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Research Collection Conference Paper Planung ohne Schatten? vom Umgang mit komplexen Problemen Author(s): Abt, Theodor Publication Date: 1986 Permanent Link: https://doi.org/10.3929/ethz-a-004529799 Rights / License: In Copyright - Non-Commercial Use Permitted This page was generated automatically upon download from the ETH Zurich Research Collection . For more information please consult the Terms of use . ETH Library

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Research Collection

Conference Paper

Planung ohne Schatten?vom Umgang mit komplexen Problemen

Author(s): Abt, Theodor

Publication Date: 1986

Permanent Link: https://doi.org/10.3929/ethz-a-004529799

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PLANUNG OHNE SCHATTEN ?

Vom Umgang mit komplexen Problemen

Vortrag gehalten am internationalen Kongress für analytische Psychologie

1986 in Berlin

1. Suche nach ganzheitlicher Auffassung Die heute vorherrschende Art, Probleme zu erkennen, zu analysieren and zu lösen entwickelte sich in einer Zeit, als sich das Leben in einigermassen überschaubaren Kreisen abspielte. Um einzelne Missstände zu beheben, erwies sich der Verstand mit seiner zielgerichteten Vorgehensweise als zweckmässiges and wirksames Hilfsmittel. Denken wir dazu etwa an den Fortschritt in der Landwirtschaft dank gezieltem Suchen nach den Ursachen von Missernten. Mit Hilfe von kausaler Logik and den statistischen Gesetzen von Ursache and Wirkung konnte sich der Mensch von zahlreichen Nöten, Ängsten und Naturabhängigkeiten befreien. Doch heute leben wir bekanntlich in einer Wendezeit. Der materielle Fortschritt, den wir diesem zweckrationalen Vorgehen verdanken, ist in kurzer Zeit bedrohlich angewachsen. Distanzen schrumpften und einst getrennte Lebensbereiche verflechten sich immer mehr. Geldwirtschaft, Industrialisierung, Liberalisierung der Wirtschaft and Ausbau der Bewegungsfreiheit des Einzelnen brachte eine krebsartige Auflösung der Zellwände einst überschaubarer Lebenskreise. Dementsprechend unübersehbar komplex sind heute die wechselseitigen Abhängigkeiten geworden. Dafür wurden durch zunehmende Spezialisierung neue Grenzen geschaffen: In Wissenschaft, Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung finden sich heute klar getrennte Fachbereiche, Branchen and Departemente. Diese Entwicklung führte wohl zu leistungsfähiger Untersuchung and Nutzbarmachung von Einzelmechanismen and Einzelsystemen. Dagegen wurden durch diese Spezialisierung die zunehmenden Verflechtungen and Wechselwirkungen zwischen den Einzelbereichen viel zu wenig beachtet. Sobald aber Einzeleingriffe and Neuerungen nur noch gerade aus einer beschränkten Fachoptik heraus getätigt werden, können die daraus resultierenden Neben- and Fernwirkungen in anderen Bereichen zu schwerwiegenden Störungen führen. Die bekannte lawinenartige Verseuchung unserer Umwelt und die unzähligen gesellschaftspolitischen Ungleichgewichte sind das Resultat solch indirekter Wirkungen von oftmals durchaus gut gemeinten Massnahmen. Zu recht fordert man deshalb immer eindringlicher, bei der Lösung heutiger Probleme müsse man vom "Reparaturdienstprinzip" wegkommen. Wir können nicht mehr einfach einzelne gerade anfallende Missstände beheben, sondern müssen in Anbetracht der zunehmenden Verflechtung aller Lebensbereiche auch zusammenhängend, vernetzt oder ganzheitlich denken lernen. Offenbar verlangt unsere grundlegend gewandelte Gesamtsituation eine angemessene neue Auffassung.

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Auf politischer Ebene fand dieser Wandel seinen Niederschlag in der Abkehr von Einzelentscheiden. Dafür werden immer mehr Gesamtplanungen and -konzepte ausgearbeitet. "Politische Planung" ist inzwischen ein geläufiger Begriff geworden. Mehr oder weniger umfassend versuchen die verantwortlichen Politiker aufgrund einer Lageanalyse mittel- and längerfristige Ziele zu formulieren and die Etappen zu ihrer Verwirklichung zu nennen. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Abklärung der ökologischen, finanziellen and sozialen Gangbarkeit der vorgeschlagenen Route. Immer bessere analytische Methoden und Hilfsmittel sollen dabei helfen, die Komplexität heutiger Probleme überschaubar zu machen, damit dadurch angemessene Lösungswege gefunden werden können. Datenbanken, Kybernetik and System-Engineering sind hierzu Schlüsselbegriffe, welche die Entwicklungstendenz im Bereich politischer Planung signalisieren. Untersucht man derartige politische Konzepte, so scheinen die heutigen kollektiven Probleme vor allem materieller Natur zu sein. Da geht es um Arbeit and Besitz, Versorgung and Entsorgung, Umweltschutz and Raumplanung, Infrastruktur and Gesundheitswesen, Sicherheit und Erziehungswesen –kurz –um handfeste äussere Dinge. In der Hektik des politischen Alltags spricht man denn auch immer mehr von sogenannten "Sachzwängen" und meint damit, dass äussere, scheinbar unveränderbare Rahmenbedingungen ein bestimmtes Handeln erzwingen würden. 1 Trotz all diesen harten Tatsachen und deren Verarbeitung in durchdachten Modellen, Szenarien und Konzepten lässt sich natürlich die zentrale Rolle des Menschen nicht leugnen. Denn letztlich sind es stets Menschen, die Probleme sehen, analysieren und dann schliesslich entscheiden. Genau an diesem Punkt scheint sich jedoch eine Unsicherheit auszubreiten. Denn es geht hier um die Frage, unter welchen Umständen denn der Mensch überhaupt einen komplexen Realitätsbereich angemessen beurteilen kann, um darauf basierend dem übergeordneten Ganzen gemäss richtig für die Zukunft entscheiden zu können. Und weiter ist von Bedeutung, was für ein BILD der Mensch von diesem übergeordneten Ganzen hat, wenn doch die Forderung lautet, ganzheitlich zu denken. Wachgerüttelt wurden Planer und Politologen unter anderem durch die Experimente des Bamberger Psychologen Dieter Dörner2 Vergleichbar der bekannten Computersimulation eines Pilotencockpits speicherte er in einem Computer alle möglichen Daten und Einflussgrössen einer fiktiven afrikanischen Region namens Tanaland. Mit Hilfe eines Dialogprogramms konnte der Computerbenützer die Bedingungen von Tanaland durch entsprechende Entwicklungshilfe und sonstige Massnahmen verändern, sozusagen die Zukunft des Landes simulieren und bei Fehlentwicklungen entsprechend eingreifen. Fachleute und Nichtfachleute bekamen nun die Aufgabe, ganz allgemein dafür zu sorgen, dass es den Leuten von Tanaland besser ginge. Sie konnten zum Beispiel Industrien ansiedeln, Hygiene und Anbauarten verbessern, um so das Land über mehrere Entscheidungsstufen, bei denen die bisherigen Auswirkungen jeweils vorlagen, durch ein ganzes Jahrhundert steuern. 1 Das Wort Sachzwang ist eine Wortschöpfung der Nachkriegsjahre. Im Duden von 1963 findet es sich noch nicht. 2 D.Dörner und F.Reitner, Über das Problemlösen in sehr komplexen Realitätsbereichen, Zeitschrift für experim. u. angew. Psychologie, 1978, Heft 4, S.527-551; meine Zusammenfassung orientiert sich teilweise nach derjenigen von F. Vester, Neuland des Denkens, DTV3, Stuttgart 1985, p. 24

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Das Ergebnis war nach dem Kommentar des Umweltfachmanns Frederic Vester mehr als niederschmetternd: Statt dass das Leben der Menschen sich besser gestaltet, was das Ziel war, traten nach vorübergehenden Besserungen Katastrophen und Hungersnöte auf3. Auffallend war, dass Fachleute genauso wie die übrigen Versuchspersonen ein Chaos schufen und das Land in eine Katastrophe führten, obgleich alle das Gute wollten4. In einer Besprechung des Versuchs heisst es in Bezug auf die Experten: "Gerade ihre fachlichen Vorkenntnisse schienen besondere Schwierigkeiten zu bereiten, weil die betreffenden Versuchspersonen nicht unvoreingenommen an ihre Aufgabe gingen und sich nur schwer von falschen Vermutungen über die Struktur solcher Situationen zu trennen vermochten... Sie dachten in Wirkungsketten... und nicht in Wirkungsnetzen wie erforderlich"5. Mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit machen uns derartige Simulationsexperimente verständlich, wie unsere herkömmliche Art der Problemlösung beim Umgang mit komplexen Systemen nicht mehr weiterhilft. Wie die Zeitgeschichte lehrt, führen unsere steuernden Eingriffe oft genau zum Gegenteil von dem, was wir eigentlich wollen, und das nicht nur im Computer, sonder drastisch sichtbar in unserer Landesplanung und bei Entwicklungsprogrammen aller Art6. Einen Ausweg aus der "Katastrophe von Tanaland" sieht man in Fachkreisen vor allem im kybernetischen Denken (kybernetes = der Steuermann). Dabei versucht man mit Hilfe der computerisierten Erfassung aller relevanten Steuergrössen und Schwellenwerte die heutigen komplexen Probleme in den Griff zu bekommen. Es lässt sich interessanterweise nachweisen, dass eine derartige Erfassung eines äusseren Systems keinesfalls aussichtslos ist. "Sobald (nämlich) die Beziehungen zwischen den Teilen eines Systems starker hervortreten – und dies ist ja gerade bei sehr komplexen Systemen der Fall – und man seine Analyse auf diesen Beziehungen aufbaut, tritt die Bedeutung der Systemteile zurück. Man kann sie zu Gruppen zusammenfassen und auch die Beziehungen auf wenige Wechselwirkungen zwischen solchen Hauptknotenpunkten reduzieren, ohne dass die eigentliche Aussage verloren geht7.

