entwickelt. Der »Dopingsünder«
verstößt dabei aus niederen Motiven gegen die moralischen Werte des Sports und der
Gesellschaft. Weder die Regisseure der ersten Ebene, noch die Darsteller können ihre
Rahmung in den Diskurs einbringen. Jede ihrer Aussagen wird mit zynischem Beifall medial
89
kommentiert und als weiterer Beweis für die Verkommenheit des Radsports interpretiert.
Der laut dem Spiegel drogenabhängige Sinkewitz wird nicht nur für den Tod der Tour und
des Radsports, sondern für das mögliche Ableben des gesamten Sports verantwortlich
gemacht. Wie sich im Falle Rasmussen zeigt, reicht es im Anschluss dank des stark
aufgeheizten Dopingdiskurses mittlerweile aus, dass ein Reporter den Sportlern in Italien
gesehen haben will, um einen neuen Skandal zu generieren und ein Berufsverbot für den
Darsteller zu erwirken. Wenn die französische Polizei die Teilnehmer der Tour de France
einmal nicht rund um die Uhr überwacht, bekommt sie mediale Schützenhilfe durch die
Kontrolleure der zweiten Ebene und der Zuschauer wird durch einen neuen Skandal erregt.
Wenn die SZ mit dem Status und Anspruch eines deutschen Leitmediums ernsthaft fordern
kann, der »Radfahr-Mafia« nur mit Maßnahmen aus dem Waffen- oder Drogenhandel zu
begegnen, ist jede Verhältnismäßigkeit verloren gegangen. Erst gegen Ende der Tour
beruhigt sich der Tenor der deutschen Medien wieder, lassen es aber - mit Ausnahme der
taz - an Selbstreflektion mangeln und beschreiben ihre Rolle als Moralverwalter der
Gesellschaft.
Im Gegensatz zu Frankreich und Spanien hat die nahezu flächendeckende Anwendung des
Täter-Rahmens in Verbindung mit dem Fehlen eines national erfolgreichen Fahrers zu einer
erheblichen Imageverschlechterung des Schauspiels geführt. Da das gesamte Ensemble,
bestehend aus Darstellern, Regisseuren und Intendanten zudem erkennen mussten, wie
wenig erfolgreich ihre Rahmungsversuche verliefen, reagieren sie wie nach der Festina-
Affäre mit noch stärkeren interner und externen Kommunikationsverboten sowie
drastischen Sanktionierungsmaßnahmen. Ersichtlich wird dieses Verhalten an der
Behandlungsweise von Jörg Jaksche und Patrik Sinkewitz. Nachdem Sinkewitz anfangs die
Regeln der Geheimhaltung befolgte, entschließt er sich dem Beispiel Jaksche als Kronzeuge
zu folgen, um eine verkürzte Sperre zu erhalten. Er wird zum Denunzianten und löst damit
eine Kettenreaktion aus. T-Mobile muss die 25 millionenschwere Flucht ergreifen, seine
ehemaliger Rennstall löst sich auf, eine Massenflucht der Sponsoren setzt ein und noch
strikteren gesetzlichen Repressalien folgen. Dank Sinkewitz fürchtet das gesamte Ensemble,
bis zum höchsten Schauspielverband in Form des DOSB um ihr Engagement, ihren Status und
ihre Macht. So bündeln sich alle Bemühungen, im Sinne einer Ensembleverschwörung, darin,
seine Rückkehr in das Theater zu verhindern. An Sinkewitz muss ein Exempel statuiert
90
werden, damit er keine Nachahmer findet. Das ganze Theater befindet sich durch den
enormen Rahmungs- unter erheblichen Handlungsdruck. Diese erzeugte Nervosität
manifestiert sich in dem Scheitern der Verbindung zwischen ASO und UCI. Ob die Dopingfälle
Rasmussen und Sinkewitz tatsächlich lanciert wurden, um den Preis zu drücken, lässt sich
nicht beantworten, aber Ungereimtheiten und das Phlegma der UCI beim Lösen dieser
existenziellen Probleme legen es zumindest nahe. Mit der AFLD verschlimmert sich die
Situation jedoch noch zusätzlich, da sie es nicht ausschließlich bei symbolischen
Kontrollmaßnahmen belässt und sich die Skandal durch rückwirkende Überprüfungen gar
über drei Monate hinziehen. So bleibt nur der Rausschmiss der Opponenten Clerc und
Verbruggen, um das Theater wieder auf den alten Kurs der Geheimhaltung im Rahmen
widersprüchlicher Darsteller-Anforderungen zu bringen. Nachdem nun auch noch die
Theaterzeitung dank personeller Konsequenzen stärker als bisher an das nötige Schema
erinnert wurde, steht der Rückkehr eines Hauptdarstellers namens Lance Armstrong nichts
mehr im Wege.
