teil iii: mimesis und kulturelle bzw. künstlerische identität · 2019. 3. 30. · stituiert,...

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1 Chico Mello Teil III (Ausschnitt) der Dissertation Mimesis und musikalische Konstruktion (2008) Parte III (extrato) da tese de doutorado Mimesis e construção musical Part III (excerpt) of the dissertation Mimesis and music construction Parte III (extracto) de la tesis de doctorado Mímesis y construcción musical Teil III: Mimesis und kulturelle bzw. künstlerische Identität 6. Kompositorische und kulturelle Identität Die Entwicklung kompositorischer Identitäten hängt, wie bereits angedeutet, na- turgemäß eng mit kultureller Identität zusammen. 1 Wie bei der Entwicklung ei- ner eigenständigen persönlichen Identität, spielt hier die Auseinandersetzung mit Vorbildern eine wichtige Rolle. Während bei der persönlichen Entwicklung eine mimetische Auseinandersetzung zwischen Generationen im Spiel ist, ist bei der kulturellen Identität eine historische und geopolitische Auseinandersetzung zwi- schen Weltregionen, Nationen und Ethnien im Spiel. Die oben beschriebenen mimetischen Prozesse, welche bei der künstlerischen Identitätsfindung eine Rol- le spielen, können nur innerhalb eines kulturellen Rahmens stattfinden, sie wer- den von der Kultur bestimmt. Offenkundig ist die Suche eines/er Komponi- sten/in nach einer profilierten, „authentischen“ Identität eine Charakteristik der westlichen Kultur. Diese Suche ist in westlichen Subkulturen – wie Popularmu- sik, Jazz, improvisierte Musik – allerdings weniger individuell als in der klassi- schen „ernsten“ Musik, sondern findet eher kollektiv statt, da die Identität der Gruppe eine wichtige Rolle spielt. In anderen Kulturen, in welchen es die Unter- scheidung Komponist-Improvisator-Musiker gar nicht gibt, findet die Suche nach dem Persönlichen immer innerhalb eines kollektiven Systems statt, und nicht in der Entwicklung einer ausschließlich persönlichen Musiksprache. 2 1 Vgl. Abschn. 3.2 dieses Teils. 2 Diesbezüglich schreibt der in Indien geborene und seit seiner Kindheit in Europa lebende Komponisten Sandeep Bhagwati: „Es gibt derzeit einige wichtige indische Musiker, die das theoretische und klangliche Spektrum der indischen Musik erweitern möchten. [...] Sie suchen entweder eine Musik jenseits der raags, greifen die raueren Klang-Ideale der Volksmusik auf, oder suchen nach einem indischen Weg zur Mehrstimmigkeit etc. Manche haben auch den Dialog mit der westlichen Neuen Musik aufgenommen – diese erscheint ihnen offener als die historische Klassik. Allen ist aber gemeinsam, dass sie dabei nicht an eine persönliche Musik- sprache denken: Stets öffnen sie Wege, die so angelegt sind, dass andere auf ihnen weiter wandern können als sie selbst.“ (Sandeep Bhagwati, „Neue Musik in Indien?“ in: Christine Fischer (Hg.), Grenzenlos. ISCM World New Music Festival 2006, Stuttgart 2006, S. 49.)

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    Chico Mello Teil III (Ausschnitt) der Dissertation Mimesis und musikalische Konstruktion (2008) Parte III (extrato) da tese de doutorado Mimesis e construção musical Part III (excerpt) of the dissertation Mimesis and music construction Parte III (extracto) de la tesis de doctorado Mímesis y construcción musical Teil III: Mimesis und kulturelle bzw. künstlerische Identität 6. Kompositorische und kulturelle Identität

    Die Entwicklung kompositorischer Identitäten hängt, wie bereits angedeutet, na-turgemäß eng mit kultureller Identität zusammen.1 Wie bei der Entwicklung ei-ner eigenständigen persönlichen Identität, spielt hier die Auseinandersetzung mit Vorbildern eine wichtige Rolle. Während bei der persönlichen Entwicklung eine mimetische Auseinandersetzung zwischen Generationen im Spiel ist, ist bei der kulturellen Identität eine historische und geopolitische Auseinandersetzung zwi-schen Weltregionen, Nationen und Ethnien im Spiel. Die oben beschriebenen mimetischen Prozesse, welche bei der künstlerischen Identitätsfindung eine Rol-le spielen, können nur innerhalb eines kulturellen Rahmens stattfinden, sie wer-den von der Kultur bestimmt. Offenkundig ist die Suche eines/er Komponi-sten/in nach einer profilierten, „authentischen“ Identität eine Charakteristik der westlichen Kultur. Diese Suche ist in westlichen Subkulturen – wie Popularmu-sik, Jazz, improvisierte Musik – allerdings weniger individuell als in der klassi-schen „ernsten“ Musik, sondern findet eher kollektiv statt, da die Identität der Gruppe eine wichtige Rolle spielt. In anderen Kulturen, in welchen es die Unter-scheidung Komponist-Improvisator-Musiker gar nicht gibt, findet die Suche nach dem Persönlichen immer innerhalb eines kollektiven Systems statt, und nicht in der Entwicklung einer ausschließlich persönlichen Musiksprache.2 1 Vgl. Abschn. 3.2 dieses Teils. 2 Diesbezüglich schreibt der in Indien geborene und seit seiner Kindheit in Europa lebende Komponisten Sandeep Bhagwati: „Es gibt derzeit einige wichtige indische Musiker, die das theoretische und klangliche Spektrum der indischen Musik erweitern möchten. [...] Sie suchen entweder eine Musik jenseits der raags, greifen die raueren Klang-Ideale der Volksmusik auf, oder suchen nach einem indischen Weg zur Mehrstimmigkeit etc. Manche haben auch den Dialog mit der westlichen Neuen Musik aufgenommen – diese erscheint ihnen offener als die historische Klassik. Allen ist aber gemeinsam, dass sie dabei nicht an eine persönliche Musik-sprache denken: Stets öffnen sie Wege, die so angelegt sind, dass andere auf ihnen weiter wandern können als sie selbst.“ (Sandeep Bhagwati, „Neue Musik in Indien?“ in: Christine Fischer (Hg.), Grenzenlos. ISCM World New Music Festival 2006, Stuttgart 2006, S. 49.)

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    Demnach werde ich mich im Folgenden auf die kulturellen mimetischen Prozes-se, die bei der kompositorischen Identitätsfindung eine Rolle spielen, konzen-trieren. Um diese Prozesse deutlicher zu skizzieren, werde ich die Situation la-teinamerikanischer Komponisten erörtern, zumal ich ebenfalls in dieser Kultur aufgewachsen bin und in der Entwicklung meiner kompositorischen Identität entscheidend von ihr geprägt wurde.3

    6.1. Kolonisierungsprozess

    Die Macht musikalischer europäischer Standards korreliert nicht zufällig mit der ökonomischen Macht. Die sogenannte ernste Musik war immer die Musik der europäischen herrschenden Klasse und ging Hand in Hand mit dem technologi-schen Fortschritt in Europa. In Lateinamerika war sie von Anbeginn die Musik der Herrscher und wurde, zusammen mit ihrem christlichen Glauben, in der Form geistlicher Musik als Unterdrückungsmittel zwecks kultureller Expansion angewendet – dies besonders effizient in der jesuitischen Katechese. Doch die herrschende Klasse war in Amerika insgesamt zahlenmäßig nicht groß genug, daher blieb diese Musik eher peripher.4 Die Musik der im Laufe der Jahrhunderte aus Europa nach Südamerika ausge-wanderten unteren Klassen war aber die Popularmusik. Wie im Kontext der Analyse des Samba-Stücks Luz Negra von Nelson Cavaquinho im Teil II bereits erwähnt 5, fand ein mimetischer Prozess in Form von Akkulturation eher zwi-schen den autochtonen musikalischen Kulturen, der zwangsemigrierten afrikani-schen Musik und der Musik der europäischen Unterschicht statt. Die ersten In-dizien einer musikalischen kulturellen Identität – eine Mestizen-Musik – finden sich in diesem Kontakt. Die Mestizen-Musik ist auch durch Machtverhältnisse gekennzeichnet, da die Dominanz der europäischen – wenn auch populären – Musik ebenfalls als Kolonisationsstrategie diente. Als Überlebensstrategie ent-

    3 In der unten ausgeführten Deutung folge ich einigen Ideen des uruguayschen Komponisten Coriún Aharonián, dessen Werk ich später erörtern werde. 4 „[I]m Prinzip gelangen längere Zeit keine Mitglieder der herrschenden Klasse in die Ameri-kas, solche Leute befinden sich sehr selten in den Zentren Amerikas, und lokale Musiker – oft Mestizen – lernen den Umgang mit Interpretations- und Kompositionsaufgaben fast nur im religiösen Bereich. Kurz, es gibt kein Einwanderungspublikum für ernste Musik und auch kein einheimisches. Mestizen wird sie nicht beigebracht. Eingeborene Indianer können abso-lut nichts mit ihr anfangen und ‚eingewanderte’ Afrikaner auch nicht. Und kein importierter menschlicher Funktionär-Apparat würde ausreichen, um eine reguläre Produktion und Kon-sumption von ernster Musik zu gewährleisten.“ (Coriún Aharonián, „Sehr wahrscheinlich werde ich aber allein bleiben. Musik, Revolution und Abhängigkeit in Lateinamerika“, in: MusikTexte, Bd. 43, Köln 1992, S. 51.) 5 Vgl. Teil II, Abschnitte 1.3.3.1 und 1.3.3.2.