3 l.c., p.c. 4 1.c., p.c. 5 l.c., p.25 f; in dem Buch "Lohnhausen" (Bern 1983) von D.Dörner et al. wird der inneren Struktur von "schlechten Problemlösern" weiter nachgegangen. 6 vgl. Vester, l.c., p.25 f 7 Vester, l.c., p. 74; zu verweisen ist hierzu auch auf das anschauliche „Ökolopoly„ (Ravensburger Verlag). Es ist dies ein im Rahmen des UNESCO-Projects „Man and Biosphere„ entwickeltes Ökospiel von F.Vester et al.

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Das Ganze und die Details. Um zu erfahren, was diese Quadrate in ihrer Gesamtheit darstellen, müssen sie selbst zurücktreten, indem man sie aus grösserer Entfernung oder unscharf betrachtet (blinzeln, Brille abnehmen. Nun erst erkennt man die beiden Herren und wer von ihnen Abraham Lincoln ist.) 8

Trotz dieser bedeutsamen Erkenntnis, dass wir das Grundmuster oder das Gesamtbild eines Problems erst erkennen können, wenn wir uns nicht mehr so sehr auf die Details konzentrieren, sondern die Beziehungen zwischen den Teilen ernst nehmen, so müssen wir doch die Grenzen dieser vernetzten Denkweise sehen: Sie beruht immer noch ausschliesslich auf dem Gesetz der Kausalität. Und so hofft man denn auch, mit Hilfe von gelungenen Modellen der Wirklichkeit, unsere Probleme eines Tages "in den Griff zu bekommen". Eine solche Vorstellung wäre jedoch eine gefährliche Fehleinschätzung der Möglichkeiten der Kybernetik. Denn selbst wenn wir die äusseren Grundmuster von gesellschaftlichen und ökologischen Problemen erkennen, so müssen wir doch klar sehen, dass wir dabei stets nur einen einseitigen Abglanz des Lebens statistisch erfassen können9. Das Hauptproblem besteht darin, dass kein Computersystem je mit dem Einmaligen, dem Nicht-Relevanten und dem Unberechenbaren wird umgehen können. Dafür wird es nie Programme geben. Dazu kommt die Tatsache, dass unser Erfassen von möglichen Neben- und Fernwirkungen bei Eingriffen in ein lebendiges System nachweisbar stets begrenzt ist. Denn wie es in der Fachsprache heisst "zerfällt" jedes System – vom kleinsten Organismus bis hinauf zum komplizierten Öko- oder Gesellschaftssystem – in einen sogenannten "sichtbaren Aussenrand" und einen "unsichtbaren Ausgangskern"10. Das heisst, dass der Beobachter die Zustände mancher

8 Kopiert aus Vester, l.c., p.36 9 Vgl. Jürgen Dahl, Ökologie pur, in: Natur, 12/1982: die Suche der Computerökologen nach immer feineren Netzen der Wirklichkeit erinnert an jenen alten König im Märchen, der seinen Söhnen die Aufgabe stellte, einen möglichst feinen Stoff (Netz!) nach Hause zu bringen. 10 D.Dörner, Lohhausen, Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität, Huber Verlag, Bern 1983, p.28

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Elemente eines Systems nicht direkt feststellen kann, weil diese sich eben "im Schatten" des Erkennbaren befinden. Doch wie verarbeitet nun der Mensch jenen leicht nachweisbaren, stets existierenden Schattenbereich jenseits des Wissbaren? Theoretisch kann man das Wissen zwar sicher immer weiter vergrössern, aber praktisch ist unsere Wissenskapazität von der menschlichen Grundstruktur her gesehen auf das Bewusstsein beschränkt11. Deshalb ist auch das "Mustererkennen" ohne Einbezug des unbewussten Schattenbereichs natürlich stets ein Stückwerk. Das führt uns zur Frage, wie sich der Mensch auf diesen "Schatten des Wissensbereiches" bei seinen Planungen beziehen könnte. Gibt es einen gangbaren Weg, um zu der geforderten ganzheitlichen Anschauung eines Realitätsbereiches zu kommen? Oder muss man jenen bösen Zungen doch recht geben, welche behaupten, die moderne Planung ersetze letztendlich einfach den Zufall durch den Irrtum?

11 Die unbewussten archetypischen Muster werden nämlich durch die Erkenntnisse der biologischen Muster nicht einbezogen!

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2. Kollektive Probleme und kollektives Unbewusstes Fragen dieser Art stellten sich mir, als mir die Aufgabe der Projektleitung für die Erarbeitung von zwei regionalen gesamtwirtschaftlichen Entwicklungskonzepten übertragen wurde. Es handelte sich dabei zuerst um dasjenige für den Kanton Uri im Auftrag der Urner Kantonsregierung. Das war im Jahr 1973. Gut drei Jahre später wurde ich mit einer analogen Aufgabe für das Zürcher Berggebiet beauftragt. Natürlich bewirkten die genannten Zweifel an der Tauglichkeit moderner Planungsmethodik bei mir eine peinliche Unsicherheit. Eine denkbar ungünstige Voraussetzung für einen jungen, unerfahrenen Projektleiter! Aber ich konnte den Fragen nicht ausweichen. Denn mein Ausbildungsweg war ein doppelter. Einerseits studierte ich an der Abteilung für Landwirtschaft der ETH-Zürich und spezialisierte mich dort in Richtung Agrar- und Regionalwirtschaft. Auf der anderen Seite war ich parallel dazu am C.G.Jung-Institut in Ausbildung zum analytischen Psychologen12 . An der ETH erlernte ich in erster Linie die rationalen Methoden der Naturwissenschaften und die Gesetze im Umkreis des homo ökonomikus. Grundsätzlich handelte es sich dabei um objektive Wissenschaft. Vom forschenden Subjekt interessierte nur dessen Intellekt. Demgegenüber sah ich im Rahmen meiner Studien am C.G.Jung-Institut die Bedeutung, welche Komplexe, Archetypen und Symbole auf unser Denken, Fühlen und Handeln haben13. Dabei wurde mir die Wirklichkeit unserer allgemeinmenschlichen Instinktstruktur und deren dazugehörigen Bilder lebendig. Die beiden Erfahrungsweisen meiner Ausbildung und anschliessend meiner parallel geführten beruflichen Tätigkeit führten zu einem anwachsenden Konflikt zwischen zwei verschiedenen Menschenbildern: An der Hochschule und in der Politik werden in erster Linie die materiellen oder biologischen Bedürfnisse des Menschen beachtet. Demgegenüber erlebte ich in meinem Berufsbereich als Psychotherapeut immer mehr, wie in jedem Menschen neben den biologischen auch geistig-seelische Faktoren existieren, die in gleichem Masse beachtet und gepflegt werden wollen, ansonsten Störungen und Krankheiten der Seele entstehen. Im Grunde genommen basierte mein Konflikt auf einem unterschiedlichen Bild der Ganzheit. An der Hochschule und in der Praxis der Entwicklungsplanung werden zur Beurteilung eines Problems aus ganzheitlicher Sicht fast ausschliesslich äusserlich feststellbare Wirkungsgrössen gemessen, gewichtet und analysiert. Alle Operationen spielen sich auf Bewusstseinsebene ab. Das Resultat der Bemühungen wird schliesslich in möglichst klaren Begriffen und Statistiken dargestellt. Eine stichhaltige Klärung von einzelnen und vernetzten Ursache-Wirkung-Zusammenhängen ist dabei die Grundlage, um die äusseren Muster der Wirklichkeit zu erkennen. Demgegenüber erlernte ich in meiner Ausbildung zum analytischen Psychologen eine grundlegend andere Schau der Wirklichkeit. Neben äusseren Bestimmungsfaktoren für die Problemerfassung eines Menschen muss bekanntlich der Psychotherapeut auch noch diejenigen Faktoren erkennen und verstehen, welche aus dem seelischen Innenraum ins Bewusstsein 12 Dieses Parallelstudium war 1970 noch möglich. 13 In höchst aufwendiger Weise zeigt D.Dörner et al. mittels seinem Experiment Lohhausen (l.c.), dass der emotionale Hintergrund des Menschen tatsächlich relevant ist bei dessen Tätigkeit, komplexe Probleme zu lösen. Die Forschungsergebnisse von C.G.Jung waren ihm offenbar unbekannt.

