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internationale die Deutschland/Österreich 5 Euro, Schweiz 6 CHF Juli/August 4/2018 MAGAZIN DER INTERNATIONALEN SOZIALISTISCHEN ORGANISATION REAL EXISTIERENDER KAPITALISMUS Foto: CC BY 2.0 U.S. Fish and Wildlife Service

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Juli/August

4/2018

Magazin der internationalen SozialiStiSchen organiSation

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InHalt

2 die internationale 4/2018

IMPRESSUM

die internationale wird herausgegeben von der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO, Deutschland), in Zusammenarbeit mit Genoss*innen der Sozialistischen alternative (SOal, Österreich) und der Bewegung für den Sozialismus (bfs/MPS, Schweiz).die internationale erscheint zweimonat-lich. namentlich gekennzeichnete artikel geben den Standpunkt und die Meinung der autor*innen wieder.

Redaktion: Edith Bartelmus-Scholich, tom Bogen, Wilfried Dubois, Jochen Herzog, Dr. Matt-te, Paul Michel, Björn Mertens, Maximili-an Sarra, Jakob Schäfer, Michael WeisV.i.S.d.P. Michael Weis

abonnements: Einzelpreis: EUR    5,–

CHF 6,– Jahresabo: EUR 25,– Doppelabo (je 2 Hefte): EUR 35,– Solidarabo: ab EUR 40,– Sozialabo: EUR 15,– Probeabo (3 Doppelhefte}: EUR 10,– auslandsabo: EUR 40,–

www.intersoz.org

Konto:neuer Kurs GmbH, KölnPostbank FrankfurtIBan: DE97 5001 0060 0036 5846 04BIC: PBnKDEFF

Verlag, Verwaltung & Vertrieb:die internationale c/o ISO, Regentenstr. 57–59, 51063 Köln Vertrieb: [email protected]

Gestaltungskonzept: tom Bogen

Kontaktadressen: Deutschland: ISO, Regentenstr. 57–59, 51063 Köln, [email protected] Österreich: SOal, Sozialistische alternative, [email protected] Schweiz: BFS/MPS, [email protected], https://sozialismus.ch/

Inhalt

die internationaleDebatte„Entängstigung“ oder Kombi-Löhne und „Hartz 5“? Zur linken Diskussion um ein BGE, Michael Schilwa 3

ÖkologieKapitalistische Wegwerfgesellschaft, Klaus Meier 7

LeseempfehlungElektroautos – ein Teil des Problems, Paul Michel 16

Marx200 Jahre Marx – wie in die Kritik der politischen Ökonomie einführen? Johann-Friedrich Anders 18

BuchbesprechungLegitimer Protest, Hermann Dierkes 29 inprekorrIranAufruhr statt Diplomatie, Frieda Afary 32

KoreaDie Rolle der radikalen Linken Südkoreas im Annäherungsprozess, Christophe Aguiton 34

Pakistan Pakistans hybrider Feudalismus, Tariq Farooq 38

Südafrika Warum nur revolutionärer Wandel Südafrika wirkliche Freiheit bringen wird, Vashna Jagarnath 41Argentinien Macris neoliberale Phantasien, Claudio Katz 43

Mazedonien Mazedonien – ein Streit um nichts? Ein Dossier mit 3 Beiträgen 49

Brasilien Landraub oder die Kommodifizierung des Agrarbodens, Interview mit Fábio Pitta, Devlin Kuyek und Attila Szöcs 56

Prager FrühlingDer Prager Frühling – Wirtschaftliche Effizienz und Demokratie, Anna Libera 62

Internationales Sozialistisches JugendcampSommer, Sonne und Sozialismus 68

In eigener SacheWie wir schon in der Mai/Juni-Ausgabe angekündigt haben, kostet ab jetzt ein Einzelheft 5 Euro bzw. 6 CHF. Über die neuen Abo-Preise gibt die Preis-liste im Impressum (s. u. auf dieser Seite) Auskunft. Wir bitten um Euer/Ihr Ver-ständnis.

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Debat te

die internationale 4/2018 3

„Entängstigung“ odEr Kombi-LöhnE und „hartz 5“?

zur LinKEn disKussion um Ein bgE

Auf der einen Seite: Gewerkschaftsbüro-kraten, die den Sozialismus – wenn überhaupt – nur in Sonntagsreden im Munde führen, sorgen sich, dass die durch ein BGE ruhig gestellte Klasse ihre Motivation für Anti-Kapitalismus verlieren könnte. Auf der anderen Seite: Hartgesottene radikale Linke (gerne auch super-orthodoxe Trotzkisten), die ansonsten den ganzen Tag nichts anderes tun, als völlig unrealistische Forderungen aufzustellen, fragen allen Ernstes, wer denn ein BGE erkämpfen oder – noch amüsanter – wie das finanziert werden soll. Bevor es losgeht, müssen wir uns darüber verständigen, worüber wir streiten wollen – denn es gibt ja auch eine ganze Reihe von bürgerlichen BGE-Konzepten.

Das CDU-Althaus-Modell („Bürgergeld“), die ähnlich angelegten Konzepte von Grünen und FDP, erst Recht aber der medial am meisten gehypte Vorschlag des Droge-riefritzen Götz Werner – Finanzierung via sukzessiver An-hebung der Mehrwertsteuer auf 48 (!) % bei gleichzeitiger Abschaffung aller (!) anderen Steuern – sind nichts weiter als ein pseudo-alternativ lackiertes „Hartz 5“ und ein

Debat te

gigantisches Profitsteigerungs-Programm für das deutsche Kapital. Für Linke diskussionswert sind einzig Vorschläge, wie sie etwa von der ‚BAG Grundeinkommen‘ der PdL gemacht werden.

Linke BGE-Konzepte müssen vor allem drei Punkte im Blick haben (und haben das auch!): Erstens geht es nicht nur um Essen und Miete, sondern um das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum. Sprich: Abgedeckt sein muss auch der Kinobesuch, das Zeitungs-Abo, der Gitar-renunterricht oder der Sportverein für die Kinder, eine kleine jährliche Urlaubsreise etc. Wir sprechen also von mindestens 1200, eher 1500 € pro Monat. Zweitens „Drei-klang“ von Mindestlohn – Arbeitszeitverkürzung – BGE und drittens Finanzierung nicht über indirekte, sondern über direkte Steuern (der oberen Einkommensklassen) und Unternehmenssteuern.

Beschäftigen wir uns mit den Gegen-Argumenten der linken BGE-Kritiker und beginnen gleich mit der zentra-len Frage: Wer soll das bezahlen? Ganz einfach – wir machen es so, wie wir es bei allen anderen Themen und

Was bei der – in letzter Zeit wieder verstärkt aufkommenden – linken Debatte um ein ‚Bedingungsloses Grundeinkommen‘ (BGE) zuerst ins Auge fällt und stutzig macht, ist die Reflexhaftigkeit der meisten Wortmeldungen, die diese

Forderung strikt ablehnen.

�� Michael Schilwa

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Debat te

4 die internationale 4/2018

Forderungen auch machen: Die Reichen sollen zahlen! Allerdings gibt es bei der Finanzierung des BGE einen für die Realitätstüchtigkeit des Konzeptes nicht unwichtigen Punkt, den die linken BGE-Befürworter gerne verdrän-gen. Alle Modelle gehen ja logischerweise davon aus, dass bei BGE-Einführung alle anderen Transferleistungen gestrichen werden. Was natürlich nicht gestrichen werden kann, sind die zu diesem Zeitpunkt bereits erworbenen Rentenansprüchen in der Gesetzlichen Rentenversi-cherung (GRV). Es muss also über mehrere Generatio-nen hinweg „doppelt“ gezahlt werden: einerseits an die (tendenziell sinkende) Zahl der GRV-Rentenberechtigten, andererseits an die (tendenziell steigende) Zahl derer ohne GRV-Anspruch (also derjenigen, die mit Erreichen des Renteneintrittsalters natürlich weiter ihr bisheriges BGE kriegen).