91
4. Zusammenfassung unter Bezugnahme auf die Rolle der Ethik
„Sportler sind dazu verpflichtet, Vorbilder zu sein" 15
Jean Marie Leblanc, Tourdirektor
„Ohne Helden gibt es für L’Équipe keine Existenzberechtigung“
16
Claude Droussent, stellvertretender Chefredakteur
„Bei der Tour de France hat die Zuschauer nicht interessiert, ob gedopt wird oder nicht, sondern ob ein Deutscher vorne fährt“
17
Günther Struve, ARD Programmdirektor
4.1 Der Wandel der Sportethik
Nach Goffman sind die Zuschauer bestrebt, von der dargebotenen Rolle auf der Bühne
überzeugt zu werden, während die handelnden Akteure vor und hinter der Bühne wiederum
das Ziel verfolgen, ihr Publikum von der Aufrichtigkeit ihrer Darstellung zu überzeugen.
Damit verpflichten sich beide zur Einhaltung eines bestimmten Ethos, einer Moral dessen
Einhaltung nur im Sinne der Rolle nötig ist und das Spiel erst ermöglicht (vgl. Goffman, 1969,
S. 230). Somit wird das Moralverständnis des Zuschauer- und Darstellungsenembles
gemeinsam verhandelt: „Aussageproduzenten und Medienrezipienten spielen gemeinsam
ihre Rolle beim Spiel der Wirklichkeitskonstruktion“ (Alkemeyer, 1996, S. 145). In den vier
dargelegten Doping-Affären der »Tour de France« zeigt sich im zeitlichen Verlauf eine stetige
Zunahme einer moralischen Bewertungsgrundlage, der am Dopingdiskurs beteiligten
Institutionen. Ein kurzer historischer Abriss soll Auskunft über dieses Moralkonzept im
spitzensportlichen Kontext geben, bevor abschließend die Hintergründe der moralischen
Argumentation unter medialem Fokus erläutert werden.
Bis zum zweiten Weltkrieg existiert nach dem Literaturwissenschaftler und Sportpublizist
Michael Gamper eine „Doppelkultur“ (Gamper M. , 15.09.2006) des modernen Sports im
Rahmen organisatorischer Systeme. Auf der einen Seite stehen bereits früh
professionalisierte Sportarten, wie Boxen oder Radfahren. Rennen wie die Tour de France
verlangen außerordentliche Leistungen von ihren Fahrern, um die erregte Aufmerksamkeit
kommerziell zu nutzen und fordern damit eine Professionalisierung der Athleten ein (vgl.
Rabenstein, 1996 , S. 88). Erfolg und Unterhaltungswert sind die maßgebenden Prinzipien,
während ethischen Grundsätzen keine Bedeutung beigemessen wird (vgl. Gamper, 2006).
15
(zitiert nach o.V., 27.06.2005). 16
(zitiert nach Grosskathehöfer, 2001/28, S. 146) 17
(zitiert nach Schaffrath, 2007/07, S. 48)
92
Doping wird daher nicht als problematisch, sondern als logische Konsequenz der
industriellen Anforderungen betrachtet. Dieser Zusammenhang erklärt das öffentliche
Verständnis, das dopenden Sportler bis Anfang der sechziger Jahre - wie im Falle Pèllissier -
entgegengebracht wird. Der professionalisierte Athlet erscheint nach Gebauer (2002, S. 48)
als Auslöser für die Erfindung der Olympischen Werte. Basierend auf dem Vorbild des
englischen Amateursports will Pierre de Coubertin gegen Ende des 19. Jahrhunderts die
junge französische Industriegesellschaft mittels eines sportpädagogischen Ansatzes vor
ihrem Untergang bewahren. Dabei bildet die Zweckfreiheit der sportlichen Handlung im
Gegensatz zu ihrer Professionalisierung eine entscheidende Grundlage. Die Neubegründung
der Olympischen Spiele samt ihrer Verfassung in Form der Olympischen Idee soll damalige
gesundheitliche Defizite und einen Mangel an Lebenskraft beseitigen (vgl. Alkemeyer, 1996,
S. 67). Coubertin wählte den Sport als ein Mittel zur gesellschaftlichen Heilung (vgl. ebd.
S.70), weil er in einem ersten Schritt in der Lage ist, analog zu einem Theater, die
Gesellschaft im Rahmen einer „Mimesis“ (ebd. S. 72-73) nachzubilden. Im zweiten Schritt soll
daraus der Weg in eine erfolgreiche Moderne aufgezeigt werden. In Abgrenzung zum
professionellen Sport waren bestimme Werte nötig, „um den Sport nicht ganz in einem
sozialdarwinistischen […] »survival of the fittest« aufgehen zu lassen“ (Gamper, 2000, S. 51).