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dringen. Dabei beeindruckte mich die Bedeutung von Bildern. Ich erkannte, wie in den Sinnbildern oder Symbolen eines Traumes, einer Phantasie oder eines Symptoms etwas aus diesem unbewussten Seelenhintergrund umfassend ausgedrückt werden kann. Auch ein Aussenstehender kann bei längerem geduldigen Betrachten von solchen Sinnbildern allmählich "ins Bild gesetzt werden", was beispielsweise einem Menschen in Not nun wirklich fehlt. Im Gegensatz zum mehr abstrakten Wort lässt das Bild auch das Gefühl besonders stark mitschwingen und ermöglicht ein Begreifen der inneren archetypischen Bedingtheit einer Problematik. Erst ein Erkennen der äusseren und inneren (archetypischen) Grundmuster ermöglicht ein angemessenes Verständnis des Sinnes einer Problematik und dann vor allem auch der Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen. Dazu festigte sich in mir immer mehr die oft zitierte Beobachtung, dass die Sinnbilder aus dem Unbewussten entscheidend wichtige Informationen enthalten und lebensfördernde, schöpferische Impulse geben können. Allerdings musste ich erst lernen, diese Bilder überhaupt einmal so ernst zu nehmen, dass ich sie genug geduldig betrachtete. Dann aber konnte ich sehen, wie aus einem sinnträchtigen Bild durch Betrachten ein Wissen geboren wird, welches für die Psychotherapie erfahrungsgemäss wegweisend ist. Aus diesem Spannungsfeld ergab sich mir die Frage, ob die Entdeckung einer unbewussten seelischen Wirklichkeit und die Bedeutung des Bilderwissens aus diesem Hintergrund auf die Bearbeitung von kollektiven Problemen übertragbar sei. Bedeutsam schien mir dabei Jungs Nachweis eines kollektiven Unbewussten. Was bedeutet diese Entdeckung für die Bearbeitung kollektiver Probleme? Auf der Suche nach einer Verbindung zwischen diesen beiden Welten sind mir eigene Träume aufgefallen, die sich deutlich auf meine Planungstätigkeit bezogen. Auf Anregung und unter der Leitung meiner Lehranalytikerin Dr. Marie-Louise von Franz bearbeitete ich im Rahmen meiner Diplomarbeit am C.G.Jung-Institut eine Serie von neun Träumen dieser Art. Der Titel meiner Thesis lautete "Entwicklungsplanung im Lichte unbewusster Zeitproblematik". Ich ging dabei von der Hypothese aus, dass die kollektive äussere Problematik bei Einseitigkeit der bewussten Einstellung zu kompensatorischen Reaktionen aus dem kollektiven Bereich des Unbewussten führen dürfte. Somit müssten Träume, die sich auf meine äussere Bearbeitung von kollektiven Problemen beziehen, wegweisende Impulse oder Korrekturen zur Bearbeitung dieser Aufgabe enthalten. Dies ganz in der Art wie wir die Aussagen von Träumen in der Psychotherapie als Wegweiser beachten. Zusammen mit den Resultaten der äusseren Entwicklungsplanung wurden diese neun Träume sowie mein Deutungsversuch als Doktorarbeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich angenommen. Aus dieser empirischen Untersuchung über einen Zeitraum von rund drei Jahren geht deutlich hervor, dass der Einbezug von Träumen für die Bearbeitung von komplexen Problembereichen wesentliches beizutragen hat. In bildhaft verdichteter Form lassen Träume die aktivierten hintergründigen, archetypischen Muster von kollektiven Problemen erkennen. Dank dieser äusseren und inneren Suche nach dem Grundmuster von Gesellschaftsproblemen besteht eine gewisse Möglichkeit, deren Sinn im grösseren Zusammenhang zu sehen und allenfalls für andere

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sichtbar zu machen14. Meine Doktorarbeit wurde 1977 publiziert15. Die Tatsache, dass ein Regierungsrat (und mehrfacher Landammann) des Kantons Uri das Vorwort zu dieser Arbeit geschrieben hat, zeigt, dass die Vorgehensweise, Träume für die Bearbeitung von kollektiven Problemen einzubeziehen, nicht nur in wissenschaftlichen, sondern auch in politischen Kreisen auf Verständnis gestossen ist. Anschliessend an diese erste Forschungsarbeit wurde mir an der ETH, am Institut für Agrarwirtschaft die Möglichkeit geboten, über meine Thematik zu habilitieren. Inzwischen sind es bald 15 Jahre empirischer Forschung, welche deutlich zu zeigen scheint, dass die Träume nicht nur in der Psychotherapie wegweisend sein können, sondern auch zur Behandlung der Pathologie unserer Zeit etwas zu sagen haben16. Seit Annahme meiner Dissertation durch die ETH sind es nun zehn Jahre her. Inzwischen haben die Ergebnisse einer umfangreichen Hirn- und Schlafforschung bei Menschen und bei einer Vielzahl von Tieren aufschlussreiche Einsichten in Sinn und Bedeutung der Traumaktivität unseres Hirns gegeben. Bekanntlich kann man bei allen Menschen nachweisen, dass sie während des Schlafes vier bis fünf sogenannte Rapid-Eye-Movement (REM-)Phasen haben. Umfangreiche Experimente haben gezeigt, dass der Mensch in dieser REM-Phase träumt17. Ebenfalls experimentell konnte nachgewiesen werden, dass der Mensch diese REM-Phasen unbedingt braucht. Untersuchungen des Schlafes bei Tieren führten zur Erkenntnis, dass wir bei allen untersuchten viviparen Säugetieren diese REM-Phasen vorfinden, nicht dagegen bei Reptilien. Umfangreiche Wellenmessungen der Hirnaktivität während der Traumphase und während Phasen erhöhter Bereitschaftsstufen bei verschiedenen Tieren haben eindeutig gezeigt, dass im Schlaf, während von den Sinnesorganen her nur ganz beschränkt Information ins Gehirn gelangt, eine, wie es der Neurologieprofessor Jonathan Winson in seiner synoptischen Arbeit "Brain and Psyche"18 ausdrückt, "ganz besondere Art von Informationsverarbeitung stattfindet, welche im Traum sichtbar wird" Und zwar ist diese Informationsverarbeitung von der Wellenstruktur (theta-Wellen) und den aktivierten Hirnteilen (v.a. Hippocampus, Frontallappen) her gesehen gleichartig, wie bei erhöhter Bereitschaftsstufe19.Neuerdings wurden diese Resultate durch das Forscherteam um Prof. Wolf-Dieter Heiss vom Max-Planck-Institut für Neurologische Forschung in Köln mit einer anderen Messweise bestätigt20. Mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) durchleuchtete er die Gehirne von vier Versuchspersonen während des Schlafes. Bei diesem modernsten Diagnoseverfahren verfolgt man mit hochempfindlichen Strahlendetektoren den Verbleib einer harmlosen, radioaktiv markierten Zuckerinjektion. Da aktive Nervenzellen sehr viele Kohlenhydrate umsetzen, erhält man so durch Zwischenschaltung komplizierter Computer-Systeme – farbige Schnittbilder des Hirns, auf denen sich dessen augenblickliche Zonen der Ruhe und der Aktivität deutlich abzeichnen. Durchwegs konnte das Forscherteam feststellen, dass während dem Non-REM-Schlaf sämtliche Regionen des Hirns 14 Der I Ging vermittelt im Grunde genommen eine analoge Einsicht. 15 Th.Abt, Entwicklungsplanung ohne Seele? Bern und Frankfurt, 1977 16 In seinem Referat "Gespaltene Seele – gespaltene Welt" hat Th.Seifert auf überzeugende Weise auf eben diese Tatsache hingewiesen. (Gedenkvorlesung vom 6.Juni 1984 am C.G.Jung-Institut, Zürich) 17 Diese berühmten Forschungen von Dement und Kleitman wurden 1957 publiziert. 18 Anchor Press, New York, 1985, p.50. 19 l.c., Kapitel 7 und 8. 20 W.-D.Heiss et.al., Regional cerebral glucose metabolism in man during wakefulness, sleep and dreaming; in Brain Research 327 (1985), p.362-366.

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durchschnittlich 12% weniger Aktivität aufweisen. Während der Traum-Phase dagegen konnte, wie Heiss et.al. schreiben, im Gegensatz zur Tiefschlafphase ein durchschnittlich 16.4% höherer Glukoseverbrauch gegenüber dem Wachzustand festgestellt werden. Unser Hirn ist also in der Traumphase bedeutend aktiver als während dem Wachzustand. Dazu kommt die beachtenswerte Feststellung, dass nicht nur allgemein im Hirn ein höherer Glukoseverbrauch stattfindet, sondern dass in gewissen Gebieten eine signifikant höhere Aktivität sichtbar wurde, so dass angenommen werden muss, dass diese Teile des Gehirns speziell bei der Traumarbeit involviert sind. Übereinstimmend mit den von Winson genannten Feststellungen sind neben andern Teilen vor allem der Frontallappen (mit 30% mehr) und der Hippocampus in der REM-Phase erhöht aktiv. Der Frontallappen ist der fortgeschrittenste und am höchsten entwickelte Bezirk des menschlichen Grosshirns. Er organisiert Sprache und Denken und befähigt Menschen, in die Zukunft zu planen. Der Hippocampus ist demgegenüber ein älterer Hirnteil und bildet die Brücke zum Langzeitgedächtnis und zu den entwicklungsgeschichtlich ältesten Gehirnteilen, dem limbischen System und dem Stammhirn. Offenbar geschieht während der Traumphase ein für die Warmblüter lebenswichtiger Verarbeitungsprozess der Ausseneindrücke mit dem im Genmaterial gespeicherten artspezifischen Wissen. Diese Annahme wird durch einen Blick auf die Evolution gestützt. In der erwähnten Arbeit "Brain and Psyche" belegt Winson aufgrund vieler Experimente, wie während der REM-Phase die neuen Tageseindrücke mit den Erfahrungsmustern der Instinktgrundlage verbunden werden, etwas das für das Überleben und die laufende Anpassung der Warmblüter an veränderte Rahmenbedingungen und die weitere Evolution dieses Zweiges der Schöpfung offenbar entscheidend wichtig war. Denn bei Reptilien konnte wie gesagt keine REM-Phase festgestellt werden. Bemerkenswerterweise gilt dasselbe für die Familie der eierlegenden Ameisenigel (Tachyglossidae, engl. Echidna), eine Säugetierart, welche in Australien lebt. Diese Tiere haben auch keine REM-Phase, dafür einen übergross entwickelten Frontallappen, im Verhältnis zum Gesamthirn von gleicher Grösse wie der Mensch:

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Was andere Warmblüter nachweisbar in der REM-Phase verarbeiten, geschieht beim Ameisenigel im Frontallappen während dem Wachzustand. Da sich der Zweig der oviparen Warmblüter nicht weiter entwickelt hat, weil sonst wohl die weiteren Entwicklungsstufen einen Riesenkopf gebraucht hätten, um den entsprechenden Zuwachs beim Stirnlappen unterzubringen, scheint die Entwicklung einer REM-Phase die richtige Lösung gewesen zu sein: In der Traumphase hat das Hirn die volle Kapazität zur Verfügung, es kann quasi "off-line" die Tageseindrücke verarbeiten und neue Strategien des Verhaltens entwerfen und kann mit einem kleineren Gehirn die grössere Leistung vollbringen. Zusammenfassend können wir somit festhalten, dass die REM- oder Traumphase offenbar eine nicht zu unterschätzende Funktion hat. Und wenn Träume so deutlich sind, dass wir uns an sie erinnern, so können wir annehmen, dass sie einer Höchstleistung unseres Hirns entstammen. Um hier nun einen Einblick in meine empirische Forschungstätigkeit über den Einbezug der REM-Phase in die Praxis kollektiver

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Problembearbeitung zu geben, möchte ich mit Hilfe von ausgewählten neuen Traumbeispielen ein mögliches Zusammenwirken von Innen- und Aussenwelt illustrieren. Dies zuerst mit einem Kommentar der unbewussten Instinktgrundlage zur Problematik der naturgemäss einseitigen Optik des Bewusstseins bei der Erfassung einer komplexen Lage.

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3. Bedeutung unseres Reflexionsvermögens Nach Abschluss meiner Arbeit am gesamtwirtschaftlichen Entwicklungskonzept für den Kanton Uri, hatte ich knapp eine Woche vor Auftragserteilung zur Erarbeitung eines analogen Entwicklungskonzepts für das Zürcher Berggebiet21 folgenden Traum:

Ich bin mit Herrn X kurz vor dem Abflug nach Riad, um dort das Entwicklungs-konzept für Saudi-Arabien auszuarbeiten. Dazu wollen wir uns vorgängig das Gebiet anschauen. Den Globus, den wir nun betrachten, zeigt Saudi-Arabien als eine Weltkugel "für sich": Das Land, die Entwicklungsregion, ist der ganze Globus. Wir müssen feststellen, dass wie immer wir auch den Ball drehen, uns bei der Betrachtung immer eine Seite des Landes verloren geht, auf die Rückseite kommt, abgeblendet wird. Es ist, wie wenn durch unsere Ansicht die Tiefendimension verloren gehen würde, wie wenn die Wirklichkeit durch unser Bewusstsein "flachgedrückt" würde. Irgendwie komme ich zu einem Spiegel. Dies ermöglicht uns, gleichzeitig zum detaillierten Bild, das wir genau betrachten können, die sonst abgeblendete Rückseite des Globus ebenfalls zu sehen. So können wir das unvermeidbar Abgeschnittene im Auge behalten und wenn immer gewünscht auch genau betrachten. Wir sind ganz glücklich ob der unerwarteten und überzeugenden Möglichkeit und schauen uns den Globus ganz genau an. Dann brechen wir auf.

Bevor ich diesen Traum zu deuten versuche, brauchen wir die persönlichen Assoziationen. Herr X hat am Entwicklungskonzept für das Zürcher Berggebiet mitgearbeitet. Mit ihm konnte ich schon während meiner Arbeit für den Kanton Uri meinen Konflikt zwischen Innen- und Aussenwelt ganz offen besprechen. Das war eine wesentliche Hilfe. Vergleichbar zum bevorstehenden Ereignis in der Aussenwelt sind Herr X und ich auch im Traum vor dem Aufbruch, um eine neue Aufgabe zu übernehmen. Allerdings geht es hier im Traum nicht ins Zürcher Oberland, sondern nach Saudi-Arabien. Wie selten ein Land ist das Wüstenreich Saudi-Arabien einer gefährlichen Zerreissprobe zwischen Fortschritt und Tradition ausgesetzt. Daneben ist diese Halbinsel von grosser strategischer Bedeutung. In Kompensation zu meiner Auffassung auf Bewusstseinsebene kann das Traumbild als Hinweis verstanden werden, dass ich bei diesem neuen Projekt mit einem bedeutend grösseren Spannungsfeld konfrontiert werden dürfte, als bisher angenommen. Bevor wir an Ort und Stelle den Auftrag bearbeiten, möchten Herr X und ich über die geographische Struktur des Landes ins Bild kommen. Doch nun sehen wir im Traum Saudi-Arabien statt Ausschnitt auf einer üblichen Landkarte als eine Weltkugel "für sich"22. Das Land als Globus weist auf dessen Beziehung zur Ganzheit. Das Traumbild der Region als Globus 21 Die Region "Zürcher Berggebiet" umfasst 15 Gemeinden aus dem Berggebiet der Kantone Zürich, St.Gallen und Thurgau mit zusammen rund 34'000 Einwohnern, was etwa der Einwohnerzahl von Uri entspricht. 22 Die Kugel als Ganzheits- oder Gottesbild, kennen wir aus verschiedenen Kulturkreisen.

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kompensiert deutlich unsere übliche Vorstellung, bei einer derartigen Entwicklungsplanung würden wir uns ja doch nur mit einem Teilausschnitt der vernetzten Welt beschäftigen können. Sachzwänge von aussen bestimmen unsere Zukunft, lautet denn auch nur all zu oft der resignierende Schluss von Planern und Politiker Statt diesem flachen zu konkretistischen Bild einer Region muss ich offenbar zu einer Ansicht kommen, dank welcher das dahinterliegende Ganze als Tiefendimension einbezogen bleibt. Doch diese dem Land zugrunde liegende Ganzheit besteht aus zwei Seiten: Wie wir den Globus auch drehen, die Ganzheit besteht stets aus einer erfassbaren und einer nicht erfassbaren Hälfte. Das Sinnbild der Kugel als ein gerundetes Ganzes weist auch auf eine globale Sicht, etwas worum wir uns bei einer Entwicklungsplanung ja letztlich bemühen. Doch der Traum zeigt sehr plastisch, wie diese globale Sicht einer Region mit der Erfassungsstruktur des Bewusstseins zunächst gar nicht möglich ist. Wie immer man den Globus auch dreht, wir verlieren bei der Betrachtung stets eine Seite des Ganzen. Dadurch bleibt unsere Ansicht einer Region immer einseitig und flach. Genau das erleben wir in den regionalen Lageanalysen: Jede Erkenntnis über eine Region geschieht in unumgänglicher Abblendung von gewissen Aspekten. Damit weist der Traum auf die behandelte Tatsache hin, dass das Bewusstsein immer nur Teilaspekte beschreiben kann; die Tiefendimension, die Kugel, die Beziehung zum dahinterliegenden Ganzen, bleibt dem Bewusstsein zunächst unsichtbar. Diese Problematik führte denn auch im wissenschaftlichen Fachkreisen zur resignierenden Auffassung, dass eine ganzheitliche Sicht und Bearbeitung von Planungsproblemen grundsätzlich nie möglich sei. Deshalb müsse man sich im Umgang mit komplexen Aufgaben darauf bescheiden, ein "Stückwerktechnokrat" zu sein23. An diesem Punkt erfolgt nun im Traum die Wende. Irgendwie komme ich zu einem Spiegel, dank dem die Rückseite des Geschauten sichtbar wird. Für den ursprünglichen Menschen war das Phänomen der Spiegelung ein grosses Wunder. Wir haben Dokumente aus allen Gegenden der Welt, die uns eine ursprünglich magische Wirkung des Spiegels belegen: Er vermag Dinge sichtbar zu machen, die der Mensch sonst nicht sehen kann. Psychologisch ausgedrückt ermöglicht die Hilfe eines Spiegels die Erkenntnis von Dingen jenseits der Grenze des Bewusstseins. Dabei ist beachtenswert, dass nach dem Traum das Spiegelbild der Rückseite und das vom Bewusstsein ausgewählte Vorderseitige zusammen erst eine plastische Schau des Globus ermöglichen. Die Brücke zum Bereich jenseits des Bewusstseins ist also der Spiegel. Da nun bekanntlich unsere unbewusste Seele mit ihren symbolhaften Äusserungen den Zugang zum Schattenbereich des Bewusstseins ermöglicht, weist das Bild des Spiegels auf die Bedeutung des Bilderwissens aus dem Unbewussten. Wir machen ja in der psychotherapeutischen Praxis immer wieder die erstaunliche Beobachtung, dass Traumbilder in oft merkwürdiger Weise Informationen liefern, wodurch eine heilende Vervollständigung, einer Ansicht erreicht werden kann. Da die Brücke vom Bewusstsein zum Unbewussten durch Reflektion (!) der symbolhaften Äusserungen aus dem

