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60 Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften Von Hans Albert, Köln «Vom Gesichtspunkte der Gesellschaft, ja der Menschheit aus betrachtet, liegt die letzte Rechtfertigung der Wissenschaft darin, dass sie tätiger Anwendung fähig ist.» Heinrich Gomperz, Die Wissen- schaft und die Tat. Wien 1934. « Just as one might say that the whole aim of science is the formu- lation of empirical laws, so it is only putting the same thing in an- other way to say that the aim of science is the formulation of pro- gnoses.» T. W. Hutchison, The Significance and Basic Postulates of Economic Theory. London 1938. I Der prognostische Gehalt klassischer Theorien Man kann die Wissenschaften als « Sprachspiele» ansehen, die wir konstruie- ren, um uns in der Wirklichkeit besser zurechtzufinden, als wir es auf Grund unserer Alltagserfahrung zu tun vermögen Sprachspiele also, die der Weltorientierung dienen 1 . Fragen der Methodologie richten sich darauf, wie solche Sprachspiele beschaffen sein müssen, um für ihren Zweck brauchbar zu sein. Man könnte hier von einer Technologie derartiger Sprachspiele sprechen. Nun ist die Lösung des Konstruktionsproblems offenbar davon abhängig, was man unter «Orientierung» versteht, was man also als den genauen Zweck wissenschaftlicher Theorien be- trachtet. Es gibt grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, diese Frage zu ent- scheiden, und je nachdem, welche man wählt, werden die « Spielregeln» der Wis- senschaft anders aussehen. Diese Entscheidung ist ebenso wie die anderen Ent- scheidungen (z.B. über den Objektbereich), die die Grundlage einer Wissenschaft bilden, kein Erkenntnisproblem 2 , keine Frage der «Wahrheit», aber von ihr hängt es unter Umständen selbst ab, was wir unter «Wahrheit» verstehen wollen. Die Festsetzung eines «Wahrheitskriteriums» ist ebenso eine Frage der Willensent- scheidung wie die Definition der Wissenschaft. 1 Dieser Gesichtspunkt stammt von Ludwig Wittgenstein, der ihn in seinem nachgelassenen Werk: Philosophical Investigations, Oxford 1953, bei der Behandlung philosophischer Probleme anwendet. 2 Zu den Entscheidungen, die die Grundlage der Wissenschaft bilden, siehe vor allem: Hans Reichenbach, Experience and Prediction. An Analysis of the Foundations and Structure of Know- ledge. Chicago 1938. S. 9 ff.

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Page 1: Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften60 Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften Von Hans Albert, Köln «Vom Gesichtspunkte der Gesellschaft, ja der Menschheit

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Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften

Von H a n s A l b e r t , Köln

«Vom Gesichtspunkte der Gesellschaft, j a der Menschheit aus betrachtet, liegt die letzte Rechtfertigung der Wissenschaft darin, dass sie tätiger Anwendung fähig ist.» Heinrich Gomperz, Die Wissen­schaft und die Tat . Wien 1934.

« Jus t as one might say tha t the whole aim of science is the formu­lation of empirical laws, so i t is only putt ing the same thing in an­other way to say tha t the aim of science is the formulation of pro­gnoses.» T. W. Hutchison, The Significance and Basic Postulates of Economic Theory. London 1938.

I

Der prognostische Gehalt klassischer Theorien

Man kann die Wissenschaften als « Sprachspiele» ansehen, die wir konstruie­ren, um uns in der Wirklichkeit besser zurechtzufinden, als wir es auf Grund unserer Alltagserfahrung zu tun vermögen — Sprachspiele also, die der Weltorientierung dienen 1. Fragen der Methodologie richten sich darauf, wie solche Sprachspiele beschaffen sein müssen, um für ihren Zweck brauchbar zu sein. Man könnte hier von einer Technologie derartiger Sprachspiele sprechen. Nun ist die Lösung des Konstruktionsproblems offenbar davon abhängig, was man unter «Orientierung» versteht, was man also als den genauen Zweck wissenschaftlicher Theorien be­trachtet. Es gibt grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, diese Frage zu ent­scheiden, und je nachdem, welche man wählt, werden die « Spielregeln» der Wis­senschaft anders aussehen. Diese Entscheidung ist ebenso wie die anderen Ent­scheidungen (z.B. über den Objektbereich), die die Grundlage einer Wissenschaft bilden, kein Erkenntnisproblem 2, keine Frage der «Wahrheit», aber von ihr hängt es unter Umständen selbst ab, was wir unter «Wahrheit» verstehen wollen. Die Festsetzung eines «Wahrheitskriteriums» ist ebenso eine Frage der Willensent­scheidung wie die Definition der Wissenschaft.

1 Dieser Gesichtspunkt s tammt von Ludwig Wittgenstein, der ihn in seinem nachgelassenen Werk: Philosophical Investigations, Oxford 1953, bei der Behandlung philosophischer Probleme anwendet.

2 Zu den Entscheidungen, die die Grundlage der Wissenschaft bilden, siehe vor allem: Hans Reichenbach, Experience and Prediction. An Analysis of the Foundations and Structure of Know­ledge. Chicago 1938. S. 9 ff.

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Die Vertreter des positivistischen Wissenschaftsideals pflegen die Aufgabe einer Wissenschaft in der Beschreibung des Verhaltens der Gegenstände ihres Ob­jektbereichs und in dessen Erklärung und Prognose zu sehen \ wobei zwischen Erklärung und Prognose in bezug auf ihre semantischen Eigenschaften kein Unter­schied besteht 2. Ein System, das zur Erklärung bestimmter Arten von Vorgängen geeignet ist, kann grundsätzlich auch zu ihrer Vorhersage verwendet werden. Man kann sagen, dass die Prognosemöglichkeit der unter praktischen Gesichtspunkten dominante Aspekt derartig konstruierter Sprachspiele ist - eine Tatsache, die ihren klassischen Ausdruck in der prägnanten Comteschen Formel fand: «savoir pour prévoir» 3.

In dieser Zielsetzung kommt die Handlungsbezogenheit wissenschaftlicher Theorien zum Ausdruck; denn ihre prognostische Verwendung ist die Grundlage erfolgreichen Handelns. Weltorientierung heisst in diesem Falle also nichts anderes als Klärung von Handlungsalternativen, Analyse menschlicher Aktionsmöglich­keiten oder, genauer ausgedrückt, Aufstellung von Alternativprognosen für ver­schiedene Verhaltensweisen, um eine Grundlage für die Entscheidung zwischen ihnen zu schaffen.

Eine Wissenschaft positivistischen Stils ist also in bestimmter Weise hand-lungsbezogen und von Sprachspielen, die sich in anderer Weise auf menschliche Aktionen beziehen, wie z. B. den sogenannten Ideologien, scharf zu unterscheiden. Die Funktion der Ideologien besteht nicht in der Erklärung bestimmter Vorgänge, sondern in ihrer Rechtfertigung, nicht in der Vorhersage bestimmter Handlungs­konsequenzen, sondern in der Vorentscheidung von Handlungen, nicht in der Be­schreibung von Ereignissen, sondern in ihrer Bewertung. Da sie sich durch ihre pseudo-objektive Formulierung den Anschein positiv-wissenschaftlicher Aus­sagensysteme geben, gehören sie zur Kategorie der Pseudo-Theorien 4. Die zwi­schen Theorien und Pseudo-Theorien bestehenden Strukturanalogien sind geeig­net, die unterschiedliche Rolle der beiden Arten von Systemen im sozialen Leben, ihre verschiedene pragmatische Funktion, zu verschleiern, die in zum Teil ganz andersartigen Konstruktionsproblemen zum Ausdruck kommt.

Die uns zunächst interessierende Frage ist in dieser Hinsicht die nach der Struktur wissenschaftlicher Theorien : Wie muss ein Sprachspiel beschaffen sein, um Alternativprognosen zu ermöglichen ? oder, da es hier um die Sozialwissen­schaften, d.h. um die Soziologie im weitesten Sinne dieses Wortes, geht (wozu z.B. auch die Nationalökonomie gehört): Welche Art von Sprachspielen erlaubt die Formulierung gültiger soziologischer Alternativprognosen ? Wenn man ein System

1 Über den Gegensatz dieser Auffassung, des methodologischen Nominalismus, zum Essen-tialismus platonischer Provenienz siehe meinen Aufsatz: Entmythologisierung der Sozialwissen­schaften. «Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie», 8. Jahrgang (1956), S.257 ff.