Mit anderen Worten: Ein BGE ist am Anfang eine na-turgemäß recht teure Angelegenheit, die allerdings mit dem „Wegsterben“ der GRV-Ansprüche sukzessive preiswerter wird. Gesondert diskutiert werden müsste zudem die Frage, wie die Krankenkassen-/Pflege-Beiträge derjenigen BGE-Bezieher finanziert werden, die nicht zusätzlich erwerbstä-tig sind (also ausschließlich vom BGE leben).

Da beim Thema BGE erkennbar die Frage Arbeitswelt 4.0 – Digitalisierung – Prekarisierung mitschwingt, sollten bei der Frage nach der Finanzierung nicht nur die indivi-duelle Einkommenssteuer, sondern auch die Sozialabgaben von Großkonzernen, die von Globalisierung und Digi-talisierung am meisten profitieren, in Betracht gezogen werden. Es gibt ja nicht wenige „Global Player“, die mit ein paar hundert oder noch weniger Mitarbeitern Milli-ardenumsätze erwirtschaften. Wie wäre es also mit einer „Maschinensteuer“, besser „Maschinen/PC-Sozialabga-be“ – sprich: Berechnungsgrundlage der Sozialabgaben ist nicht mehr die Anzahl der Beschäftigten, sondern der Umsatz und/oder Gewinn? Bringt eine Menge ein und entlastet den „Faktor Arbeit“ (insbesondere den berühm-ten „kleinen Handwerker“). Ein für die „linke Seele“ ganz zentraler Einwand:

BGE auch für Millionäre!?

Darauf ließe sich einiges erwidern. Bekanntermaßen gibt es sehr viel mehr Lohnabhängige als Millionäre (das BGE für die „1%“ sind in der Gesamtrechnung Peanuts) – vor allem Letztere sollen zur Finanzierung herangezogen wer-den – der Charme und die argumentative Durchschlags-kraft des BGE liegt ja gerade in der unbürokratischen Unkompliziertheit.

Aber diese Erwiderungen werden nicht viel bringen, wenn das Gerechtigkeitsgefühl sehr vieler verletzt ist. Des-halb muss vielleicht auch in Richtung einer oberen „Kap-pungsgrenze“ für die BGE-Bezugsberechtigung gedacht werden – dann bewegen wir uns allerdings weg vom BGE hin zu Konzepten der bedarfsgerechten und sanktionsfrei-en, aber eben nicht bedingungslosen Grundsicherung (was ja nicht das Schlechteste ist).

Allerdings steckt der Teufel auch hier im Detail: „Sanktionsfrei“ und „nicht bedingungslos“ ist leider ein Widerspruch in sich. Insbesondere aus den Gewerkschaf-ten schallt den BGE-Fans entgegen: Das führt doch alles nur zu sinkenden (Kombi)-Löhnen! Motto: Die Kapita-listen werden den Malochern sagen, Ihr habt doch Euer BGE, da könnt Ihr beim Lohn ja wohl Abstriche machen. Wer so argumentiert, hat die Preisbildung in Warenge-sellschaften nicht verstanden (oder tut aus ideologischen Gründen so). Sinkendes Angebot und/oder steigende Nachfrage führen zu steigenden Preisen – das gilt natürlich auch für die Ware Arbeitskraft.

Genau damit haben wir es in unserem Fall ja wohl zu tun – wer durch ein BGE existenziell abgesichert ist, ist eben nicht mehr gezwungen, jeden miesen Billigjob an-zunehmen. Die Unternehmen müssen also höhere (in den prekären Bereichen deutlich höhere) Löhne anbieten, um benötigtes Personal zu bekommen.

Das Hauptgegenargument (von neoliberalen „Wirt-schaftsweisen“ bis zur radikalen Linken!): Dann geht ja gar keiner mehr arbeiten!

Das hängt von der Ausgestaltung eines BGE ab – nie-mand schlägt ein anstrengungsloses Luxusleben auf Kosten einer Minderheit von Deppen vor, die weiterhin arbeiten gehen. Konkret: 1500 € bedingungslos für jede(n), auch für Kinder – macht bei einer vierköpfigen Familie 6000 € pro Monat. Da würde in der Tat niemand mehr arbeiten gehen. Also sollte die BGE-Höhe stufenweise absinken – beispielsweise voller Satz für den Ein-Personenhaushalt, halber Satz für Verheiratete/Zusammenlebende, Viertel-satz für das 1. Kind und so weiter bis zu einem generellen Höchstsatz (sonst würde es bei z.B. achtköpfigen Familien irgendwann absurd). Auch für unsere Klasse gilt: Jeder Jeck is anders. Die einen träumen von einer Weltreise oder dem eigenen kleinen Häuschen und werden also trotz BGE weiterhin arbeiten, andere sind mit der Mietwohnung und einer Woche Ostsee zufrieden.

Die Befürchtung, dass bei einer Umsetzung des BGE am Ende etwas ganz anderes (von den Linken Ungewoll-tes) herauskommt, ist ja nicht von der Hand zu weisen.

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Debat te

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In der „Anti-BGE-Broschüre“ des RSB – Solidarität statt Spaltung – Aktionsprogramm gegen Massenarbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung – heißt es:„Wir halten diese Losung (Forderung nach BGE, M.S.) für eine absolute Sackgasse, ja einen gefährlichen Irrweg. Umso mehr, als inzwischen Teile des bürgerlichen Lagers ähnliche (...) Konzepte vertreten. Die linken Verfechter des BGE können damit für die Propagierung eines verschärften Sozialabbauprogramms instrumentalisiert werden. Dabei ist es unerheblich (sic! M.S.), ob die Linken ideologisch andere Ziele vertreten, denn bei der Erklärung politischer Konzepte hat bekanntlich die Linke nicht die Deu-tungsmehrheit, schon gar nicht, wenn die Massenmedien sich einschalten.“

Frage: Wo, bei welchem Thema hat die Linke denn eine „Deutungsmehrheit“? Antwort: Natürlich nirgends, bei keinem Thema. Diese Art der Argumentation gegen ein BGE ist also insofern unlauter, als sie verschweigt, dass die konkrete Umsetzung einer Forderung immer vom betrieb-lichen, klassenpolitischen und gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnis abhängt. Beispiel Arbeitszeitverkür-zung: Die soll ja unter anderem eine Verringerung der Arbeitslosigkeit durch Neueinstellungen erzwingen. Das tut sie aber leider nur selten. Stattdessen kommt es oft zu „Arbeitsverdichtung“, vulgo verstärkter Arbeitshetze (die gleiche Anzahl von Beschäftigten produziert in weniger Stunden dasselbe oder sogar mehr als zuvor). Trotzdem ist noch kein Linker auf die Idee gekommen, die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit der Begründung abzu-lehnen, das würde nur zu verstärkter Arbeitshetze führen. In dieser Debatte darf nicht vergessen werden, dass hier auch tiefliegende, quasi kulturelle Befindlichkeiten und Befürchtungen berührt werden.