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    wickelten die unterdrückten Kulturen Täuschungsmanöver und andere mimeti-sche Verhaltensweisen. Da die Herrschenden die Musik und religiöse Rituale zum großen Teil verboten, waren die zwangsemigrierten Afrikaner gezwungen, das kulturelle Gut der herrschenden Europäer zu benutzen, dies jedoch in einer Weise, dass sie ihre Identität – ihre religiöse und musikalische Tradition – nicht völlig aufgeben mussten. Bekanntlich entstanden durch mimetische Verschmel-zung sowie auch durch Täuschungsmanöver synchretische Religionen (z.B. bra-silianischer Candomblé und die kubanische Santeria) sowie die unzähligen Stile lateinamerikanischer Popularmusik. Ein besonderes Beispiel dieser scheinbaren kulturellen Anpassung ist die Strategie der Cuna-Indianer aus Panamá und dem Grenzgebiet zu Kolumbien. Sie erhalten ihre Identität gerade durch Assimilie-rung: „Der Ethnolinguist Joel Sherzer hebt [...] hervor, dass trotz aller Verände-rungen wie der Arbeit der Männer in der Kanalzone (und vorher auf den Schif-fen der Weißen), des Gebrauchs neuer Technologien wie des Kassettenrecor-ders, des Erlernens fremder Sprachen usw., solche Veränderungen in das Leben integriert werden, analog zu den ‚Designs’ auf den Blusen, die Cunafrauen in traditioneller Weise sticken und in die sie Mäusefallen, Mondlandefähren und Baseballspiele einarbeiten – die berühmnten molas, das internationale Zeichen der Cuna-Identität.“6 Nach Taussig konnten die Cunas dankt dieser Politik von Mimesis und Alterität in vierhundert Jahren westeuropäischer und US-amerikanischer Kolonialismus überleben. In ihrer peripheren Position konnten sie aus den Konflikten der verschiedenen Machtgruppierungen untereinander immer einen Vorteil für sich ziehen. Solche mimetische Verschiebung ist auch in der allmählich veränderten Spiel-weise der aus der europäischen Kultur stammenden Musikinstrumente zu beo-bachten: Die im Körper aufbewahrten Eigenschaften der unterdruckten Kultur verändern die Kopie – das nachgeahmte Spiel. Von dieser Aneignung seitens der Kolonisierten gibt es zahlreiche Beispiele auf dem ganzen amerikanischen Kontinent, wie etwa das Gitarren-, Bandoneon-, Saxophonspiel sowie das Spiel sämtlicher Schlaginstrumente.7 Um die Rolle als Komponist/in „ernster“ Musik auszufüllen, muss man die eu-ropäische Tradition erlernen. In diesem Lernprozess werden Machtverhältnisse mimetisch internalisiert. Dies betrifft neben der historischen hohen Position des Komponisten auch die westliche musikalische Tradition, sowie ihr Fortschritt –

    6 M. Taussig, Mimesis und Alterität, Hamburg 1997, S. 137. Vgl. auch ebd., S. 141-144. 7 Vgl. C. Aharonián, Tradición y futuro, y la ética del componer, in: http://www.latinoame-rica-musica.net

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    je fortschrittlicher desto wertvoller und somit mächtiger.8 Das Lernen dieser Tradition zudem meistens in einem institutionellen Rahmen, dessen Hierarchien verinnerlicht werden.9 Diese Institutionen – Hochschulen, Universitäten – fol-gen, dem Kolonisierungsprozess entsprechend, europäischen Modellen, wie alle Institutionen in Lateinamerika allgemein. Diese Modelle werden adaptiert und transformiert. Doch oftmals verändern sich institutionelle Strukturen in Latein-amerika langsamer als jene in den Machtzentren, während die ökonomische Technologie und die damit verbundene Kulturindustrie eher „up to date“ ist. Dies spielt bei der Verbreitung von Information und bei der Verinnerlichung von Modellen mit ihren Konsequenzen für die Pädagogik eine wichtige Rolle. Wenn der Zugang zu Information nur von rückständigen, aber meinungsbilden-den Musikpädagogen bzw. Kompositionslehrern gesteuert wird, wird einerseits eine veraltete europäische Tradition konserviert, andererseits kommt es zur Di-stanzierung von den bestehenden musikalischen Kulturen und der klanglichen Umgebung, wie etwa der reichlich vorhandenen Popularmusik, die als minder-wertig und ästhetisch irrelevant angesehen wird. Ein Beispiel dafür ist die Weiterverbreitung der Verbindung von Neoklassizis-mus und folkloristischen Elementen. Diese Art der kulturellen Aneignung ist ein Überrest der Strategie der Konstitution und künstlichen Konstruktion kultureller Identität der europäischen modernen Staaten – und auch der neuen Staaten der so genannten Dritten Welt – und überträgt musikalisch asymmetrische Macht-verhältnisse: Die Musik der „kleinen Anderen“ wird in einen großen, gehobenen Diskurs gelehrter Musik „integriert“, das heißt aber nichts anders als: Sie wird

    8 Man erinnert sich, dass mimetische Prozesse beim Lernen größtenteils eher unbewusst ver-laufen, wie bereits oben im Kontext der Ich-Bildung erörtert wurde. Psychologische Phäno-mene wie Identifizierung und Verwandlung, welche dem eigenen Begehren als „Begehren des Anderen“ unterworfen sind, sind immer im Gang. Diese, wie auch der Ansteckungsprozess, lassen sich nur teilweise steuern. Gebauer und Wulf schreiben über soziale Mimesis – das zwischen den Menschen immer wechselseitige Mimetische – und ihre Unkontrollierbarkeit folgendes: „Soziale Mimesis steht für die Verbindung von Ästhetik und Handeln; sie löst sich nicht vom Materiellen, vom Sinnlichen, von Begehren und Wünschen ab; sie verbindet sich mit Machtgeschichtspunkten und ist von Spuren der Geschichtlichkeit markiert. Vor allem sind Prozesse sozialer Mimesis kaum zu kontrollieren.“ (G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimetische Weltzugänge (wie Anm. 186), S. 114) 9 „Mimetische Prozesse vollziehen sich in sozialen Institutionen wie Familie, Schule und Be-trieb, deren jeweilige Strukturen die Möglichkeit und Grenzen der mimetischen Prozesse bestimmen. [...] In den jeweiligen institutionellen Strukturen kommen Machtkonstellationen zum Ausdruck, die in Prozessen sozialer Mimesis weitervermittelt werden. Mit Hilfe symbo-lischer Kodierungen werden die sozialen Normen und Werte der Institutionen festgelegt und bewusst oder unbewusst weitervermittelt.“ (Ebd., S. 113.)

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    von ihm verschlungen.10 In dieser folkloristisch-neoklassizistischen Musik bleibt die europäische Vergangenheit maßgebend, ihre Identität als „hohe“ musikali-sche Instanz wird nicht in Frage gestellt. Sie dient, wegen der Verbindung von romantischem Gestus mit klischeehaftem Kolorit, als Projektionsfläche für die Mitglieder der herrschenden europäischen Kultur. Diese europäisch geprägte herrschende Kultur, welche sich in Lateinamerika als Idealisierungsinstanz kon-stituiert, nennt der kubanische Komponist Leo Brower die „Kultur der Unter-drückung“. Gerard Béhague erkennt darin folgenden Züge: der einfache und vermarktete Exotismus sogenannter nationalistischer Musik, die strikte Nach-ahmung der internationalen Musikstile à la Mode und einzelne Elemente oder musikalische Formeln internationaler kommerzieller Musik, welche als Vehikel der Konsumgesellschaft fungiert. 11 Durch die rasche Verbreitung der neuen Medien verschieben sich solche Identi-fikationsmechanismen zunehmend zur Pop-Musik hin, so dass Praxis und Re-zeption traditioneller klassischer Musik allmählich von der westlichen Kulturin-dustrie verdrängt bzw. von deren Vermarktungsstrategien vereinnahmt wird. Zwar ist dieses mediale Phänomen auch in der sogenannten Ersten Welt zuneh-mend zu beobachten, doch in Lateinamerika ist es noch extremer. Hier ist jedoch zu betonen, dass die musikalischen Kulturen Lateinamerikas nach wie vor vielfältig sind. Strategien, sie durch den erwähnten verzögerten neuklassizistischen Folklorismus im Bereich der Kunstmusik oder durch Pro-duktionen sogenannter Welt-Musik im Bereich der Popularmusik zu homogeni-sieren, belegen unsymmetrische Machtverhältnisse und beruhen auf der zäh-menden organisierten Mimesis im Sinne Adornos. Dies erfolgt einerseits durch die Vorbildfunktion rückständiger Gelehrter und andererseits durch die Macht aktueller wirtschaftlicher Interessen.

