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Das jugoslawische Rätsel: Enklavendemokratie, Staatsschwäche und Probleme externer Demokratieförderung «The Yugoslav Puzzle: Enclave Democracy, Weak States and Problems of External Democracy Promotion» by Dieter Segert; Vefran Džihić Source: Südosteuropa Mitteilungen (Südosteuropa Mitteilungen), issue: 0304 / 2009, pages: 4865, on www.ceeol.com .

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Das jugoslawische Rätsel: Enklavendemokratie, Staatsschwäche undProbleme externer Demokratieförderung

«The Yugoslav Puzzle: Enclave Democracy, Weak States and Problems of ExternalDemocracy Promotion»

by Dieter Segert; Vefran Džihić

Source:Südosteuropa Mitteilungen (Südosteuropa Mitteilungen), issue: 03­04 / 2009, pages: 48­65, onwww.ceeol.com.

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Dr. Vedran Džihićgeboren 1976 in Prijedor (BiH), seit 1993 in Österreich; Studium der Politikwissenschaften,Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien.Derzeit Wissenschaftlicher Post-Doc-Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften sowieLektor an der Universität Wien; Vortragender am Balkan-Lehrgang der Universität Wien, inBratislava und in Sarajevo; Direktor des Center for European Integration Strategies (CEIS),Genf-Wien-Sarajevo.Kontakt E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Dieter Segertgeboren 1952 in Salzwedel (DDR); Studium der Philosophie in Berlin und Moskau.Seit 2005 Professor für Politikwissenschaft (Schwerpunkt Osteuropa), seit 2009 stellv. Sprecher derForschungsplattform „Wiener Osteuropastudien“ an der Universität Wien, Mitglied des Vorstandsdes Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM); Leiter des Forschungsprojekts„Europäisierung von Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien. Interne Voraussetzungen undFolgen eines EU-Beitritts“ (2008-2011) an der Wiener Universität.Kontakt E-Mail: [email protected]

Der gemeinsame Beitrag wurde geschrieben im Mai 2009.

The Yugoslav Puzzle: Enclave Democracy, Weak States and Problemsof External Democracy Promotion

SummaryThe paper deals with the limited electorate democracy in the countries of ex-Yugoslavia and itsrelation to weak and dysfunctional welfare states, discussing it within the framework of thecurrent debates on transformation and democratisation.The first question is why the ex-Yugoslav region has remained a rather undiscovered area withinthe democratisation studies? Another puzzle lies within the dilemma why the liberal type ofYugoslav socialism has caused so many difficulties during the democratisation processes since1989, contrary to other East European countries which had faced more difficult preconditions fordemocratisation.Starting from the in-depth knowledge of the regional debates, the paper perceives two complexsequencing problems of the political change in post-Yugoslavia, while it concurrently criticiseswestern bias towards the region.

Vedran Džihić / Dieter Segert

AnalysenPositionen

Essays

Der post-jugoslawische Raum als Problemfall

In den 1990er Jahren sahen die meisten Forscher die Demokratie weltweit auf demVormarsch. Die Beschäftigung mit ihren Erfolgsbedingungen hatte Konjunktur.Inzwischen mehren sich die Zweifel. Bisher wurde diese Kritik allerdings vorwiegendausgehend von der Analyse der post-sowjetischen Region vorgetragen. Hier wurdenhybride Regime, „nutzloser Pluralismus“ und autoritäre Wahlregime wahrgenommen. 1

Viel schärfer würde das Urteil bezogen auf den Raum des ehemaligen Jugoslawienausfallen, jedoch ist dieser Raum weithin ein weißer Fleck auf der Landkarte derDemokratisierungsforschung. Das mag zunächst daran liegen, dass es sehr schwer ist,eine stimmige Bilanz für die ganze Subregion zu ziehen: Slowenien gilt als weitge-hend problemloser Transitionserfolg, daneben gibt es aber auch das widerspenstigeSerbien sowie Bosnien-Herzegowina, wo selbst der nationalstaatliche Rahmen höchstlabil geblieben ist. Kosovo ist trotz gewisser Fortschritte weiterhin einer jener Fällevon politischer Entwicklung, in dem der informierte westliche Beobachter immer nurhoffen kann, dass der nächste Tag ihm keine unangenehmen Überraschungen bringt.Kroatien liegt näher an den westlichen Erwartungen – von einer nachhaltigenDemokratie kann aber wegen der starken Symptome eines ethnischen Nationalismusebenfalls nicht gesprochen werden. Mazedonien ist auf der Demokratisierungs- undEuropäisierungsagenda ein eingefrorener Fall. Montenegro ist – vielleicht wegenseiner Kleinheit – in der letzten Zeit überhaupt aus der öffentlichen Aufmerksamkeitherausgefallen.

Vielleicht liegt dieser Abstinenz gegenüber der post-jugoslawischen Region aberauch die Tatsache zugrunde, dass ein Teil der westlichen Beobachter vor 1989 seineHoffnungen mit dem jugoslawischen „dritten Weg“ der Entwicklung verbundenhatte, und jene Gruppe durch die nationalistisch motivierten Gewalttaten nach 1989

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Vedran Džihić / Dieter Segert

Das jugoslawische Rätsel:Enklavendemokratie, Staatsschwäche undProbleme externer Demokratieförderung

1 Siehe z.B. Thomas Carothers: The End of the Transition Paradigm, in: Journal of Democracy, 13,1, 2002, 5-21; Steven Levitsky / Lucan Way: The Rise of Competitive Authoritarianism, in: Journal ofDemocracy, 13, 2, 2002, 51-63.

geradezu traumatisiert worden ist. Der scheinbar günstigste Fall eines vordemokrati-schen Regimes wurde zur größtmöglichen Katastrophe.

Sicherlich haben auch die Kriegsereignisse, die nahezu den gesamten Verlauf der1990er Jahre das betreffende Gebiet nachhaltig prägten, dazu beigetragen, dass diepost-jugoslawischen Entwicklungen ein weißer Fleck in den Debatten und Analysender allgemeinen Transformations- und Demokratisierungsforschung geblieben sind.Die Kriege haben jedenfalls den „gewöhnlichen“ und mehr oder weniger geradlinigenTransitionsweg anderer ost- und mitteleuropäischer Staaten unmöglich gemacht.Sie führten auch dazu, dass das positive „Staatlichkeits- und Bürokratievermächtnis“des Staatssozialismus 2 gerade in diesem Raum nicht schlagend wurde.

Unsere Vermutung ist, dass es jene Spezifika sind, die den ex-jugoslawischen Raumvom Bildschirm der komparativ ausgerichteten Transformations- und Demokratisie-rungsforschung haben verschwinden lassen. Abgesehen von zwei großen vergleichen-den Bänden zur Demokratisierung in den Staaten des Balkan 3 sowie einigenaktuellen Beiträgen in den einschlägigen Zeitschriften 4 wurden die Transforma-tionsprozesse dieses Raumes zu einem Spezialthema von westlichen Länder-spezialisten sowie von publizistischen und wissenschaftlichen Debatten in jenenLändern selbst, die – da sie in den Sprachen des Raumes ablaufen – in der westlichenTransformations- und Demokratisierungsforschung unbekannt sind.

Post-Jugoslawien ist also für das Demokratisierungsparadigma aus verschiedenenGründen ein schwieriger Fall: Zwar ist es zu einer gewissen Konsolidierung derInstitutionen der demokratischen Herrschaft gekommen, Wahlen sind auch hier zumgrundlegend akzeptierten Weg des Machtwechsels von Eliten an der Spitze derpolitischen Entscheidungshierarchien geworden, aber eine Ausweitung der demokra-tischen Teilhabe geschieht nicht oder nur auf einzelnen Gebieten oder schleppendund nicht nachhaltig. Die Eliten nutzen die begrenzte Form von Teilhabezur Festigungihrer eigenen Macht. Die Zivilgesellschaften sind teilweise ethnisch-national tiefgespalten.