„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, das ist ein ursozialdemokratischer, urgewerkschaftlicher Instinkt, der auch in der klassenorientierten radikalen Lin-ken verankert ist. Man kann das negativ bewerten: Hass und Hetze gegen die „faulen Hartzer“ auch in der eigenen Klasse ist manchmal schwer erträglich (obwohl hier er-kennbar die Angst durchschimmert, binnen kürzester Zeit selber genau da zu landen).

Es gibt aber auch eine positive Seite und die hat was mit Klassenstolz zu tun. Unsere Klasse ist eben nicht umsonst eine Arbeiterklasse und keine Faulenzerklasse. Die mit dem leistungslosen Einkommen, das sind die Klassengegner („Kuponschneider“). Es wäre hilfreich, wenn die Linke in dieser Frage nicht den neo-bürgerlichen Narrativen vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ auf den Leim geht – unsere

„BGE-Erzählung“ könnte vom Ende von Hungerlöhnen und Hartz 4 handeln.

Viele Gewerkschafter spüren in der BGE-Debatte nicht zu Unrecht den Bedeutungsverlust der eigenen Or-ganisation. Inzwischen sind 20 % aller Arbeitsplätze in Deutschland prekär. Flächendeckend gibt es die unbe-fristeten, tariflichen Vollzeitjobs eigentlich nur noch in der baden-württembergischen Metall-, Auto- und Elektroindustrie. Die Digitalisierung der Arbeitswelt beispielsweise ist ja oft nichts anderes als virtuelle Tage-löhnerei (etwa wenn Arbeit oder „Projekte“ im Internet „versteigert“ werden). Dass die Zugriffsmöglichkeiten betrieblicher und gewerkschaftlicher Strukturen in sol-chen Milieus schwinden, liegt auf der Hand – mit allen damit verbundenen fatalen klassenpolitischen Folgen. Das birgt Gefahren, aber auch Chancen: Einer wachen und nicht „maschinenstürmerischen“ politische Linken eröffnen sich auch neue Möglichkeiten, denn in der absehbar abnehmenden Bedeutung betrieblicher Kämpfe scheint sozusagen komplementär auch die wachsende Rolle gesamtgesellschaftlich-politischer Kampagnen durch.

Es geht um die zukünftig wachsende strategische Bedeutung nicht-mehrwertproduzierender Sektoren unserer Klasse, die trotzdem in den letzten Jahren große Kampfbereitschaft bewiesen haben (ganz besonders der ganze Care-Bereich). Streikende Müllmänner, Kranken-schwestern oder Busfahrer entfalten erst mal keinen oder wenig direkten ökonomischen Druck – der Erfolg oder Misserfolg solcher Kämpfe hängt vor allem von der öffent-lichen Wahrnehmung ab. Es geht also um Hegemonie, vulgo „die Lufthoheit über den Stammtischen“. Beispiel Erzieher*innen-Streik. Sagt die Öffentlichkeit: „Gut so, die verdienen doch viel zu wenig“ - gut für den Streik. Sagt sie: „Erpressung auf dem Rücken von Kindern und Eltern“ - schlecht für den Streik.

Kämpferische Klassenpolitik und eine ergebnisoffene linke BGE-Debatte sind kein Widerspruch. Dass buch-stäblich jede(r) binnen kürzester Zeit unter das Hartz-4 – Regime geraten kann, ist das schärfste Schwert in der Hand des Kapitals. Die Leugnung / Verdrängung der emanzipatorischen Aspekte linker BGE-Konzepte verstellt den Blick auf eine Erklärung der Tatsache, dass BGE nicht nur bei einigen Wirtschaftsliberalen, sondern auch und gerade „ganz unten“ ziemlich populär ist.

Und schlussendlich geht es auch um das linke „Men-schenbild“. Eines der wichtigsten Pro-BGE-Argumente wird von den linken Kritikern sträflich unterschätzt: Ein

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BGE, das diesen Namen auch verdient, wäre verbunden mit einer allgemeinen „Entängstigung“.

Wo liegt denn unser größtes Problem?

Natürlich sind Armut, Ausgrenzung und Drangsalierung furchtbar für die direkt Betroffenen. Aber die Herrschen-den haben die Agenda 2010 nicht so brutal durchgezogen, weil sie Sadisten sind, sondern weil sie kühl kalkulieren.

Der wirkliche und von oben geplante „Kollateralscha-den“ für die Arbeiterbewegung sind die Abstiegs- und Verarmungsängste der (noch) unbefristet und tarifär Beschäftigten. „Angst essen Seele auf“ will in diesem Zu-sammenhang heißen: In einer Welt, in der jeder sein „eige-nes Profitcenter“ ist, sich also völlig selbstverantwortlich fühlt (fühlen muss) für ein „gelungenes Leben“, verbreiten sich viel eher Scham und Selbsthass als Klassenbewusstsein.

So betrachtet dürfen wir doch nicht ausschließen, dass die Befreiung von elementaren Existenzängsten zu einem ungeheuren Schub an solidarischer Kreativität führt. Und wer sagt denn, dass diese „Entängstigung“ zur Ruhigstellung und Entpolitisierung führt? Einmal auf den Geschmack gekommen, kriegen die „Entängstigten“ vielleicht Lust auf „mehr“. Selbstverständlich ist das BGE nicht das einzige Mittel, um diesem schönen Ziel näher zu kommen – ohne konsequenten Klassenkampf ist sowieso alles nichts.

Und natürlich sollte auch keine linke Sozialromantik verbreitet werden. Viele werden es auch BGE-gestützt vorziehen, schon ab mittags vor dem TV Seifenopern zu gucken und bei einigen wird auch ein noch so hohes BGE nur bis zur Monatsmitte reichen.

Fazit: Keine „Arbeitertümelei“, aber auch kein Abschied von Klassenfragen. Für eine ergebnisoffene linke Debatte über das BGE.

Ernest Mandel

Karl Marx – Die Aktualität seines Werkes191 S., kartoniert, 17.80 €2018, ISBN 978-3-89900-152-5

Lieferbar seit 25. Mai 2018

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ökologie

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Real existieRendeR Kapitalismus

pRoduKtion füR die mülltonne Seit der Jahrtausendwende kann weltweit ein zunehmender Schub des Warenkonsums beobachtet werden. Das gilt auch für Deutschland. Klaus Meier

2015 wurden hierzulande 3,2 Millionen PKW neu zugelas­sen und 6,95 Millionen Fernseher verkauft. Im Jahr davor wurden 24,1 Millionen Smartphones und 20,4 Millionen Computer verkauft.

Die Energie steckt in den Produkten

In der Folge ist ein steil ansteigender Ressourcenver­brauch festzustellen. 2008 lag die weltweite Rohstoff­entnahme aus der Erde bei 62 Mrd. Tonnen Material. Das ist neunmal so viel wie noch um 1900. Die OECD geht davon aus, dass dieser Wert 2030 bei 100 Mrd. Tonnen liegen wird.1 Praktisch bedeutet das, dass die Erdkruste umgepflügt wird. Allein die durch den Berg­ und Tage­bau verschobenen Gesteins­ und Erdmassen sind heute 4 Mal so groß wie das Material, das alle irdischen Flüsse und Gletscher bewegen. Es entstehen dabei riesige Um­weltschäden durch die Freisetzung toxischer Substanzen und die Zerstörung wertvoller Böden. Eine weitere Folge der steigenden industriellen Ressourcen nutzung sind ein hoher Energieverbrauch sowie die damit verbundenen großen Treibhausgasemissionen. So gehen in Deutschland rund 40 % des CO

2­Ausstoßes auf das Konto der Indust­

rie. Diese Zahl setzt sich zusammen aus 18 % Emissionen für den industriell genutzten Strom und noch einmal rund 20 % für Industriefeuerungen und Prozessemissionen.2 Würde man noch die LKW­Transporte auf den Straßen hinzuzählen, dann wäre der Wert noch höher. Es ist eine

ökologie

Verantwortung der Industrie, die in offiziellen Statisti­ken gerne verborgen gehalten wird.