    10 Bei der Entwicklung nationaler Identitäten bzw. nationaler Staaten wird das kulturelle Erbe von Minderheiten, je nach Interesse der Mächtigen, einfach übernommen und zu einer ganzen Nation verallgemeinert. Solche Verallgemeinerungen entwickeln sich oft zu Identitätskli-schees. Die Strategie aller kolonisierenden Metropolen zielte immer auf die Homogenisierung der eroberten Kulturen: Je geringer die Verschiedenheit, d.h. je größer die „Einheit“, desto leichter wird die Beherrschbarkeit. Jedoch – wie im Falle der Cuna-Indianer – bestimmen die Machtverhältnisse zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten , durch Mimesis und Alterität, die Aufbewahrung, Verwandlungen und Preisgabe von Identitäten: „Begriffe wie Tradition, Transformation und Anpassung (ohne Aufgabe der eigenen Kultur) [...] sind [...] nur Glossen zu einer grundlegenderen Behandlung der Identität, die man nicht als Ding-an-sich betrachten sollte, sondern als ein Beziehungsgeflecht aus Mimesis und Alterität innerhalb kolonialer Re-präsentationsfelder.“ (M. Taussig, Mimesis und Alterität, Hamburg 1997, S. 137) 11 Vgl. Gerard Behágue, „Fundamento sócio-cultural da criação musical“, in: Art 019, Revista da Escola de Música da Univ. Fed. da Bahia, 08/1992, S. 15-16.

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    6.2. Globalisierung

    Diese asymmetrische Machtverteilung erweitert sich noch durch die Globalisie-rung: „[Eine] Expansion der westlichen Lebensform, die außereuropäische Kul-turen verdrängt, eine Entwicklung, die in Zusammenhang steht mit einer zu-nehmenden Vernetzung der Wirtschaft.“12 Solche wirtschaftliche Homogenisie-rung durch Vermarktung einerseits und kulturelle Heterogenität andererseits führt zu einer Pluralität der Moderne, d.h. zu unterschiedlichen Wegen, auf de-nen sich die westliche Moderne durchsetzt. Diese vielen Modernen strahlen von den urbanen Zentren aus, welche als Schnittstelle von modernen und traditionel-len Lebensformen fungieren.13 Wenn man den Gedanken von Taussig folgt, veranlasst diese Vielheit post-kolonialer Zeiten eine Steigerung des mimetischen Vermögens. Dementspre-chend beleuchtet er zwei Aspekte der Mimesisauffassung Adornos: einerseits die Organisation der Mimesis, die als Instrument der Unterdrückung im „Zivili-sations“-Projekt der Aufklärung diente, und andererseits die Fähigkeit des mi-metischen Vermögens, durch die Zusammenführung von Sinnlichkeit und Ko-pie, „sich ins Konkrete versenken zu können, [...] [was notwendig] ist [...] um endgültig mit den Fetischen und Mythen der nur über Waren vermittelten Frei-heit zu brechen.“14 Taussig nennt diese Möglichkeit „mimetischen Exzess“. Dieser wird nach ihm gerade durch den post-kolonialen „‚Zweitkontakt’ [verursacht], der zu einer ganz anderen Grenze zwischen dem Westen und dem Rest, zwischen der Zivili-sation und ihren Anderen führt.“15 Dies erzeugt einen merkwürdigen Kontakt zwischen dem Westen und seiner durch Kolonisierung im Anderen eingeschrie- 12 Ralf Alexander Kohler, „Globalisierung und Freiheit der Künste“, in: C. Fischer (Hg.), Grenzenlos (wie Anm. 190), S. 51. 13 Vgl. ebd. Rolf Eberfeld bemerkt, dass die Bereiche der europäischen Moderne – Staatssy-stem, Wirtschaftsystem, Kunstsystem, Religionssystem, Rechtssystem, Technik – von nicht-europäischen Ländern relativ unabhängig voneinander übernommen werden, so dass „[a]lte Traditionen und neu übernommene Bereiche [...] oft gleichzeitig und ohne direkten Zusam-menhang [existieren].“ (Vgl. R. Eberfeld, „Multimodernität“, in Positionen 63, Berlin 2005, S. 4). Eberfeld bezeichnet diese Situation als eine Multimodernität: „Mit dieser Bezeichnung ist nicht nur der Versuch verbunden, die gegenwärtigen Prozesse der Globalisierung neu zu verstehen, sondern auch die Absicht, die zentrale Schwäche des Begriffs Postmoderne zu be-heben, nämlich letztlich nur von Europa und den USA als einzigen Maßstäben der Moderne auszugehen.“ (Vgl. ebd., S. 2). Auch wenn dieser Begriff versucht, die vertikale Richtung – von Norden nach Süden – der Verbreitung der Moderne zu relativieren und somit auf den un-terschiedlichen Hybridismus der Moderne aufmerksam zu machen, ist es meines Erachtens offenkundig, dass zwei zentrale Bereiche der westlichen Kultur bei aller Modernen vorausge-setzt sind, nämlich Technik und Wirtschaft, d.h. Kapitalismus. 14 M. Taussig, Mimesis und Alterität, Hamburg 1997, S. 253. 15 Ebd., S. 250.

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    benen Eigenschaften: „[D]ementsprechend wendet sich heute Mimesis, das na-türliche Vermögen, und Mimesis, das historische Produkt, wie niemals zuvor gegeneinander.“16 Daraus entsteht ein Verfließen des Begriffs „kultureller Iden-tität“, welcher zwischen Essentialismus und Konstruktivismus hin und her geris-sen ist. Doch ein solcher mimetischer Exzess ermöglicht nach Taussig eine gewisse be-wusste Manipulation des Scheins, der die Grundlage der symbolischen Wirk-lichkeit bildet.17 Somit liegt „die Entscheidung, wie sehr wir mit unseren unter-schiedlichen Charakteren und Lebensläufen heute von diesem mimetischen Ex-zess ergriffen werden, [...] in hohem Maße in unserer Hand und nicht allein in der eines Mediums oder der Medien.“ Man könnte sagen, dieser mimetische Exzess eröffnet, wird er bewusst einge-setzt, andere innere Repräsentationsräume, welche in der prozesshaften bzw. patchworkartigen Konstruktion der eigenen kulturellen Identität auch Wider-stand gegenüber den herrschenden kapitalistischen Verführungs- bzw. Verbrei-tungsmechanismen leisten können. Wichtig dabei ist eine Art Selbstethnologie, welche den Kontakt mit den durch Konditionierung unterdrückten kulturellen Eigenschaften ermöglicht. Dies erfordert auch eine distanzierte Beobachtung des unaufhörlich sich erzeugenden mimetischen Begehrens, welches eng mit inter-nalisierten Machtverhältnissen zwischen kulturellen Schichten zusammenhängt. Solche reflexive Praxis ist dennoch begrenzt: Das Bewusstwerden dieser mime-tischen Spirale ist nur teilweise möglich, so dass ein solches ethisch begründetes Vorhaben auch zu trügerischen Ergebnissen führen kann.

    6.3. Mimesis an die kulturelle gesellschaftliche Konstitution

    Einem/einer lateinamerikanischen Komponisten/in sogenannter Neuer Musik in Lateinamerika, der/die sensibel für die oben beschriebenen Machtverhältnisse innerhalb der kolonialen Repräsentationsmechanismen ist, ist der Umgang mit einem solchen „mimetischen Exzess“ eher bekannt. So versteht beispielsweise Coriún Aharonián das Komponieren in Lateinamerika als kulturellen Wider-stand bzw. als Identitätskonstruktion. Im Bewusstsein solcher oben beschriebe-nen mimetischen Mechanismen vertritt er die Überzeugung, dass Widerstand Gegenmodelle verlangt, will man die Richtung mimetischer Prozesse umkehren. Und dies setzt, von Seiten des Komponisten, ein aktualisiertes Wissen über die

    16 Ebd. 17 „Mit dem mimetischen Exzess kehrt man zu heiligen Handlungen zurück, fügt sich in das Puzzle ein, das Mimesis zu jeder Zeit und an jedem Ort Macht verliehen hat – nämlich die Macht zu verdoppeln.“ (Ebd., S. 253.)