2 Siehe dazu meinen o. a. Aufsatz, S. 252 ff. 8 Dass diese Zielsetzung zunächst nur für theoretische, und nicht für historische Wissen­

schaften gilt, bedarf kaum besonderer Erwähnung ; siehe dazu Karl R. Popper, The Open Society and its Enemies. Princeton 1950. S. 443 ff.; sowie neuerdings Béla Juhos, Das Wertgeschehen und seine Erfassung. Meisenheim am Gian 1956.

4 Siehe dazu Abschnitt IV dieses Aufsatzes.

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konstruieren will, mit dessen Hilfe man zu richtigen Erwartungen gelangen kann, so ist die einzige dafür zur Verfügung stehende Grundlage die Erfahrung. Die Auf­gabe besteht also in diesem Falle darin, unsere Erfahrung derart sprachlich zu organisieren, dass bei Anwendung des so konstruierten Systems zutreffende Er­wartungen resultieren. Die Methodologie der empirischen Wissenschaften gibt An­haltspunkte dafür, welche Struktur ein Aussagensystem haben, welchen Spiel­regeln ein Sprachspiel folgen muss, um diese Aufgabe zu erfüllen. Die methodolo­gischen Regeln des «Wissenschaftsspiels» sind dabei als Festsetzungen zu be­trachten, mit deren Hilfe man dieses Spiel definieren und damit gegen andere Sprachspiele abgrenzen kann. x Sie sind keineswegs «Erkenntnisse», wie man ver­muten könnte, wenn man sie in pseudo-objektiver Formulierung zu Gesicht be­kommt. 2 Wer die Regeln dieses Sprachspiels nicht anerkennt und sie durch eigene Regeln ersetzt, der spielt ein anderes Spiel, das er natürlich ebenso «empirische Wissenschaft» nennen kann, wenn er die Missverständnisse nicht scheut, die daraus entstehen können, und seine «Wahrheiten» sind in einem anderen Sinne «wahr», als die des empirischen Wissenschaftlers, unter Umständen in dem Sinne, in dem Ideologen Wahrheit für ihre Aussagen in Anspruch zu nehmen pflegen.

Die übersichtlichste Form einer zur Erfüllung der oben angegebenen Aufgabe geeigneten Theorie ist die eines axiomatisch-deduktiven Systems von Aussagen3. Ein solches System enthält zwei Klassen von Aussagen: Axiome 4 (Grundsätze) und Theoreme (abgeleitete Sätze), und zwei Klassen von Begriffen : Grundbegriffe und definierte Begriffe. Das System ist so konstruiert, dass alle Theoreme mit Hilfe von Schlussregeln (Regeln tautologischer Transformation) aus den Axiomen ableitbar und alle Begriffe unter Beachtung von Definitionsregeln auf der Basis der Grundbegriffe definierbar (bzw. durch Reduktion auf sie zurückfuhrbar) sind und dass diese Definitionen explizit gegeben werden. Das Axiomensystem einer solchen Theorie muss ausserdem widerspruchslos, unabhängig, hinreichend und notwendig sein. 5

Der entscheidende Unterschied des Aussagensystems einer empirischen Wis­senschaft von analog strukturierten Systemen (z.B. Ideologien oder normativen Systemen) ist der, dass die Axiome und Theoreme einer solchen Wissenschaft als

1 So Karl Popper in: Logik der Forschung (Wien 1935, S. 22 ff.), einem der bedeutendsten Werke der modernen Wissenschaftslehre.

2 Popper macht (a.a.O., S.25) mit Recht darauf aufmerksam, dass nicht wenige «meta­physische» Aussagen als «typische Hypostasierungen methodologischer Regeln aufgefasst wer­den können»; Beispiel: das sog. Kausalprinzip. Wie denn überhaupt die Metaphysik grossenteils von Hypostasierungen lebt. Auch die Nutzenmetaphysik mancher Marginalisten besteht in nichts anderem als der Hypostasierung von Zurechnungsregeln.

3 Siehe dazu Hans L.Zetterberg, On Theory and Verification in Sociology. Stockholm/New York 1954. S. 16 ff., sowie meinen o. a. Aufsatz, S. 255 f., und die dort angegebene Literatur.

4 Auch Postulate genannt, in welchem Falle aber «Postulat» nicht, wie heute oft üblich, «Forderung» bedeuten soll. Seit man von Axiomen nicht mehr erwartet, dass sie «selbstevident» sind, werden die beiden Tenne «Axiom» und «Postula t» in diesem Zusammenhang synonym verwendet; siehe dazu und zum folgenden James K.Feibleman, Mathematics and its Applications in the Sciences. «Philosophy of Science», Vol. 23/3 (1956).

5 Siehe dazu Popper, Logik der Forschung. S. 35. Man pflegt manchmal noch andere For­derungen zu stellen, die hier vernachlässigt werden können.

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generelle Hypothesen zu interpretieren sind, also empirischen Gehalt haben und Gesetze zum Ausdruck bringen. Erst diese Eigenschaft macht derartige Systeme fur die ihnen zugedachte Aufgabe der Erklärung und Voraussage brauchbar, da nur sie die dazu notwendige Beziehung zur Realität impliziert. Während man die formale Richtigkeit einer Aussagengesamtheit im oben angegebenen Sinne durch Gedankenexperimente * überprüfen kann, ist ihre inhaltliche Wahrheit nur anhand von Beobachtungen und Realexperimenten feststellbar. Um ihren Wahrheitswert (wahr oder falsch) feststellen zu können, bedarf es allerdings einer vorherigen Klä­rung des empirischen Gehalts durch Sinnanalyse. Die Feststellung des Wahrheits­wertes selbst ist aber stets ein Problem der Faktenanalyse und des Realexperi­ments, niemals, wie man in den Sozialwissenschaften manchmal anzunehmen scheint, eine Aufgabe, die durch Gedankenexperimente allein gelöst werden kann 2. Für die Bestätigung einer empirischen Theorie haben Gedankenexperimente nur vorbereitenden Wert. Verfügt man aber bereits über eine genügend bestätigte, empirisch gehaltvolle Theorie, so kann man in der Anwendung in entsprechendem Masse an die Stelle von Realexperimenten Symbolexperimente treten lassen 3. Die Substitutionsmöglichkeit beider Experimentarten ist also eine Funktion des wis­senschaftlichen Fortschritts. Dass auch die Sozialwissenschaften nicht auf Expe­rimente der ersten Art zu verzichten brauchen, ist inzwischen wohl unbestreitbar geworden 4. Während ein Gedankenexperiment ein reines Sprachspiel ist, mit des­sen Hilfe man logische Beziehungen klären, die formale Richtigkeit einer Theorie überprüfen und ihren empirischen Gehalt explizieren kann, ermöglichen das Real­experiment und die Faktenanalyse die Feststellung ihres Wahrheitswertes bzw. ihres Bestätigungsgrades, und das heisst letzten Endes ihre Brauchbarkeit für den oben angeführten Zweck: Erklärung und Prognose.

Man hat das Charakteristische empirischer Wissenschaften im Gegensatz zu den Formalwissenschaften (Logik und Mathematik) oft dadurch zum Ausdruck gebracht, dass man auf die Rolle der Induktion in den ersteren hinwies, während für letztere das deduktive Verfahren ausreichend sei. Dieser Hinweis wurde zu­weilen in einer Form gemacht, die die Vermutung nahelegte, man habe es mit einem Verfahren zu tun, das die Gewinnung einwandfreier allgemeiner Aussagen mit Gesetzescharakter aus Einzelbeobachtungen nach gewissen Regeln ermög­lichte, die den Schlussregeln bei der Deduktion entsprächen. Was dabei unterlief, war eine Vermischung zweier Fragestellungen, von denen die eine in den «Ent-

1 Auch diese «Gedankenexperimente» sind übrigens de facto tatsächliche Operationen, nur eben Manipulationen von Symbolen und Symbolkomplexen auf dem Papier usw. (siehe dazu Feibleman, a. a. O., S. 208). Die Mathematik ist in diesem Sinne eine experimentelle, wenn auch nicht empirische Wissenschaft, da in ihr Symbol-Experimente auftreten.

2 Siehe dazu Carl G.Hempel, Problems of Concept and Theory Formation in the Social Sciences. I n : Science, Language and Human Rights. Philadelphia, Penns. 1952. S. 75 ff.; sowie T.W. Hutchison, The Significance and Basic Postulates of Economic Theory. London 1938. S. 38.