Ein erkenntnisreicher Blick auf das Szenario ergibt sich auch, wenn man die Förderung und industrielle Verarbei­tung einzelner Rohstoffe betrachtet. So erzeugt allein die weltweite Kunststoffproduktion eine jährliche CO

2­Men­

ge, die 76 % der gesamten deutschen Treibhausgasemissio­nen entspricht. Für Aluminium liegt dieser Wert bei 77 % und für Stahl sogar bei 462 %. Man kann diese Erkenntnis bildlich so zusammenfassen, dass alle hergestellten Güter geronnene Energie enthalten und riesige Mengen unsicht­barer Schwaden von Treibhausgasen hinter sich herziehen. Das bedeutet aber auch eine einfache Wahrheit: Wenn wir die Biosphäre unseres Planeten noch retten wollen, dann reicht eine einfache Umstellung auf erneuerbare Energien nicht aus. Es muss auch die Menge des materiellen Güter­umsatzes deutlich reduziert und damit die Übernutzung unseres Planeten beendet werden.

Gesättigte Märkte und die kapitalistische Antwort

Mit dieser Erkenntnis treffen wir auf das ökonomische System, das unsere Welt heute komplett beherrscht: den Kapitalismus. Er befindet sich heute in einer Situation der Kapitalüberproduktion. Es gibt riesige Finanzströme, die keine Anlagen mehr finden und deswegen voller Risi­ken immer neue Finanzblasen bilden. Die Ursache sind gesättigte Märkte und dadurch bedingt nicht ausgelastete Produktionsanlagen. Das kapitalistische Wirtschaftsle­ben funktioniert in diesem Umfeld nur durch einen sich beschleunigenden Wechsel des immer schnelleren Ent­wertens von genutzten Waren mit anschließender Neupro­duktion. Das bedeutet im Ergebnis die Etablierung einer Wegwerfproduktion.

Die bewusste und fahrlässige Lebensdauerverringerung von Produkten

Insbesondere in den letzten Jahrzehnten hat es die Indus­trie geschafft, ihre Produkte immer kurzlebiger auszule­gen. Ein Oberbegriff dafür ist Obsoleszenz. Er steht für

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die bewusste und geplante Verringerung der Produktle­bensdauer durch die kapitalistischen Produzenten. Die Waren werden so ausgelegt, dass sie gleich nach dem Ende der Gewährleistung immer unzuverlässiger werden und schließlich ganz kaputt gehen.

Stefan Schridde, der Initiator der Verbraucherschutz­organisation „Murks – Nein danke“ hat Obsoleszenz­fälle bei zahlreichen Produkten untersucht und be­schrieben.3 Ein Beispiel sind Waschmaschinen. Während früher Miele­Geräte rund 20 Jahre im Einsatz waren, liegt die durchschnittliche Lebensdauer von Waschma­schinen heute nur noch bei 6,5 Jahren. Schridde schreibt, dass schwerwiegende Reparaturen vielfach bereits nach 3 Jahren auftreten. Eine der Ursachen: Die Trommeln von Waschmaschinen laufen in Bottichen, die heute zunehmend aus Plastik hergestellt werden. Was die Sache schlimm macht: Die Bottich­Halterungen am Maschi­nengehäuse sind oft viel zu dünn ausgelegt, so dass sie unter der schwingenden Belastung viel zu früh abreißen. Das Ergebnis: Die Waschmaschine landet dann unwider­ruflich auf dem Müll.

Ein anderes Beispiel für Obsoleszenz sind aufladbare Akkus in elektrischen Zahnbürsten, Rasierapparaten oder MP3­Playern. Der Trick besteht darin, die Akkus fest in das Gehäuse einzuschweißen. Das macht es dem normalen Benutzer unmöglich, sie zu wechseln, wenn ihre Lebens­dauer überschritten ist. Das Gerät ist dann trotz sonst noch voller Funktionsfähigkeit nur noch für den Müll gut. Der vielgepriesene Apple­Konzern hat auch auf diesem Gebiet Standards gesetzt. Nachdem Kunden in den USA wegen der eingeschweißten Akkus Klagen gegen Apple ange­strengt hatten, ermöglichte der Konzern bei einzelnen Geräten einen Akku­Wechsel. Allerdings nicht durch den Kunden selbst. Sondern das Gerät muss eingesandt wer­den, damit eine firmeneigene Abteilung den Akkutausch vornimmt. Der Preis ist so hoch, dass der Neukauf eines Gerätes näher liegt.

Die Wegwerfstrategien der Unternehmen durchziehen mittlerweile sämtliche Lebensbereiche. Selbst Kugel­schreiber werden heute immer öfter so ausgelegt, dass sie nicht mehr nachfüllbar sind. Wenn dies doch möglich sein sollte, gilt für viele Ersatzminen, dass sie meist nur noch in Spezialläden beschafft werden können. Jeder, der in einem Büro tätig ist, hinterlässt so eine Spur von verschrotteten Schreibgeräten. Ein anderes Beispiel sind Balkonblumen. Es werden heute vornehmlich nur einjährige Pflanzen gezüchtet, so dass sie möglichst jedes Jahr wieder gekauft werden müssen. So werden die Kunden ständig in Bewe­

gung gehalten – und das Geld klingelt in den Kassen der Züchtungsunternehmen.

Ein Teil des auffällig schnellen Versagens vieler tech­nischer Geräte resultiert sicher aus einer bewussten und boshaften Reduzierung ihrer Lebensdauer. Aber das ist es nicht allein. Die Hauptursache ist die Nichtanwendung moderner Ingenieurkunst. Es gibt kaum Bemühungen der Hersteller, die Lebensdauer ihrer Geräte zu verlängern. Sie sollen gerade so lange halten, wie die Garantiezeit währt. Danach sollen die Kunden neu kaufen. Es ist tatsächlich auffallend: Während beispielsweise der Energieverbrauch vieler Geräte durch den Einsatz effizienterer Technik oftmals verringert werden konnte, gilt dies nicht beim Ziel der Produktlebensdauer. Das Ergebnis dieser Nicht­bemühungen zeigt sich beispielsweise in Statistiken über Haushaltsgroßgeräte, die aufgrund eines Defekts vorzeitig ausgetauscht werden müssen. Der Anteil stieg zwischen 2004 und 2012 von 3,5% auf 8,3%.

Wissenschaft im Dienste kapitalistischer Obsoleszenzinteressen

Auch die Hochschulen spiegeln die Interessen des Ka­pitals an einer Wegwerfproduktion wider. Nirgendwo in Deutschland gibt es im Bereich des Maschinenbaus Hochschulinstitute, die sich dem allgemeinen Ziel einer Verlängerung der Produktlebensdauer widmen. Auch in der Ingenieursausbildung taucht dieses Thema skandalöser­weise nicht auf. Die Studierenden erfahren zwar, wie man Produkte automatisierungsgerecht auslegt, aber nicht wie sie langlebig gemacht werden können. Und Studierende der Betriebswirtschaft werden mit kapitalistischen Strategien indoktriniert, die einen Pseudonaturzyklus von Konsum­gütern vorgeben. Er beschreibt, wie neue Produkte durch Innovationen auf den Markt gebracht werden und sie dann irgendwann „reifen“. Dies steht synonym für einen hohen Absatz. Schließlich treten sie in eine „Degenerationsphase“, sprich die potenziellen Kunden besitzen die Produkte und haben kein Interesse mehr an einem Neukauf.