Im intraregionalen Vergleich der verschiedenen osteuropäischen Subregionen sind dieParallelen zwischen dem post-jugoslawischen Raum und den post-sowjetischenStaaten am deutlichsten. Auch in den meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion

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2 Wolfgang Merkel: Gegen alle Theorie? Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa, in:Politische Vierteljahresschrift, 48, 3, 2007, 413-433, hier 429.

3 Karen Dawisha / Bruce Parrott (eds.): Politics, power, and the struggle for democracy in South-East-Europe, Cambridge 1997; sowie Geoffrey Pridham / Tom Gallagher (eds.): Experimenting withDemocracy. Regime Change in the Balkans, London/New York 2000.

4 Valerie Bunce: Rethinking Recent Democratization. Lessons from the Post-communist Experience, in:World Politics, 55 (January 2003), 167-192; Valerie Bunce: The National Idea: Imperial Legacies andPost-communist Pathways in Eastern Europe, in: East European Politics and Society, 19, 3, 2005, 406-442; sowie Srdjan Vučetić: From Southern to Southeastern Europe. Any Lessons for DemocratisationTheory?, in: Southeast European Politics, 5, 2-3, 2004, 115-141.

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5 Vgl. zum Ausgangspunkt des post-sozialistischen Transformationsprozesses im SpätsozialismusDieter Segert (Hg.): Postsozialismus. Hinterlassenschaften des Staatssozialismus und neueKapitalismen in Europa, Wien 2007, speziell zu den 1980er Jahren in Jugoslawien: S. 17 f., 209 ff.

6 Eduard Said: Orientalism, New York 1978.7 Vedran Džihić / Silvia Nadjivan / Hrvoje Paic / Saskia Stachowitsch: Europa – verflucht begehrt.

Europavorstellungen in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien, Wien 2006.

existiert diese Form demokratisch legitimierter Elitenherrschaft. – Genauer betrachtetist das Rätsel der post-jugoslawischen Demokratisierung aber noch größer als dasanfangs genannte des post-sowjetischen Raumes: Das ergibt sich vor allem aus jenerAusgangsposition eines relativ liberalen Typs von Sozialismus, der durch die Öffnungseiner Grenzen und Implementierung bestimmter Elemente sozialer Marktwirtschafteine größere Nähe zum westlichen Wertesystem aufgewiesen hatte. Jener meisttabuisierte Hintergrund des weitgehend beschwiegenen Absturzes von „Jugoslawien“vom „best case“ zum „worst case“ ist auch eine der Grundlagen unserer eigenenDeutung des aktuellen Umgangs mit der Subregion „Post-Jugoslawien“. 5

Am post-jugoslawischen Fall lässt sich darüber hinaus ein im Demokratisierungs- undEuropäisierungsdiskurs allgemein vorhandener Bias deutlich erkennen. Jener wurdebereits vor langem in der Orientalismus-Debatte artikuliert: 6 Die unübersehbareErwartung der Leichtigkeit eines Fortschritts der Demokratie in nichtwestlichenGesellschaften ist im Kern im Wunsch des Westens verwurzelt, die universelleGültigkeit der eigenen Wertorientierung auch im fremden Gegenüber, dem„Osten“,bestätigen zu können. Es sind also weniger objektive Trends als subjektive Wahrneh-mungen, die eine nüchternere Analyse behindert haben. Analog zur Demokratisie-rungsdebatte lässt sich dieser Bias auch im Diskurs über die „Europäisierung“ derStaaten Post-Jugoslawiens wieder erkennen. 7

Damit verbunden ist eine einseitige Sicht auf die Chancen der externen Unterstüt-zung von Demokratie: Sie wird zu sehr als Einbahnstraße des Exports von Stabilitätund einer im Westen geschätzten Werteordnung gesehen, ohne aber die internenVoraussetzungen für eine Übernahme der Botschaft in den Zielgesellschaften genü-gend zu beachten. Der in diesem Wechselverhältnis von internationalen und lokalenAkteuren ablaufende Prozess der gegenseitigen Täuschungen und Enttäuschungenverbleibt deshalb weitgehend außerhalb der Betrachtung.

Wenn man aber den Bias eines „westlichen Blicks“ zu vermeiden versteht, kann geradeam post-jugoslawischen Fall viel über die notwendigen Voraussetzungen sowie auchdie Grenzen demokratischer Entwicklungen im Allgemeinen gelernt werden. Wirwerden wie folgt vorgehen: Zunächst werden die internen (strukturellen) Schwächenund Probleme der post-jugoslawischen Region, die zur Entwicklung einer spezifi-schen Form von politischem Wahlregime geführt haben, diskutiert. Dann wird derFrage nachgegangen, inwieweit externe Einflüsse den Verlauf der Demokratisierungbeeinflussen können und wie die normativen Annahmen der diese Einflüsse ausüben-den Akteursgruppen deren Erfolg Grenzen setzen. In diesem Kontext werden wir uns

auf eine Auswertung der kritischen Reflexionen von Forschern aus den betreffendenGesellschaften selbst stützen, die wir im Rahmen eines laufenden Forschungsprojektesvorgenommen haben.

Konsolidierte Demokratie auf niedrigem Niveau und ihre Grenzen –Dilemmata der post-jugoslawischen Entwicklung

Die Elemente eines autoritären Wahlregimes oder auch einer sehr engen Wahldemo-kratie, von spezifischen hybriden, dabei aber einigermaßen stabilen, Regimen sindanhand der Entwicklungen im post-sowjetischen Raum in den 1990er Jahren gutherausgearbeitet worden. Sie können insofern der Analyse des „post-jugoslawischen“politischen Wandels zu Grunde gelegt werden.

Jener spezifische Typ eines autoritären Regimes wurde ausgehend von der Ukraineunter Präsident Leonid Kučma entwickelt, so wie er sich dort am Ende seinerAmtszeit, nach dem Mord an dem Journalisten Gongadse im Jahr 2000, herausgebildethatte. Das betreffende politische Regime wurde von verschiedenen Wissenschaftlernals autoritäres Wahlregime („electoral authoritarianism“) gekennzeichnet. 8 Ineinem hybriden Regime sind die autoritären Elemente ebenso stabil wie die demokra-tischen. Ungeachtet der regelmäßigen freien Wahlen ist vor allem die politischeGleichheit aller Bürger, damit der nachhaltig demokratische Charakter der Macht,nicht gewährleistet. Von dieser Herrschaft profitierten vor allem die wirtschaftlichenund politischen Eliten. Daneben wurde ein erhebliches Gewicht informeller Regelnund Akteure beobachtet, durch welche die formellen Institutionen teilweise unter-graben, teilweise gestützt wurden. 9 Schließlich wird das Regime durch zwei weiterewesentliche Merkmale charakterisiert: die geringe Unabhängigkeit der Gerichte undein schwach ausgeprägtes Rechtsstaatsverständnis in allen Gruppen der politischenElite. 10 Ukrainische Politiker wollen mit den Verfassungsregeln spielen statt dieseihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Viele der für das Kučma-Regime konsta-tierten Merkmale gelten im Übrigen bis heute, auch nach der „Orange Revolution“.Auch darin zeigt sich die Stabilität solcher hybriden politischen Regimes, die sich nurschwer in Richtung auf eine Verstärkung der demokratischen Merkmale desRegimetyps verändern lassen.

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8 Jüngst Paul D'Anieri: Understanding Ukrainian politics: power, politics, and institutional design,Armonk, NY [u.a.], Sharpe 2007; vgl. aber auch Thomas Carothers 2002, Larry Jay Diamond: Thinkingabout Hybrid Regimes, in: Journal of Democracy 13, 2, 2002, 21-35; Steven Levitsky / Lucan Way 2002.