8 Siehe dazu Oskar Morgenstern, Experiment und Berechnung grossen Umfangs in der Wirtschaftswissenschaft. «Weltwirtschaftliches Archiv», Bd. 76/2 (1956), S. 193 ff.

4 Siehe dazu den o. a. Aufsatz Morgensterns sowie: Muzafer und Carolyn Sherif, An Outline of Social Psychology (2. Aufl., New York 1956, passim), wo interessante neuere Feld- und Labo­ratoriumsexperimente der Verfasser mit Sozialgruppen geschildert werden.

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deckungszusammenhang», die andere in den «Begrundungszusammenhang» * wissenschaftlicher Aussagen gehört. Bei der früher üblichen Behandlung des In­duktionsproblems wurden diese beiden Gesichtspunkte derart miteinander ver­wechselt, dass das Problem selbst unlösbar erscheinen musste. Die Frage, wie man auf Grund von Beobachtungen zu einer allgemeinen Aussage kommt, die ihrem Gehalt nach ja über das Beobachtete hinausgehen muss, um Prognosen zu ermög­lichen, ist ein genetisches Problem, das bestenfalls in die Psychologie gehört, nicht aber in die Erkenntnistheorie (bzw. Wissenschaftslehre öder Methodologie) 2. Letztere hat es mit dem Gültigkeitsproblem zu tun, der Frage also, unter welchen Umständen eine allgemeine Hypothese oder ein System von Hypothesen als auf Grund von Beobachtungen genügend bestätigt angesehen werden kann, bzw. welcher Bestätigungsgrad einer solchen Aussage oder Aussagenmenge zugespro­chen werden kann. Ob man hier von einem neuen Induktionsproblem oder von einer Überwindung des Induktionsproblems sprechen will, ist eine Frage von sekundärer Bedeutung 3.

Eine Theorie, die zu Prognosen verwendbare generelle Hypothesen enthält, ist damit nicht nur auf Grund bisheriger Erfahrungen, sondern darüber hinaus auf Grund zukünftiger Beobachtungen überprüfbar. Sie geht dem Gehalt ihrer Aussagen nach also jeweils über das bisher feststellbare Geschehen in ihrem Objektbereich hinaus 4 und legt allgemeine «Spielräume» für das Geschehen in diesem Bereich fest, d. h. mehr oder weniger grosse Variationsbreiten, innerhalb deren alle durch die Theorie grundsätzlich erfassbaren Vorgänge liegen müssen. Treten Ereignisse auf, die ausserhalb der durch die Theorie festgelegten Grenzen

1 Hans Reichenbach spricht hier vom «context of discovery» und «context of justification», siehe: Experience and Prediction, a.a.O., S.6 f. Die Unterscheidung entspricht etwa der zwischen «quaestio facti» und «quaestio juris» (dem Tatsachen- und dem Geltungsproblem) in wissen­schaftstheoretischen Untersuchungen; siehe z . B . Popper, a.a.O., S.4ff.

2 Siehe dazu Nelson Goodman, Fact, Fiction and Forecast. London 1954. S. 63 ff. (The New Riddle of Induction). Auch das vor allem von deutschen Soziologen so stark herausgestellte Problem des «Verstehens» und der «Intuition» gehört, wie Viktor Kraft gezeigt hat (Geschichts­forschung als exakte Wissenschaft. «Anzeiger der philosophisch-historischen Ellasse der öster­reichischen Akademie der Wissenschaften», Jg. 1955, Nr. 19, S.244 ff.), in die Psychologie, nicht in die methodologische Erkenntnisanalyse.

8 Siehe dazu P. F. Strawson, Introduction to Logical Theory. London/New York 1952. S. 233 ff. ; sowie Paul Edwards, Bertrand Russells Doubts about Induction. Logic and Language I. Ed. Anthony Flew. Oxford 1952. S.55 ff.; Frederic L.Will, Will the Future be like the Past? Logic and Language II. Oxford 1953. S.32ff.; Max Black, Problems of Analysis. London 1954. S. 167 ff.; derselbe, Language and Philosophy. Ithaca 1949. S.59 ff.; Herbert Feigl, The Logical Character of the Principle of Induction. Readings in Philosophical Analysis. Ed. Feigl and Sellars. New York 1949. S.297ff.

4 Daraus ergibt sich, dass sie nicht in einer sogenannten «Molekularsprache», sondern nur in einer «generalisierten» Sprache formuliert sein kann; siehe dazu Wolf gang Stegmüller, Meta­physik, Wissenschaft, Skepsis. Frankfurt/Main-Wien 1954. S.348f.; sowie Rudolf Carnap, Testability and Meaning. In: Readings in the Philosophy and Science. Ed.Feigl und Brodbeck. New York 1953. S. 84 ff. In einer Molekularsprache gibt es keine raum-zeitlich unbeschränkten generellen Aussagen. Die ursprüngliche wissenschaftstheoretische Konzeption des «Wiener Kreises» der Philosophie Hess derartige Aussagen nicht als sinnvoll zu und war aus diesem Grunde scharfer Kritik ausgesetzt; siehe dazu Julius R.Weinberg, Introduzione al positivismo logico. (Übersetzung aus dem Englischen). Torino 1950. S. 170 ff.

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liegen, sogenannte konträre Fälle, so ist damit ein Indiz vorhanden dafür, dass sie den Tatsachen nicht gerecht wird, also korrekturbedürftig ist, während konforme Fälle ihren Bestätigungsgrad erhöhen. Theorien, die jedes denkbare, d.h. hier in ihrer Sprache charakterisierbare, Geschehen zulassen, die also nichts «verbieten», haben keinen empirischen Gehalt und damit keinen prognostischen Wert. Wenn man also davon spricht, dass in den Gesetzen einer empirischen Wissenschaft «Invarianzen» («Konstanzen») des tatsächlichen Geschehens zum Ausdruck kommen, so sind damit nur mehr oder weniger grosse Spielräume gemeint, inner­halb deren dieses Geschehen sehr stark variieren kann. Invarianz bedeutet nichts anderes als konstante Schwankungsbreite x. Je mehr Möglichkeiten durch eine Theorie ausgeschlossen werden, je geringer also die durch sie zugelassenen Varia­bilitätsspielräume sind, desto grösser ist ihr empirischer Gehalt. Wer möglichst genaue Prognosen machen will, wird versuchen, Hypothesen mit möglichst gros­sem empirischem Gehalt zu formulieren. Inwieweit das gelingt, ist natürlich immer auch eine Frage der Realitätsbeschaffenheit. Es gibt keinen Anlass, in dieser Hin­sicht und in den anderen behandelten Punkten einen methodologischen Unter­schied zwischen naturwissenschaftlichen und soziologischen Theorien zu kon­struieren 2.

II

Wissenschaftliche und prophetische Voraussagen

Eine den Spielregeln der empirischen Wissenschaft entsprechend konstruierte Theorie erlaubt grundsätzlich wissenschaftliche Vorhersagen des zukünftigen Ge­schehens in ihrem Objektbereich, gleichgültig, ob es sich um physikalische Ereig­nisse, vitale Prozesse oder die Entwicklung sozialer Beziehungen zwischen Men­schen und Menschengruppen handelt. Voraussetzung für die prognostische Ver­wendung einer solchen Theorie ist allerdings eine zutreffende Beschreibung der Ausgangssituation des vorherzusagenden Geschehens (einschliesslich der ver­schiedenen dem Handelnden möglichen Eingriffe) in der Sprache der Theorie, also je nachdem in der jeweils relevanten Ausdrucksweise der physikalischen, biologi­schen oder soziologischen Wissenschaftssprache. Eine derartige Beschreibung der Randbedingungen des Geschehens erfolgt in singulären Aussagen, d.h. in Aus­sagen, die im Gegensatz zu den generellen Hypothesen der Theorie selbst sich auf ein ganz bestimmtes Raum-Zeit-Gebiet beziehen 3. Aus diesen singulären und den in Frage kommenden generellen Aussagen der Theorie zusammen werden dann wie­derum singulare Aussagen (Prognosen) abgeleitet, die sich auf zukünftige Ereig-

1 Siehe dazu F.A.Hayek, Degrees of Explanation. «British Journal for the Philosophy of Science», VI/23 (1955), S.215 f. Dieser Aufsatz Hayeks schliesst sich teilweise eng an die wissen­schaftstheoretische Konzeption an, die Karl R.Popper in: Logik der Forschung (Wien 1935), The Poverty of Historicism («Economica», 1944) und The Open Society and its Enemies (Prince­ton 1950) entwickelt hat.