Was eigentlich im positiven Sinn einem Rückgang des Ressourcenverbrauchs entspricht, ist den kapitalistischen Ideologen ein Dorn im Auge. Sie empfehlen Gegenstra­tegien, wie die Differenzierungen der Produkte oder das Einbringen von Innovationen. Wenn auch diese Möglich­keiten ausgeschöpft sind und der Absatz den Herstellern nicht mehr reicht, folgt die „Elimination“ des Konsum­artikels vom Markt. Mit einem anderen Produkt beginnt dann ein neuer Zyklus. Dass dieser Produktlebenszyklus eigentlich nur der verstetigten Profitmacherei dient und

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ökologisch zu schweren Schäden führt, wird im Studium nicht thematisiert.

Reparaturmöglichkeiten: Von Konzernen abgeschafft

Die Unternehmen haben angesichts der heute existieren­den Kapitalüberproduktion ein natürliches Interesse daran, dass Konsumgüter immer wieder neu gekauft werden. Reparaturen würden das Geschäft dagegen stören. Tat­sächlich ist es den Konzernen in den letzten drei Jahrzehn­ten gelungen, Reparaturen weitgehend abzuschaffen oder in unbedeutende Nischen abzudrängen. Dadurch konnte das vorzeitige Verschrotten von Produkten erheblich beschleunigt werden. Noch Anfang der 70er­Jahre gab es ein umfassendes Reparaturnetzwerk. So wurden defekte Fernseher noch wie selbstverständlich vom Radio­ und Fernsehtechniker abgeholt, repariert und nach wenigen Tagen zurückgebracht. Heute werden die Geräte auch bei eigentlich kleinen Defekten einfach weggeworfen. Auch für Schuhe gab es vor etwas über 4 Jahrzehnten noch einen florierenden Reparaturservice. Die Kunden standen vor den Theken der Schuster Schlange. All das ist heute nicht mehr vorstellbar.

Viele Unternehmen unterhalten zwar formal einen Reparaturservice. Aber die Kosten der Ersatzteile sind maßlos überteuert. So schrieb die Stiftung Warentest im September 2013 in ihrer Zeitschrift: „Ab 762 Euro ist die Bosch­Waschmaschine „WAS 28440“ im Internet erhält­lich. Geht nach der Gewährleistung der Motor kaputt, bie­tet Bosch den Austausch zum Festpreis von 299 Euro an. Fallen mehrere Bauteile aus, können die Reparaturkosten den Gerätepreis übersteigen.“ 4 Derartige Beispiele lassen sich zuhauf finden. 2017 berichtete die Süddeutsche Zei­tung über einen Kaffeevollautomaten, bei dem die Pumpe ausgefallen war. Die Stiftung Warentest gab an, dass das Ersatzbauteil beim Hersteller 182 Euro kostete. Ein sehr hoher Preis im Vergleich zum Automaten. Doch die Stif­tung Warentest fand eine deutlich günstigere Lösung bei einem Online­Händler, der für ein passendes Ersatzbauteil nur 19 Euro berechnete.5

Häufig werden Ersatzteile auch dadurch bewusst verteu­ert, dass defekte Teile nicht einzeln gekauft werden können, sondern nur als ganze Baugruppe. So beschreibt Christian Kreiß den Fall einer Waschmaschine mit einem defekten Türgriff.6 Einen Ersatzgriff gab es nur noch mit der gesam­ten Tür beim Hersteller zu kaufen, was sehr teuer war: Der Preis für den Türgriff separat hätte bei 8 Euro gelegen. Der Preis für den ausschließlich verfügbaren Griff mit ange­

hängter Tür betrug dagegen stolze 110 Euro. Das Öster­reichische Normungsinstitut hat sich die Mühe gemacht, beispielhaft die Preispolitik eines einzelnen Waschmaschi­nenmodells zu untersuchen. Danach kosten die Einzelteile der Maschine zusammengerechnet viermal so viel wie die Waschmaschine als Ganzes. Und in der Vergleichsrechnung der Einzelteile ist noch nicht einmal die Zeit und der Auf­wand für die Montage und die Teilebeschaffung enthalten.7

Potentielle Kunden mit einem defekten Gerät werden ob des horrenden Preises abgeschreckt. Sie kapitulieren und bestellen lieber gleich ein Neugerät. Das ist genau das, was die Konzerne eigentlich auch wünschen, denn so wird der Neukauf wieder angekurbelt. Unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist das aber eine Katastrophe.

Ein anderes Problem besteht darin, dass Hersteller nur für einen begrenzten Zeitraum Reparaturteile vorrätig halten. Kunden, die darüber hinaus Ersatzteile benötigen, haben Pech gehabt und werden zum Neukauf eines Ersatz­gerätes genötigt. Von dieser Politik sind auch unabhängige Reparaturwerkstätten betroffen. Ein derartiger Fall ging Ende 2017 durch die Medien. Der Inhaber eines Reparatu­runternehmens mit langer Tradition in Reutlingen, Detlef Wangerow, klagte vor dem Bundeskartellamt gegen die Konzerne Samsung und Apple wegen Diskriminierung kleiner Werkstätten. Apple weigert sich beharrlich, Ersatz­teile für seine Geräte an Einzelpersonen und freie Werk­stätten zu liefern. Das Unternehmen antwortete auf eine Anfrage von Wangerow, dass es Ersatzteile nur mit einer Autorisierung gäbe. Und weiter: „Wir haben derzeit leider keinen weiteren Bedarf, neue Partner für den Service zu autorisieren.“8 Wangerow beklagte auch die Methoden des Samsung­Konzerns, der kleinen Reparaturunternehmen Knüppel zwischen die Beine wirft: „Nachdem Samsung in den letzten Monaten teilweise gar keine Ersatzteile an freie Werkstätten geliefert hat, verlangt er jetzt die Angabe der IMEI­Nummer, bevor ein Display bezogen werden kann.“9 Die IMEI­Nummer ist eine 15­stellige Zahl zur eindeuti­gen Identifizierung eines Smartphones.