23 Vgl. z.B. die Schriften von Konrad Maurer, ORL-Schriftenreihe, ETH Zürich.

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Unbewussten ge-bild-et wird, ist der Spiegel ein Sinnbild der Symbolsprache24. Mit dem Instrument der Symbolsprache lassen sich die Regungen des Unbewussten verstehen, wodurch die kompensatorische Vervollständigung der Auffassung auf Bewusstseinsebene ermöglicht wird. Wie der Traum wörtlich sagt, kann mit Hilfe des Reflektionsinstruments die andere Seite der Wirklichkeit im Auge behalten werden, was eine ganzheitlichere Schau ermöglicht25. Bezogen auf die bevorstehende neue Aufgabe hebt das Unbewusste in deutlicher Sprache eine spezifische Gefahr der Entwicklungsplanung hervor, die aus der Notwendigkeit der Abstraktion erwächst. Die heutigen grossräumigen Planungen müssen sich mit Hilfe von Statistik und Karte von der äusseren Wirklichkeit entfernen. Der Ist-Zustand und das Endresultat einer Entwicklungsplanung schlägt sich in seinem räumlichen Bezug in Karten nieder. Offensichtlich gilt es, die Grenzen dieses verflachenden Vorgehens zu kennen und im Auge zu behalten. Aus dieser Einsicht heraus entsteht eine grundsätzliche Bereitschaft zur Reflexion, zur Beachtung und Betrachtung von dem, was abgeblendet wurde, von dem was einem lebendigen Phänomen in symbolhafter Weise den ganzheitlichen Ausdruck zu geben vermag. Wie in der Physik die Grundsätze der Newton'schen Mechanik durch die Quantentheorie und die Relativitätstheorie nicht über Bord geworfen, sondern nur in ihrem Anwendungsbereich definiert wurden, so zeigt auch dieser Traum einzig die Relativität der kartographischen Optik des Bewusstseins, die, um sich nicht in Einseitigkeit zu verlieren, durch stete Reflexion die Information von der anderen Seite, vom Unbewussten mit einbeziehen muss26. In der zen-buddhistischen Meditation versucht der Meister seinen Schüler zu lehren, wie er den inneren Spiegel immer von altem Staub rein halten kann27. Tatsächlich stellen wir bei uns selber und in der psychologischen Praxis fest, wie viel stete Zuwendung die Innenwelt braucht, soll das Reflexionsvermögen der Seele sichtbar werden oder sichtbar bleiben. In der Kurzatmigkeit des modernen Lebensstils, speziell verbreitet bei Menschen in Führungspositionen, geht im Allgemeinen die Ahnung verloren, dass wir in unserer Seele einen Spiegel besitzen, dank dem wir Dinge wahrnehmen können, die wir sonst übersehen28. Auf die zentrale Bedeutung der Wende von Aktivität nach innen, zur Tiefe der Seele im Zusammenhang mit Planung, deutet nun folgender Traum, den ich in der Anfangsphase der Bearbeitung des Urner Entwicklungskonzepts hatte.

24 On dit du miroir qu'il etait le symbole même du symbolisme. Chevalier/ Gheerbrand, Dictionnaire des symboles, 1969. s.v. miroir. Siehe auch von Franz. Spiegelungen der Seele. Kreuz Verlag. Stuttgart und Berlin. 1978, pp. 166-170 und s.a. p. 174 f, speziell für die Bedeutung der Synchronizität. 25 Die Kugel als bekanntes Gottesbild weist auch darauf hin, dass eine Beziehung zum Ganzen eigentlich eine Beziehung zu Gott bedeutet. 26 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Dieter Dörner in seiner breit angelegten empirischen Untersuchung über die Fähigkeit des Menschen im Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität zur Feststellung kommt, das schlechte Problemlöser ein ungenügendes Reflexionsvermögen besitzen. D.Dörner, Lohhausen, l.c., p.444. 27 Zit. aus M.-L.von Franz, Spiegelungen der Seele, l.c., p.182 28 Der Spiegel vermittelt jenes von Jung genannte "absolute Wissen absolut im Sinne von "vom Bewusstsein losgelöst", d.h. Bewusstseinstranszendent.

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4. Die Wurzel unserer Ungleichgewichte Den nun vorgelegte Traum hatte ich Anfangs Juni 1974:

Ich bin in San Francisco am Fluss und sehe eine Brücke, welche einen Pfeiler in der Mitte des Flusses auf einer Insel hat. Diese Brücke weist eine etwas mittelalterliche Bauart auf. Auf dieser Insel wohnen Menschen und spielen Trompete. Das Wasser ist bewegt. Auf der Seite, wo ich stehe, und die irgendwie auch zu San Francisco gehört, ist alles bewaldet und hinter mir geht es steil den Berg hinauf. Am anderen Ufer ist die Grossstadt. Nun sagt eine unbekannte Stimme: "Kain geht in den Berg statt in den Rummel und trifft dort Abel und seine Familie". Ich frage mich: "Bin ich Kain?"

Den Bezug zum Urner Entwicklungskonzept geben die trompetenspielenden Leute auf der Insel: Ein damaliger Arbeitskollege spielte Trompete. Er wurde später Kantonsplaner von Uri. Dank seiner Zusatzausbildung zum Planer am Institut für Orts-, Regional- and Landesplanung (ORL) brachte er in unser Arbeitsteam ein Spezialwissen in kybernetischem Denken and in Planungstechnik.

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Die Ausgangslage des Traumes ist charakterisiert durch eine amerikanische Grossstadt auf der einen Seite des Flusses and einem bewaldeten Berg auf der anderen Seite. Dazwischen ist eine Brücke deren Pfeiler in der Mitte auf einer Insel steht. Im Traum stehe ich auf derjenigen Seite mit dem Berg. Der Gegensatz zwischen bewaldetem Berg and der Stadt San Francisco ist besonders ausgeprägt: Hier das Ruhende des Berges mit seinen tief im Erdreich verankerten Bäumen, dort die hektische wurzellose Grossstadt. Als Metropole von Kalifornien, dem sogenannten "Land der unbegrenzten Möglichkeiten", können wir diese Stadt als Verdichtung unserer westlichen Individualkultur verstehen. Manches vom ehemaligen Pionier- and Goldgräbergeist dieses Staates an der Westküste charakterisiert auch heute noch die Mentalität seiner Bewohner. Gegenüber von San Francisco, am anderen Flussufer, befindet sich im Traum ein bewaldeter Berg. Fest, dauerhaft und abgrenzbar erhebt sich der Berg von der Ebene, speziell auffallend natürlich im allgemein recht flachen, grossräumigen Kalifornien. Seit altersher diente der bewaldete Berg als Rückzugsgebiet, nicht nur für bedrohte Tierarten, sondern auch für Verfolgte, Partisanen, Gottessuchende and Weise. Im Zentrum des Traumbildes steht die Brücke, welche die beiden Welten verbindet. Sie hat eine mittelalterliche Bauart. Ihr Mittelpfeiler ruht auf einer kleinen Insel, auf welcher Menschen Trompete spielen. Die Trompete erinnerte mich, wie schon erwähnt, an einen Arbeitskollegen, der dieses Instrument spielte. Als ausgebildeter Planer vertrat er in engagierter Weise ein vernetztes Denken and suchte nach fachgerechter Aufklärung von Zusammenhängen. Auch den eigenen Lebensstil versuchte er in verdienstvoller Weise seinen Einsichten gemäss zu gestalten, so wie diese Insel ein vorbildliches "Ökozentrum" sein könnte. Die zusammengebauten Hauser, die Gärten and Bäume sind Bild für ein gemeinschaftliches Zusammenwirken von Menschen and Natur. Innerseelisch gesehen verkörpern diese Inselmenschen den Versuch – angeregt durch Planungs- and Ökologiekreise – ein Weltbild zu schaffen, welches Zivilisation and Natur zu verbinden vermag. In diesem Sinne sah ich auch meine äussere Tätigkeit: Zusammen mit Gleichgesinnten in die Trompete zu stossen, das heisst einem möglichst gut ausgearbeiteten Entwicklungskonzept zum Durchbruch zu verhelfen. Kurz, die Welt irgendwie irgendwo um etwas verbessern zu helfen. Doch da erfolgt ein seltsamer Wandel im Traum: Kain and Abel werden genannt. Ist der Übergang von San Francisco in die Stille des bewaldeten Berges bereits ungewöhnlich, so ist doch das plötzliche Einbrechen von biblischen Gestalten überraschend. Eine unbekannte Stimme sagt: "Kain verlasst den Rummel" – also offenbar auch die extravertierte Gesellschaft der Trompetenbläser – "um in den Berg zu gehen. Dort trifft Kain seinen Bruder Abel and dessen Familie". Es scheint wie wenn die im Traum dargestellte Gegensatzproblematik von Natur und Zivilisation und deren Art der Überbrückung aus der Sicht des Unbewussten noch nicht genügte. Offenbar will die Problematik auf einer tieferen Ebene, nämlich im Bereich der Ursprungsgeschichte des abendländischen Bewusstseins verstanden and bearbeitet werden, dort am Ursprung der Spaltung in Gut and Böse. Bekanntlich verkünden heute eine ganze Reihe von Fachleuten, Planern and Umweltschutzorganisationen kollektiv und lautstark was wir alles tun sollten, damit die Welt wieder in Ordnung komme. Auch an vorbildlicher Lebensführung lässt sich einiges sehen. Doch nach dem Traum ist das eine mittelalterliche Brücke. Zentrales Merkmal des abendländischen Mittelalters ist die Suche nach Verwirklichung des christlichen Ideals, dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Das einseitige Streben weg vom Bösen wurde in der