Das von Coubertin geforderte Gebot der Fairness sollte zusammen mit dem Prinzip des
Amateurismus, der einer ökonomischen Verwertbarkeit entgegensteht, somit als „ethische
Rückkopplung“ (ebd.) gelten. Coubertin definiert den Amateur vor diesem Hintergrund als
jemanden, der einer zweckfreien, materiell nicht gewinnbringenden sportlichen
Beschäftigung außerhalb des Berufs nachgeht. Indem er diese Tätigkeit ausführt und die
Spielregeln anerkennt, ist er von einem ritterlichen Geist beseelt (vgl. Gebauer, 2002, S. 48-
49). Der nachfolgende Erfolg dieses pädagogischen Konzeptes machte gesellschaftliche
Institutionen in Form von Wirtschaft und Politik auf diese „Sonderwelt“ (Gamper,2000, S. 52)
aufmerksam.
Nach 1945 verbeitet sich der Sport global, während die zwei - immer noch nebeneinander
exisiterenden - Sportkulturen institutionelle Verbindungen zueinander herstellen. So
bewilligt das es IOC den Radsport trotz ihrer Professionalisierung in ihr olympisches
Programm aufzunehmen (vgl. Gamper, 2006). Entgegen der zunehmenden Verschränkung
93
beider Sportkulturen zeigt sich eine diskursive Trennung beider Systeme als strategisches
Interesse, der an der Realisierung des Spitzensports beteiligten Akteure.
»Guter« Sport, der auch der Jugend zugemutet werden konnte, etablierte sich als
fairer, gesundheitsorientierter, «olympischer» Sport. Sponsoren und Werbeindustrie
förderten diese Entwicklung zusätzlich. Sie orientierten sich zwar am Spitzensport
und unterstützten die publikumswirksamen Sportarten und Athleten, weil nur die
Massenorientierung den gesteigerten Rücklauf der ausgegebenen Summen in
Aussicht stellte. Doch verlangten sie von ihren Werbeträgern, dass diese, zumindest
auf ihrer der Öffentlichkeit zugewandten Oberfläche, sich dem olympischen Ideal
fügten“ (Gamper M. , 15.09.2006).
Die Todesfälle der Radfahrer Knudsen und Simpson beschleunigten und intensivierten diesen
Prozess erheblich, da durch die negativen Schlagzeilen eine positiv besetzte Idealisierung für
alle am Spitzensport beteilgten Institutionen umso wichtiger wurde, um die strukturell
erzeugten Schattenseiten in Form des Dopings auf der Hinterbühne zu überdecken. Der
Zuschauer als Basis beider Sportkulturen möchte und soll nicht in seinem sportlichen
Genussempfinden gestört werden. 1981 gipfelt die Verschränkung beider Sportkulturen als
nach einem Jahrzehnte andauernden Streit (vgl. Gebauer, 2002, S. 48) das Olympische Ideal
des Amateurs beim Olympischen Kongress in Baden-Baden offiziell abgeschafft wird (vgl.
Nuschke, 2007, S.8). In Bezug auf den von Coubertin anvisierten bildenden Einfluss auf das
soziale Leben stellt sich heraus, „dass eher die Gesellschaft den Sport, als der Sport die
Gesellschaft“ (Gamper, 2000, S. 52) verändert hat. Titel, Bestleistungen und Siegprämien
sind von nun an im Rahmen einer olympisch-privatwirtschaftlichen Sportkultur von
überwiegender Bedeutung und werden von der Gesellschaft in Form von Aufmerksamkeit
gewürdigt (vgl. Pöttinger, 1989, S. 93). Dieses öffentliche Interesse kann der siegreiche
Sportler wiederum in finanzielle Erträge umtauschen. Mit einer praktizierten Moral im
Spitzensport kann laut Bette und Schimank (2006, S. 183) seit diesem Zeitpunkt nicht mehr
gerechnet werden. Kein erfolgloser Athlet könnte dauerhaft aufgrund besonderer
moralischer Leistungen Teil dieses Systems sein (vgl. ebd.). Im Gegenteil: „Moralische
Forderungen an die Sportler bezwecken die Relativierung ihres absoluten Leistungsstrebens“
(Pöttinger, 1989, S. 93). So hat die immer stärker werdende Verquickung zwischen Sport,
Medien und Wirtschaft im Rahmen symbiotischer Beziehungen (vgl. Schauerte, 2002, S. 193)
94
in den neunziger Jahren zu einer „Verschärfung der Dopingfrage“ (Schröder & Dahlkamp,
2003, S. 261) geführt. Während eine einseitige Konzentration auf das Prinzip der
Leistungssteigerung erfolgt, verliert das ethische Korrektiv nun auch auf olympischer Ebene
mehr und mehr an Bedeutung in der spitzensportlichen Praxis. Eine Entwicklung, die im
theoretischen Diskurs über den Spitzensport kompensiert wird. Im Zuge des sich
ausdifferenzierenden Medienmarktes aus öffentlich-rechtlichen und privaten
Fernsehstationen zeigt sich durch den verstärkten Konkurrenzkampf um Zuschauer eine
stärkere Glorifzierung des Sports und damit verbunden eine Notwendigkeit gegen Eindrücke
vorzugehen, die diesem Eindruck entgegen stehen vgl. (Schröder & Dahlkamp, 2003, S. 262).