Manipulative Modewechsel

Ein weiteres wichtiges Element, um die Produktion anzu­heizen, ist der ständige Modewechsel, der in den letzten 30 Jahren eine Beschleunigung erlebt hat. Der Schrittmacher war dabei die Bekleidungsindustrie. Deutschland stellt für die internationale Mode­ und Textilindustrie einen wich­tigen Markt dar. 2013 wurden Textilien im Wert von 26,6 Mrd. € vornehmlich aus China, Bangladesch und der Türkei importiert.10

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Obwohl deutsche Verbraucher heute viermal so viele Kleider in ihrem Schrank haben wie 1980 und im Schnitt 20 Teile nie getragen werden, gelingt es der Modein­dustrie, die Konsumenten immer wieder zum Neukauf anzustacheln.11 Um für neue Moden in den Schränken Platz zu schaffen, werden pro Jahr über eine Milliarde noch tragbare Kleidungsstücke von den „Verbrauchern“ weggeworfen.12

Die Modeindustrie ist zwar von ihrem Umsatz deut­lich kleiner als die Automobil­ oder die Chemiebranche. Aber sie ist aufgrund ihrer spezifischen Marktmacht in der Lage, gesellschaftliche Normen und Zwänge zu schaffen, denen sich viele Individuen unterwerfen. Dabei spielt die globalisierte Massenkommunikationsindustrie mit Be­richten über Trends und Styles in Hochglanzmagazinen, Film, Fernsehen und Internet eine wichtige Rolle. Die Modeindustrie nutzt diese Situation aus, um den Absatz ihrer Produkte immer weiter voranzutreiben. Die Zeiten, in denen es eine Sommer­ und eine Wintermode gab, sind längst vorbei. Heute drücken die Modekonzerne inner­halb eines Jahres bis zu 12 Kollektionen in den Handel. Das Marketing unterscheidet dabei zwischen den Katego­rien hochmodische, modische und saisonale Ware. Für die hochmodische Ware wird dabei nur eine Verweildauer am sog. „Point of Sale“ von maximal 6 Wochen angegeben, für die saisonale Ware 18 bis 22 Wochen.13 Gleichzeitig hat es die Modeindustrie auch geschafft ihren internen Durchlauf zeitlich zu straffen, was die Umschlagszeit des eingesetzten Kapitals verkürzt und so zu höheren Profiten beiträgt. Früher wurde ein Zeitraum von 60 bis 90 Tagen benötigt, um das Produkt in den Handel zu bringen. In den vergangenen Jahren konnte die Spanne auf 12 bis 15 Tage verkürzt werden. Das Problem an diesen Modezy­klen ist, dass sie weit kürzer sind als die Lebensdauer der Textilien.

Die Frage stellt sich, warum es der Textilindustrie immer wieder gelingt, neue Modewellen zu erzeugen. Psychologen sprechen davon, dass Bekleidungsregeln als eine Symbolsprache genutzt werden, um soziale Bezie­hungen auszudrücken. Das gilt insbesondere in sozial sehr heterogenen Gemeinschaften. In der kapitalistischen Gesellschaft, die ständigen Umbrüchen unterworfen ist und deren ökonomische Konkurrenzmechanismen tief in die sozialen Beziehungen wirken, existiert ein großes Bedürfnis, durch ausgewählte Kleidungsstücke, Farben und Schnitte die Zugehörigkeit zu spezifischen gesellschaftlichen Gruppen zu signalisieren. Die Mo­deindustrie hat gelernt, dies gnadenlos zur Gewinnma­

ximierung auszunutzen. Für die sozialen Gruppen, die sich der Mode unterwerfen, bleibt aus ihrer beschränkten Sicht dann nichts anderes übrig, als die Kleidungsstücke vorzeitig auszurangieren – was natürlich der eigent­liche Zweck der künstlich erzeugten Modewellen ist. Dafür müssen dann Näherinnen in Bangladesch oder Kambodscha unter schlimmsten Bedingungen und zu Minilöhnen arbeiten. Und die ökologische Bilanz von Baumwollstoffen fällt denkbar negativ aus. Die für Bekleidung weltweit verbrauchte Baumwolle wächst auf zwei Prozent der weltweiten Ackerfläche, verbraucht aber ein Viertel aller in der Landwirtschaft eingesetzten Insektengifte.14

Doch nicht nur Textilien sind immer neuen Modewel­len unterworfen. Auch andere Branchen haben diese Me­thode kopiert. So wird mittlerweile das Design von ganzen Wohnungsinneneinrichtungen, Bädern, Kücheneinrich­tungen oder Wohnzimmermöbeln ständig neu ausgerich­tet. In den großen Möbelhäusern werden in dem einen Jahr nur Möbel mit matten Oberflächen angeboten und im nächsten Jahr sind alle auf Hochglanz lackiert. Schnell wächst da bei vielen Zeitgenossen der Wunsch, sich von vermeintlich veralteten Einrichtungen zu trennen. Das ist genau das was mit den Modewechseln beabsichtigt wird.

1 Krausmann, F. et al.: Growth in global material use, GDP and population during the 20th century, Ecological Economics, 20092 Entwicklung der energiebedingten Treibhausgasemissionen nach Quellgruppen, Umweltbundesamt, 20153 Stefan Schridde: Murks? Nein Danke, oekom Verlag, Mün­chen 20144 zitiert nach Anm. 65 Süddeutsche Zeitung, 30.3.20176 Christian Kreiß: Geplanter Verschleiß, Europa Verlag, Wien Berlin München 20147 s. Anm. 68 VDI Nachrichten, 22.12.20179 s. Anm. 810 Gesamtverband Textil und Moden, www.textil­mode.de11 C. Neugebauer; G. Schewe: Wirtschaftsmacht Modein­dustrie – Alles bleibt anders. Aus: Politik und Zeitgeschehen, Bundeszentrale für politische Bildung, BpB.de, 23.12.201412 Heike Holdinghausen: Dreimal anziehen, weg damit, Westend Verlag, Frankfurt/Main 201513 Beate Wojaczek, Koordinationsorientiertes Logistik­Ma­nagement in der Textilwirtschaft, Frankfurt/M. 199614 s. Anm. 11

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Kapitalisti-scheR müll, VeRpacKungs-flut und RecyclinglügeSeit Jahren wird in Deutschland immer mehr Verpackungsmüll produziert. Laut Umweltbundesamt hat jeder Einwohner 2013 gut 213 Kilogramm weggeworfen. Das sind 25 Kilogramm mehr als noch 2003 [1]. Klaus Meier

Pro Kopf liegt Deutschland europaweit an der Spitze. Kein anderes EU­Land produziert so viel Verpackungsmüll. Wer mit offenen Augen durch deutsche Supermärkte geht kann dies nicht übersehen.

Verpackungswahnsinn: Lohnkosten sparen und Konsument*innen täuschen

In der Lebensmittelabteilung wird z.B. Brokkoli zuneh­mend in Plastikfolie eingewickelt. Bananen, die eigent­lich von Natur aus eine verpackende dicke Schale haben, werden noch einmal mit Plastik umhüllt. Der Grund dafür ist nicht Hygiene, sondern dass z.B. die Bananen vorpor­tioniert sind und mit einem Preisschild versehen an den Kassen schnell verbucht werden können. Das Ziel ist eine durchrationalisierte Einkaufsumgebung, die möglichst wenig Personal erfordert.

Das gleiche Prinzip begegnet einem in der Lebensmittel­abteilung. Käse, Wurst und Fleisch wird vorab aufgeschnit­ten und vorportioniert auf geschäumten Kunststoffunterla­gen mit Folie verpackt. Auch hier kann vorab ein Preisschild aufgeklebt werden. Statt die Wünsche der Kunden einzeln entgegenzunehmen, wird so viel wie möglich manufaktur­mäßig vorverpackt. Das reduziert die Kommunikationszeit und den Arbeitsaufwand und spart so erhebliche Lohnkos­ten. In den Abteilungen für Kosmetika und Körperpflege wird der Verpackungswahnsinn dann auf neue Höhen getrieben. Die Cremes, Zahnpasten oder Lotionen befinden

sich in Tuben, kleinen Flaschen oder Behältern aus Kunst­stoff. Zusätzlich werden die Produkte noch in Pappschach­teln verpackt, die oftmals extra groß und aufwendig sind, um mehr Produkt vorzutäuschen als wirklich drin ist. Man spricht dabei von Umverpackungen. An ein sinnvolles Re­cycling wird von den Herstellern nicht gedacht, geschweige denn an eine Wiederverwendung der Verpackungsbehälter. Vor der Kasse kommen die Kunden dann üblicherweise noch an palettenweise aufgestellten Bonbons, Schokoladen, Knusperchips und Pralinen vorbei. Auch hier wieder das gleiche Bild: überdimensionierte Mehrfachverpackungen für ungesunde Produkte, für die es oft das Beste wäre, wenn sie niemals hergestellt worden wären.