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    Modelle der Machtzentren voraus,18 so dass die Neue Musik, ursprünglich euro-päischer Herkunft, mimetisch eher die lateinamerikanische Wirklichkeit wider-spiegeln soll. Somit soll, als klangliche Repräsentation der Vielfalt musikali-scher Kulturen, die Kunstmusik in Lateinamerika anders klingen als in Europa – sie soll mestizisch sein: „Da die Lateinamerikaner Mestizen sind, müsste auch die Musik Lateinamerikas mestizisch sein. Die vielfältige, komplexe Kreuzung der Kulturen, die sich in Lateinamerika vollzogen hat, ist die einzige Form, in der dieser Kontinent kulturell überleben kann.“ 19 Weniger als ein neuer Folklorismus plädiert dieses Konzept für eine Dezentrali-sation musikalischer Hierarchien. Während der Folklorismus die Vorherrschaft rückständiger europäischer Kunstmusik darstellt, dienen hier die modernen eu-ropäischen Errungenschaften (formal/tech-nologisch) dazu, Brücken zwischen den verschiedenen musikalischen Kulturen zu schaffen. Die experimentelle europäische Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Macht ihrer eigenen Konventionen und ihre grammatikalischen zentralistischen Ansprüche zunehmend in Frage gestellt. Man denke hier an das deterritorialisie-rende Projekt moderner Kunst (Dadaismus, Surrealismus, Abstrakter Expressio-nismus, Fluxus), welches das postmoderne pluralistische politische Denken be-einflusst hat.20 Dieses reflexive Infragestellen der eigenen Regeln und Hierarchi-en, welche immer wieder zu Experimenten mit neuen Strukturen und Materiali-en führte, prägte bekanntlich die Entwicklung der Musik des zwanzigsten Jahr-hunderts. Dieses Reflexive steht in einem mimetischen Verhältnis zur Wirklich-keit: Die in der Kunst symbolisch erzeugte Welt reagiert auf die soziale Welt, sie zeigt dabei andere Wahrnehmungsarten und neue Zugänge zur „wirklichen“ Welt auf und kann auch neue gesellschaftliche Modelle hervorbringen. Man er-innere sich hier an die Formen der Mimesis bei Paul Ricœur: Mimesis I (der Be-zug des Werkes auf die gesellschaftliche Praxis), Mimesis II (die Herstellung des Werkes), Mimesis III (Rekonstruktion bzw. Wiederbelebung der Werkes durch den Rezipienten). Hier ist auch die Cagesche Verknüpfung innermusikali-scher grammatikalischer Enthierarchisierung als Modell einer anarchistischen

    18 Nach ihm sind alle Revolutionen in diesem Punkt gescheitert. (Vgl. C. Aharonián, ebd., S. 53.) „Wir haben eine doppelte Aufgabe: Im Hinblick auf unsere koloniale Situation müssen wir die Modelle der Metropolen kennen lernen und beherrschen, damit wir nicht der geistigen Sünde der Naivität anheim fallen und mit der erforderlichen Kraft Gegenmodelle entwickeln können. Erst wenn wir ‚à jour’ sind, können wir neue Konzepte ausarbeiten, durch die wir unsere Umgebung sensibel wahrnehmen und in dem, was wir tun, reflektieren.“ (Aharonián, C., zitiert in Monika Fürst-Heidtmann, „Militancia cultural“, in: MusikTexte Bd. 43, Köln 1992, S. 41) 19 Ebd., S. 43. 20 Vgl. Anmerkung 161.

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    Gesellschaft zu erwähnen: „Seine spätere Musik wollte Cage nicht mehr als Selbstdarstellung verstanden haben, sondern als Medium zum Verändern der Einstellung, mit der man der Welt begegnet. Die Aufgabe der Kunst für das Le-ben wandelt sich von einer reinen Kontemplation zu einer ‚Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert’.“21 Statt europäische Modelle nachzuahmen, verbinden einige lateinamerikanischen Komponisten den experimentellen Ansatz mit politischem Widerstandsgeist, da sie sich der engen Verbindung zwischen sozialen Machtstrukturen und musikali-schen Strukturen bewusst sind.22 Musik könnte als reflexive mimetische Instanz eine symmetrischere soziokulturelle Machtverteilung begünstigen. Bei einer solchen befreienden experimentellen Haltung ist das Erkennen bzw. Anwenden struktureller Prinzipien anderer musikalischen Kulturen wichtig, damit die dabei entstandene Musik nicht Gefahr läuft, wieder hierarchisch der europäischen Mu-sik untergeordnet zu sein. Dies hat dennoch paradoxe Züge, da die experimen-telle Musik (die „befreiende“) aus einer eher links orientierten Subkultur der un-terdrückenden europäischen Kultur stammt und ihre internen Grenzen nicht im-mer deutlich sind. Deswegen kann sich ihre strikte, unreflektierte Nachahmung wieder in Beherrschung verkehren. Das Phänomen ist auch in der Kommerziali-sierung lokaler Popularmusik zu beobachten, wenn diese sich der strukturellen Eigenschaften der internationalen Musikindustrie unterordnet. Dies wird durch die Klassifikation Krister Malms überschaubar. Auf das transnationale musikali-sche Industriesystem bezogen, unterscheidet er vier Stufen der Interaktion zwi-schen musikalischen Kulturen, mit aufsteigender asymmetrischer Machtvertei-lung: 1) kultureller Austausch – auf persönliche Basis durch informelle Kontak-te und Zirkulieren der Musiker; 2) kulturelle Beherrschung – Unterdrückung, mehr oder weniger organisiert, seitens einer Kultur – z.B. die jesuitische Mis-sionierung durch Musik; 3) kultureller Imperialismus – der Beherrschungspro-

    21 Vgl. Teil II, Abschnitt 1.3.3.3. sowie Doris Kösterke, Kunst als Zeitkritik und Lebensmo-dell, Regensburg 1996, S. 291) 22 Um einige davon zu nennen: Cergio Prudencio (Bolivien), Oscar Bazán, Eduardo Bertola (Argentinien), Joaquín Orellana (Guatemala), William Ortiz (Puerto Rico), Jacqueline Nova (Kolumbien), Graciela Paraskevaídis (Uruguay), Gilberto Mendes (Brasil). Dazu Wilhelm Zobl: „Für mich war es interessant zu beobachten, dass viele Komponisten aus dem Bereich der sogenannten ernsten Musik, die sich mit dem Problem einer neuen Identität beschäftigen, mit der endgültigen Überwindung kolonialer Abhängigkeiten, dies mit einem wachen Interes-se an populären Musikformen, musikethnologischen Fragestellungen und genauen Analysen von soziokulturellen Prozessen im Weltmaßstab tun. Ebenso haben auch Musiker aus dem Populärmusikbereich ein ungewöhnliches Interesse an diesen Fragen. In manchen lateiname-rikanischen Ländern ist dadurch eine grundsätzliche und folgenreiche Diskussion zwischen Musikern aus unterschiedlichen Bereichen entstanden.“ (Wilhelm Zobl, Komponierende Wirklichkeit - Wirklichkeit des Komponierens, in: http://www.latinoamerica-musica.net)

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    zess wird durch finanziellen Transfer bzw. Profit erhöht; 4) Transkulturation – durch Kombination heterogener Elemente werden, um einen möglichst großen Markt zu erreichen, musikalisch kleinste gemeinsame Nenner entwickelt (z.B. Disco-Musik in den siebziger Jahren).23 Die grundsätzliche Frage ist dann, wie kann eine mestizische Musik entstehen, ohne dass eine Musik-Kultur – nämlich die europäische – die anderen dominiert und kulturelle Ausbeutung bzw. Aneignung entsteht. Zwei Faktoren verkompli-zieren die Ausführung dieses Konzepts. Zum einem wird eine solche Musik von in europäischer Musik ausgebildeten Komponisten/innen komponiert, zum an-deren wird diese Musik in Lateinamerika oder Europa auf Festivals Neuer Mu-sik gespielt, wo sie oftmals, wie die frühen Nationalismen, weiter als „exotisch“ oder als „national“ rezipiert bzw. abgestempelt werden kann. Der erste Faktor kann gemindert werden, wenn der/die Komponist/in alle musikalischen Kultu-ren, die er/sie anwendet, gut kennt bzw. lernt – besser noch wenn er/sie diese Musiken in sich, in seinem/ihrem Mestize-Sein selbst erkennt. Zu dem zweiten Faktor ist zu erwähnen, dass durch die wachsende Mobilität zwischen den Spar-ten und zwischen den neuen Künstler-Generationen wachsende Interdisziplinari-tät immer mehr nicht-kommerzielle Aufführungsorte bzw. Aufführungsmög-lichkeiten entstehen, in welchen die Unterschiede zwischen Hoch- und Niedrigkultur, experimenteller und Popularmusik tendenziell aufgehoben werden können. Als Zeichen des oben erwähnten mimetischen Exzesses befähigen solche fließenden Grenzen die Konstruktion künstlerischer Identitäten mit eher symmetrischer kultureller Machtverteilung, auch wenn sie, wegen ihrer wirtschaftlichen Vorteile, von der Entwicklung des globalen Kapitalismus her-vorgerufen wurden. In der urbanen Popularmusik Lateinamerikas findet sich so von Anbeginn eine ausgeglichene Mischung, da die kulturellen Kräfte eher horizontal ausgehandelt wurden. Erst durch das wirtschaftliche Interesse der Musikindustrie ging diese Balance verloren. In der westlichen Kunstmusik ist eine allmähliche Befreiung von den traditionellen westlichen Konstruktionsprinzipien – Diskursivität, Kon-trast (Konflikt), Kontrapunkt, thematische Arbeit – erst seit Satie und Debussy zu erkennen, und dies dank ihres Interesses an nicht-europäischer Musik. Später stellten Cage und Fluxus-Komponisten wie Nam June Paik und La Monte Young alle Paradigmen der Kunstmusik in Frage – und noch einmal war nicht-europäische Musik bzw. Philosophie und Religion ein wichtiger Ausgangs-punkt. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die zuletzt genannten radikalsten De- 23 Vgl. Marta T. Ulhôa, „Nova história, velhos sons: notas para ouvir e pensar a música brasi-leira popular“, in: Debates n°1- Cadernos do programa de pós-graduação em música, Rio de Janeiro 1997, S. 85.