9 Vgl. auch Heiko Pleines: Ukrainische Seilschaften: informelle Einflussnahmen in der UkrainischenWirtschaftspolitik 1992-2004, Münster 2005; siehe auch Dieter Segert: Political Parties in Ukrainesince the ‚Orange Revolution’, in: Juliane Besters-Dilger (ed): Ukraine on Its Way to Europe?Frankfurt/Main: Peter Lang 2009, S. 45-59.

10 Dieter Segert: Rechtsnihilismus und Entfremdung der politischen Klasse von der Gesellschaft alsQuelle politischer Turbulenzen, in: Ukraine Analysen 22, 2007, 9-10. Die wichtigste damit verbundeneThese ist: Es gibt keinen per se mit der Demokratie als Werteordnung verbundenen Teil der politischenElite.

Jenes autoritäre Wahlregime, in dem die politischen Eliten ihre exklusive Herrschaftdurch informelle politische Institutionen absichern, ist im post-jugoslawischen Raumzusätzlich durch die Existenz von starken ethnisch ausgrenzenden Nationalismengekennzeichnet. Eine begrenzte „Wahldemokratie“ konnte sich in „Post-Jugoslawien“auf ein starkes Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung stützen, das sich im Gefolgeder Krise und des gewaltsam vorangetriebenen Zerfalls des vorangegangenen Staatesherausgebildet hatte. 11 Die ethnisch abgrenzenden Nationalstaatsbildungen weistin diesen Gesellschaften eine breitenwirksame sozialpsychologische Grundlage, einespezifische „mentale Ebene“ auf. 12 Die Bürger sehen mehrheitlich in der Absiche-rung der eigenen Nation gegenüber den anderen neuen Staaten bzw. im dadurchentstehenden subjektiven Gefühl einer individuellen „Sicherheit“ im Rahmen einesgrößeren Kollektivs (der Nation) eine wesentliche Leistung ihres neuen Staates. Ererwirbt dadurch in ihren Augen Legitimität.

Ausgangspunkt dafür sind die für die 1980er Jahre im post-jugoslawischen Raumherrschende Krise und Instabilität sowie der damit verbundene hohe Grad von per-sönlicher Unsicherheit in der Bevölkerung. In der damals grassierenden Wertekrisesowie den elementaren politischen und wirtschaftlichen Instabilitäten des altenRegimes entstanden und verbreiteten sich jene starken Bedürfnisse nach persönlicherSicherheit. Es handelt sich bei den mentalen Dispositionen in der Bevölkerung alsonicht um ein Merkmal von Post-Kriegsgesellschaften, sondern sie entstanden bereitsin der Krise des jugoslawisch-sozialistischen Regimes im vorangegangenen Jahrzehnt.

Die Kriegssituation vergrößerte allerdings jenes Bedürfnis durch die mit ihr verbunde-ne wirtschaftliche Zerrüttung zusätzlich: So brach beispielsweise in Kroatien dasBruttosozialprodukt (BSP) von 5.106 US $ im Jahr 1990 auf 2.079 US $ im Jahr 2002ein. In den Kriegshandlungen wurden 37 % des kroatischen Wirtschaftspotenzialszerstört, die Gesamtschäden beliefen sich auf 23 Milliarden US $. Daraus resultiertender Verfall des Lebensstandards, die hohen Arbeitslosenraten und eine große sozialeNot in breiten Schichten der Bevölkerung. 13 In Bosnien-Herzegowina, dem Schau-platz des längsten und blutigsten Krieges in der Region, waren die Folgen nochverheerender: Das BSP fiel von 1.900 US $ pro Kopf im Jahr 1990 auf weniger als500 US $ im Jahr 1995. Die Industrie konnte nach dem Krieg nur mit 7 % derVorkriegskapazitäten arbeiten. Mehr als 80 % der Bevölkerung waren unmittelbarnach dem Ende des Krieges auf humanitäre Hilfe angewiesen, die Arbeitslosigkeit lagdamals bei 80 %. 14 Auch in Serbien, dessen Territorium von Kampfhandlungen (mit

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11 Gewiss spielten für die Entstehung der aggressiven Nationalismen Ende der 1980er Jahre auch dieunaufgearbeitete Geschichte der innerjugoslawischen ethnischen Konflikte während des ZweitenWeltkrieges sowie geringe Erfolge der sozialistischen Nationalitätenpolitik eine Rolle.

12 Zagorka Golubović: Izabrana dela, Band 3, 4, 5/6, Beograd 2007.13 Herbert Büschenfeld: Die wirtschaftliche Lage der Nachfolgestaaten Jugoslawiens vor dem Kosovo-

krieg, in: Dunja Melcic (Hg.): Der Jugoslawienkrieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf undKonsequenzen, Opladen/Wiesbaden 1999, 507-523, hier 510 ff.

14 Robert Biedeleux / Ian Jeffries: The Balkans. A Post-Communist History, London/New York 2007.

Ausnahme der NATO-Bombardements im Jahr 1999) verschont blieb, das sich aberan allen Kriegen aktiv beteiligte, waren die Folgen der Kriege für den Alltag derBevölkerung enorm. Allein in den Jahren zwischen 1990 und 1997 verringerte sichdie Wirtschaftsleistung um 60 % und die Arbeitslosenrate stieg von 19,7 % im Jahr1990 auf 30 % im Jahr 1997. 15 Durch den Krieg im Kosovo im Jahr 1999 kam es zueiner weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation und Deprivierungweiter Kreise der Bevölkerung. Das BSP sank im Jahr 1999 um 19 % und betrug zudiesem Zeitpunkt nicht einmal mehr die Hälfte des BSP aus dem Jahr 1989. DieArbeitslosenraten lagen bei fast 50 %, die Armut war ausgeprägt. 16

Den politischen Eliten gelang es in allen diesen drei NachfolgegesellschaftenJugoslawiens, das innerhalb breiter Kreise der Bevölkerung in der spät-sozialistischenKrise und den post-sozialistischen Kriegen entstandene elementare Sicherheits-bedürfnis mittels nationalistischer Mobilisierung einigermaßen zu befriedigen. Aufdiese Weise erreichten die entstandenen engen Wahlregime in den 1990er Jahreneine gewisse Legitimität in der Bevölkerung. Das galt zumindest in Kroatien fürTuđman und seine HDZ sowie in Serbien für Milošević und seine Machtstrukturen. InBosnien führte derselbe Typ von Mobilisierung zu einer Unterstützung der dominie-renden ethnisch-nationalen Parteien und ihrer Machtansprüche, aber gerade deshalbnicht zur Stabilität des föderalen Staates.

An der Mobilisierung der Menschen auf nationaler Basis und ihrem Bedürfnis nachSicherheit im Rahmen des großen nationalen Kollektivs hat sich bis heute weniggeändert. Dies zeigen nicht zuletzt die Ereignisse rund um die Ausrufung derUnabhängigkeit des Kosovo im Februar 2008 und die Reaktionen in Serbien. DieAbsicherung der Elitenherrschaft wurde ungeachtet dessen erreicht, dass anderewichtige Ziele und Interessen der Bevölkerung durch die neuen Regime eher behindertwerden – so jenes nach einer funktionierenden Sozialstaatlichkeit. 17

Wie lässt sich nun die beschriebene Form von Herrschaft begrifflich fassen? – Dieenge Wahldemokratie lässt sich am besten als ein Regime der Elitenherrschaft ver-stehen, das eine gewisse Unterstützung seitens der Bevölkerung erfährt. Es handeltsich dabei um eine Form von konsolidierter Demokratie auf einem sehr niedrigenNiveau ohne jede Ambition der politischen Klasse, die Qualität der demokratischenHerrschaft in Zukunft zu verbessern. In der staatlichen Politik dominieren die engenInteressen der politischen und wirtschaftlichen Eliten, die meist miteinander ver-flochten sind. In diesem Sinn sollte ein solches enges Wahlregime eher als hybridesSystem charakterisiert werden, weil in ihm formale demokratische Trends mitautoritären unauflöslich verkoppelt sind.