„So installierte sich ein doppelbödiges System: In den Medien und in den offiziellen
Reden von Funktionären und Politikern wird Sport so diskutiert, als ob er nach
olympischen Prinzipien funktioniere, während die Profisportler so handeln, wie sie es
nach professionellen Kriterien der Leistungsoptimierung tun zu müssen glauben“
(Gamper M. , 15.09.2006).
Das Publikum möchte sich von der Präsentation des Spitzensports auf der Vorderbühne
unterhalten lassen, während auf Hinterbühne Pozesse ablaufen, die die Realisierung des
Stückes gewährleisten: „Sport ist ein Geschäft, nur der Fan darf dies nicht merken“
(Heinemann, 1989, S. 176). Im Sinne der an ihrer Realisierung beteiligten Regisseure des
Spitzensports erweist es sich als vorteilhaft, das Publikum in dem Glauben zu lassen, dass
sich der Sport zwar im Sinne des Überbietungsanspruchs modernisiert und professionalisiert,
dabei gleichzeitig aber immer noch auf den entgegengesetzten, den moralischen
Grundsätzen Coubertins fußt. So zeigt sich, dass das öffentliche Bild des Spitzensports in
einer anderen Weise vermittelt wird, als es sich eigentlich darstellt. Diese Entwicklung
erfolgt allerdings nicht als eine mediale Manipulation, sondern im Sinne der symbolischen
Interaktion an den Wünschen des Publikums orientiert.
4.2 Moral als mediales Konstruktionsprinzip
Heidmann (2008, S. 37) fasst das medial vermittelte Bild des Dopingdiskurses bei der Tour de
France zutreffend zusammen: „Doping drängt die Welt an den Rand des moralischen
Abgrunds“. Es lässt sich sich dabei ein Zusammenhang zwischen der Anzahl öffentlicher
95
Dopingfälle und dem Grad der moralischen Verurteilung erkennen: „Die Forcierung der
Dopingpraktiken hat […] den moralischen Diskurs verstärkt“ (Gamper M. , 2000, S. 56). Diese
Entwicklung ist insofern paradox, weil die Olympische Idee, als Quelle der moralischen
Verurteilung dem Radsport erst nachträglich zugeschrieben wurde (vgl. Ihle, 2008, S. 108).
Innerhalb dieses Berichterstattungsschemas fällt weiterhin eine Fokussierung auf den
handelnden »Dopingtäter« ins Auge, während die strukturellen, widersprüchlichen
Anforderungen an den Sportler, gleichzeitig erfolgreich und »sauber« sein zu müssen, kaum
thematisiert werden. Doping wird im Mediendiskurs „vor dem Hintergrund einer
postulierten Entscheidungsfreiheit des Individuums als moralisches Versagen einzelner
Sportler dargestellt“ (Florschütz, 2005, S. 307). Insofern implementiert das Doping einen
moralischen an Stelle eines strukturellen Diskurses in die öffentliche Behandlung des
Dopingphänomens.
Die moralische Behandlungsweise ergibt sich dabei aufgrund der massenmedialen
Konstruktionsprinzipien. Um für den Rezipienten relevante Informationen zu generieren,
greift die Berichterstattung zusammenfassend auf alles Nichtbesondere zurück und
verzichtet auf das Gewöhnliche und Alltägliche. Stattdessen werden Konflikte und
Normverstöße in besonderem Maße bevorzugt, wenn gerade letztere mit einer
„moralischen Bewertung“ (Luhmann, 1996, S. 59-66) versehen werden können. In Bezug auf
den Dopingdiskurs, ergeben sich aus dem Normverstoß gegen die sportliche Ethik einiger
Fahrer auf der einen Seite und dem Bestreben der spitzensportlichen Organisatoren ihre
Vorstellung auf der Vorderbühne dopingfrei zu halten, der Konflikt. Die moralische
Bewertbarkeit speist sich dabei auch aus Fällen wie dem Tod Simpsons, in denen die
schwerwiegenden gesundheitlichen Konsequenzen von der Öffentlichkeit nachvollzogen
werden können. Die nachfolgende moralische Einordnung und Bewertung äußert sich in
standardisierten Begrifflichkeiten des »Dopingsünders«, der gegen die Prinzipien des
»sauberen« Sports verstößt. So gebrauchen die Massenmedien Semantiken mit deren Hilfe
sie dem Publikum täglich neu vermitteln können, wie der Spitzensport zu verstehen ist,
welche Moral gilt, also „wer die Guten und wer die Bösen sind“ (Luhmann, 1996, S. 142). Das
immer wieder erfolgende Anmahnen einer Moral, die im Falle des professionellen Radsports
zu keiner Zeit handlungsleitende Rolle in der Praxis spielte, ermöglicht den Massenmedien
im Falle des öffentlichen Normverstoßes eine immer wiederkehrende „Information des
96
Besonderen“ (ebd.) über die berichtet werden kann. Im Umkehrschluss muss diese
moralisierende Praxis immer stärker verfolgt werden, je weniger Moral offensichtlich
erkennbar ist, damit die Besonderheit nicht zur Normalität wird. Die moralisierende
Berichterstattung erfüllt damit den Zweck, die Moral im Spitzensport diskursiv zu
implementieren. Die Massenmedien könnten schließlich nicht über Normverstöße berichten,
wenn es in Bezug auf den Radsport keine Norm gäbe. „Der Verstoß erzeugt erst eigentlich
die Norm, die vorher in der Masse der geltenden Normen eben nur gilt" (Luhmann, 1996, S.