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nachfolgenden Neuzeit durchkreuzt. Seit der Renaissance kam das vom Christentum ausgeschlossene Erdhafte and Luziferische mit der Gewalt des Verdrängten zurück and führte über die Aufklärung zu den bekannten heutigen Ungleichgewichten and zum Materialismus. Die mittelalterliche Brücke, das heisst eine Überbrückung des Gegensatzes von Fortschritt and Gewachsenem mittels "gutem" Planen and Handeln, oder pointierter, mittels Weltverbessern, ist nach dem Traum offenbar erst der halbe Weg. Kain muss den Rummel auf dieser Insel verlassen, um ganz in der stillen Versenkung des Bergesinnern mit Abel zusammenzukommen. Um nun diesen Traumteil verstehen zu können, müssen wir das Motiv der feindlichen Brüder eingehender betrachten. Verglichen mit dem Schafhirten Abel ist der sesshafte Ackerbauer Kain der Fortschrittlichere. Mit den Früchten aus seinem Ackerbau, das heisst mit diesem Fortschritt in der Landwirtschaft, ist jedoch der Herr in bemerkenswert ungerechter Art nicht zufrieden. Denn wo es um Neuerungen geht, da hat stets der Teufel die Hand im Spiel, sei das nun beim Baum der Erkenntnis oder etwa später anlässlich der Volkszählung von David (1 Chr. 21). Nur unter Beizug solcher Tatsachen lässt sich verstehen, warum der Herr das Opfer der Ackerfrüchte nicht ansah, auf dasjenige des Erstlings dagegen wohlgefällig blickte. Aus Neid and Groll mordete Kain seinen Bruder. Zur Strafe dafür von Gott verflucht ward er vom Acker, vom Land verbannt. Kain wird daraufhin zum ersten Städtegründer, was, wie ich in meiner Arbeit "Fortschritt ohne Seelenverlust"29 darzulegen versucht habe, mit der Entwicklung eines gefestigten Bewusstseins direkt zusammenhängt. Dieser Mythos von der Verbannung mit der Städtegründung belastet das Urbane mit dem Odium des Bösen. Die Stadt ist sowohl Ort des Fortschritts, aber gleichzeitig auch der Sünde, eine Stereotypie die sich vielerorts hartnäckig erhalten hat. Abgespalten von seinem Bruder, der in der Folge im Berg in der Unterwelt ein Schattendasein fristet, ist Kain ein archetypisches Bild für das von den Wurzeln losgerissene individuelle Bewusstsein. Mit der Verfluchung Kains and dessen Verbannung von seiner Heimat, wurde der ganze Bereich der mit Erneuerung and Fortschritt in Verbindung steht vom religiösen Bereich abgespalten. Dabei müssen wir jedoch betonen, dass der Ursprung dieser Spaltung im christlichen Gottesbild selber zu suchen ist. Denn der Herr wollte nicht auf das Opfer des fortschrittlichen Ackerbauern sehen, weil alles was mit Fortschritt and Erkenntnis zu tun hat, Satans Werk ist, Satan, welchen Gott von sich gewiesen. Darin erkennen wir den Ursprung, warum die christliche Kirche den ganzen Bereich der modernen Wissenschaft and Planung im Grunde genommen nicht ernst genommen hat. Heute feiert jedoch die Wissenschaft ihren Sieg in allen Gebieten, die Wissenschaft deren einzige Tradition lautet, keiner Tradition zu glauben: Aus der Verbindung von Wissenschaft and Technik entstand schliesslich unsere säkularisierte Industriegesellschaft. Dieser ganze Fortschritt vollzog sich allerdings getrennt von jeglicher Kirche. Christliche Überlieferung and die Welt von Wissenschaft and Technik sind voneinander während der ganzen 2000 Jahre christlicher Kulturentwicklung (dem sogenannten Äon der Fische) gespalten geblieben. C.G. Jung schreibt dazu: "Wenn der Äon der Fische, wie es allen Anschein hat, hauptsächlich durch das

29 Bern, 1983.

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archetypische Motiv der "feindlichen Brüder" regiert ist, dann wird sich, koinzident mit der Annäherung des nächsten platonischen Monats, nämlich des Aquarius, das Problem der Gegensatzvereinigung stellen. Es wird dann nicht mehr angehen, das Böse als blosse "privatio boni" zu verflüchtigen, sondern dessen wirkliche Existenz muss anerkannt werden"30. Letzteres ist in der Sprache des Traumes die Erkenntnis, dass Kain in mir irgendwo lebt, dass ich irgendwie auch Kain bin. Dieses Problem der Gegensatzvereinigung schreibt Jung weiter "wird aber weder von der Philosophie, noch von der Nationalökonomie, noch von der Politik, noch von den historischen Konfessionen, sondern nur vom einzelnen Menschen her gelöst werden",31 – soweit der Einzelne willens ist, in stiller, tiefer Introspektion seine zwei Seiten kennenzulernen and zusammenzuführen. Um wieder mit dem Traumbild zu sprechen, ist es offenbar meine Aufgabe, a) die kainitisch-wurzellose Natur meines wissenschaftlich geprägten Bewusstseins zur Kenntnis zu nehmen and b) dieses sodann in die Introversion zu führen. Dort in der geheimnisvollen Tiefe der inneren Seele findet der heimatlose Kain seinen totgeglaubten Bruder Abel, dort kann sich also das vereinzelte, von Gott oder vom übergeordneten Ganzen getrennt-verfluchte and alles hinterfragende Bewusstsein mit derjenigen Seite wiedervereinigen, welche ein naiv-kindliches Gottvertrauen hat. Wir können diese Gegensatzvereinigung auch mit Hilfe moderner Begriffe umschreiben, wie etwa mit dem Zusammenkommen vom modernen, zielgerichteten Planungsdenken and dem traditionsgebundenen Kreislaufdenken32. Im Lichte moderner Hirnforschung gesehen, kann der Mythos der feindlichen Brüder durchaus als eine intuitive Innenschau eines nun äusserlich naturwissenschaftlich erwiesenen Tatbestandes verstanden werden. Wie wir wissen, entsteht mit der Entwicklung eines gestärkten Bewusstseins eine ausgeprägte Dominanz der linken über die rechte Gehirnhemisphäre, ja die linke vermag die rechte sogar weitgehend auszuschalten. Letztere befindet sich dann wie verborgen "im Berg" and kann nur durch ein freiwilliges "in sich gehen" als lebendige Wirklichkeit erkannt werden33. Da die rechte Gehirnhälfte experimentell erwiesen mit dem räumlich-bildhaften Verarbeiten von Information verbunden ist, and die non-verbale Ausdrucksform des Sinn-bildes eine Brücke zu den älteren Hirnstrukturen bildet, kann dieses Zusammenkommen von Kain and Abel im Berg als eine Möglichkeit der Vereinigung von Bewusstsein and Unbewusstem in tiefster Introversion verstanden werden34. Die Tatsache, dass der Gegensatz von Bewusst and Unbewusst durch Kain and Abel dargestellt wird, scheint darauf hinzudeuten, dass es sich dabei um ein moralisches Problem handelt, welches mich persönlich angeht. Offenbar musste ich mir als Entwicklungsplaner dieser Spaltung

30 Jung, Aion, p. 131 (Hervorhebung v.m.) 31 Jung, Aion, p. 131 (Hervorhebung v.m.) 32 Vgl.Teil 5 in meiner Arbeit "Fortschritt ohne Seelenverlust". 33 Überzeugende eigene Erfahrung in diesem Bereich vermitteln die Bücher "Drawing on the right side of the brain" von Betty Edwards, Los Angeles, 1979 and dieselbe Autorin, "Drawing on the artist within, New York, 1986. Die Autorin zeigt in diesen Büchern die Bedeutung der Vereinigung der Tätigkeit der beiden Hirnhälften, des L-modus and des R-modus. 34 Dass im Bergesinnern noch weiteres Rätselhaftes anzutreffen ist, lässt sich aus der Tatsache erkennen, dass im Berg Abel mit seiner Familie ist. Also auch das Weibliche Element and die Erneuerung von Abel ist vorhanden, im Gegensatz zum biblischen ledigen Abel.

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im christlichen Gottesbild bewusst werden. Denn hier kommen wir an die Wurzel unserer äusseren Ungleichgewichte. Wenn wir nämlich die Welt in Gut and Böse unterteilen and uns selber in den Kampf gegen das Böse werfen, dann müssen wir dementsprechend Unkraut, Ungeziefer, Missstände and letztlich auch Unbrauchbares ausrotten. Als Planer mit einem derartigen "obersten Wert" werde ich dementsprechend auch in meiner Tätigkeit die Welt in Gut and Böse einteilen, um dann zu versuchen, das Böse and "die Bösen" zu bekämpfen. Ich werde dann beispielsweise eine besser Planung zu machen versuchen als die andern, Ungerechtigkeiten and Rückständigkeiten mit dem Entwicklungskonzept möglichst ausmerzen und natürlich die Bösen bekämpfen, die gegen meine guten Absichten sind. Untersucht man Publikationen and Vorträge von Vertretern aus Planungs- and Ökologiekreisen, so finden wir praktisch durchwegs ein Fazit in der Art, man sollte dies oder jenes tun, um etwas besser zu machen. Zur Zeit als ich diese Zeilen schreibe, überlegt man sich beispielsweise bei der Zentralstelle für regionale Wirtschaftsförderung in Bern, für die Bergregionen der Schweiz neue Entwicklungskonzepte erarbeiten zu lassen, solche der sogenannten "zweiten Generation". Getreu der Devise "Das Bessere ersetzt das Gute" versucht die Wissenschaft der Planung and der Regionalwirtschaft immer weiter dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen, ohne zu realisieren, dass die ständigen Verbesserungsvorschläge auch auf diesem Gebiet zu einer Wegwerfmentälität führen. Ja es geht sogar scheinbar noch weiter. Denn im Traum ist ja am Schluss die Frage: "Bin ich Kain?" Das heisst, als Planer muss ich mich fragen, ob meine Bemühungen, aussen "verbessern zu helfen" aus einem kainitischen "sentiment d'incompletitude" stammt. Immer wieder stellen wir ja fest, wie Erneuerungen, Pläne zweiter, dritter and x-ter Generation mit Unzulänglichkeiten aufräumen sollten. Und um diesen Verbesserungen endlich zum Durchbruch zu verhelfen, braucht es die Medien, die Trompeten .... Die Enttäuschung kommt erst etwas später. Zusammenfassend wollte mich der Traum in kompensatorischer Art von gutgemeinter Extraversion wegführen and die Aufmerksamkeit ganz auf die innerseelische Wirklichkeit lenken. In der Bewusstwerdung der inneren Spaltung in einen Kain and einen Abel and in der Suche nach einer Zusammenschau dieser beiden Hälften kommt eine wirkliche Gegensatzvereinigung zustande. Dies ist dann nicht mehr eine mittelalterliche Brücke, deren Mittelpfeiler auf dem "Guten-tun" beruht, in der Hoffnung dadurch das Böse aus der Welt zu schaffen. Es geht bei dieser Bewusstwerdung über den inneren Kain and Abel um die von Jung genannte psychologische Tatsache: "Wenn ein innerer Tatbestand nicht bewusst gemacht wird, dann ereignet er sich als Schicksal aussen, d.h. wenn der Einzelne einheitlich bleibt and sich seines inneren Gegensatzes nicht bewusst wird, so muss wohl die Welt den Konflikt darstellen and in zwei Hälften zerteilt werden"35. Diese beiden Hälften kennen wir unter verschiedensten Begriffen: Stadt and Land, Bauer and Nichtbauer, Alt and Jung, Links and Rechts, Ost and West, usw. Diese Wendung nach innen bedeutet eine Zuwendung zu dem, was sich im Berg, in den tieferen Seelenschichten befindet. Es sind dies die Sinnbilder, die aus diesem Bereich aufsteigen, and die