Kunststoffmüll: Eine neue globale Umweltkatastrophe

Ein besonderes Augenmerk muss auch auf die Kunststoff­produktion geworfen werden. 2016 wurde weltweit 322 Millionen Tonnen hergestellt [2]. Trotz der wachsendem Probleme mit dem Material steigt die produzierte Menge. Flaschen und Behälter für Shampoo, Farben, Zahnpasta, Getränke, Joghurt werden meist aus Kunststoff hergestellt. Das gilt auch für Autoinneneinrichtungen, Computer­ und Fernseheinhausungen sowie tausend andere Anwendun­gen. Nach der Benutzung werden die Kunststoffprodukte einfach weggeworfen. Weltweit landet ein Großteil des Kunststoffanfalls in der Landschaft und über die Flüsse schließlich im Meer. [4] Nach überschlägigen Berechnun­gen von Wissenschaftlern kommen jedes Jahr 4,8 bis 12,7 Millionen Tonnen zusätzlich in die Ozeane [2]. UV­Strahlung und Wellen zerlegen die Plastikteile in immer kleinere Teilchen, die den Verdauungstrakten von Vögeln und Fischen zusetzen.

Hier bahnt sich mittlerweile eine neue globale Um­weltkatastrophe an. Wissenschaftler mahnen, dass 2050 die Plastikmenge im Meer die der Fische übersteigen wird. Deutsche Kunststoffhersteller haben mit ihrer Produktion und ihren weltweiten Exporten eine hohe Mitverant­wortung. Bis zum 1. Januar 2018 wurden sogar jedes Jahr 760 000 Tonnen der in Deutschland gesammelten Kunst­stoffabfälle nach China exportiert [3]. Wo die dann später landeten, interessierte offensichtlich nicht. Piotr Barczak vom europäischen Umweltbüro sagte dazu: „Es ist unklar, was genau mit dem Müll passiert, der nach China expor­tiert wird.“ [3]

Kunststoffe machen aber noch weitere Probleme: So frisst die chemische Umwandlung von Rohöl zu Kunst­stoff besonders große Energiemengen. Es ist ein Skandal,

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dass daraus zu einem Großteil kurzlebige Wegwerfpro­dukte hergestellt werden, mit steigender Tendenz auch in Deutschland. So wuchs hierzulande von 2003 bis 2013 der Kunststoffanteil am Abfall überproportional um 39 % an. Die deutsche Kunststoffindustrie trägt dafür eine hohe Verantwortung. Sie stellte 2015 achtzehn Millionen Ton­nen Kunststoffe her und machte damit 25 Milliarden Euro Umsatz. Abzüglich des Exports verblieben 10,1 Millionen Tonnen im Inland [4, 5]. Im selben Jahr wurden aber nur 5,92 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle wieder eingesam­melt [4]. Wo die restlichen 40 % Müll verbleiben, ist vielfach unklar.

Trittins Dosenpfand: Ein böses Lehrstück

2003 bemühte sich Bundesumweltminister Jürgen Trittin, der zunehmenden Flut von Getränkedosen Herr zu werden. Eigentlich eine selektive Fragestellung, die lösbar sein sollte. Aber es gab ein endloses Geplänkel mit der Industrie, die den Untergang des Abendlandes an die Wand malte. Getränkedosen wurden zwar nicht verboten, aber es wurde immerhin ein Dosenpfand eingeführt. Tatsächlich gingen danach die Dosenverpackungen von 7 Milliarden Stück auf 100 Millionen in 2005 zurück. Aber diese Verbesserung war nur von kurzer Dauer. Für 2014 meldete der Verband der Getränkedosenhersteller, dass man wieder 1,86 Milliar­den Dosen verkauft habe. Und der Sprecher des Branchen­verbandes erklärte frech: “Mittelfristig streben wir unseren alten Marktanteil an und das halten wir für realistisch.“ [6] Trittin wollte mit seinem Pfand alle Einweggetränkever­packungen zurückdrängen. Die Mehrwegquote sollte 80 % erreichen, so der Plan. Doch daraus ist nichts geworden. Vor der Pfandeinführung wurden immerhin noch 66,3 % aller verkauften Getränke in Mehrwegflaschen abgefüllt [7]. 2015 waren es nur noch 44,3 %. Und laut dem Um­weltbundesamt werden nur noch knapp 30 % der Erfri­schungsgetränke und 40 % des Mineralwassers in Mehr­wegflaschen angeboten [7]. Das ist also die Lex Trittin: Ein böses Lehrstück über die Macht von Verpackungsindustrie und Handelskonzernen. Kurzfristige, halbgare Erfolge, die die Machtstrukturen nicht ändern, sind angesichts des herrschenden Kräfteverhältnisses niemals von Dauer. Nach wenigen Jahren werden sie von den kapitalistischen Kon­zernen und ihren politischen Helfershelfern wieder auf null zurückgefahren.

Warum Mehrweg-Verpackungen ökologischer sind

Die Verpackungs­ und Getränkeindustrie hat mittler­weile absichtlich so viel Verwirrung gestiftet, dass viele

Kunden nicht mehr beurteilen können, welche Fla­schensysteme Mehrweg und welche Einweg sind. Die großen Discounter wie Lidl oder Aldi bieten heute fast ausschließlich Getränke in Einwegflaschen aus PET an. So ersparen sie sich die Rücknahme. PET steht für Polyethylenterephthalat. Discounter und Verpackungs­industrie behaupten, dass PET­Einwegflaschen recycelt würden. Tatsächlich werden sie gesammelt, gewaschen und zu Granulat geschreddert. Dabei kommt es aber zu einer Beschädigung der Kunststoffmoleküle, sodass nur noch etwa die Hälfte des zurückgenommenen Materials für neue PET­Flaschen verwendet werden kann. Dem Prozess müssen etwa 50 Prozent fabrikneu­es PET­Material hinzugesetzt werden [9]. Die andere Hälfte des PET­Granulats kann bestenfalls noch für farbige Textilfasern verwendet werden. Es ist also kein geschlossener Material­Kreislauf, sondern 50 % des Materials enden in einem Downcycling­Prozess. Dazu kommt, dass ein großer Prozentsatz der Einwegflaschen erst gar nicht im Recycling landet, sondern gleich ver­brannt wird. Mehrwegsysteme sind dagegen grundsätz­lich umweltfreundlicher. Die Flaschen werden gespült und können dann wiederverwendet werden. Das gilt auch für PET­Mehrwegflaschen, die 25 Mal eingesetzt werden können [9]. Glas­Mehrwegflaschen können im Durchschnitt sogar bis zu 50 Mal wieder befüllt werden. Eine sehr gute Ressourcennutzung. Und sie sind zu 100 % in einem Kreislauf recycelbar. Je größer allerdings die Transportentfernungen sind, desto mehr nimmt der ökologische Vorteil von Mehrweg­ gegen­über Einwegsystemen ab. Die kritische Grenze liegt zwischen 750 und 1500 Kilometern [8]. Die Schlussfol­gerung: Man sollte Mehrwegflaschen verwenden, aber die Getränke und andere Inhaltsstoffe sollten aus der Region stammen. Tatsächlich ist es nicht einzusehen, warum heute in Kiel süddeutsches Mineralwasser und in Nürnberg Milch aus Norddeutschland angeboten wird.