62). Als für die Massenmedien günstiger Umstand erweist sich im Falle des Spitzensports die
Tatsache, dass eine Moral nicht künstlich diskursiv erzeugt werden muss, sondern durch die
positive Aufladung der vermeintlich existierenden Coubertinschen Ideale, das Doping als
eine negative Abweichung davon beschrieben werden kann.
„Und dies geschieht nicht in den riskanten Formen der Predigt oder der
Indoktrinationsversuche, die heute eher Tendenzen zur Gegensozialisation auslösen
würden, sondern in der harmlosen Form der bloßen Berichterstattung, die jedem die
Möglichkeit freistellt, zu dem Schluß zu kommen: so nicht!“ (Luhmann, 1996, S. 62)
Indem die Massenmedien permanent abweichendes Verhalten anklagen, implizieren sie,
dass es eine Moral im Spitzensport gäbe. „Der kontinuierlichen Reproduktion des ‚ist‘ wird
entgegengesetzt, wie es ‚eigentlich sein sollte‘“ (Luhmann 1996, 144). Die konsequente
Umsetzung dieser inszenatorischen Themensetzung bedeutet die Erfindung eigener
Sportveranstaltungen (vgl. Horky, 2001, S. 178-181). Interessanterweise entspricht die Tour
de France exakt diesen Prinzipien. Wie bereits erwähnt, ersann Henri Desgrange ein Rennen,
das übermenschliche Leistungen von dessen Teilnehmern abruft. Greifen sie bei dem
Versuch ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen zu unerlaubten Mitteln, ist bei einem
öffentlichen Bekanntwerden eine kontroverse Auseinandersetzung darüber die Folge. Die
Voraussetzungen für eine aufmerksamkeitserzeugende Berichterstattung im Sinne des
Publikums erfüllt sich in beiden Fällen. Entweder mit einer Heldengeschichte oder mit einem
Skandal.
4.3. Der Medienskandal
97
In Bezug auf den Medienskandal setzt Kepplinger (2005, S. 63) voraus, dass Skandale keine
Vorgänge sind, die berichtet werden können, da es sich nicht um „reproduzierte
Wirklichkeit“ (Burkhardt, 2006, S. 138) handelt. Skandalen sind hingegen erst die Folge der
öffentlichen Berichterstattung über Missstände (vgl. Kepplinger,2005, S. 63). Als Missstand
zeigt sich in diesem Zusammenhang eine in Bezug auf die sozial akzeptierte Norm- und
Moralkontexte stattfindende Grenzüberschreitung (vgl. Burkhardt, 2006, S. 75). In
Anlehnung an die Rahmentheorie Goffmans können Skandale insofern als „Deutungsrahmen
für moralische Verfehlungen von Personen und Personengruppen“ (Imhof, 2002, S. 73 zitiert
nach Burkhardt, 2006, S. 76) innerhalb eines medialen Diskurses verstanden werden. Soziale
Akteure, die durch ihre Handlungen keinen Skandal produzieren möchten, sollten sich
innerhalb des Diskurses folglich an die Regeln halten. In Bezug auf den Dopingdiskurs zeigt
der Skandal somit an, an welcher Stelle vorherrschende Moralvorstellungen missachtet
werden. Die Massenmedien verdeutlichen damit die Differenz von vermeintlich richtiger und
falscher Handlungsweise (vgl. Luhmann, 1996, S. 65), allerdings nicht in objektiver Art und
Weise, sondern im Hinblick auf ihre Konstruktionsprinzipien. Die Moral ist dabei weniger
Anlass als Vorwand der Skandalisierung (vgl. Burkhardt, 2006, S. 380). Haben soziale
Akteure, wie Desgrange, Simpson bzw. Goddet, Voets oder Sinkewitz die Grenzen des
gesellschaftlichen Moral-Rahmens übertreten, bedarf es der Anwendung bestimmter
Erzähltechniken, um den diskursiven Regelverstoß in Form eines Skandals bestmöglich
verwerten zu können. Es benötigt einer bestimmten Dramaturgie und unvorhergesehenen
Wendungen (Bergmann & Pörksen, 2009/02, S. 54). Die Journalisten sind somit als
Skandalproduzenten zu verstehen (vgl. Burkhardt, 2006, S. 139). Im Sinne einer
Ensembleverschwörung beziehen sie sich in ihrer Berichterstattung aufeinander
Berichterstattung (vgl. Kepplinger, 2005, S. 27), um einen Rahmen der Empörung zu
etablieren. Dazu müssen die Missstände als schwerwiegend dargestellt und Personen
angelastet werden können, die aus niederen Motiven gehandelt haben (vgl. ebd. S. 68). Im
Anschluss lassen sich nach Kepplinger (ebd S. 38-40) fünf semantische Dramatisierungen
eines Missstands im Dopingdiskurs der Tour de France identifizieren .