35 Jung, Aion, Zurich 1950, p.110.

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einseitige Schau des Bewusstseins zu kompensieren versuchen. Weil es sich bei diesen Bildern um die Möglichkeit der Vervollständigung einer Anschauung handelt, wurde verschiedentlich das Innere des Berges auch als Schatzhaus der Weisen bezeichnet. Natürlich war es für mich als Wissenschafter and Regionalwirtschafter recht schwierig, meine Energie and Aufmerksamkeit ganz nach innen zu wenden. Was soll die Innenwelt so direkt mit meiner äusseren Arbeit zu tun haben? In immer wiederkehrender Introversion bebrütete ich die von innen aufsteigenden Bilder der Seele, ganz besonders intensiv diejenigen, welche sich auf meine äussere Planungsarbeit bezogen. Das Resultat davon war ein Jahr später meine Diplomarbeit für das C.G.Jung-Institut in Zürich36. Darin versuchte ich eine Anzahl der Träume erstmals in Zusammenhang mit meiner äusseren Planungstätigkeit zu deuten. Ich konnte daraus entscheidende Einsichten gewinnen, zeigten mir doch die Träume die Bemühungen der Entwicklungsplanung im Licht unbewusster Zeitproblematik – in der Art wie das im gerade besprochenen Beispiel ersichtlich wird. Zum Abschluss mochte ich mit einem Bild "aus dem Innern des Berges" illustrieren, wie der Einbezug der Traumwelt in die Bearbeitung einer Kollektivproblematik zu neuen Einsichten führen kann.

5. Suche nach Gegensatzvereinigung Ende 1976 wurde das Urner Entwicklungskonzept durch den Bund genehmigt. Daraufhin folgte der Prüfstein der Umsetzung dieses Konzepts im politischen Alltag. In dieser Phase wurde mir die Gelegenheit geboten, als Fachberater in der regierungsrätlichen Entwicklungskonzept-Kommission mitzuwirken. Bestehend aus drei Regierungsräten, einem Sekretär und dem Kantonsplaner hatte dieses Gremium die Aufgabe, für die Durchführung der Ziele and Massnahmen des Konzepts besorgt zu sein. Heute, zehn Jahre später, wäre man versucht, eine Art Erfolgskontrolle durchzuführen, etwa im Sinne: "Was bringt es, wenn man bei einer Entwicklungsplanung versucht, die Seele miteinzubeziehen?" Doch für diesen Bereich kommen wir an die Grenzen des Ursache-Wirkungs Prinzips. Denn letztlich wirkt das Seelische in nicht genau sezierbaren Kausalketten oder Kausalnetzen, weshalb dieser Bereich ja auch noch keinen Platz im kybernetischen Systemdenken gefunden hat. Der Nachweis von eindeutigen Kausalzusammenhängen würde zwar erlauben, ganz klar zu belegen, "wie man noch besser planen könnte". Dies nach der bereits erwähnten Devise: "Das Bessere ersetzt das Gute". Kausalität ist der Ausdruck des zeitlich gestaffelten Zusammenhangs von Ursache and Wirkung. Doch das Seelische wirkt im Lebenlassen von Bildern and lässt so Ahnungen mitschwingen, welche auch das Unfassbare

36 T.Abt, Entwicklungsplanung im Licht unbewusster Zeitproblematik, Diplomthesis am C.G.Jung-Institut, Zürich. 195.

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miteinzubeziehen vermögen. Zufalle werden dann plötzlich als sinnvoll erlebt37, and einzelne Bilder werden zu Sinnbildern, zu Leitbildern. Wohl muss man auch eine Erfolgskontrolle des Urner Entwicklungskonzepts durchführen. So kann man ganz genau feststellen welche Ziele von 1976 heute erreicht wurden und welche nicht. Doch was es gebracht hat, den unbewussten Seelenhintergrund in die Arbeit einzubeziehen, bleibt dem Urteil des Einzelnen überlassen. Er muss darüber befinden, ob das sinnvoll war, genauso wie wir im Einzelleben bei der Beachtung der Träume auch meist keine ganz genauen Aussagen machen können, wie etwas herausgekommen wäre ohne Beachtung der Träume. So kann ich keine Auskunft geben, was der Einbezug der Seele bei der Bearbeitung von komplexen Problemen genau bringt, oder gar wie sich weitere Verbesserungen im politischen Planungswesen "machen lassen"38. In dem Sinne lassen sich im seelischen Bereich keine reproduzierbaren Phänomene/Resultate erreichen. Aber vielleicht vermag das nachfolgende Beispiel eine Ahnung von der Wirklichkeit der kollektiven Seele zu vermitteln, von der Art wie diese bildhaft wirkt and warum sie nicht operationalisierbar ist. Im Rahmen der Erarbeitung der sogenannten kantonalen Richtpläne, in welchen alle raumbezogenen Vorhaben aufeinander abzustimmen sind, erachtete es der Urner Regierungsrat als zweckmässig, im Sinne einer Grundlage dazu vorgängig das Entwicklungskonzept angemessen zu überarbeiten. Dies konnte innerhalb der kantonalen Verwaltung vollzogen werden. Für diese Überarbeitung wurde ich um Mitwirkung angefragt. Gerne sagte ich zu, bot sich doch dadurch die Gelegenheit, meine Untersuchungen zu vertiefen. Äusserlich bestand die Arbeit wie das erste Mal in der Untersuchung einer Vielzahl von vernetzten Zusammenhängen. Dabei wurde mir das Problem des Einbezugs der seelischen Wirklichkeit noch bedeutend klarer bewusst als damals 1973. Und so hatte ich das Gefühl, müsste auch die Wirklichkeit der Seele deutlicher sichtbar einbezogen werden. Aber wie das Problem formulieren, and zwar so, dass es allgemeinverständlich ist? Und dann wie einen Weg finden, um das Handfest-Materielle mit dem Geistig-Seelischen zu verbinden? Als die Zeit vorrückte, and etwas Greifbares den Auftraggebern vorgelegt werden musste, kam ich in arge Not. Um mich ganz in diese Überarbeitung vertiefen zu können, begab ich mich im Frühling 1983 für ein paar Wochen allein in unser abgelegenes Haus in den Bergen. Dort in der Einsamkeit wurde mir die Qual des Nichtwissens noch viel mehr bewusst. Eines Morgens, nachdem ich mir am Vortag intensiv Gedanken über das Entwicklungskonzept gemacht hatte, erwachte ich mit folgendem Traum:

Ich befinde mich im Zimmer unserer kleinen Doris and halte das Problem "Entwicklungskonzept Uri" in den Händen auf einem Blatt Papier. In der Mitte hat es eine Trennungslinie. Auf der linken Hälfte hat es ein Stück Speck, auf der rechten Hälfte hat es eine Blume.

37 Jung postulierte deshalb neben dem Gesetz der Kausalität die Synchronizität (in: C.G.Jung/Wolfgang Pauli, Naturerklärung and Psyche, Zürich 1952). Über die Bedeutung von Synchronizitäten wahrend der Erarbeitung des Entwicklungskonzepts habe ich geschrieben in "Entwicklungsplanung ohne Seele", Bern 1977, pp. 244-250. 38 Das Wort machen hängt mit dem Wort Macht zusammen.

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Ich weiss nicht was tun, and so spiele ich damit im Zimmer von Doris.