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    konstruktionen europäischer Musik vom amerikanischen Kontinent ausgingen. Ungeachtet ihrer Anlehnung an den Orient, waren sie auch Antworten auf eine Identitätsfrage eines kulturell hybriden Kontinents.24 Die Verarbeitung bzw. Aneignung europäischer experimenteller Kultur und ihre Verbindung mit lokalen musikalischen Kulturen, um Gegenmodelle zu etablie-ren, erinnert an die Strategie der brasilianischen Modernismus-Bewe-gung der zwanziger Jahre: kultureller Kannibalismus als Metapher für einen vielfältigen mimetischen Prozess.

    „Als […] das Kannibalismus-Thema im Kreis Pariser Surrealisten kursierte, war auch ein Paar aus Brasilien zugegen, das darin schnell eine Möglichkeit erkannte, sich selbst eine unverwechselbare Identität zu geben. Der modernistische Dichter Oswald de Andrade und die Malerin Tarsila do Amaral propagierten den angeblichen Kanni-balismus der brasilianischen Indianer […] nun als Metapher für ihr persönliches Ziel: die Einverleibung der Pariser Avantgarde, um zu einem eigenen, brasilianischen Weg in die Moderne zu gelangen.“25

    Diese fruchtbare mimetische Strategie erzielte mit ihrer eher ironischen Distanz eine Nähe zu den unterdrückten Schichten des brasilianischen kulturellen Ima-ginären, so dass gleichzeitig die Kultur des Eroberers, des „Feindes“, in der Konstruktion brasilianischer künstlerischer Identität als Stärkung dienen könnte. Diese Metapher hat sich als langlebig er-wiesen – viele brasilianische Künstler-Generationen nahmen auf sie Bezug. Eine neue Aktualität gewinnt sie gerade in der heutigen internationalen Diskussion über kulturelle Identität in Verbindung mit Mobilität und somit auch in der Be-ziehung von Zentrum und Peripherie – ganz im Sinne des von Taussig postulier-ten „Zweitkontakts“ zwischen dem „Westen und dem Rest“. Zwei Positionen lassen sich in dieser Diskussion unterscheiden. Die eine besagt, kulturelle Authentizität sei wegen den allzu fließenden Identitäten nicht mehr möglich: „[D]ie Kannibalismus-Metapher [ist] neben Recycling, Hybridisierung und Translatio […] ein Schlüsselbegriff für den interkulturellen Austausch.“26 Diese Termini haben gemeinsam, „dass sie Kategorien wie Original und Kopie, Reinheit, Authentizität und Ursprung in Frage stellen und demgegenüber das kreative Moment von Zitat, Übersetzung und Nachahmung betonen.“27 Die 24 Vgl. oben, Abschn. 4.2.3 Exkurs: Cage, der Zufall, das Unbewusste und die Mimesis. 25 Michel Scholz-Hänsel, „Stereotypen als ‚Motoren’ im interkulturellen Austausch? Vom Siegeszug des Kannibalismus und der Notwendigkeit romantischer Bilder“, in: Eliana de Si-mone/Henry Thorau (Hrsg.), Kulturelle Identität im Zeitalter der Mobilität: zum portugie-sischsprachigen Theater der Gegenwart und zur Präsenz zeitgenössischer brasilianischer und portugiesischer Kunst in Deutschland, Frankfurt/M. 2000, S. 295-296. 26 Ebd., S. 296. 27 Ebd.

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    „Verspeisung des Fremden“ diente hier somit nicht mehr der Schöpfung bzw. Bewahrung kultureller Authentizitäten. Die andere Position erkennt – und sie wird von den oben erwähnten lateiname-rikanischen Komponisten geteilt –, dass trotz erhöhten kulturellen Austauschs immer noch unvermeidliche Spuren von Ursprüngen und somit von Authenti-schem zu finden sind. Dies hängt eng mit dem Paradox des mimetischen Ver-mögens zusammen. Das ständige Oszillieren von Mimesis und Alterität – der „mimetische Exzess“ Taussigs – ist in der prozesshaften Identitätsbildung, in al-lerdings nur geringem Ausmaß, lenkbar, was jedoch keine leichte Aufgabe ist:

    „Sie zieht dich einmal dahin und einmal dorthin: Mimesis trickst ständig damit, zwi-schen dem Selben und dem ganz Anderen zu tänzeln. Unmöglich, aber notwendig, in der Tat alltäglich, erfasst Mimesis beides, Gleichheit wie Differenz, ähnlich und An-der(e) zu sein. Beständigkeit aus dieser Instabilität zu schaffen ist keine einfache Auf-gabe, doch darum geht es bei aller Identitätsbildung. Das Problem bei dieser Tätigkeit, die an Kraft gewinnt, je länger sie geübt wird, ist weniger, das Selbe zu bleiben, als Gleichheit durch Alterität zu bewahren.“28

    Taussig bezieht sich hier auf den paradoxen, aber effektiven kulturellen Wider-stand der Cuna, deren „Geschichten“ er unter verschiedenen mimetischen Per-spektiven erörterte. Ich zitiere ihn hier weiter:

    „Die vorliegende Geschichten der Cuna werfen ein merkwürdiges Licht auf die Logik dieses Vorgangs. Weil sie völlig ‚sie selbst’ bleiben, absolut anders dem alten Europa gegenüber und – man achte genau darauf – deren schwarzen Sklaven, sind die Cuna fähig, in einer sich stark ändernden Welt‚ gleich zu bleiben’.“29

    Um diese Gleichheit zu bewahren, ist die kannibalistische kulturelle Vereinah-mung des Feindes – also der Alterität – eine Strategie, welche doch Authentizi-tät stiften kann. Ebenso sind innovative Arten, mit Authentizität umzugehen, trotz aller Mobilität unserer Zeit, auch heute eher an einen bestimmten Ort ge-bunden.30 Eine Selbst-Beobachtung im Sinne einer Selbstethnologie würde mei-nes Erachtens eine solche Art sein.

    28 M. Taussig, Mimesis und Alterität (wie Anm. 194), S.134. 29 Ebd. Taussig macht darauf aufmerksam, dass diese starke Identität den Cuna politische Vorteile bringt. Er zitiert dabei eine vergleichende Studie von Philippe Bourgeois: „Dass sie ihre indianische Identität stärker [als die Guyami-Indianer, auf der Plantagen in Panama] her-ausstellen und nicht im Gegenteil zurückdrängten, half ihnen, der Diskriminierung zu entge-hen, die sich gegen nordamerikanische Indianer richtet.“ (Zitiert in ebd., S. 266) 30 Hierzu Michael Scholz-Hänsels kritische Haltung gegenüber einer Überschätzung der Mo-bilität: „Durs Grünbein urteilte kürzlich über den Wunsch, ein europäisches Kino gegen den US-amerikanischen Markt zu verteidigen: ‚Das Nationale aber, das Heimische sind keine äs-thetischen Kategorien, allenfalls Sehnsüchte, Triebkräfte zweifelhafter Natur. Kulturelle Iden-

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    6.4. Coriún Aharonián

    In diesem Zusammenhang ist die Musik des uruguayschen Komponisten Coriún Aharonían, zu erwähnen. Als Sohn einer aus Armenien eingewanderten Familie, die den Völkermord von 1915 überlebte, war er früh für die Frage der kulturel-len Identität sensibilisiert:

    „Zu manchen der musikalischen Werke Coriún Aharoniáns kann man eine Geschichte erzählen. Sie handelt von Gewalt und Widerstand, von Macht, Unterdrückung und an-fänglich zaghaften und vereinzelten, dann aber verstärkten und immer mutiger und beharrlicher werdenden Versuchen der Auflehnung. So zeigt zum Beispiel die 1972 komponierte ‚Música para cinco’ – Musik für fünf – des Uruguayers Signaturen des damals sein Land beherrschenden ‚inneren Kriegs’ zwischen Staatsgewalt und auf-ständischen Gruppen, kündet aber gleichermaßen vom Kampf um das kulturelle (Über-)Leben in bedrohten Zeiten und verweist damit direkt auf die Geschichte ihres Urhebers.“31

    Somit näherte sich der europäisch ausgebildete Komponist mimetisch sowohl der Musik der längst ausgerotteten einheimischen Bevölkerung Uruguays als auch der Popularmusik, die er als Arrangeur und durch Kontakt mit Musikern gut kannte. Seine Anlehnung an diese Musik-Kulturen ist eine ethische: Durch seine Musik lässt er andere kulturelle Stimmen „sprechen“. Diese Stimmen kennt er gut und hört sie teilweise in sich selbst und in seiner unmittelbaren Umgebung. Sie wer-den in seiner Praxis umgesetzt, so dass einige ihrer strukturellen Eigenschaften als Basis seiner kompositorischen Konstruktionen dienen und nicht als bloßes Kolorit fungieren. Man könnte sagen, seine experimentelle Musik hebt durch eine aktive Mimesis an die Popularmusik den Vorrang des westlichen Komposi-tionskanons auf und schafft dadurch eine gewisse Gleichberechtigung zwischen den musikalischen Grammatiken. Das Mimetische ist in dieser Musik mehr-schichtig:

    tität ist die Neurose minderer Künstler.’ Nun, ich würde darauf antworten, dass man die posi-tive Wirkung dieser Triebkräfte nicht unterschätzen sollte. Auch scheinen mir wirklich inno-vative Ansätze öfter in Auseinandersetzung mit einem bestimmten Ort und dessen Tradition als auf permanenten Reisen entstanden zu sein. Bei Ernst Bloch jedenfalls, einem noch zum Nomandentun Gezwungenen, war die Vorstellung von Utopie nicht zu Unrecht mit einem starken Heimatbegriff verbunden.“ (M. Scholz-Hänsel, „Stereotypen als ‚Motoren’ im inter-kulturellen Austausch? Vom Siegeszug des Kannibalismus und der Notwendigkeit romanti-scher Bilder“, (wie Anm. 213), S. 306.) 31 Monika Fürst-Heidtmann, „Militancia cultural“ (wie Anm. 206), S. 39.