1. „Horror-Etiketten“: »Die Blutspur des Radsports«
2. “Verbechens-Assoziationen”: »Radfahr-Mafia«
3. „Super-GAU-Spekulationen“: » Der Dopingfall Sinkewitz ist der größtmögliche Unfall
für das Team T-Mobile«
98
4. „Katastrophen-Collagen“: »Sport ist kein Sport, Sport ist keine Unterhaltung mehr,
Sport ist Wirtschaftkriminalität, Sport ist Medikamentenmissbrauch, Sport ist Betrug«
5. „Schuld-Stapelungen“: »Sinkewitz beerdigt sein Team, die Tour, den Radsport«
Häufig zeigen die Journalisten dabei ein persönliches Interesse an der Skandalisierung (vgl.
Burkhardt, 2006, S. 140). Jens Weinreich, Sportjournalist der Berliner Zeitung, der im
Rahmen der »Tour de France«-Berichterstattung 2007 primär über Doping berichtete, sah
sich zuvor als Mitwisser und Teil des Systems: „Das [der Radsport] ist kriminelle Perversion
des Sports […]. Wir waren getrieben vom schlechten Gewissen […]. Wir haben im
Journalismus auch noch eine gewisse Verantwortung und eine kleine Bildungs- und
Erziehungsfunktion“ (Weinreich, 2007, S. 95-97). Somit sollen identifizierte Gefahren für die
Gesellschaft aufgedeckt und entschärft werden (vgl. Burkhardt, 2006, S. 380).
Das Publikum des Dopingdiskurses lässt sich dabei als Skandalrezipient identifzieren, der als
aktiver Konsument der Berichterstattung in Erscheinung und damit in Interaktion mit den
Skandalproduzenten tritt. Der Reiz des Rezipienten liegt dabei in einer Art
Ersatzbefriedigung, da durch die Medien stellvertretend Dinge thematisiert werden, die
normalerweise verdrängt und kaum verhandelbar erscheinen (Bergmann & Pörksen,
2009/02, S. 55). So ist dem Publikum möglicherweise bewusst, dass sie als Konsument des
Spitzensports die wesentliche Triebfeder der widersprüchlichen Anforderungen an die
Athleten sind, zugleich erfolgreich und sauber sein zu müssen. Der Dopingskandal kann
dabei nun erleichternd wirken und von der Verantwortung befreien, zumal man sich durch
ein Einstimmen in die öffentliche Empörung auf der Seite der »Guten« wähnt (ebd. S. 55).
Dies ist umso besser möglich, wenn die Skandalproduzenten einen Sündenbock identifiziert
haben, auf den sich die Schuld konzentriert, wie im Falle von Patrik Sinkewitz.
„Ich war zum richtigen Zeitpunkt der richtige Fahrer, auf den man alles abladen
konnte, ich war an allem schuld: Dass der Anti-Doping-Kurs nicht glaubwürdig ist,
dass das Fernsehen aussteigt, das sich angeblich nichts geändert hat. […] Es gab viele
Leute, die meinen Fall genutzt haben, um sich in der Öffentlichkeit besser
darzustellen“ (zitiert nach Hacke & Ludwig, 2007/45, S. 218)
Besonders Sinkewitz wurde zum Hauptdarsteller des Skandals (vgl. Burkhardt, 2006, S. 143),
und damit zum „symbolischen Opfer“ (Bergmann & Pörksen, 2009/02, S. 56). Für die
Öffentlichkeit wird dabei kaum ersichtlich, dass es sich beim Protagonisten des Skandals um
ein Produkt der Erzählung und weniger um die reale Person handelt (vgl. Burkhardt, 2006, S.