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15 Herbert Büschenfeld 1999, 513.16 Robert Biedeleux / Ian Jeffries 2007, 266-267.17 Dušan Pavlović / Slobodan Antonić: Konsolidacija demokratskih ustanova u Srbiji posle 2000.

godine, Beograd 2007, 234.

Obwohl „hybride Regime“ und „defekte Demokratien“ als alternative Konzepte debattiertworden sind, lassen sich bestimmte Seiten des zweiten Begriffs in der post-jugosla-wischen Fallgruppe mit Erkenntnisgewinn ebenfalls anwenden. Dafür eignet sich derBegriff von „Enklavendemokratie“, 18 der im Kontext der zweiten Debatte entwickeltworden ist. Die demokratische Elitenherrschaft auf dem heutigen „Westbalkan“verfügt über starke undemokratische Vetospieler, die den Ausbau der Partizipationder Bevölkerung sowie auch die Funktionsweise der demokratisch gewählten Vertre-tungskörperschaften stark behindern. In ihr existieren also exklusive Domänen, indenen Teile der Eliten ohne demokratischen Auftrag und Kontrolle herrschen. DasMeer der Demokratie ist hier gewissermaßen mit autoritären Inseln durchsetzt.

Die nicht-demokratischen Enklaven beziehen ihre Wirkungskraft aus symbolischenReferenzen auf die “nationale Frage” und behindern auf diesem Weg die weitereEntwicklung der Demokratie. 19 Diese Verteidigung der “nationalen Sache” ist denMenschen so sehr heilig, dass die Eliten selbst dann auf die Unterstützung derBevölkerung rechnen können, wenn es dadurch zu Verzögerungen des EU-Beitritts-prozesses kommt. 20 Davon zeugten z. B. die lebhaften Demonstrationen gegen denArrest von Ante Gotovina in Kroatien und die wütende öffentliche Reaktion inSerbien angesichts der verkündeten Unabhängigkeit des Kosovo. Enklaven im eigent-lichen Sinn jener Vetospieler sind bestimmte politische Institutionen, wie vor allemGeheimdienste oder Teile von ihnen bzw. der Armee, die von der demokratischgewählten Regierung nicht völlig kontrolliert werden können. Am bekanntesten fürdie Existenz solcher undemokratischen exekutiven Enklaven ist der langjährigeSchutz von Radovan Karadžić durch die serbische Geheimpolizei ungeachtet derTatsache, dass dessen Verhaftung eine zentrale Bedingung für den weiteren europäi-schen Integrationsweg Serbiens war.

Wenn man nach den historischen Ursachen des Phänomens sucht, dann stößt man aufjenes Problem der richtigen Sequenz von Demokratisierung. Unter bestimmtenBedingungen, besonders denen eines unsicheren nationalstaatlichen Rahmens oderzugespitzter ethnisch ausgrenzender Konflikte, können frühe Wahlen der Entstehungeiner funktionierenden Demokratie erhebliche Hindernisse in den Weg stellen. So wares am Beginn der 1990er Jahre im gesamten betrachteten Raum: Durch die vorzeitigeDurchführung freier Wahlen und die Fokussierung auf die schnelle Einrichtungformaler Institutionen des politischen Wettbewerbs wurde die Ethnisierung vonPolitik und somit die Kompromissunfähigkeit der politischen Eliten gefördert. 21

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18 Wolfgang Merkel / Andreas Busch (Hrsg.): Demokratie in Ost und West. Für Klaus von Beyme,Frankfurt 1999, 361-381; Wolfgang Merkel / Hans-Jürgen Puhle: Defekte Demokratien. Band 1:Theorie, Wiesbaden 2003.

19 Vgl. Dušan Pavlović / Slobodan Antonić 2007.20 Vgl. z.B. Tina Freyburg / Solveig Richter: National Identity Matters. The limited impact of EU

Political Conditionality in the Western Balkans, Working Papers, NCCR Democracy 21, June 2008.21 Thorsten Gromes: Demokratisierung nach Bürgerkriegen. Das Beispiel Bosnien-Herzegowina,

Frankfurt/New York 2007; und Ivan Krastev: The Balkans, Democracy without Choices, in: Journalof Democracy 13, 3, 2002, 39-53; siehe auch Nenad Dimitrijević: Ustavna demokratija shvacenakontekstualno, Beograd 2007; sowie Asim Mujkić 2007.

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Die Gleichzeitigkeit von Demokratisierung und Zerfall der multiethnischen Föderationsowie der Neubildung von ethnischen Nationen auf dem westlichen Balkan produ-zierte eine ganze Reihe von ungünstigen Nebenwirkungen. 22 In den (exklusiv undoft auch aggressiv gegen die jeweils „Anderen“ ausgerichteten ethnischen) neuenNationen werden die Positionen der politischen Eliten in besonderer Weise gestärkt.Man kann sogar von einer elitenkontrollierten bzw. durch sie usurpierten Staat-lichkeit sprechen. Bestimmend ist die elitentreue Verwaltung, deren Loyalität sowohldurch die nationalistische Ideologie als auch eine klientelistische Verteilung vonmateriellen Vorteilen und Prestige gesichert wird. 23

In der betrachteten Region fehlt es an jenem wirtschaftlichen und sozialen Umfeldeiner nachhaltigen Demokratie, das nur entsteht, wenn der Staat die Aufgabe derProduktion kollektiver Güter und ihrer gerechten und sozial angemessenenVerteilung erfolgreich löst. Das verweist auf ein weiteres Problem jener Form einerstabilen, aber eingeschränkten Demokratie: Eine Wahldemokratie ohne eine funktio-nierende Staatlichkeit ist offensichtlich nicht nachhaltig. Die Bedeutung desStaatlichkeitsproblems ist bereits umfassend debattiert worden. Merkel hat kürzlichfür die Staaten Ostmitteleuropas, in denen eine demokratische Konsolidierungerfolgreich verlaufen ist, auf das positive Erbe des Staatssozialismus in Gestalt einereinigermaßen funktionierenden Staatlichkeit hingewiesen. 24 Ein solches positivesErbe konnte aber im untersuchten Raum nicht wirksam werden, weil die ethnisch-nationalen Eliten im zerfallenden jugoslawischen Staat die staatlichen Apparateusurpierten und sie vorrangig als Instrumente für die Befriedigung enger eigenerInteressen nutzten.

Damit wird ein spezifisches zweites Problem einer richtigen Sequenz derTransformation sichtbar: Wenn solche engen Wahldemokratien aufgebaut werden,ohne gleichermaßen eine auf die Produktion kollektiver Güter ausgerichtete staat-liche Verwaltung zu fördern, stößt sie als demokratische Ordnung der Gleichheitnotwendigerweise an enge Grenzen. Sie wird dann subjektiv von den Bürgern undBürgerinnen auch als defizitär wahrgenommen: In diesem Sinn erscheint ihnen einefunktionierende Staatlichkeit wichtiger als freie Wahlen. Oder anders gesagt: DieFestigung einer guten Staatlichkeit, ihr Funktionieren als Verwaltungsapparat, der

22 Vgl. Asim Mujkić 2007; Vesna Pusić: Demokracije i diktature. Politicka tranzicija u Hrvatskoj ijugoistočnoj Europi, Zagreb 1998; Srđan Vrcan: Nacija, nacionalizam, moderna država. Izmeđuetnonacionalizma, liberalnog i kulturnog nacionalizma ili građanske nacije i postnacionalnihkonstelacija, Zagreb 2006.

23 Nerzuk Ćurak: Obnova bosanskih utopija, Sarajevo/Zagreb 2006; siehe zu Serbien unter MiloševićVojin Dimitrijević: „Evropa“ kao srbijanski ideal i antiideal, in: Dragomir Pantić / Dušan Janjić: Srbijaizmedju prošlosti i budućnosti. Uzroci i obeležja društvene i političke situacije u Srbiji između 1987-1994 i mogućnosti demokratizacije, Beograd 1995, 11-18; und Slobodan Antonić: Zarobljenazemlja, Beograd 2002; zu Kroatien unter Tuđman Vesna Pusić 1998; und zu Bosnien-HerzegowinaNerzuk Ćurak: Dejtonski nacionalizam, Sarajevo 2004; und Asim Mujkić: Mi, građani etnopolisa,Sarajevo 2007.