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    (1) Die allgemeine Strukturierung der Musik und ihre Anlehnung an das Sozia-le: Die unterschiedlichen Materialien fungieren wie Akteure,32 welche sozialen bzw. kulturellen Akteuren metaphorisch entsprechen, auch wenn dabei keine di-rekte Programmatik intendiert ist. Anders als bei Cage, bei dem das Politische im Eliminieren einer zentral kontrollierenden Instanz – unabhängig vom Materi-al –, besteht, ist bei Aharonián die Erkennbarkeit der kulturellen „Akteure“ und die Ausgewogenheit ihrer Positionen wichtig. (2) In Aharoniáns Musik kommen klangliche Abbildungen in unterschiedlichen Parametern vor. Die verwendeten formalen Strukturen und Figuren erweisen sich als Verdoppelungen, Zeichen einer nicht mehr anwesenden Musik. So fun-gieren rhythmische Figuren des Tangos nicht als Tango selbst, sondern als iko-nische Zeichen, also als Referenz zu einer anderen Musik. (3) Die Statik in Verbindung mit Wiederholung, Stille und leiser Dynamik schafft eine Atmosphäre des Mangels, der Nostalgie, fast wie eine Art stehende „Klangfotografie“, trotz der eventuell kontrastierenden Forte-Stellen: Die ur-sprüngliche Musik, das „Original“ ist nicht mehr vorhanden. (4) Dieses „Photographische“ wird durch das Alternieren von wenigen stati-schen Blöcken noch deutlicher, so dass die „Geschichte“, d.h. die Regel des Spiels ziemlich früh offen gelegt wird: Man weiß, worum es geht, aber nicht ge-nau, wie es weiter geht. Die Blöcke, die eine sehr klare Kontur und Prägnanz haben, fungieren wie scharf charakterisierte Akteure, die die klangliche Bühne abwechselnd betreten und verlassen, so dass sie sich nur ausnahmsweise begeg-nen. (5) Die Referenz auf die Musik der Anderen beruht nicht auf wörtlichen Zitaten, sondern auf „erfundenen“ Zitaten, so dass eine Art doppelte Mimesis entsteht.33 32 Der Begriff „Aktorialität“ für das Verhalten der musikalischen Themen und Motive hat Ee-ro Tarasti in Anlehnung an die Semiotik von A. J. Greimas formuliert. Damit ist gemeint, dass ein Thema sich narrativ wie eine menschliche dramatische Figur (der Akteur) verhält, mit ihren damit verbundenen Potenzialitäten: wollen, müssen, können, wissen, also grund-sätzlichen Eigenschaften des Seins und des Machens. (Vgl. E. Tarasti, A Theory of Musical Semiotics, Bloomington 1994, S. 106.) 33 Dies hat er besonders in Gente (1990) für Kammerensemble und Mestizo für Orchester (1993) ausgearbeitet. In Una canción (1998) verwendet Aharonián hingegen wörtliche Zitate. Allerdings werden sie fragmentarisch verarbeitet und so in die oben beschriebenen Konstruk-tionsprinzipien des Komponisten integriert, dass auch sie wie „erfundene“ Zitate fungieren. Ein Grenzfall bildet das elektroakustische Stück Secas las pilas de todos los timbres (1995). Hier wird montageartig mit deutlich als Zitate erkennbaren Fragmenten komponiert, deren Quellen jedoch nicht unbedingt erkennbar werden. Der Komponist nähert sich diesen histo-risch-musikalischen Dokumenten mehrfach mimetisch: 1. durch empathischen Kontakt nicht nur mit dieser Musik, sondern auch mit ihren Erfindern (Der Titel – dt. [Wenn] die Batterien aller Klingeln leer sind –, bezieht sich auf einen Tango von Enrique Santos Discépolo und

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    Man könnte sagen, der Komponist erhöht den sinnlichen Kontakt mit diesen Musiken, ohne sie sich dabei anzueignen.34 (6) Aharoniáns Kunstmusik ist stark regional geprägt, das westliche „internatio-nale“ Experimentieren wird auf die Musik und Klänge der unmittelbaren Umge-bung fokussiert. Die daraus entstehenden Experimente sind somit immer mit ei-ner emotionalen Nähe und Intimität verbunden, auch wenn die Strukturierungs-konzepte ein gewisses Kalkül enthalten. Seine kompositorische Tätigkeit dient der ästhetischen Reflexion seiner sozialen Konstitution und der sozialen Mime-sis.35 (7) Die Reduktion der Materialien und der Strukturierungsmittel ist sowohl äs-thetisches wie politisches Programm: Sie verweist auf eine „música pobre“, wie der argentinische Komponist Oscar Bazán in den siebziger Jahren formulierte, eine Musik, welche die Diskrepanz zwischen der rasenden technologischen Entwicklung und der unaufhaltsam wachsenden Armut in Lateinamerika mime-tisch darstellen sollte.

    Man könnte sagen, dieses prägnante ästhetische Gegenmodell Aharoniáns und anderer lateinamerikanischer Komponisten36 leistet dadurch Widerstand, dass ihre Elemente als Symbol (Emblem) unterdrückter Kulturen erkannt werden können. Statt sich als Außenseiter diese Elemente anzueignen, um eine „exoti-sche“ Musik zu schaffen, werden die grundlegenden Eigenschaften dieser Mu- verweist auf eine Gesellschaft, in welcher Solidarität schwer zu finden ist); 2. Durch Rekontextualisierung des eigenen emotionalen Gedächtnisses; 3. Durch metonymische Ver-kettung (Montage) latinoamerikanischer Musiken aus sehr unterschiedlicher Provenienzen (kulturelle bzw. musikalische Akteure) erfindet oder konstruiert er symbolisch (Repräsentati-on) seine Latinoamerikanizität. (Vgl. Abschn. 6.5.) 34 Diese Mimesis durch sinnlichen Kontakt deutet auf die ethische Herangehensweise Aharo-niáns hin. Auch wenn er sich dem Tango ikonisch nähert, eignet er sich ihn nicht an, sondern bleibt immer bei seinen eigenen Möglichkeiten bzw. bei der für sich definierten Identität als Komponist Neuer Musik: „Man muss sich entscheiden, in welcher der beiden Sprachen man komponiert; es gibt keine Möglichkeit, sich in der Mitte dazwischen aufzuhalten. Ich selbst komponiere keine Popularmusik, glaube auch, keine Konditionen dafür zu besitzen, aber ich arbeite mit Musikern dieser Richtung zusammen, bin ihr Freund und Lehrer, helfe ihnen Kon-zepte zu diskutieren und auszuarbeiten und mache manchmal Arrangements.“ (C. Aharonián, zitiert in M. Fürst-Heidtmann, „Militancia cultural“ (wie Anm. 206), S. 43) 35 „Soziale Mimesis richtet sich auf symbolisch kodierte und normativ bestimmte Körperbe-wegungen, zu denen unter anderem Gesten, Rhythmen und Laute gehören. Über die sinnliche Wahrnehmung und Anähnlichung gehen diese in das praktische Wissen des sich mimetisch Verhaltenden ein. Soziale Verhaltensweisen werden nachvollzogen und gehen als Bilder, Lautfolgen oder Bewegungssequenzen in das Innere von Personen ein. Sie werden Teil der inneren Bilder-, Klang- und Bewegungswelt, setzen sich in der Imagination fest und können in neuen Zusammenhängen aktiviert und modifiziert werden.“ (G. Gebauer/Ch. Wulf, Mime-tische Weltzugänge (wie Anm. 187), S. 113.) 36 Siehe Anm. 211.

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    sik-Kulturen von „Innenseitern“ herausgefiltert, verarbeitet, komprimiert, redu-ziert, so dass sie zu indexikalischen Symbolen (Emblemen) dieser Kulturen werden. Im Kontext der europäisch tradierten Neuen Musik dienen sie der Ver-teidigung von kulturellem Besitz und kultureller Identität.37 Dieses Emblemati-sche ist allerdings nicht mit verallgemeinernden politischen Slogans zu ver-wechseln: Es handelt sich dabei eher um gemeinsame strukturelle Charakteristi-ken, welche auf ganz unterschiedliche Weise persönlich verarbeitet und einge-setzt werden. Aharonián unterscheidet folgende Merkmale lateinamerikanischer Musik:38

    – kurze und konzentrierte Zeitverläufe – Tendenz zur Strenge bzw. größtmöglichen Ausnutzung der Elemente – nicht-diskursive Konstruktion – Sinnlichkeit der rhythmischen Gestaltung – Wiederholung, die nicht mit mechanischer Repetition zu verwechseln ist.