99
144). In der Ernennung des richtigen Opfers liege nach dem Publizisten Johannes Gross die
Kunst der Mächtigen, „um den Schuldigen zu schonen, jedenfalls aber, um die Herrschaft im
Ganzen vor dem Angriff zu retten“ (zitiert nach ebd.). Medienskandale veranschaulichen
damit Rahmungswettberbe um die symbolische Macht. Dabei handelt es sich nach Bourdieu
(1973, S. 12) um „jede Macht, der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen und sie als legitim
durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrundeliegen“
(zitiert nach Burkhardt, 2006, S. 133).
So zeigen sich an den Folgen der Medienskandale die Beweggründe der „Sieger-
Diskurskoalition“ (Burkhardt, 2006, S. 384), die das soziale System damit in ihrem Sinne
erneuern. Mit der Ausschließung von Sinkewitz reinigten sich die mit dem Dopingverdacht
beschmutzen Institutionen, die an dem Fahrer ihren Handlungswillen demonstrierten. Als er
danach ein umfassendes Geständnis ablegte, wie es die mediale Öffentlichkeit von ihm
verlangte, beschmutzte er erneut die gerade Reingewaschenen und wurde dafür
sanktioniert. Nur ein Jahr später zeigte sich, dass sich an dem flächendeckenden Doping bei
der Tour de France, wie in den vier Problematisierungen zuvor, nichts geändert hat. Die
Skandalisierung des Radsports dient sowohl dem Zweck einer moralischen »Reinwaschung«
des Spitzensports als auch der massenmedialen Leitmedien, in besonderer Form von ARD
und ZDF. In diesem Sinne fungiert der Radsport als Antiheld an dem alle am Spitzensport
beteiligten Akteure ihren Säuberungswillen demonstrieren können, um sich ein positives
Image zu verschaffen, aber auch um das übrige sportliche Schauspiel (Fußball, Biathlon,… )
davon weitgehend unberührt zu lassen. Darüber hinaus erzeugt es Aufmerksamkeit und
verschafft Reichweiten- und Umsatzsteigerungen. Ein Skandal fordert kurzfristige
Konsequenzen, führt aber langfristig zu keinen tiefgreifenden Veränderungen.
100
5. Fazit
„Die Grundlüge ist: Wir sagen, das ist Sport, das ist sauber und so weiter, es geht mit rechten Dingen zu und wir machen Journalismus. Aber ehrlicher wäre zu sagen‚ »übrigens, jetzt kommt die Show ‚Wetten, dass..?‘ und dann kommt die Show ‚Profiboxen‘. Da ist alles erlaubt und alles was sie hier sehen, ist eigentlich nur Fake«.
Aber so kann man es nicht verkaufen”18
Hajo Seppelt, ARD-Sportreporter
Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass der Dopingdiskurs bei der Tour de France auf
beiden Aussagebenen Intentionen verfolgt, die im Rahmen der öffentlichen
Auseinandersetzung nicht mitkommuniziert werden. Das sportliche Theater gibt sich nicht
als solches zu erkennen, sondern erfährt seinen gesellschaftlichen Wert und Status gerade
aus der Tatsache, dass das Publikum die Handlungen auf der Bühne als realistisch erachtet.
„Doch alles hängt davon ab, daß sich die Wettkämpfer so verhalten, als wäre der Ausgang
des Wettkampfes ihr Beweggrund. Sie müssen also überzeugend so spielen, als ging es ihnen
um etwas anderes als die Unterhaltung der Zuschauer“ (Goffman, 1977, S. 144). Das Spiel
namens Spitzensport ermöglicht im Gegensatz zu anderen Unterhaltungsangeboten ein
emotionales Versinken des Zuschauers, das umso intensiver erfolgen kann, da es nicht den
Anschein der Fiktion vermittelt. Es wirkt täuschend echt, weil die Athleten vor den Augen
des Publikums um Sieg und Niederlage kämpfen. Diese Untersuchung soll jedoch
veranschaulichen, dass sich bei der Darstellung eines Theaters namens Tour de France, um
eine Konstruktion handelt, die nach den Gesetzmäßigkeiten der sie hervorbringenden
Institutionen erzeugt wird. Für die Realisierung des Stücks auf der ersten Bühne sind
Regisseure mit der Koordinierung ihrer Darsteller, dem Schreiben des Drehbuchs und der
Wahl der Kulissen verantwortlich. Auf der zweiten, medialen Vermittlungsebene hingegen
wird die vorgegebene Handlung nochmals neu arrangiert, dramatisiert und diskutiert, um
das Stück einem größtmöglichen Publikum zu präsentieren. Erst die Kommunikation verhilft
den Sachverhalten zu einer Bedeutung (vgl. Luhmann, 1996, S. 74-75). Der französische
Philosoph Roland Barthes erkennt in der Tour de France ein episches Schauspiel. Dabei wird
aus einem Wettkampf eine „Schlacht“ (Barthes, 1986, S. 29). Erst die sprachliche
Kommentierung und Bewertung des Wettkampfgeschehens macht die flüchtigen Vorgänge
für das Publikum fassbar. Dabei entsteht aus dem Zusammenspiel eines moralischen
Anspruchs und reinem Leistungsdenken ein zweideutiger Mythos: „Die geschickte Mischung
18 (zitiert nach Fleischmann, 2007, S. 261)
101
[…] des idealistischen […] und realistischen Alibis, erlaubt der Legende, mit einem Schleier,
der ehrenvoll und aufregend zugleich ist, die ökonomischen Zwänge unseres großen Epos
vollkommen zu bedecken“ (ebd.).