24 Wolfgang Merkel 2007.

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wichtige öffentliche Güter für die Bevölkerung bereit stellt, insbesondere ihr gegen-über soziale Schutzfunktionen wahrnimmt, ist unter den Bedingungen der tiefenwirtschaftlichen und Identitätskrise jener Gesellschaften das eigentlich schwierigeund zentrale Problem des politischen Wandels. Als zweites Problem einer Herrschafts-begrenzung der Elite zeigt sich die Rechtsstaatlichkeit. Eine in diesem Sinn „guteStaatlichkeit“ ist jedenfalls wichtiger als die schnelle Durchführung von Wahlen.

Im post-jugoslawischen Raum wurde die durch eine gute Staatlichkeit zu erlangendeUnterstützung der Herrschaft von der Bevölkerung durch die nationalistischeMobilisierung zu substituieren versucht. Besonders schlagende Beispiele für eine solchePolitik lassen sich in Bosnien-Herzegowina und Serbien in den letzten Jahren finden.In Bosnien haben der ethno-nationale Leader der serbischen Seite, Milorad Dodik,und das bosniakische Mitglied der bosnischen Präsidentschaft, Haris Silajdžić, durchihre nationalistische Rhetorik seit dem Wahlkampf 2006 den gesamten Staat inGeiselhaft genommen. Staatliche Institutionen wurden weitgehend auf Instrumenteder Elitenherrschaft reduziert, und deren soziale und wirtschaftliche Handlungs- undSteuerungsfähigkeit weiter eingeschränkt. 25 In Serbien haben die Kämpfe zwischendem national-konservativen Block rund um Vojislav Koštunica und dem Lager vonTomislav Nikolić, besonders die Grabenkämpfe rund um die Kosovo-Frage, ebenfallszu einer erneuten politischen Mobilisierung auf Grundlage des ethnischenNationalismus geführt.

Die eben dargestellte Entwicklung bestätigt den engen Zusammenhang von wirt-schaftlicher und sozialer Entwicklung und Demokratisierung. 26 Aus dem Defizit ansozialstaatlicher Steuerung erwachsen hohe Arbeitslosen- und Armutsraten, eine ste-tig wachsende Kluft zwischen den untersten und obersten Einkommensschichtensowie eine steigende Anzahl sozial Benachteiligter. 27 Trotz der verbessertenmakroökonomischen Bilanz sind weite Teile der Bevölkerung in Bosnien und Serbienheute von Armut bedroht, 28 die Arbeitslosenraten sind enorm (etwa 40 % imKosovo, mehr als 30 % in Bosnien, fast 20 % in Serbien und etwa 15 % in Kroatien),

25 Vgl. Debatten auf „puls demokratije“ (Puls der Demokratie) unter www.pulsdemokratije.net. DieInternetplattform „puls demokratije“ veröffentlicht seit 2006 Beiträge von AutorInnen aus Bosnien-Herzegowina und der Region zu vielfältigen Themen der Demokratieentwicklung. Dabei wurde u.a.auch die Frage thematisiert, inwieweit der bosnische Staat durch den „nationalistischen Paarlauf“von Milorad Dodik und Haris Silajdžić in seiner Funktionsfähigkeit blockiert wird. Ähnliche Debattenwerden auch im politischen Magazin „Status“ (Mostar) geführt. Vgl. hierzu vor allem die Nummer 9,Frühling 2006, sowie die Nummer 12, Winter 2007.

26 In den letzten Jahren ist die Bedeutung der sozioökonomischen Entwicklung am Beispiel der bereitsals konsolidiert betrachteten Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas ausführlich diskutiert worden.Immer wieder wird hier auf die weit reichenden sozialen Schocks und die extreme soziale Polarisie-rung der Gesellschaften in Ost- und Mitteleuropa verwiesen, wodurch die zwar formal institutionali-sierte Demokratie immer noch einer stabilen Verankerung entbehrt. Diese Tendenz verstärkt sichneuerdings mit den Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise.

27 Zoran Malenica: Ogledi o hrvatskom društvu. Prilog sociologiji hrvatskog društva, Zagreb 2007;UNDP Early Warning Report, Bosnia-Herzegovina 2008; Dušan Pavlović / Slobodan Antonić 2007.

28 Borislav Brozek: Siromaštvo i ekonomija, Sarajevo 2005.

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die sozialen Probleme – nicht zuletzt unter dem Einfluss der rezenten Weltwirtschafts-krise – im Anstieg. 29

Die Meinungsforschung belegt, dass die Bevölkerung selbst die hohe Arbeitslosigkeit,die grassierende Armut sowie den geringen Lebensstandard als wichtigstes gesell-schaftliches Problem ansieht. In Bezug auf Serbien ist es bemerkenswert, dass trotzder großen Emotionalisierung in der Kosovo-Frage die Bevölkerung im Jahr 2008 denStatus des Kosovo mit 24 % erst an die dritte Stelle der akuten serbischen Problemereihte. Weitaus stärker bewegte sie die hohe Arbeitslosigkeit, die von 50 % derserbischen Bevölkerung als das größte Problem betrachtet wurde. Auch der niedrigeLebensstandard wird noch als wichtiger erachtet. Ihn sahen 38 % als ernsthafteBedrohung an. 30 In der Folge steigt die Politikverdrossenheit und eine generelleApathie sowie ausgeprägte Skepsis gegenüber politischen Institutionen und ihreRepräsentanten breiten sich aus. Da Gemeinschaftsgüter wie Bildung, Gesundheitund ein gewisser Schutz vor sozialer Unsicherheit durch den Staat kaum angebotenwerden, sind die meisten vor allem mit dem eigenen Leben und seiner Absicherungbeschäftigt. Die politische Partizipation der Bürger hingegen – eine wesentlicheVorbedingung jeder nachhaltigen Demokratie – wird erschwert.

Externe Demokratieunterstützung als Ausweg? Regionale Kritik am„westlichen Blick“

Angesichts der schwerwiegenden internen Dilemmata der post-jugoslawischenDemokratisierung entsteht die Frage nach den Chancen einer Unterstützung derDemokratie durch externe Akteure. Thomas Carothers hat sich unlängst für dieGleichzeitigkeit von Demokratisierung und Bildung einer funktionierendenStaatlichkeit ausgesprochen. “State-building beyond the initial stage is best pursuedat the same time as democratization, with an effort to find points of complementarityand mutual re-enforcement.” 31 Carothers versucht das mit der gleichzeitigenRealisierung beider Aufgaben verbundene Dilemma dadurch zu vermeiden, dass erauf starke externe Unterstützung durch den Westen setzt. Gerade das aber hat sichin Post-Jugoslawien als fast unlösbare Aufgabe erwiesen. Trotzdem lohnt es sich,gerade an der post-jugoslawischen Fallgruppe die Möglichkeiten und Grenzen einerexternen Unterstützung von Demokratisierung genauer zu diskutieren.

29 Vgl. Vedran Džihić / Claudia Grupe: Towards Pro-Poor Growth in Bosnia-Herzegovina and Serbia,Paper Presented at the Fourth International Conference of the School of Economics and Business inSarajevo (ICES 2008), 9-10 October, 2008, Sarajevo.

30 Vgl. dazu Strategic Marketing Research, Javno mnjenje Srbija, 22.-24. Mai 2008. Ähnliche Relationenlassen sich in den Umfragedaten im Kosovo ablesen: So benennen mehr als 35 % der Kosovaren dieArbeitslosigkeit als das größte Problem im Kosovo, gefolgt von der Armut mit mehr als 25 % und derVersorgung mit elektrischer Energie mit mehr als 10 %. (Vgl. UNDP – Early Warning Reports Kosovo2008, Prishtina) Für Bosnien vgl. die Umfragedaten des UNDP Bosnien, abrufbar unter www.undb.ba.