2 Siehe dazu auch Karl R. Popper, The Poverty of Historicism, a. a. O., passim. 8 Siehe hierzu und zum folgenden meinen o. a. Aufsatz : Entmythologisierung der Sozial­

wissenschaften (a.a.O., S.252 ff.) und die darin angegebene Literatur.

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nisse beziehen. Das Verfahren dieser Abteilung ist ein rein deduktives, also ein Verfahren tautologischer Transformation, bei dem ausschliesslich die Schluss­regeln der Logik verwendet werden.

So wird durch Anwendung einer allgemeinen Theorie auf in ihrer Sprache beschriebene Randbedingungen, auf eine historische Situation, eine Voraussage der durch diese Theorie erfassbaren Aspekte des zukünftigen Geschehens erreicht. Voraussetzung dazu ist das Enthaltensein von Hypothesen in der Theorie, in denen an allgemein (ohne Beziehung auf eine bestimmte historische Situation, d.h. auf bestimmte Stellen eines raum-zeitlichen Koordinatensystems) charakterisierte Bedingungen ebenso allgemein charakterisierte Konsequenzen geknüpft werden. Liegen diese Bedingungen dann in einem bestimmten Raum-Zeit-Gebiet tatsäch­lich vor, dann lassen sich mit Hilfe der Theorie die in ihr beschriebenen Wirkungen in einem auf das erste bezogenen Raum-Zeit-Gebiet vorhersagen. Die praktische Bedeutung eines solchen Sprachspiels beruht vor allem darauf, dass man oft in der Lage ist, die Randbedingungen des Geschehens in einem Objektbereich so zu be­einflussen, dass die daraus entstehenden Wirkungen mehr oder weniger den eigenen Zwecken entsprechen. Die eigenen Handlungsalternativen spielen in diesem Fall die Rolle kausalrelevanter Umstände (Randbedingungen) und werden in Alter­nativprognosen berücksichtigt. Das ganze Sprachspiel wird damit auf den eigenen Willen des Handelnden, auf seine Pläne, sein Programm, bezogen und mündet in eine praktische Entscheidung aus, die geeignet ist, den Verlauf des Geschehens mitzubestimmen.

In einer solchen Konzeption hat die Idee eines vom eigenen Willen voll­ständig unabhängigen und in diesem Sinne «notwendigen» Geschehens x im so­zialen Bereich keinen Platz. Eine solche Idee liegt aber explizit oder implizit der Auffassung zugrunde, die Aufgabe der Sozialwissenschaft bestehe in der Prophe-zeihung des Geschichtsverlaufs 2. Der Unterschied zwischen der von der modernen Wissenschaftslehre entwickelten Auffassung und dieser älteren «historistischen Doktrin»3 lässt sich auf den Unterschied zwischen «wissenschaftlicher Prognose» und «historischer Prophétie» zurückführen. Während eine wissenschaftliche Vor­hersage immer an die in einer Theorie konstatierten Bedingungen geknüpft ist und «unbedingt» nur dann gemacht werden kann, wenn diese Bedingungen als erfüllt angesehen werden können, erfolgt eine historische Prophezeiung bedingungslos, also ohne die Grundlage einer den oben angegebenen Kriterien genügenden Theorie 4. Da die historische Prophétie sich üblicherweise auf längere Zeiträume

1 Dieser Idee wird von Lewis S.Feuer die allmählich sich durchsetzende «interventionisti­sche» Meta-Soziologie gegenübergestellt; siehe seinen Aufsatz : Causality in the Social Sciences. «The Journal of Philosophy», Vol. LI/23 (1954).

2 Karl R. Popper, der diese Auffassung in seinem Aufsatz : Prediction and Prophecy and their Significance for Social Theory (Proceedings of the Tenth International Congress of Philo­sophy, Vol. I, Amsterdam 1949, S.82ff.) einer gründlichen Kritik unterzogen hat, spricht in diesem Zusammenhang von «historischer Prophétie» im Gegensatz zu «wissenschaftlicher Vor­aussage». Der Verfasser stützt sich im folgenden auf die Kritik Poppers.

3 Popper (a.a.O., S.84) schreibt sie nicht nur dem Marxismus zu, sondern z. B. auch Hegel, Mill und Comte, und führt sie bis auf Piaton und die Vorsokratiker zurück.

4 So Popper, a.a.O., S.85.

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erstreckt, ist es gar nicht möglich, dass sie sich wissenschaftlicher Theorien be­dient, weil diese für langfristige Voraussagen nur in bezug auf genügend isolierte, stationäre und rekurrente Systeme x verwendet werden können, die moderne Ge­sellschaft aber kein solches System darstellt 2. Die Möglichkeit, stationär-rekur-rente Modelle zu konstruieren, die dem Prognosebedürfnis in idealer Weise ange-passt sind, ist kein zureichender Grund für die Annahme, die Realität zeige überall, wo sie für uns interessant ist, eine ähnlich entgegenkommende Beschaffenheit. Andererseits ist die Beschränktheit der Prognosemöglichkeiten im sozialen Bereich kein ausreichendes Argument für die These, man könne in den Sozialwissenschaf­ten keine einwandfrei verwendbaren «wertfreien» Theorien positivistischen Stils konstruieren 3.

III

Quasi-Theorien und das Problem der Relativierung

Wenn man die in den Sozialwissenschaften auftretenden Theorien mit dem oben entwickelten Konstruktionsschema vergleicht, so lässt sich der Tatbestand nicht verheimlichen, dass sie sich von diesem Modell häufig in einem nicht unwe­sentlichen Punkt unterscheiden: Sie machen gar nicht den Anspruch, generelle Hypothesen von raum-zeitlich unbeschränkter Gültigkeit zu enthalten, sondern werden ausdrücklich oder stillschweigend nur auf eine bestimmte Epoche, einen Kulturkreis, eine mehr oder weniger grosse Personengesamtheit bezogen. Man will die Gesetze der spätkapitalistischen Gesellschaft konstatieren, eine Theorie der amerikanischen Wirtschaft des 20. Jahrhunderts konzipieren, die Invarianzen im sozialen Leben moderner totalitärer Herrschaftssysteme aufzeigen. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn das erste, was bei einer Betrachtung sozialer Vorgänge und Ereignisse auffällt, sind gewöhnlich Regelmässigkeiten, die sich bei näherer Überprüfung als kulturell und historisch relativ herausstellen.

1 So Popper, a.a.O., S.85. 2 Das von Popper angeführte Beispiel eines solchen Systems ist das Sonnensystem. Popper

weist darauf hin, dass in der Natur solche Systeme äusserst selten auftreten; siehe dazu auch Ernest Nagel, Problems of Concept and Theory Formation in the Social Sciences. In: Science, Language and Human Rights, a. a.O., S.61 f. Soweit übrigens innerhalb der Gesellschaft Systeme vorkommen, die annähernd dieser Beschreibung genügen, ist eine entsprechend langfristigere Prognosemöglichkeit eventuell gegeben. Die Gesellschaft als Ganzes ist jedenfalls kein Repe-titionsphänomen. Siehe dazu auch Sidney Schoeffler, The Failures of Economics: À Diagnostic Study, Cambridge/Mass. 1955, passim, wo anschliessend an eine Kritik ökonomischer Theorien ein Prognosemodell für «offene Systeme» konstruiert wird. Robert Solo gibt in seiner Abhand­lung: Prediction, Projection, and Social Prognosis («The Journal of Philosophy», Vol. LII/17 [1955], S.459ff.) eine Kritik an den in der Nationalökonomie üblichen Trend-Projektionen auf der gleichen methodologischen Grundlage wie Popper und Schoeffler.

8 Zu diesem Schluss kommt Walther Theimer in seinem Aufsatz : Natur und Gesellschafts­wissenschaften. «Gewerkschaftliche Monatshefte», 6. Jg. (1955), S.369 ff. Dagegen Karl Popper, The Poverty of Historicism.«Economica», 1944. Popper hat hier gezeigt, dass die Ablehnung der «naturwissenschaftlichen» Methodologie für die Sozialwissenschaften unbegründet ist. Wer seine Erwartungen hinsichtlich wissenschaftlicher Vorhersagemöglichkeiten in Richtung auf die historische Prophétie überspannt, wird, wenn seine Hoffnungen enttäuscht werden, allzuleicht dem totalen Prognoseskeptizismus zum Opfer fallen.