Wie im Traum angeregt, versuchte ich in den nachfolgenden Wochen in spielerischer Art das Traumbild zu verstehen, etwa so wie ich mit meiner damals dreijährigen Tochter in ihrem Zimmer gespielt hatte. Nach den Gesetzen der Traumdeutekunst versuchte ich den Speck and die Blume mit allgemein bekannten Erfahrungen anzureichern, um so allmählich ins Bild zu kommen. Warum wohl gerade Speck? Früher war der Speck im Kamin ein Zeichen für Wohlstand. Heute macht er uns eher als ungesundes Übergewicht zu schaffen. Der Speck steht somit für das materielle Wohlergehen. Dieses prägt auch alle unsere politischen Programme, denn mit Speck fängt man Mäuse, oder im übertragenen Sinn die Wähler. Demgegenüber ist die zum Leben scheinbar nicht unbedingt nötige Blume seit jeher ein Sinnbild für immaterielle Werte gewesen. Wir schenken Blumen als Ausdruck von Gefühlen and Liebe bei allen wichtigen Übergängen im Leben, so etwa bei der Geburt, der Hochzeit and beim Tod. Und wir pflanzen Blumen aufs Grab, meist ohne zu wissen, dass dies ein Zeichen ist für die Auferstehung der unsterblichen Seele aus der Erdengruft. So können wir den Sinn dieser beiden Bilder etwa mit folgenden Stichworten einander gegenüberstellen:

Nach dem Traum besteht das Problem "Entwicklungskonzept Uri" im Grunde darin, dass der Bereich des nahrhaften Specks, des Materiellen wie durch eine Mauer von der geistig-seelischen Dimension abgetrennt werden konnte. Ein einseitiges Verständnis von Entwicklung als alleinige Verbesserung der materiellen Verhältnisse konnte uns ja tatsächlich die Sicht für die Bedürfnisse "der anderen Seite" nehmen and so die Blume zum verwelken bringen. Doch ohne Blumen auf

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den Wiesen sterben allmählich zahlreiche Arten von Schmetterlingen aus. Die alten Griechen nannten den Schmetterling "Psyche" and verwendeten das gleiche Wort für die Seele. So können wir sagen, dass das Problem des Entwicklungskonzepts Uri darin besteht, dass bei einer einseitigen Ausrichtung der Optik auf den Speck, and damit bei einer Vernachlässigung der Pflege der Blumenwelt, die Vielfalt and der Reichtum des Seelenlebens verkümmert. Im November 1983 war es soweit. Die Resultate der Überarbeiteten Konzepte konnten dem Regierungsrat vorgestellt werden. Dabei wagte ich den Versuch, die Problematik des Einbezugs der geistig-seelischen Dimension in die konkrete Entwicklungsplanung mit Hilfe eben dieses Bildes aus dem Traum aufzugreifen. Allerdings hatte ich die grössten Bedenken, man konnte mir vorwerfen, ich würde als Wissenschafter statt mit einschlägigen Zahlen and Worten mit diffusen Bildern arbeiten. Um deshalb ja nicht in eine erneute Einseitigkeit gegenüber dem bisher allzu rationalen Planen zu geraten, präsentierte ich in einem ersten Teil meiner Ausführungen handfestes Zahlenmaterial mit dazugehörigem Kommentar. Anschliessend an mein Referat ergriff als erster der als besonders kritisch bekannte Urner Finanzdirektor das Wort. Mit dem ersten Teil meiner Ausführungen, mit dem an der ETH erarbeiteten Teil der Lageanalyse and den Überarbeiteten Zielen sei er zufrieden. Aber zum zweiten Teil mit dem Bild von Speck and Blume, dazu habe er einen Vorwurf: "Der sei viel zu kurz:" Dieses erfreuliche Echo führte schliesslich dazu, das Bild von Speck and Blume nicht wie anfänglich vorgesehen innerhalb des Konzepts im Kapitel Lebensqualität unterzubringen, sondern es hat nun seinen Platz ganz am Anfang, in der Einleitung. Im Sinne eines Leitbildes vermag uns dieses Traumbild an die Grundproblematik der heutigen Entwicklung zu erinnern. Offenbar geht es darum, dass wir bei allen einzelnen Entscheiden, die wir treffen, stets unsere innere Spaltung in diese beiden Seiten im Auge behalten, damit die Entwicklung oder der Fortschritt nicht zu einem Seelenverlust führt. So wurde im Traum ein Symbol geboren, welches als Leitbild hinter den 10'000 Dingen das Problem der notwendigen Vereinigung der Gegensätze zeigt. Als Kompensation zur Reizüberflutung mit Mengen von bedruckten Seiten, zahlreichen Zielen, Massnahmen, Statistiken and Erläuterungen bedeutet dieses im Traum entstandene Bild eine bemerkenswerte Konzentration auf das Wesentliche39. Zuerst geht es offenbar einmal darum, die Grundproblematik der Trennmauer zwischen den beiden Welten von Speck und Blume zu sehen. Im Leiden an der Spannung zwischen den oft unvereinbar scheinenden Gegensätzen von konkreter Politik and seelischer Wirklichkeit kann letztlich wohl allein ein neuer Geist geboren werden, welcher Fortschritt and Seele zu vereinigen vermag. Dass die Essenz des Urner Entwicklungskonzepts von der Urner Regierung in diesem Sinne verstanden wurde, zeigt das Vorwort von Landammann Brücker zum 1985 publizierten Schlussbericht.

39 Mit dem Bild im Spiegel seines Schildes kann Perseus die überwältigende Medusa töten. Medusa, als Sinnbild für die heutige Informationsflut? Der Traum zeigt auch sehr schön, wie bedeutsam die Gegensatzvereinigung von Wort and Bild in der politischen Wirklichkeit ist. (L-modus and R-modus nach Edwards "Drawing on right side of your brain", Los Angeles 1979 und "Drawing on the artist within, New York 1986).

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«Wer sich mit dem Entwicklungskonzept und dem Richtplan des Kantons Uri befasst hat – und das waren wieder erfreulich viele Mitbürgerinnen and Mitbürger -, musste sich der zahlreichen Zwiespalte bewusst werden. Ich meine, das allein sei schon eine wertvolle Erfahrung, die vor unrealistischen Vereinfachungen bewahrt and zu überlegten und ausgewogenen Kompromissen zwingt. Entwicklungskonzepte and Richtpläne unterliegen dauernden Veränderungen and Anpassungen an neue Verhältnisse. Allein schon deswegen dürfen sie nicht als ein unbedingt gültiges Nachschlagewerk missbraucht werden. Viel wichtiger als die einzelnen Massnahmen, die vorgeschlagen sind, ist der Geist und die Grundhaltung, die schliesslich im Konzept ihren Niederschlag gefunden haben. Sie müssen die Zielrichtung angeben und deshalb allgemein bewusst gemacht werden. Ich meine, es sei fast wie mit der Bibel: Es wäre nicht gut, wenn sie uns nicht für unser Denken and Handeln prägen würde, sondern von uns erst als Nachschlagewerk im konkreten Fall eingesetzt würde»40.

Dieses Traumbild möge eine kleine Illustration sein, um zu zeigen, wie in der Traumphase unser Hirn in Verbindung mit den dann besonders aktivierten älteren Hirnstrukturen entscheidend wertvolle Informationsverarbeitung vollbringt. Die über jahrtausende gewachsene Hirnstruktur, der zwei Millionen Jahre alte Mensch in uns, wie Jung es nannte, hat ein Erfahrungswissen, das in der Traumphase zusammen mit den Tageseindrücken verarbeitet wird. Seit meiner in der Diplomarbeit am Jung-Institut aufgestellten früher genannten Hypothese, dass Träume Wesentliches zu sagen haben bei der Bearbeitung von kollektiven Problemen, konnte ich eine Vielzahl von Beispielen anderer Forscher, Experten and Politiker sammeln. Allerdings ist meine Arbeitshypothese nichts Neues, sondern sie war einzig eine angewandte Formulierung einer Annahme von C.G.Jung. Er schrieb:

«Die negativen Aspekte heutiger Planung and Bauweise zeigen unsere Anmassung an die Umwelt and an die Zukunft. Eigensinnig möchten wir sie nach unseren Vorstellungen gestalten. Wir entscheiden, als wenn wir alles wüssten. Aber unser Wissen ist Stückwerk. Es gäbe sehr viel mehr, was wir wissen könnten, wenn wir nur aufhören wollten, auf dem zu beharren, was wir wissen. Der Traum würde uns ein Weiteres erzählen, darum verachten wir den Traum and fahren fort, ad infinitum aufzulösen. Was ist der grosse Traum? Er besteht aus den vielen kleinen Träumen and den vielen Akten der Demut and Unterwerfung unter ihre Andeutungen. Er ist die Zukunft and das Bild der neuen Welt, die wir noch nicht verstehen. Wir können es nicht besser wissen als das Unbewusste and seine Andeutungen. Dort liegt eine Chance, das zu finden, was wir in unserer bewussten Welt vergeblich suchen. Wo sonst könnte es sein? Ich fürchte, ich finde nie die Sprache, diese einfachen Gedankengänge den Menschen meiner Zeit zu vermitteln.»41

40 Einleitung zum Entwicklungskonzept and dem Richtplan für den Kanton Uri, verabschiedet vom Regierungsrat am 28.1.1985, verfasst von Landammann Joseph Brücker (Hervorhebungen von mir). 41 Jung, Brief an Sir Herbert Read, geschrieben am 2.Sept.1960. in:. C.G.Jung, Briefe, Band III, p. 337 f.

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Diese Worte gehören zu den letzten schriftlichen Äusserungen von Jung zu unserem Zeitproblem. Unsere Untersuchung hat gezeigt, wie Träume, die sich auf die Thematik Entwicklungsplanung bezogen, unbewusst gebliebene Aspekte beleuchteten. Soweit es sich bei solchen Träumen um archetypische Inhalte handelt, sind ihre Aussagen nicht hoffnungslos subjektiv, da ihr Ursprung aus einem Wirklichkeitsbereich stammt, der ein allen Menschen Gemeinsames ist, nämlich aus dem kollektiven Unbewussten. Um die Orientierungshilfen aus dem Unbewussten zu verstehen, braucht es eine intensive Zuwendung zu den Sinn-bildern aus dem seelischen Innenraum, sowie eine Bemühung um Verständnis dieser Bildersprache – eine Aufgabe, die nicht durch ein Kollektiv übernommen werden kann. Somit bedeutet dies eine enorme Erhöhung des Sinnes and der Bedeutung des Einzellebens. Gleichzeitig ermöglicht dieses Vorgehen eine Entwicklung, einen Fortschritt, ohne dass dabei die Wirklichkeit der Seele aus den Augen verloren geht.

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