31 Thomas Carothers 2007, 20.

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Ohne Zweifel – das hat sich im 20. Jahrhundert vielfach an der Demokratisierungwie auch an ihren Regressionsperioden gezeigt – ist der „Zeitgeist“ (oder auch: dasinternationale Umfeld von Demokratisierungsprozessen) für den Erfolg derDemokratie von erheblicher Bedeutung. Nach 1990 reichten die Mittel der externenEinflussversuche im post-jugoslawischen Raum von der gezielten Unterstützungoppositioneller Kräfte in Serbien über Anreize mittels der in Aussicht gestelltenBeitrittsverhandlungen seitens der EU oder durch direkten politischen Druck (u. a. inder Frage der Überstellung von Kriegsverbrechern an das Kriegsverbrechertribunal fürdas ehemalige Jugoslawien in Den Haag – ICTY) bis hin zur Ausübung von staatli-chen Hoheitsrechten durch Vertreter der internationalen Gemeinschaften in protek-toratsähnlichen Gebilden wie in Bosnien und im Kosovo. Gerade in den letzten zweiJahrzehnten hat die internationale Gemeinschaft eine Reihe von neuen politischenInstrumentarien erprobt. – Wie wird diese externe Einflussnahme auf den Prozess derDemokratisierung in der wissenschaftlichen Debatte reflektiert? Welche Positionenbeziehen in diesem Zusammenhang insbesondere die internen Beobachter aus derWissenschaft? Die nachfolgende Analyse ist Teil einer genauen Auswertung der inden Sprachen der Region ausgetragenen internen Debatte.

Die externe Förderung von Demokratisierung wird auf dem westlichen Balkan häufigmit „Europäisierung“ gleichgesetzt. Das trifft besonders auf die neue Phase derpolitischen Einflussnahme durch die EU seit dem Ende des Kosovo-Krieges im Jahr1999 zu, die mit der Etablierung des Stabilitätspakts für Südosteuropa und derInitiierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses (SAP) für den Westbalkanmit dem endgültigen Ziel der Integration der Staaten der Region in die EU aucheinen formal-institutionellen Rahmen erhielt. Europäisierung als eine Art „externeDemokratieförderung“ stellt also seit 1999/2000 die wichtigste internationaleKontextbedingung für die Entwicklungen der Staaten des westlichen Balkans dar.„Europeanization – a process in which ideas, values, norms, rules, and proceduresdeveloped in the EU policy process become incorporated in the domestic identities,institutions, and policies – is profoundly changing Balkan states.“ 32 Domm sprichtvon Europäisierung als einem „ad hoc acquis democratique“. 33 Angesichts derbesonderen Bedeutung der externen Einflussnahme auf die Demokratisierung(„Europäisierung“) treten bestimmte Defizite der bisherigen Transformationsforschungbesonders hervor. Whitehead betonte 2001 zu Recht, 34 dass die internationaleFörderung von Demokratie als „Europäisierung“ „strikt untertheoretisiert“ sei unddass „es wenig Forschung über diesen Gegenstand gibt“. 2005 wurde diese Diagnosevon Valerie Bunce wiederholt. 35

32 Srdjan Vučetić 2004, 124.33 Rory Domm: Europeanization without Democratization: A Critique of the International Community

Peacebuilding Strategy in Bosnia and Herzegovina, in: Journal of Southeast Europe and Black SeaStudies, 7, 1, 2007, 159-176.

34 Laurence Whitehead (ed.): The International Dimension of Democratisation: Europe and theAmericas, Oxford 2001, 3.

35 Vgl. Valerie Bunce 2005.

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Sicherlich besteht eine der wichtigsten Herausforderungen für Demokratisierungs-studien in der Balkan-Region darin, das Zusammenspiel zwischen internen undexternen Dimensionen für Demokratisierung („externe Demokratieförderung“) zuerforschen.

Einer der Ausgangspunkte für eine Konzeptualisierung der externen Demokratie-förderung ist der normative Charakter ihrer Zielsetzung. Das Leitbild eines solchenProzesses ist normativ, dabei orientiert an den westlichen Vorstellungen vonDemokratie. In ihm treten die externen Akteure als Unterstützer, aber auch alsKontrolleure auf, welche als Maßstab von Kontrolle und Unterstützung ihr eigenesLeitbild von einer idealen Herrschaftsordnung mitbringen. Genau dieser Aspekt desÜberstülpens einer normativen Orientierung auf Gesellschaften, welche spezifischeErfahrungen mitbringen, wird in der internen Debatte zwischen den Wissenschaftlernjener Länder thematisiert. Dort wird vom „fremden Blick“ des Westens gesprochen.Es geht um einen Spezialfall von kultureller Hegemonie.

Begonnen hatte die Diskussion mit der Kritik am klischeehaften Bild vom „Balkan“.Der Balkan wird im Westen oft als eine rückständige, gewaltbereite, primitiveund hasserfüllte Region gesehen. 36 Diese hegemoniale Dimension und der ent-sprechende diskursive Mechanismus wurden in der Literatur – in Anschluss an die„Orientalismus“-These 37 – unter dem Begriff des „Balkanismus“ zusammengefasst. 38

So konstruiert Europa den Balkan als das immanente Andere, das „weniger ent-wickelte Prämoderne“, welches eingesetzt wird, um sich die eigene „Fortschrittlich-keit“, „Modernität“ und „überlegene demokratische Staatlichkeit“ zu bestätigen. 39

Entsprechend dieser These wurden von den internationalen Akteuren die großenProbleme bei der Realisierung externer Demokratieimpulse in der Region oft mit demPauschalurteil über die „da unten am Balkan“ erklärt, welche zu einem Nachvollzug„unserer“ Demokratievorstellung nicht in der Lage seien.

Das hatte und hat Folgen für die Praxis des internationalen Engagements in diesenLändern: Das Modell der westlich geprägten demokratischen und marktwirtschaft-lichen EU-Staatlichkeit stellt jene normative Messlatte dar, an der sich die Staaten derRegion in ihrer Transformation messen lassen müssen. Dieses ideale und universelleModell der demokratischen EU-Staatlichkeit wird immer in Kontrast gesetzt zuangeblich schwierigen, ethnisierten, patriarchalisch geprägten und insgesamt rück-ständigen Staatlichkeiten der Balkan-Region. Damit immunisieren sich die interna-tionalen Experten von vornherein gegen ein Lernen aus den praktischen Erfahrungender Region und nehmen sich die Chance, eigene normative Vorstellungen zu hinter-fragen.

36 Siehe Robert D. Kaplan: Balkan Ghosts: a journey through history, New York 1993; vgl. schonRebeca West: Black Lamb and Grey Falcon. The record of a journey through Yugoslavia in 1937,London 1967.

37 Eduard Said 1978.38 Maria Todorova: Imagining the Balkans, New York 1997.39 Siehe Maria Todorova 1997; Vedran Džihić et.al. 2006.

Analysen 61SÜDOSTEUROPA Mitteilungen 03-04/2009

40 Vgl. Nerzuk Ćurak 2006; Vedran Džihić et al. 2006; Denisa Kostovicova / Vesna Bojicic-Dzelilovic:Austrian Presidency of the EU: Regional Approaches to the Balkans, Vienna 2006; Asim Mujkić 2007;Katarina Ott: Pridruživanje Hrvatske Europskoj Uniji. Izazovi sudjelovanja, Zagreb 2006.