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Gleichgültig, wie man derartige Sachverhalte wissenschaftlich verarbeiten möchte : zunächst wird es sich empfehlen, der besonderen tatsächlichen Situation im Bereich der Sozialwissenschaften * durch eine Erweiterung des Theoriebegriffs Rechnung zu tragen. 2 Den Theorien klassischen Stils analog strukturierte empi­rische Aussagensysteme, in denen an irgendeiner Stelle allgemeine Hypothesen von raum-zeitlich beschränkter Gültigkeit auftreten, wird man vielleicht zweck­mässigerweise als Quasi-Theorien bezeichnen, die betreffenden allgemeinen Hypo­thesen selbst in Analogie zu den unbeschränkten Gesetzen «klassischer» Theorien Quasi-Gesetze und die in diesen auftretenden Faktoren von relativer Invarianz Quasi-Konstante. Theorien, Gesetze und Konstante klassischer Prägung sind demnach als Grenzfälle derartiger Quasi-Theorien, Quasi-Gesetze und Quasi-Konstanten aufzufassen, die man erst dann vor sich hat, wenn alle raum-zeitlich beschränkten Faktoren auf irgendeine Weise eliniiniert sind. 3 Es kommt für die Unterscheidung von Theorien und Quasi-Theorien nicht darauf an, ob das be­treffende Aussagensystem tatsächlich nur auf bestimmte Raum-Zeit-Gebiete an­wendbar ist. Soweit eine solche Beschränkung nur darauf zurückzuführen ist, dass gewisse in dem betreffenden System explizit enthaltene (ohne Raum-Zeit-Bezug definierte) Bedingungen in bestimmten Bereichen tatsächlich nicht vorliegen, liegt eine Theorie klassischen Charakters, keine Quasi-Theorie vor. Quasi-Theorien enthalten eine essentielle Beziehung auf ein bestimmtes Raum-Zeit-Gebiet, die Beschränkung ihrer Anwendbarkeit beruht auf der «historischen» Abgrenzung ihres Objektbereichs.

Eine methodologisch bedeutsame Frage ist nun die, ob man derartige Quasi­Theorien nur als Provisorien zu betrachten hat und welche Behandlung man ihnen angedeihen lassen kann. Zunächst ist jeder Apriori-Skeptizismus gegenüber der Möglichkeit «klassischer» Theorien in den Sozialwissenschaften, wie man ihn bei den methodologischen «Historisten» findet, unangebracht. «The fact that social processes vary with their institutional settings, and that the specific uniformities found to hold in one culture are not pervasive in all societies, does not therefore preclude the possibility that these specific uniformities are specializations of rela­tional structures invariant for all cultures. For the admitted differences between the ways in which different societies are organized may be the consequences simply of differences in the specific elements which enter into an invariant pattern

1 Gemeint ist hier nicht etwa eine eigenartige Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit, sondern das Vorbandensein so zahlreicher historisch relativer «Theorien».

2 Siehe auch Ernst Topitsch, Sozialtheorie und Gesellschaftsgestaltung. «Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie», XLII/2 (1956), S. 179, Anmerkung 8. Topitsch tritt für eine Erweiterung des Theoriebegriffs vor allem im Hinblick auf die Aussagensysteme ein, die ich Pseudo-Theorien nennen möchte; siehe dazu später.

8 P. F. Strawson (Introduction to Logical Theory. London-New York 1952. S. 198 f.) spricht von «law-statements», die sich auf offene Klassen, und «quasi-law-statements», die sich auf geschlossene Klassen beziehen. Die «Unternehmer Wiens in den dreissiger Jahren» bilden eine geschlossene, die «Besitzer von Produktionsmitteln» eine offene Ellasse. Entscheidend ist hier der vorhandene bzw. fehlende Raum-Zeit-Bezug.

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of relations 1.» Inwieweit es gelingen wird, solche historisch unbeschränkt inva­rianten Strukturen zu entdecken, ist eine Frage, die a priori überhaupt nicht ent­schieden werden kann. Eine von vornherein «historistische» Einstellung zu dieser Frage würde lediglich derartige Entdeckungen unwahrscheinlich machen 2.

Grundsätzlich gibt es drei Verfahrensweisen gegenüber quasi-theoretischen Aussagen. Hat man entdeckt, dass bestimmte « Gesetze» nur in einem bestimmten Kulturmilieu oder einer bestimmten Geschichtsperiode «gelten», dass sie also de facto Quasi-Gesetze sind, so kann man sich damit begnügen, sie explizit kulturell bzw. historisch zu relativieren3, d.h. sie auf das betreffende Raum-Zeit-Gebiet zu beziehen. Damit hat man die den betreffenden Aussagen inhaerente historische Relativität lediglich durch Hinzufügung eines Raum-Zeit-Index hervorgehoben.

Die zweite Möglichkeit besteht darin, die quasi-theoretischen Aussagen auf ihre logischen Bedingungen zu beziehen, sie logisch oder besser analytisch zu rela­tivieren. Ein solches Verfahren führt zwar dazu, dass die Beziehung der Theorie auf ein Raum-Zeit-Gebiet eliminiert wird, aber auf Kosten ihres empirischen Ge­halts. Aus den empirischen Aussagen der Quasi-Theorie werden dadurch analy­tische Aussagen, Tautologien 4. Damit ist eine prognostische Verwendung dieser Aussagen von vornherein ausgeschlossen.

Das ist nicht der Fall bei der dritten Verfahrensweise, durch die die betreffen­den quasi-theoretischen Aussagen auf empirische Bedingungen, die den in ihnen ausgesagten Sachverhalten zugrunde liegen, bezogen, also strukturell, d.h. em­pirisch relativiert werden. Das führt zu einer Eliminierung ihres Raum-Zeit-Be­zuges unter Aufrechterhaltung ihres empirischen Gehalts. Aus den Quasi-Ge­setzen werden dadurch Gesetze klassischen Stils, aus der betreffenden Quasi­Theorie wird eine Theorie, die dem klassischen Modell entspricht. Der Unterschied zu den anderen beiden Verfahrensweisen besteht darin, dass die Bedingungen,

1 Ernest Nagel, Problems of Concept and Theory Formation in the Social Sciences, a. a. O., S.62f. Nagel bringt dann ein analoges Beispiel aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. So auch Popper, The Poverty of Historicism, a.a.O., S. 135.

2 Der Skeptizismus, der von vornherein annimmt, es gäbe im sozialen Bereich nur Quasi­Gesetze, beruht nach Nagel (a. a. O., S. 61) oft auf zwei Missverständnissen: erstens der Annahme, dass die Astronomie das Paradigma jeder klassischen Wissenschaft sei, und zweitens dem Fehler, nicht zwischen der Instabilität oder Variabilität in den spezifischen Gegebenheiten von Systemen und einer abstrakten Uniformität zu unterscheiden, die nichtsdestoweniger für alle Systeme gültig ist.

8 Das ist etwa die Position Adolf Lowes in seinem Buch: Economies and Sociology. London 1935; siehe besonders S. 101.

4 Es ist zu bemerken, dass eine Tautologisierung ursprünglich empirisch interpretierbarer Aussagen dazu führt, dass diese Aussagen durch Erfahrung unwiderlegbar werden; siehe dazu Alfred Jules Ayer, Language, Truth and Logic. 2. Aufl. London 1955. S.95. Diese Eigenschaft mag manchen Theoretikern als ein Vorzug erscheinen. So weist Lionel Robbins (An Essay on the Nature and Significance of Economic Science. 2. Aufl. London 1952. S. 121 f.) mit Nachdruck daraufhin, dass «ökonomische Gesetze» logische Implikationen sind, folgert aber daraus merk­würdigerweise ihren besonderen prognostischen Wert. Seit Wittgensteins Entdeckung des tauto-logischen Charakters logischer Aussagen (Tractatus Logico-Philosophicus. London 1955. S. 154 f.; zuerst veröffentlicht in den «Annalen der Naturphilosophie», 1921) ist eine solche Auffassung nicht mehr haltbar. Siehe dazu T.W. Hutchison, The Significance and Basic Postulates of Economic Theory. London 1938. S.62ff.