Das Doping entzaubert dieses Schauspiel nun auf den ersten Blick, da es den Vorhang lüftet,
der die Hinterbühne vor den Blicken des Zuschauers schützt. Bei näherer Betrachtung
offenbart sich allerdings, dass es sich dabei um ein weiteres Spiel im Spiel handelt. Im Zuge
der Entwicklung der Tour ereignete sich eine Machtverschiebung von der ersten in Richtung
der zweiten Wahrnehmungsebene. Während Desgrange am Anfang das Rennen auf beiden
Ebenen allein gestaltete, wuchs das Rennen im Zuge der Mediatisierung, des Sponsorings
und der sportpolitischen Einflussnahme immer stärker in Richtung der zweiten Ebene für
den globalen Markt. Damit wird gerade den medialen Regisseuren ein Zusatz an
Einflussnahme zuteil, der vermeintlich gefährdet, aber letztendlich beschützt. Wenn ein
Markt, wie im Falle von Deutschland mit Jan Ullrich, einen Hauptdarsteller hervorbringt,
kann die Tourleitung sicher sein, dass der Mythos Tour de France diskursiv genährt wird.
Bleibt der Erfolg plötzlich aus, muss das Berichterstattungsvakuum mit anderen Themen
ausgefüllt werden, die ähnliche Dramatik versprechen.
Insofern spielt das Doping in einem Theater namens Tour de France die Rolle der
handlungsauslösenden Requisite im Drama der Ereignisse. Basierend auf den
Zuschauererwartungen erzeugen die Massenmedien im Dopingdiskurs im- oder explizit
einen paradoxen Rahmen aus Leistungshuldigung und Moralanmahnung aus dessen
Spannungsfeld sich in jedem Fall berichtenswerte, weil unterhaltende Ereignisse ergeben.
Der Zuschauer bekommt, wenn er sich nicht mehr in seinen nationalen Helden einfühlen
kann, ein Pausenprogramm aus Razzien und Verhören geboten. Sportart, Rezipient, Medien
und die politischen Entscheidungsträger können sich dabei an Sündenböcken moralisch
reinwaschen, indem zum Zwecke der Machterhaltung - mit symbolischer Dramatik gegen die
»Dopingtäter« zu Felde gerückt wird. Aber auch für den »Sünder« wird die Absolution
erteilt, solange sie sich reuig zeigen und somit an die Spielregeln halten. Darüber hinaus
sensibilisiert, stabilisiert und schützt der Skandal das kritisierte System vor zukünftigen
Eingriffen, wenn es wie im Falle der Tour stabil genug ist, also über genügend diskursive
Macht verfügt, sich im anfänglichen Sturm der Entrüstung zu behaupten. Da Skandalisierer
öffentliche Empörung benötigen, fordern sie das Mitspielen des Zuschauers heraus. Das
102
Rollenspiel zwischen diesen Ensembles kann sich auf beiden Ebenen erneuern, da der
Skandal-Diskurs die Regeln, der zu diesem Zeitpunkt vorherschenden diskursiven Grenzen
offenbart. Anhand dieses Rahmens lassen sich in der Folge die Reaktionen der Akteure für
die Zukunft institutionalisieren. Weiterhin verjüngt sich die Moral bei der Tour und dank der
beteilgten Akteure im gesamten Spitzensport, indem sie über den Diskurs künstlich in das
System implementiert wird.
Zusammenfassend aktualisiert sich durch den öffentlichen Dopingskandal der
Interaktionszusammenhang aller Akteure, lässt den Spitzensport »reiner« als vorher
erscheinen und überbrückt die Wartezeit auf einen neuen nationalen Helden auf
unterhaltsame Weise. Ein Held, der nach einer vermeintlichen Krise umso heller strahlen
kann. Denn: Das Gute entsteht auf der Bühne immer erst durch die Abgrenzung zum Bösen.
103
ERKLÄRUNG
Hiermit erkläre ich, dass ich diese Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe angefertigt
habe. Weiterhin sind keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet
worden. Ferner wird hiermit versichert, diese Arbeit nicht an anderer Stelle als
Qualifikationsarbeit eingereicht worden ist.
104
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