41 Vgl. besonders Nerzuk Ćurak 2006; Asim Mujkić 2007; siehe auch Vedran Džihić et.al. 2006.42 Vgl. innerbosnische Debatten in den Printmedien »Oslobođenje«, »Dani« und »Slobodna Bosna« in

Folge des Artikels von Gerhard Knaus und Felix Martin im Jahr 2003.43 Vgl. UNDP Kosovo, Early Warning Reports, abrufbar unter www.kosovo.undp.org. Siehe auch Vedran

Dzihic / Helmut Kramer: Der Kosovo nach der Unabhängigkeit: Hehre Ziele, enttäuschte Hoffnungenund die Rolle der internationalen Gemeinschaft, IPA, Friedrich-Ebert-Stiftung, September 2008; sowieAndreas Wittkowsky: Squaring the Circle: A Short History of UNMIK’s European Union Pillar, 1999-2008, in: Südosteuropa Mitteilungen 1/2009, 16-36.

44 Vojin Dimitrijević 1995; Ivan Čolović: Politika simbola. Ogledi o političkoj antropologiji, Beograd2000; Silvia Nadjivan in: Vedran Džihić et. al. 2006.

45 Vgl. Zagorka Golubović 2007; Dragan D. Lakičević: Srbija i Evropa, Beograd 2007; und ZoranLutovac (ed.): Političke stranke u Srbiji i Evropska unija, Beograd 2007.

46 Symbolische Fragen wie das Visa-Regime in allen Staaten des Balkans mit Ausnahme von Kroatienoder beispielsweise der Druck der EU auf Serbien in Zusammenhang mit der Verhaftung von Kriegs-verbrechern oder mit dem Kosovo verstärken die skeptische Haltung großer Bevölkerungsteile inBezug auf die EU. Zugleich wird ganz genau beobachtet, dass sich die EU selbst seit dem „Nein“ derFranzosen und Niederländer zum Verfassungsvertrag sowie dem irischen „Nein“ zum Lissabon-Vertrageher abwartend in Bezug auf die Erweiterung verhält und die Lust auf neue Erweiterungsrundennicht sehr groß zu sein scheint. (Vgl. Eurobarometer 2007 und 2008.) Noch immer ist die Mehrzahlder Menschen in den Staaten des westlichen Balkans für eine EU-Annäherung ihrer Länder, allerdingsdroht die Unterstützung für die EU bei gleich bleibender Entwicklung zu stagnieren bzw. weiterzurückzugehen.

In der regionalen Debatte hat dies negative Auswirkungen auf das Image der inter-nationalen „Demokratieförderer“: 40 Besonders in Bosnien-Herzegowina und imKosovo, in denen die internationale Gemeinschaft eine Art „Protektorat“ eingeführthat, werden die so genannten „Internationals“ und deren Politik der „Demokratisierung“von Teilen der einheimischen politischen Elite sowie auch von breiten Teilen derBevölkerung als arrogant und kontraproduktiv für die demokratische Entwicklungdes Landes empfunden. 41 In Bosnien hat das zu öffentlichen Debatten in denPrintmedien über die negativen Aspekte eines „Protektorats wider Willen“ geführt. 42

Im Kosovo belegen die Umfragedaten des UNDP eine starke Ablehnung der UNMIKdurch die kosovarische Bevölkerung. In den letzten Jahren lagen die Zustimmungs-raten für die Politik der UNMIK zeitweise bei kaum mehr als 20 %. Diese Kritikbezieht sich auch auf die Rolle der EU im kosovarischen Privatisierungsprozess undbei der Stärkung der kosovarischen Wirtschaft. 43 Weniger mag verwundern, dass esin Serbien bereits seit dem jugoslawischen Staatszerfall starke Ressentiments gegen„den Westen“ gibt. Es wäre sicher falsch zu ignorieren, dass in weiten Teilen derserbischen Bevölkerung die Meinung vorherrscht, dass „der Westen“ eigentlich nur ausMachtinteressen und ökonomischem Kalkül Serbien erobern wolle. 44 Obwohl derEU-Annäherungsprozess von einer Mehrheit der serbischen Bevölkerung als eine derwenigen Zukunftsperspektiven für die Verbesserung der Funktionsfähigkeit des serbi-schen Staates befürwortet wird, ist die EU-Unterstützung starken Schwankungenund Manipulationen durch die nationalen Kreise unterworfen. 45 Diese EU-Skepsiszeigt sich im Übrigen auch in anderen Staaten des westlichen Balkans. 46

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47 Vgl. Asim Mujkić 2007.48 Vgl. Vedran Džihić et.al. 2006, 288-290.49 Vgl. Vedran Džihić et.al. 2006.50 Es ist eine zentrale Zielstellung unserer Projekte, jene Täuschungsmanöver und wechselseitigen

Fehlperzeptionen exemplarisch zu analysieren. Siehe dazu Beschreibung der Projekte aufwww.univie.ac.at/potreba.

Ein normativ verstellter, von Vorurteilen bestimmter Blick des Westens bzw. der EUauf die Balkanstaaten begünstigt dann spezifische Ausweichreaktionen der lokalenEliten. Vor allem die nationalistischen Eliten, die zwar in der Regel deklaratorisch dieEU-Integration befürworten, passen sich äußerlich an den Europäisierungsdiskurs an.Diese Eliten übernehmen die Demokratisierungs- und Europäisierungsrhetorik desWestens, bestreiten aber auf der anderen Seite ihre Wahlkämpfe mit nationalisti-schen Argumenten und darin einbegriffen auch mit gezielten Vorwürfen an dieAdresse der EU. 47

In diesem Prozess erfindet man sich auch als „Balkan“ neu und präsentiert sich imGegensatz zum überlegenen, aber zugleich kalten, leidenschaftslosen und verbrauch-ten „Europa“ als authentischer, besser und moralischer. 48 Durch die diskursiveAnpassung an die Europäisierung und die Verwendung Europas als Strategie zurAbsicherung der Macht und Durchsetzung eigener Interessen werden die notwendi-gen Reformprozesse zur Stärkung der staatlichen Kapazitäten für die Lösung akutersozialer und wirtschaftlicher Fragen weiter reduziert.

Aus den beschriebenen empirischen Phänomenen und Tendenzen lässt sich folgendesungelöste Problem der externen Unterstützung von Demokratisierung ableiten: DerZusammenprall objektiver Anforderungen und Vorgaben externer und subjektiverInteressen interner Akteure führt zu einer Form der Demokratieentwicklung, die aufbeiden Seiten von überzogenen Erwartungen, hegemonialen Interessen, Täuschungs-manövern, wechselseitigen Fehlperzeptionen geprägt ist. Auch diese Mimikryerschwert eine echte, nachhaltige Demokratisierung. 49 Wenn das Konzept derexternen Demokratieunterstützung ausgehend von den Erfahrungen des post-jugoslawischen Raumes evaluiert werden soll, dann muss stärker jene subjektiveInnenseite des Prozesses analysiert werden. Der Aspekt des Demokratisierungsprozessesunter Mitwirkung externer Akteure sollte mehr als bisher in den Blickpunkt derempirischen Analysen gerückt werden. 50

Aus der Sichtung der regionalen Kritik an externer Demokratieförderung lässt sichnoch eine These ableiten: Der„westliche Blick“, der im Anderen stets nur eineBestätigung der eigenen normativen Ordnung zu finden sucht, übersieht geradedie in einer genauen Analyse der spezifischen Probleme der Demokratisierungs-bemühungen im Raum des Balkans liegenden Erkenntnisse über allgemeine Grenzenund Probleme von Demokratie. Welche positiven Einsichten sich daraus für dieweitere Forschung ableiten lassen, dazu unser Resümee.

Der demokratietheoretische Ertrag der Lösung des „jugoslawischenRätsels“ – ein Resümee

Aus der Diskussion der post-jugoslawischen Erfahrungen im Prozess der Demokrati-sierung ergeben sich einige Annahmen und weiterführende Forschungsfragen.