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unter denen die in den Quasi-Gesetzen ausgesprochenen Regelmässigkeiten auf­treten, allgemein (d. h. ohne offene oder verschleierte Bezugnahme auf irgendein raum-zeitliches Koordinatensystem) charakterisiert werden, ohne dass, wie das bei der Tautologisierung der Fall ist, diese Regelmässigkeiten aus den Bedin­gungenlogisch ableitbar wären. Eine strukturelle Relativierung quasi-theoretischer Aussagen setzt natürlich die empirische Erforschung der betreffenden Bedingun­gen voraus, es sei denn, man verfügt schon über «klassische» Gesetze, aus denen sie ableitbar sind. Sie erhöht den prognostischen Wert eines Aussagensystems, da sie seine Anwendungsbedingungen klärt. Man hat den Quasi-Gesetzen einer «historisch relativen» Theorie gegenüber also prinzipiell drei Möglichkeiten:

1. historische Relativierung (Historisierung) ; 2. analytische Relativierung (Tautologisierung); 3. strukturelle Relativierung (Nomologisierung).

Dabei ist 1. eine offenbare Verzichtlösung, 2. eine Scheinlösung der Probleme, während 3. allein einen Fortschritt in Richtung auf das klassische Modell einer allgemein verwendbaren Theorie bedeutet. Gerade für den soziologischen Bereich 1

sind diese Alternativen von besonderer Bedeutung. Die erste Möglichkeit ent­spricht z.B. der methodologischen Konzeption des Historismus in der National­ökonomie, die zweite der Auffassung der Vertreter der sogenannten «reinen» Theorie, die sich auf die «logische Richtigkeit», d.h. de facto auf die innere Wider-spruchslosigkeit ihrer Aussagensysteme als einziges Kriterium zu berufen und den Wert der Theorie als eines analytischen Instrumentariums in den Vordergrund zu stellen pflegen. Befürworter des dritten Verfahrens findet man ausserordentlich selten. Die methodologische Diskussion in der Nationalökonomie scheint sich vor­wiegend zwischen «Historikern» und «Modell-Theoretikern» abzuspielen. Die «klassische» Lösung wird dabei vielfach mit dem Hinweis auf die Realität, d.h. hier auf die andersartige Beschaffenheit des Objektbereichs der Sozialwissen­schaften abgetan 2, was auf reinen Apriorismus, auf die «Ontologisierung» einer menschlichen Wissenslücke, hinausläuft. 3 Vielleicht sind die Möglichkeiten, den

1 Unter einer soziologischen Theorie (Aussage, Hypothese) soll hier ganz allgemein eine Theorie (Aussage, Hypothese) über soziale Beziehungen verstanden werden, also auch z. B. eine ökonomische Theorie (Aussage, Hypothese), da sich nachweisen lässt, dass sich ökonomische Aussagen auf Aussagen über soziale Beziehungen reduzieren lassen.

2) Siehe dazu oben. Auch in den Naturwissenschaften tritt das Problem der Quasi-Gesetze auf. Z. B. kann die Formel v = g.t für den freien Fall als ein solches Gesetz angesehen werden, wenn m a n g als Quasi-Konstante (Erdbeschleunigung = 9,81 m.sec'2) interpretiert. Hätte man zunächst dieses Quasi-Gesetz entdeckt und dann sich mit einer räumlichen Relativierung be­gnügt, dann würde man heute über ein Fallgesetz verfügen, das nur für die Erde gilt. Seine struk­turelle Relativierung führt dagegen zu seiner Ableitung aus allgemeinen physikalischen Gesetzen, in denen «echte» Konstante enthalten sind, unter den besonderen Bedingungen, die im Bereich der Erde vorherrschen. Wäre die wissenschaftliche Entwicklung chronologisch so verlaufen, so hätte man a priori nicht wissen können, ob eine strukturelle Relativierung möglich ist.

3) Es scheint mir, als ob gerade ökonomische Theorien oft aus einem methodologischen Vorurteil heraus entweder historisiert oder tautologisiërt wurden. Die dritte Möglichkeit wurde

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quasi-theoretischen Gehalt des Denkens der ökonomischen Klassiker und Vor­klassiker durch strukturelle Relativierung fruchtbar zu machen, durch den metho­dologischen Alternativ-Radikalismus späterer Generationen, die zwischen Histo­rismus und Logizismus wählen zu müssen glaubten, verschüttet worden. Wenn es je gelingen sollte, gewisse sich in einem bestimmten Raum-Zeit-Gebiet periodisch wiederholende Abläufe, wie z.B. die Konjunkturen x oder gewisse für bestimmte Bereiche charakteristische Verhaltensweisen, wie z.B. ein bestimmtes generatives Verhalten 2, auf soziale Strukturen zu relativieren, die dafür kausalrelevant sind, dann wäre damit ein Schritt in Richtung auf eine allgemeine soziologische Theorie getan, der den Vorzug dieses Relativierungsverfahrens sehr deutlich machen würde. 3

Damit dieses Verfahren angewendet werden kann, muss natürlich zunächst eine grundlegende Bedingung erfüllt sein: Man muss den quasi-theoretischen Charakter gewisser bislang als Konstatierungen von Gesetzen behandelter Aus­sagen erkennen. 4 Man muss einsehen, dass es im soziologischen Bereich um unsere Kenntnis wirklicher Gesetze klassischen Stils vorerst noch nicht sehr gut bestellt ist, dass z.B. die uns bekannten ökonomischen Generalisierungen in den meisten Fällen, falls sie nicht Tautologien sind, Quasi-Konstante enthalten. Sie bringen also nur relative Invarianzen zum Ausdruck, deren Bedingungen wir noch nicht kennen. Wenn man das dadurch zum Ausdruck bringt, dass man sie z.B. aus­drücklich auf die kommerzialisierte Variante der modernen Industriegesellschaft oder auf einen noch stärker begrenzten Bereich bezieht, dann muss man sich dar­über klar sein, dass eine solche historisch-kulturelle Relativierung zwar ein Fort­schritt sein mag, aber keineswegs zu verwechseln ist mit einer genauen Kenn­zeichnung der Bedingungen, unter denen diese Invarianzen auftreten.

Die Suche nach uneingeschränkten Generalisierungen im Sinne des klassi­schen Theorie-Modells muss nun aber nicht bedeuten, dass man die bisher ge-

möglicherweise nicht einmal gesehen. So ist der Weg von der Quantitätstheorie zur Verkehrs­gleichung mit ihrer Tautologisierung gleichbedeutend (für ein weiteres Beispiel, die Werttheorie, siehe T.W.Hutchison, a.a.O., S. 114ff. Die Tautologisierung wurde offenbar besonders als ein Mittel geschätzt, eine Theorie vor Falsifikation zu schützen), die marxistische Relativierung der Gesetze der Klassik auf die Periode des Kapitalismus wahrscheinlich mit ihrer Historisierung. Ansatzpunkte für eine strukturelle Relativierung gibt es, wenn ich richtig sehe, bei Johan Aker-man, Ekonomisk Teori. Band I. Lund 1939; Band II. Lund 1944.

1 Siehe dazu den 2. Band des o. a. Werkes von Akerman. 2 Siehe dazu Wilhelm Bickel, Bevölkerungsdynamik und Gesellschaftsstruktur. «Schwei­

zerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik», Bd. 92/3 (1956), S.317 ff. 8 Die strukturelle Relativierung ist übrigens ein Mittel, einander widersprechende Theorien

miteinander zu vereinbaren, indem man ihren Quasi-Charakter klarstellt und sie dann auf ver­schiedene Strukturen bezieht. Zur Frage der Relativierung siehe Philipp Frank, Wahrheit -relativ oder absolut? Zürich 1952. S. 13 ff. und passim.

4 Schoeffler macht in seiner Kritik ökonomischer Theorien (The Failures of Economies, a.a.O., S.68) z. B. darauf aufmerksam, dass die auf Keynes zurückgehende makro-ökonomische Konsumfunktion und ähnliche Funktionen keineswegs Gesetze sind. In ähnlicher Weise kritisiert er andere übliche Annahmen, wie die «Verhaltensgleichungen» ökonometrischer Modelle (z. B. a.a.O., S. 115 ff.), die sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch hinsichtlich der in ihnen auf­tretenden numerischen Werte der Parameter problematisch sind.