    Alle diese Eigenschaften könnte man im Bereich der Neuen Musik als mimeti-sche Umsetzung von musikalischen Elementen nicht-europäischer Musik ver-stehen.39 Die Kürze der Stücke hängt meines Erachtens mit der Tradition der 37 Elizabeth B. Coleman bemerkt, dass die Kunst australischer Ureinwohner eher Kennzei-chen (insignia), d.h. Embleme sind, und vergleicht sie u.a. mit der indexikalischen kenn-zeichnenden Funktion westlicher Wappenbilder. Da nach Coleman insignia für die Konstitu-tion von Identitäten innerhalb gesellschaftlicher Institutionen wichtig sind, ist die westliche Aneignung der Kunst der Aborigines – ihrer Embleme – eine Aneignung ihrer Identität. (Vgl. Elizabeth B. Coleman, Aboriginal Art, Identiy and Appropriation, Burlington 2005.) 38 Aharonián ist jedoch mit solchen allgemeinen musikalischen Charakterisierungen für einen ganzen Sub-Kontinent eher vorsichtig. Er will mit der Betonung der gemeinsamen Eigen-schaften die Erfindung – die mimetische Konstruktion – einer gemeinsamen Identität zwecks politischem bzw. kulturellem Widerstand erreichen: „La latinoamericanicidad no es un hecho objetivo: existe un margen de latinoamericanicidad objetiva, existe una serie de características genéricas de toda un área continental, existen muchos factores comunes a este espectro conti-nental, pero no son tantos como se quiere sino que son menos de los que necesitamos. El pro-blema de la latinoamericanicidad es pues fundamentalmente una necesidad histórica por razo-nes de autodefensa.“ (Die Latinoamerikanizität ist keine objektive Tatsache: es gibt eher eine Objektivitätsspanne an der Latinoamerikanizität, es gibt eine Reihe von allgemeinen Eigen-schaften eines ganzen Kontinentalareals, ihm sind viele Faktoren gemeinsam, aber diese sind nicht so viele, wie man sich wünscht, sondern eher weniger, als wir benötigen. Das Problem der Latinoamerikanizität ist sodann im Wesentlichen eine aus Selbstverteidigungsgründen historische Notwendigkeit.“ (C. Aharonián, Conversaciones sobre música, cultura e identi-dad, Montevideo 1992, S. 47. Übersetzung von mir. Vgl. dazu auch M. Fürst-Heidtmann, „Militancia cultural“ (wie Anm. 206), S. 42.) 39 Als Reaktion auf die Dominanz der europäischen seriellen Musik verarbeitet auch der US-amerikanische Minimalismus der sechziger Jahre nicht-europäische musikalische Elemente in der experimentellen Musik. Die Komponisten dieser Richtung waren, in Anlehnung an das Cagesche Denken, an einer Ausdehnung der musikalischen Zeit interessiert, mittels allgemei-

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    Popularmusik zusammen, welche von der Kürze der Liedform geprägt ist. Die Tendenz zur Strenge und größtmöglichen Ausnutzung der Elemente ist in der afrikanischen und in der indianischen Musik immer anwesend, in welcher, auf eine reduzierte Art, wenige Elemente sich variierend wiederholen. Diese schein-baren Wiederholungen werden minimal variiert, allerdings kaum im Bereich der Tonhöhe, sondern eher rhythmisch und in der Klangfarbe, so dass daraus eine nicht-diskursive Syntax entsteht. Man könnte sagen, die Nicht-Diskursivität – der Verzicht auf sprachähnliche motivartige Entwicklung – hängt mehr mit einer Mimesis an den Körper als mit mathematischen formalen Konzepten zusammen.40 Auch wenn mathematische oder statistische Konzepte zur formalen Konstruktion eingesetzt werden, haben sie tendenziell einen mimetischen Bezug zum Körper, so dass sie einer Art Eth-nologie des eigenen mestizen Körpers dienen.41

    6.5. Analytische Annäherung: Mimesis des Körpers

    Bei der Analyse des Stücks Los cadadias (1980)42 für Klarinette, Posaune, Kla-vier und Violoncello, kann man sich ein klareres Bild verschaffen, wie sich sol-che Elemente verbinden. ner Verlängerung der Dauern und Wiederholungen. Diese Zeitausdehnung kam aber nicht nur aus Fernost: La Monte Young beispielsweise war in den fünfziger Jahren Jazz-Musiker und verdankt die Entwicklung seiner kompositorischen Identität nicht nur der indischen Musik, sondern auch dem Blues (vgl. Damien Sausset, Interview de La Monte Young, in: http://www.exporevue.com/magazine/fr/interview_monte-young.html). Die mimetische An-näherung an die Popularmusik ist demnach auf dem ganzen amerikanischen Kontinent eine wichtige identitätsstiftende Quelle für experimentelle Komponisten. 40 Zum Verhältnis von Musik, Sprache und Mathematik vgl. Teil I, Abschn. 5 sowie Teil III, Abschn. 4.2.1. 41 Bezüglich des unterschwelligen Einflusses der afrikanischen Kultur auf die Körperlichkeit Lateinamerikas schreibt Aharonán: „En toda América una cantidad de hechos culturales está ‚negreada’ en un alto porcentaje. Ese ‚negreamiento’ es también absolutamente irreversible. Aunque fuésemos de aquéllos que dicen ‚no quedan negros en el Uruguay; yo qué tengo que ver con los negritos’, nos quedaría una menuda pregunta planteada: hasta qué punto yo no tengo algo de negro en la forma en que estoy caminando por la calle o en la forma que me vis-to o en la forma en que hablo.“ („In ganz Amerika ist eine große Menge an kulturellen Fakten ‚verschwärzt’, und dies in hohem Prozentsatz. Solche ‚Verschwärzung’ ist zudem durchaus irreversibel. Auch wenn wir zu denen gehörten, welche sagen, ‚es sind keine Schwarzen in Uruguay geblieben; ich habe nichts mit den negritos zu tun’, blieb eine Frage in der Luft: Inwiefern habe ich nicht etwas vom Schwarzen in der Art und Weise, wie ich auf der Straße gehe oder in der Art, wie ich mich kleide oder spreche.“ C. Aharonián, Conversaciones sobre música, cultura e identidad, Montevideo 1992, S. 40. Übersetzung von mir.) 42 „Der Titel ‚Los cadadías’ kann als ‚Die Alltäglichkeiten’ übersetzt werden. Das Wort habe ich durch Bildung des Plurals eines Kunstworts erfunden: ‚cada dia’ (jeden Tag) wurde zu ‚cadadía’ und schliesslich ‚cadadías’“ (Zitiert in: M. Fürst-Heidtmann, „Militancia cultural“ (wie Anm. 206), S. 44)

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    Es fällt zuerst die Reduktion des Materials und die Kürze des Stückes (5’18’’) auf: eine einzige klar definierte Tonhöhe (D), ein geräuschhafter perkussiver Klavier-Cluster-Ostinato (Ais, B, C), ein geräuschhaftes Bartók-Pizzicato, ein klar definiertes Geräusch auf dem Violoncello (tango-artiges Kratzen des Bo-gens hinter dem Steg) und Stille.

    Abb. 47 – Coriún Aharonián, Los cadadias, für Klarinette, Posaune, Klavier und Violoncello T. 1-29 (© Coriún Aharonián)

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    Abb. 48 – Coriún Aharonián, Los cadadias, für Klarinette, Posaune, Klavier und Violoncello T. 30-64 (© Coriún Aharonián)

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    Die Begrenzung auf eine einzige Tonhöhe bewirkt, dass die traditionell melodi-schen Instrumente eher wie Perkussionsinstrumente fungieren, so dass eine kul-turelle Akzent-Verschiebung stattfindet: Die in der europäischen Tradition eher untergeordneten Ebenen des Rhythmus und der Klangfarbe stehen im Vorder-grund. In der Anwesenheit des Klavier-Ostinatos werden die Nuancen der rhythmischen Figuren besonders deutlich, eine Charakteristik eher afrikanischer Herkunft: Mikroverschiebung – „Synkopen“ – der Betonungen durch Koexi-stenz asymmetrischer Unterteilungen innerhalb eines gemeinsamen Metrums. Statt diese Verschiebung eurozentrisch als Synkopen zu verstehen – der vorü-bergehende Verstoß gegen das normierende Metrum –, fallen asymmetrische Gruppierungen abwechselnd in kometrische (cométrica) oder gegenmetrische (contramétrica) Positionen. Dies hängt eng mit der polyrhythmischen Organisa-tion afrikanischer Musik zusammen. Nach Arthur Morris Jones ist die westliche Rhythmik divisiv, teilend, sie basiert auf der Unterteilung einer bestimmten Dauer in gleiche Werte (Ganze, Halbe, Viertel). Dagegen ist die afrikanische Rhythmik additiv, sie erreicht eine bestimmte Dauer durch die Summe kleinerer Werte, welche neue Einheiten bilden und oft keinen gemeinsamen Teiler haben (z.B. 3+3+2). Die Summe solcher Zweier- und Dreier-Gruppierung ergibt, nach Simha Arom, immer eine gerade rhythmische Periode (z.B. 3+3+2 = 8). Jedoch, wenn man versucht, diese geraden Perioden in zwei Hälften zu teilen, ergeben sich immer zwei ungerade Teile (z.B. 8 = 3+5), was Arom als rhythmische Im-parität bezeichnet.43 Die Materialien in Los cadadias werden durch minimale Addition bzw. Subtrak-tion variiert, „entwickeln“ sich jedoch nicht. Beispielsweise führen die melodi-schen Instrumente meistens paarweise oder abwechselnd gehaltene Töne auf, werden minimal variiert, hören wieder auf, bleiben eine Weile still, fangen wie-der an, so dass die Dauer der Spiel- und Stille-Phasen ständig variiert. Jedoch ist eine gewisse erzählerische Dramaturgie, eine zeitliche Linearität europäischer Herkunft zu erkennen, die sich mit der Referenz zur Korporalität verbinden lässt: die Mimesis – Darstellung – des Körpers durch allmähliche Inszenierung von Tanzgesten.44