Erstens:Wie schon in der Mitte der 1990er Jahre diskutiert, 51 belegt auch der post-jugosla-wische „Fall“ einer Demokratisierung die Produktivität eines intraregionalenVergleichs. Gerade die Entwicklung in dieser scheinbar untypischen Gruppe vonFällen der „dritten Welle der Demokratisierung“ belegt, dass eine Untersuchung, diesich auf das genaue Verstehen solcher regionalen Umstände sowie der Spezifikades internationalen (europäischen) Einflusses richtet, produktiver für die allgemeineTheoriebildung sein kann, als ein Vergleich von einer sehr großen Zahl von Fällen,die notwendigerweise regionale Besonderheiten vernachlässigen muss.

Zweitens:Die folgenden, auf einer Analyse der post-jugoslawischen Fälle beruhenden Thesenbeinhalten produktive Anstöße für eine allgemeine demokratietheoretische Debatte:

• Ungeachtet eines im Vergleich zu den Staaten des sowjetischen Staatssozialismustatsächlich günstigeren Ausgangspunktes der Demokratisierung in Jugoslawien,welcher in einem liberaleren Typ von Sozialismus bestand, hat die nach 1990durch die politischen Eliten vorangetriebene ethnisch-nationale Mobilisierunggekoppelt mit frühzeitigen Wahlen (erstes Sequenzproblem) der Ausbildung einerfunktionsfähigen Demokratie erhebliche Hindernisse in den Weg gelegt.

• Diese Elitenpolitik stieß auf eine starke Nachfrage in einer durch die Legitimi-tätskrise des vorangegangenen Regimes verunsicherten Bevölkerung, wobeideren Bedürfnis nach existenzieller Absicherung vermittels der Zuordnung zueiner ethnischen Gemeinschaft noch durch den wirtschaftlichen und sozialenNiedergang und die existenziellen Nöte der Kriege der 1990er Jahre verstärktwurde.

• Ein zweites Sequenzproblem zeigte sich darin, dass die entstehende spezifischeForm demokratischer Herrschaft von einer funktionsschwachen staatlichenVerwaltung begleitet wurde, die angesichts der Probleme der mehrfachenTransition der 1990er Jahre (vom sozialistischen zum kapitalistischen Wirtschafts-modell, von einer spezifischen Form des Staatssozialismus zu freien Wahlen undDemokratie, die der Staatsgründung sowie letztlich vom Krieg zum Frieden) und der

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51 Philippe Schmitter / Terry Lynn Karl: The Conceptual Travel of the Transitologists and Consolidologists:How Far to the East Should They Attempt to Go?, in: Slavic Review 53, 1 (spring 1994), 173-185;Valerie Bunce: Should Transitologists Be Grounded?, in: Slavic Review, 54, 1 (spring 1995), 111-127.

Usurpation des Staates durch die neuen politischen und ökonomischen Elitenunfähig war bzw. sich unwillig zeigte, Gemeinschaftsgüter im nötigen Umfangzu produzieren und einigermaßen gerecht zu verteilen. Ohne einen einigermaßenfunktionsfähigen Sozialstaat und eine gerechte Verteilung der Gemeinschafts-güter aber kann sich keine nachhaltige Form von Demokratie herausbilden.

• In den betrachteten post-jugoslawischen Staaten bildete sich eine Form vonbeschränkter Wahldemokratie heraus, eine Form von Elitendemokratie, in derdemokratische und autoritäre Elemente miteinander verflochten sind. Sie stellteine konsolidierte Demokratie auf sehr niedrigem Niveau dar. Die Eliten nutzendie begrenzte Form von Teilhabe zur Festigung ihrer eigenen Macht. Die Zivil-gesellschaften sind teilweise ethnisch-national tief gespalten.

Drittens:Gerade angesichts dieser ungünstigen internen Rahmenbedingungen werden exter-ne Einflüsse der internationalen Gemeinschaft als mögliche Lösung der Demokratie-probleme angenommen. Bei einer genaueren Betrachtung des Wirkens und derErgebnisse des intensiven internationalen Engagements sowie der damit verbunde-nen Strategie der Demokratieförderung auf dem westlichen Balkan zeigt sich einkardinales und bisher wenig beachtetes und erforschtes Problem: Die externenKräfte erscheinen in den Augen der lokalen Kräfte selbst keinesfalls als neutral.Darin bildet sich ein reales Problem der externen Demokratieförderung ab. Die exter-nen Akteure bringen eigene Vorstellungen mit, die durch die Ziele und Werte derHerkunftsgesellschaften geprägt werden. Demokratie auf dem Balkan wird ange-strebt – nicht vor allem, um in den betreffenden Ländern existierende Probleme zulösen, sondern weil man auf Grundlage eigener Werte die Errichtung einer solchenOrdnung für unerlässlich hält. Diese Verständnisse von „Demokratie“ und „Europa“stoßen auf abweichende Vorstellungen bei den internen Akteuren. Die darauserwachsende kulturelle Entfremdung kann den Prozess der Demokratisierung zusätz-lich erschweren. Wie Umfrageergebnisse nahelegen, ist das in einigen der betreffen-den Gesellschaften bereits geschehen. Dieser Verflechtung von Interessenkonflikteninterner und externer Akteure mit ihren wechselseitigen Fehlperzeptionen undMissverständnissen sollte in Zukunft in der Analyse der Demokratisierung (die in derbetreffenden Region derzeit vor allem als „Europäisierung“ verstanden wird) unbe-dingt mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Viertens:Die in den betrachteten Staaten ausgebildete stabile, aber nicht nachhaltigdemokratische Herrschaftsform, die eine Konsolidierung von Demokratie auf sehrniedrigem Niveau darstellt, problematisiert ein weiteres Mal den üblichen Umgangmit dem Begriff der „Konsolidierung“: Wenn Konsolidierung auf ihre Nachhaltigkeitgeprüft werden soll, dann dürfen wir uns nicht allein auf eine Evaluation derImplementation von Institutionen durch Eliteakteure beschränken, sondernmüssen auch die ihrem Handeln zugrunde liegenden Überzeugungen und Werteanalysieren. Die üblichen Skalen wie „Nations in Transit“ oder „BertelsmannTransformation Index“ können so etwas bisher nicht leisten. Eine Ergänzung der

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quantitativen Skalen durch exemplarische Analysen mit qualitativen Mitteln istdringend erforderlich.

Der zu erwartende demokratietheoretische Ertrag der Analyse des „jugoslawischenRätsels“ lässt sich letztlich in nur einem Satz zusammenfassen: Unter den extremenBedingungen „Post-Jugoslawiens“ lassen sich bestimmte allgemeine Grenzen derDemokratie als Herrschaftssystem besser erkennen. Wir alle sollten versuchen, ausjenen Schwächen der Demokratie in Osteuropa für den Westen zu lernen. 52

Analysen 65SÜDOSTEUROPA Mitteilungen 03-04/2009

52 Aus einer aktuellen Analyse der Parteiendemokratie in verschiedenen Regionen Osteuropas wurde vonuns die These generiert, dass die Region anders als bisher üblich nicht nur als Anwendungsfall einerhinlänglich bekannten Konzeption (der „liberalen Demokratien“ des Westens) und deren mehr oderweniger geglückten Implementation, sondern als ein Prüflabor für die Stabilität von demokratischenInstitutionen unter den Bedingungen eines extremen wirtschaftlichen Globalisierungsdrucks undAbbaus des Sozialstaates angesehen werden sollte: Osteuropa, so wurde formuliert, sollte alsTrendsetter betrachtet werden, aus dem der Westen etwas über alternative eigene Zukünfte lernenkann. Denn auch im Westen ist es seit Ende der 1970er Jahre zu einem Abbau des Sozialstaatesgekommen, nur ist dieser Prozess durch stärkere Widerstände interner Akteure langsamer verlaufen.Vgl. Ellen Bos / Dieter Segert: Osteuropa als Trendsetter? Parteiensysteme in repräsentativenDemokratien unter mehrfachem Druck, in: Bos / Segert (Hrsg.): Osteuropäische Demokratien alsTrendsetter? Parteien und Parteiensysteme nach dem Ende des Übergangsjahrzehnts, Opladen &Farmington Hills 2008, 333 ff.