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fundenen Quasi-Gesetze als völlig unerheblich und nutzlos behandelt. Ebenso wie der Theorie-Skeptizismus der Historiker ist auch die antihistorische Einstellung der methodologischen Klassizisten praktisch unfruchtbar. Die Tatsache, dass uns die relativen Invarianzen unseres Kulturmilieus und unserer Gesellschaft zunächst leichter zugänglich sind als eventuell dahinterstehende allgemeinere Gesetze, ist nicht völlig unerheblich. Auch im Alltag sind wir praktisch gezwungen, uns vor allem an derartigen relativ konstanten Strukturen, wie z.B. am geltenden Recht, den herrschenden Sitten und Gebräuchen, bestimmten Organisationsformen, kurz, dem institutionellen Gefüge der Gesellschaft zu orientieren, ohne dass wir immer in der Lage sind, allgemeine Bedingungen festzustellen. Die soziologische Prognose wird sich in den meisten Fällen, in denen allgemeine Theorien nicht zur Verfügung stehen, ebenfalls auf quasi-theoretische Aussagen stützen müssen, auf die Gefahr hin, dass ihre Verlässlichkeit dadurch auf ein Minimum reduziert wird. Man wird wohl meist aus praktischen Gründen nicht warten können, bis die wissenschaftliche Entwicklung im soziologischen Bereich überall bis zur Theorie klassischen Stils vorgedrungen ist1 , ganz abgesehen davon, dass wir nicht wissen, ob das jemals ge­lingt.

IV

Pseudo-Theorien und Pseudo-Prognosen

Bei der im soziologischen Bereich üblichen grosszügigen Verwendung des Theoriebegriffs ist es nicht erstaunlich, dass ausser den Quasi-Theorien noch eine weitere Klasse von Aussagensystemen mit analoger syntaktischer Struktur unter ihn subsumiert zu werden pflegt, für die die Bezeichnung «Pseudo-Theorien» an­gebracht erscheint. Zum Unterschied von den Theorien des klassischen Modells enthalten die Pseudo-Theorien vorwiegend Aussagen, die durch ihre objektive Formulierung theoretische Qualität vortäuschen, ihrem tatsächlichen Gehalt nach aber keine Behauptung über die Wirklichkeit ausdrücken: nicht-kognitive Aus­sagen in pseudo-objektiver Ausdrucksweise also 2.

Die «Pseudo-Gesetze» solcher Systeme sind im allgemeinen methaphysische oder ideologische Aussagen, je nachdem, ob aus ihnen unmittelbar normative Sätze ableitbar sind oder nicht. Man kann demnach metaphysische und ideolo­gische Sprachsysteme, auch wenn sie de facto oft in enger Verbindung miteinander auftreten, grundsätzlich folgendermassen voneinander unterscheiden: Ideologi­sche Aussagen sind pseudo-objektive Sätze krypto-normativer Natur, aus denen

1 Dabei ist zu berücksichtigen, dass man nicht Quasi-Theorien zur Prognose verwenden kann, die offensichtlich deshalb überholt sind, weil sie an die soziale Rollenstruktur in einer vergangenen historischen Periode anknüpfen. Siehe dazu meinen Aufsatz: Macht und Zu­rechnung. Von der funktionellen zur institutionellen Verteilungstheorie («Schmollers Jahrbuch», Jg. 1955), wo diese Frage in bezug auf die Verteilungstheorie erörtert wird.

2 Zum Problem der systematisch iireführenden Ausdrucksweise siehe meinen o. a. Aufsatz : Entmythologisierung der Sozialwissenschaften, a. a. O., S. 257 ff. und die dort angegebene Literatur, sowie meinen Aufsatz: Das Werturteilsproblem im Lichte der logischen Analyse. «Zeitschrift für die gesamte Staats Wissenschaft», 112. Band, Heft 3 (1956), S. 414 ff.

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nicht prognostische, sondern nur politisch-programmatische Konsequenzen ge­zogen werden können. Metaphysische Aussagen sind auch in objektiver Ausdrucks­weise formuliert, so dass sie den Anschein theoretischer Dignität erwecken, haben aber krypto-emotiven Charakter1. Man kann aus ihnen weder prognostische, noch unmittelbar normative Konsequenzen ziehen, da sie keinerlei empirischen Gehalt 2

haben. Sie sind vielmehr so konstruiert, dass sie geeignet sind, starke Gefühlserleb­nisse hervorzurufen, die unter Umständen dann durch ideologische Aussagen in bestimmter Weise präskriptiv «kanalisiert» werden können 3. Ideologische Sy­steme sind daher vielfach eingebettet in metaphysische Aussagen, sie haben eine metaphysische Hülle, die ihren Wahrheitsanspruch noch stärker verankert, als es durch ihre eigene pseudo-objektive Formulierung geschehen könnte. Eine Abgren­zung ideologischer und metaphysischer Aussagen ist infolge dieser oftmals engen Verbindung und der meist geringen Genauigkeit auch der ersteren vielfach kaum zu schaffen. Das von Topitsch mehrfach analysierte Leerformelproblem 4 entsteht wohl vor allem durch die Präponderanz der Misch-Systeme in der sozialen Wirk­lichkeit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass solche Pseudo-Theorien ideologischen Charakters darüber hinaus noch rein theoretische und quasi-theoretische Aussagen enthalten, die der empirischen Bestätigung zugänglich sind 5. Ein Aussagenzu-

1 Das Wort «emotiv» wird hier nicht im Sinne der «emotive theory» in der Meta-Ethik (Moralphilosophie) verwendet, die gerade auch die normativen Aussagen charakterisieren will.

8 Ich verwende diesen Ausdruck hier in einem Sinn, in dem man auch bei normativen Aus­sagen davon sprechen kann; wenn sie nämlich etwas «erlauben» bzw. «verbieten» oder «ge­bieten», also eine « Einschränkung » enthalten.

8 Béla Juhos charakterisiert die metaphysischen Aussagen dadurch, dass in ihnen die ein­zelnen Ausdrücke in einer Weise verwendet bzw. kombiniert sind, die von den normalen Ge­brauchsregeln der Sprache abweicht, so dass verschwommene Scheinsätze entstehen, die nichts über die Wirklichkeit sagen. Siehe Juhos, Das Wertgeschehen und seine Erfassung. Meisenheim am Gian 1956. S.35 ff. Seine Analyse knüpft offenbar an Rudolf Carnaps Aufsatz: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, «Erkenntnis», Bd.II (1931) an, stösst aber in mancher Beziehung weiter vor. Ob man alle Systeme, die sich selbst «metaphysisch» nennen, so charakterisieren kann, soll hier nicht entschieden werden. Die Kombination von pseudo­objektiver Ausdrucksweise und krypto-emotivem Gehalt, so dass theoretisch sinnlose Sätze mit Wahrheitsanspruch und starker Gefühlswirkung entstehen, ist jedenfalls in der traditionellen und auch in der neueren Philosophie (Existentialismus) weit verbreitet.

4 Siehe dazu Ernst Topitsch, Soziologie des Existentialismus. «Merkur», 7. Jg. (1953) und derselbe: Gesetz und Handlung. Zur Kritik der marxistischen Geschichtsphilosophie. «Merkur», 8. Jg. (1954). Die metaphysische Verankerung der Ideologien im «Absoluten» erfolgt meist durch Leerformeln und syntaxwidrig gebildete Sätze, in bezug auf die der ideologische Gehalt weitgehend auswechselbar ist (siehe z. B. das sogenannte Naturrecht). Ich würde für Pseudo-Theorien mit ideologischem Gehalt den Ausdruck «Ideologien» vorschlagen, auch wenn sie metaphysische Aussagen enthalten. Die Hülle der metaphysischen Aussagen allein wäre dann als «reine Metaphysik» zu bezeichnen. Die «Ableitung» der ideologischen Aussagen aus den metaphysischen erfolgt unter Verwendung scheinlogischer «Ableitungsregeln», nicht durch tautologische, sondern durch «dialektische» Transformation; siehe dazu Juhos, a.a.O., S.67 und passim.

5 Die traditionelle Nationalökonomie enthält meines Erachtens mehr oder weniger ent­wickelte Ansätze zu vier verschiedenen Arten von Systemen, zu einer spekulativen Metaphysik des Nutzens, zu einer Ideologie der Erwerbsgesellschaft mit politischen Konsequenzen (siehe dazu: Gunnar Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung.

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sammenhang, der aus einer Mischung von Pseudo- Gesetzen, Quasi-Gesetzen und «klassischen» Gesetzen besteht, mag wegen seiner Analogie zu den Sprachspielen des Alltags und des gesunden Menschenverstandes manchmal besonders zugkräftig sein.