    43 Diese Bemerkungen referiert Carlos Sandroni in seinen Studien über die Veränderung der rhythmischen Patterns von urbaner Samba-Musik. Die Erhöhung der Kontrametrizität in der Popularmusik in Rio in den dreißiger Jahren verbindet er mit einer Affirmation kultureller Identität der brasilianischen Schwarzen. (Vgl. Carlos Sandroni, Feitiço Decente, Rio de Janei-ro 2001, S. 24-28.) 44 “Los cadadias is the response to a challenge proposed by Zygmunt Krauze: to compose a dance in my own ‘here and now’ to be performed by the ‘Warsaw Music Workshop’ quartet in the remote ‘Warsaw Autumn’ festival on September 23, 1980. It was not easy for me to cope with the reference to what is danceable within my language options. That is why I ac-

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    Durch die prägnante Gegenüberstellung von solistischem, schnellem, rhythmi-schem ‚Kratzen’ einerseits und stehenden Tönen bzw. Stille andererseits wirkt diese Körperlichkeit am Anfang des Stückes (T.1-20) eher abstrakt, distanziert: Als ob in dieser Zeitlosigkeit die referierte Musik nicht mehr oder noch nicht da ist. Durch das unvorbereitete Einsetzen und die hartnäckige Fortführung des Klavier-Ostinatos (ab T.21 bis zum Schluss, mit nur zwei Unterbrechungen) verändert sich die Wahrnehmung, so dass die Zeit nun in Verbindung zum Kör-per wahrgenommen wird – das tiefe Register ist dafür entscheidend –, jedoch nicht als muskuläre Bewegung, sondern eher als messbare innere Dauer inner-halb sich ändernder Klangfarben. Anzeichen von Tanzgesten werden nur in den seltener und kürzer gewordenen ‚Kratz’-Figuren und im kurzen und ebenfalls seltenen gemeinsamen Spiel der rhythmischen Figuren erkennbar (T.35, 59). Letzteres bewirkt, durch die unerwartete Verschiebung bzw. Unterteilung des Klavier-Pulses, eine Verrückung des klanglichen „Fundaments“, so dass die körperliche Assoziation zu Tanzschritten nahe liegt: Die abstrakte Musik wird punktuell hier und da konkret, d.h. muskulär fassbar. Diese Fassbarkeit erhöht sich ab der gemeinsamen Verrückung in Takt 58: Die „Kratz“-Figuren (ab T. 61) tauchen wieder auf und deuten indexikalisch auf kommende Veränderungen; Instrumentierung bzw. Klangfarbe der liegenden Töne wechselt öfter und eine neue rhythmische Bewegung – eine Milonga-Pattern (3+3+2) –, zuerst im Takt 66 angedeutet, löst sich von dem liegenden Hintergrund ab und taucht in Takt 79 deutlich im Mezzoforte auf – der stehende Hintergrund wird langsam zur beweglichen rhythmischen Figur. Diese fungiert ebenfalls als indexikalisches Vorzeichen des Höhepunktes, welcher im Takt 91, genau auf dem Goldenen Schnitt, erreicht wird. Hier (T. 91-102) drängt schlag-artig der stehende Hintergrund als gemeinsamer Tango-Pattern in den Vorder-grund, so dass ein Maximum an Korporalität erreicht wird. Diese zweitaktigen Figuren werden von Klarinette, Posaune und Violoncello (Bartók-Pizz.) kon-trametrisch, im Fortissimo, gegen den Klavier-Puls gespielt. Darauf folgt eine „dramatische“ Generalpause, deren erwartungsvolle Spannung durch die dop-pelte Wiederholung des Tango-Patterns ausgiebig „erfüllt“ wird. Man könnte hier eine Deutung wagen: In dieser fortissimo getragenen Stelle wird das plötz-liche Aufschreien einer unterdrückten afrikanischen Kultur indexikalisch darge-stellt. Das darauf folgende veränderte Wiedereinsetzen des „Kratzen“-Motivs – eine Art Solo-Protagonist des Stückes – schließt den Abschnitt und deutet, als Über-

    cepted the challenge, and why I took it up again four years later in a piece for solo piano.” (C. Aharonán, Los cadadías, Tacuabé, Serie Música Nueva, T/E 35, CD Booklet, S. 10)

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    gang, auf die neuen Transformationen – Verlängerung und Unterteilung – der rhythmischen Patterns, welche tendenziell „tänzerischer“ werden (ab T.103). Einen zusätzlichen, unterschwelligen Faktor für die zunehmende Referenz auf Körperlichkeit im Verlauf des Stückes bilden die Zeitproportionen. So werden die Ereignisse bzw. die „Phrasen“ bezüglich ihrer Taktanzahl bis Takt 66 ten-denziell nach Fibonacci-Proportionen gegliedert, so dass Unregelmäßigkeit ent-steht:

    T. 1– 20: 5+3+2+1 / 5+3+1 T.21– 65: 5+3+2 / 5+3+2 / 8 / 5+3 / 4 / 3+2

    Ab Takt 66, beim Einsatz des Milonga-Pattern, wird die Takt-Gliederung re-gelmäßiger, erfolgt in geraden Zahlen:

    T.66–90: 4 / 4 / 2+3 / 4 / 6 (3+3) / 2

    Deutlich wird dies im Höhepunktabschnitt:

    T. 91-102: 2 / 2 / 4 / 2 / 2

    Diese symmetrische Gliederung besteht bis zum Schluss (T.103-146), sie weist ikonisch auf pendelnde Körperbewegungen bzw. alternierende Tanzschritte hin:

    T.103–146: 4 / 2 / 2/ 8(4+4) / 8 (3+3+2) / 4 / 2 / 6

    Auch die neuen rhythmischen Figuren (T.103–118) neigen zur fließenden Re-gelmäßigkeit, mit der Unterteilung der ungeraden Milonga-Pattern (zwei punk-tierte Viertel plus ein Viertel) in Achtel und mit dem Einsatz alternierender Ak-zente bei den langen Tönen. Diese tänzerischen, pendelnden Bewegungen treten von Takt 125 bis zur Generalpause (T.139-140) allmählich wieder in den Hin-tergrund. Ein Sforzato mit langem Nachklang dient als ein fern an den Höhen-punkt erinnernder Epilog (T.141–146).

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    Abb. 49 – Coriún Aharonián, Los cadadias, T. 65-102 (© Coriún Aharonián)

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    Abb. 50 – Coriún Aharonián, Los cadadias, T. 103-146 = Ende (rechts) (© Coriún Aharonián)

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    Aharonián konstruiert und erfindet in „Los cadadías“ eine mestizische Musik: Sie ist in ihrem großen formalen Plan – durch die gut dosierte Verarbeitung neu-er Informationen und die Inszenierung eines Höhepunktes –, mit der europäi-schen Kunstmusik verbunden. Jedoch sind das Klangmaterial und ihre inneren Mikrorelationen – z.B. rhythmische Variationstechniken, Klangfarben-Kombination – ausschließlich nicht-europäischer Provenienz. Indem Aharonián die rhythmischen Aspekte der Tango- und Milonga-Musik fokussiert und ihre typischen melodisch-harmonischen europäischen Charakteristiken weglässt, hebt er ihre afrikanischen Ursprünge ästhetisch wie ethisch hervor. Der Verzicht auf jegliche polyphone Textur durch die Reduktion auf eine einzige Tonhöhe verstärkt dies noch mehr. Gleichzeitig verweisen die sich verändernden Klang-farben auf die stehenden Flächen der Musik mancher indianischen Kulturen. Aharonián erfindet, mittels persönlicher musikalischer Bezugnahme auf seine unmittelbare soziokulturelle Umgebung – diejenige der Rio-de-la-Plata-Region –, eine lokale Neue Musik. Diese fungiert wie ein mimetisches Repräsentations-feld, in welchem die kulturelle Anatomie untersucht und aufgespürt wird, so als ob die kulturellen Konstituenten sich musikalisch gegenseitig abbildeten. Diese lokale Rekontextualisierung unterschiedlicher Musikkulturen – die europäischer, die indianischer und afrikanischer Herkunft – hebt Ähnlichkeiten innerhalb ei-nes gemeinsamen lateinamerikanischen Imaginären hervor und trägt zu der symbolischen Erfindung einer identitätstiftenden Lateinamerikanizität bei. Sein bewusster Umgang mit der lateinamerikanischen Mestizität trägt dazu bei, die ihr innewohnenden unbewussten und überschüssigen mimetischen Prozesse mit den damit verbundenen Machtverhältnissen aufzuklären und diese Prozesse möglicherweise sogar zu lenken.