Für das Prognoseproblem sind derartige Scheintheorien insofern von Bedeu­tung, als sie zur Ableitung von Pseudo-Prognosen verwendet werden können x. Solche vermeintlichen Voraussagen bewahren den versteckt wertenden Charakter der pseudo-theoretischen Aussagen, aus denen sie abgeleitet sind, geben sich aber dennoch den Anschein, eine Information über die Zukunft zu vermitteln. So kann man beispielsweise aus gewissen ökonomischen Sprachsystemen unter Umständen die Scheinvoraussage ableiten, dass die Mitglieder einer bestimmten Marktgesell­schaft mit dem Wert «ihres produktiven Beitrags» entlohnt werden, oder dass in ihr «ein Maximum an Sozialprodukt» 2 erzielt wird. Diese Aussagen haben realiter mangels operationaler Definition der in diesem Zusammenhang relevanten Be­griffe keine informatorische sondern eine Legitimationsfunktion für bestimmte politische Massnahmen oder Ordnungen, bzw. eine Garantiefunktion3 für die sozialen Gruppen, die die Ideologien für sich akzeptieren. Nicht nur die « Erwerbs­ideologie » des « wissenschaftlichen» Liberalismus, sondern auch die« Ausbeutungs­ideologie» des «wissenschaftlichen» Sozialismus erlaubt die Ableitung derartiger Pseudo-Prognosen, letztere auf Grund pseudo-theoretischer Mehrwertaussagen 4. Sie informieren nicht über zukünftige Ereignisse, sondern verleihen ihnen nur einen positiven oder negativen Wertakzent, je nachdem, ob sie aus ideologisch gerecht­fertigtem oder nicht gerechtfertigtem Verhalten hervorgingen. Auf die Dialektik solcher eigenartig konstruierter Sprachspiele, die eine Legitimations-, Motiva­tions- und Garantiefunktion erfüllen, darüber hinaus den Anschein wissenschaft­licher Objektivität erwecken sollen und zu diesem Zwecke mit Wahrheitsanspruch auftreten, soll hier nicht eingegangen werden. Ihre Erörterung gehört nicht in den hier behandelten Problemkreis.

Berlin 1932; sowie meine Schrift: ökonomische Ideologie und politische Theorie. Göttingen 1954, passim), zu einer Soziologie der kommerziellen Beziehungen und zu einer Logik der Entschei­dungen, die Kalkülmodelle (im Sinne Akermans, siehe dazu seine Ekonomisk Teori. Band I. De Ekonomiske Kalkylerna. Lund 1939) für bestimmte Entscheidungssituationen bereitstellt, worunter z. B. auch die Theorie der Spiele zu rechnen ist. Die verschiedenen dazugehörigen Aus sagen sind so miteinander verschlungen, dass man leicht der Gefahr unterliegt, von einem Sprach­spiel in das andere hinüber zugleit en und den genetischen Zusammenhang als einen Sinnzusammen­hang zu begreifen. Vor allem spielen bestimmte Ausdrücke je nach dem in Frage kommenden Sprachspiel verschiedene Rollen, die man nur schwer auseinanderhalten kann.

1 Ein anderer Aspekt scheintheoretischer Systeme, der in die Problematik des pragmati­schen Zirkels (selbst-verifizierende und selbst-falsifizierende Prognosen) gehört, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden.

2 Siehe dazu meinen Aufsatz: Der Trugschluss in der Lehre vom Gütermaximum. «Zeit­schrift für Nationalökonomie», Band XIV (1953), S.90ff.

3 Topitsch hat vor allem die Motivations- und die Garantiefunktion der Ideologien heraus­gearbeitet, siehe z. B. seinen o. a. Aufsatz: Gesetz und Handlung, a.a.O., S.325. Aber auch die Legitimationsfunktion, die ja mit beiden eng zusammenhängt, klingt bei ihm an.

4 Das soll nicht heissen, dass das marxistische System nicht auch echte Voraussagen ent­halten würde. Sie sind allerdings mehr prophetischer als wissenschaftlicher Natur ; siehe oben.

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V

Unsere Untersuchung hat also im wesentlichen folgendes ergeben :

1. Eine wissenschaftliche Theorie positivistischen Typs ist ein Sprachspiel, dessen Funktion darin besteht, die Vorgänge eines bestimmten Objektbereichs zu erklären und vorauszusagen. Zwischen Erklärung und Prognose besteht kein semantischer, sondern nur ein pragmatischer Unterschied. Die Spielregeln eines solchen Sprachspiels sind auf diesen Zweck bezogen.

2. Die brauchbarste Form einer diesem Zweck gewidmeten Theorie ist die eines axiomatisch-deduktiven Systems von Sätzen, dessen Axiome und Theoreme als generelle, d.h. zeit-räumlich unbeschränkte Hypothesen zu interpretieren, dessen Begriffe auf der Basis einiger Grundbegriffe gebildet sind, und dessen Axiomensystem den Forderungen der Widerspruchslosigkeit, Unabhängigkeit, Zulänglichkeit und Notwendigkeit genügt.

3. Zur Überprüfung eines solchen Systems sind Gedankenexperimente nur brauchbar, insoweit sie sich auf seine formale Gültigkeit beziehen. Zur Überprü­fung der inhaltlichen Wahrheit bedarf es der Faktenanalyse und des Realexperi­ments. Das Induktionsproblem lässt sich, methodologisch gesehen, auf das Pro­blem der Feststellung des Bestätigungsgrades der Hypothesen einer solchen Theorie auf Grund von Beobachtungen reduzieren.

4. Der prognostische Gehalt empirischer Theorien besteht darin, dass sie all­gemeine Variabilitätsspielsräume für das Geschehen in ihrem Objektbereich fest­legen.

5. Die Verwendung eines solchen Sprachsystems zur Prognose erfolgt dadurch, dass aus einer Konjunktion von singulären Aussagen, die bestimmte relevante vorliegende Randbedingungen in der Sprache der Theorie charakterisieren, und den Hypothesen der Theorie singulare Aussagen über das zukünftige Geschehen -Prognosen - durch tautologische Transformation abgeleitet werden.

6. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Prognose wird die üblicherweise lang­fristige, historische Prophétie nicht durch Anwendung einer allgemeinen Theorie auf bestimmte vorliegende Bedingungen erzielt. Das wäre schon deshalb nicht möglich, weil die Gesellschaft als Ganzes kein isoliertes, stationäres und rekurrentes System ist, an das eine langfristige wissenschaftliche Prognose allenfalls anknüpfen könnte.

7. Die in den Sozial Wissenschaften vorkommenden Aussagensysteme sind vielfach nicht «klassische» Theorien mit Gesetzen und Konstanten, sondern Quasi-Theorien mit Quasi-Gesetzen und Quasi-Konstanten, also Systeme mit essentieller Beziehung auf ein bestimmtes Raum-Zeit-Gebiet.

8. Den Quasi-Gesetzen gegenüber gibt es drei Verfahrensmöglichkeiten :

a) die historische Relativierung (Historisierung), d.h. die explizite Herausstel­lung ihres Raum-Zeit-Bezuges ;

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b) die analytische Relativierung (Tautologisierung), d. h. ihre Beziehung auf ihre logischen Bedingungen;

c) die strukturelle Relativierung (Nomologisierung), d.h. ihre Beziehung auf die ihnen zugrunde liegenden empirischen Bedingungen.

9. Die methodologische Konzeption des Historismus, die die erste Lösung (Historisierung) als einzig mögliche annimmt, ist ebenso unbegründet wie die des Logizismus, die mit der zweiten (Tautologisierung) auszukommen glaubt. Erst durch strukturelle Relativierung wird die Raum-Zeit-Beschränktheit der Theorie eliminiert, ohne dass ihr empirischer Gehalt angetastet wird. Soweit unbeschränkte Generalisierungen noch nicht zur Verfügung stehen, ist die Soziologie für Prognosen auf Quasi-Theorien angewiesen.

10. Die ausserdem noch vorkommenden Pseudo-Theorien (metaphysische bzw. ideologische Systeme) sind durch die Dominanz krypto-emotiver und krypto-normativer Aussagen in pseudo-objektiver Formulierung (Pseudo-Ge­setze) charakterisiert. Die aus ihnen ableitbaren Pseudo-Prognosen sind nur ver­steckte Bewertungen und enthalten keine Information über zukünftige Ereignisse. Die Ableitung innerhalb solcher Systeme erfolgt zum Teil nicht durch tautolo-gische, sondern durch dialektische Transformation, also nicht nach den Regeln der Logik.