Es ist festzuhalten, dass die Müllmengen deutlich re­duziert werden könnten, wenn Mehrwegsysteme gene­rell verpflichtend für den Getränkebereich wären. Es ist nur die Kriecherei der Politik vor den Konzernen, die diese einfache Lösung verhindert. Aber es wäre noch mehr möglich. Mehrwegbehälter aus Glas oder auch aus PET haben ein noch viel größeres Potenzial, wenn sie auch außerhalb des Getränkebereichs eingeführt wür­den: Warum sollten nicht beispielsweise auch Gemüse, Joghurt, Shampoos oder Reinigungsmittel verpflich­

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tend in vereinheitlichten Mehrwegbehältern angeboten werden? Sie könnten mit Pfand belegt werden und aus Glas oder recycelbarem Kunststoff bestehen. Das Müllproblem könnte dann schnell der Vergangenheit angehören. Es fehlt allein der politische Wille.

Das Märchen vom umweltfreundlichen Getränkekarton

Beim Thema Müll müssen auch die allgegenwärtigen Getränkekartons ins Blickfeld genommen werden. 2012 wurden davon 185 400 Tonnen (Leergewicht) in Deutsch­land verbraucht [10]. Eine enorme Menge Müll. Diese Verpackungen bestehen aus einem mehrschichtig verkleb­ten Verbund aus Karton, Aluminiumfolie und Kunststoff. Laut der Verpackungsindustrie liegt die Recyclingquote bei 71 %. Das Umweltbundesamt beurteilt die Geträn­kekartons aufgrund einer ökobilanziellen Untersuchung aus den Jahren 2000 und 2002 als ökologisch vorteilhaft. Die Deutsche Umwelthilfe hat dies angezweifelt und eine eigene Untersuchung dagegengesetzt. Dabei zeigte sich, dass tatsächlich nur 36,5 % der Getränkekartons „recy­celt“ werden [10]. Ein großer Anteil landet aufgrund von Fehleinwürfen im Hausmüll und wird mit ihm verbrannt. Ein anderer Teil geht im Sortierprozess verloren, z.B. weil die Tetrapaks nicht erkannt werden oder zu verdreckt und damit für das „Recycling“ unbrauchbar sind. Nur rund 1/3 der Getränkekartons gelangen dann in den weiteren Recyclingprozess, wo sie zunächst mechanisch zerkleinert werden. Anschließend kommen sie in eine Waschanlage, eine sog. „Auflösetrommel“. Hier werden die Fasern des Kartonanteils von den Bestandteilen aus Kunststoff und Aluminium getrennt. Der Faserbrei kann für einfache Altpapierprodukte wie Pappkartons und Toilettenpapier verwendet werden. Die Bestandteile aus Kunststoff und Aluminium werden verbrannt. Die Asche kann in die Zementproduktion einfließen. Faserbrei und Asche gelten offiziell als „recycelt“. Tatsächlich ist es ein „Downcyc­ling“, denn der Faserbrei kann nicht für neue Tetrapaks verwendet werden, denn dafür bedarf es langer Papierfa­sern. Das bedeutet, dass für die Getränkekartons immer neue Bäume gefällt werden müssen, vor allem langsam wachsende skandinavische Hölzer mit langen Fasern. Auch aus der in die Zementproduktion eingehenden Aluminiumasche (Bauxit) kann nie wieder Aluminium zurückgewonnen werden. Wenn man den Gesamtpro­zess der Getränkekartonverwertung betrachtet, grenzt es schon an Betrug, ihn als Recycling auszugeben. Es ist bedauerlich, dass eine eigentlich seriöse Institution, wie

das Umweltbundesamt, dieser Rosstäuscherei immer noch ihren Segen gibt.

Immer neue Müllfluten im Kapitalismus

Ein Beispiel dafür, wie schnell im Kapitalismus neue Müll­fluten entstehen und alle vorherigen ökologischen Bemü­hungen zunichtemachen können, zeigen die Coffee­to­go­Becher. Früher unbekannt, werden sie heute an jeder Ecke angeboten. 320 000 Kaffee­Einwegbecher werden in Deutschland weggeworfen – pro Stunde! Im Jahr sind das 3 Milliarden [11]. Die Deutsche Umwelthilfe nannte sie einen wahren Fluch für die Umwelt und berechnete, dass die neuen Coffee­to­go­Becher 2015 für einen Kohlen­dioxidausstoß von zusätzlichen 110 000 Tonnen allein in Deutschland verantwortlich seien. Für die Herstellung der Becher werde eine Energie benötigt, mit der sich eine Kleinstadt ein ganzes Jahr versorgen ließe. Dazu kämen noch viele tausend Tonnen Holz und Kunststoff.

Ein weiteres Beispiel für eine neu entstandene Müll­welle sind Kaffeekapseln. Sie entstanden mit der Ein­führung neuer Kapsel­ und Pad­Maschinen für private Haushalte, womit die Kaffeemaschinenindustrie einen großen Coup landen konnte. Die durchschnittliche Kapsel besteht aus 2 bis 3 Gramm Verpackung und 6 bis 7 Gramm Kaffee, was ein unglaublich schlechtes Ver­hältnis von Verpackungsmüll (43 %) zu Inhalt darstellt. Zum Vergleich: Bei einer üblichen 500 Gramm­Packung Kaffee macht die Verpackung nur 15 Gramm aus (3 %) [12]. So macht man gleichzeitig Müll und hohe Pro­fite. Im Jahr 2008 wurden in Deutschland etwa 800 Tonnen Kaffeekapseln verkauft. 2014 waren es bereits 17 750 Tonnen und 2015 dann 20 600 Tonnen. Tendenz steigend. Besonders schlimm sind die Kaffeekapseln der Schweizer Nestle­Tochter Nespresso. Sie enthalten große Mengen Aluminium. 2015 verkaufte Nespresso welt­weit 8 Milliarden Kapseln. Das sind 8 Millionen Tonnen Aluminiummüll [13]. Und die Aluminium­Produktion ist ein großer Stromfresser und führt zu erheblichen CO

2­Emissionen.

Und es droht schon wieder eine neue Gefahr. Zuneh­mend lassen sich Karbon­ und Glasfasern mit neuen Ver­arbeitungsmethoden, wie 3D­Druck oder modifiziertem Spritzguss, kostengünstig in Alltagsprodukte integrieren. Diese Verbund­Materialien sind kaum noch recycelbar. Und wenn sie in die Müllverbrennung geraten entstehen krebserregende Bruchstücke. Die Recycling­Unterneh­men sind bereits alarmiert. Laut VDI Nachrichten verwei­gern die Faser­Hersteller aber jeden Dialog [17].

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Aus Coffee­to­go­Bechern und Kaffeekapseln lassen sich Lehren ziehen. Sie sind ein warnendes Beispiel für alle, die glauben, dass sie das Müll­Problem lösen können, ohne den Kapitalismus anzutasten. Tatsächlich ist es wie im Kampf gegen die 9­köpfige Hydra der griechischen Mythologie. Für jeden Kopf, den der Held dem Untier abgeschlagen hatte, wuchsen zwei neue nach.

Die Recyclinglüge

Aber gibt es nicht das Recycling? So wurde in Deutsch­land 1991 der Grüne Punkt eingeführt, der verspricht, dass aus gebrauchten Verpackungen neue Rohstoffe gewon­nen werden. Laut der Europäischen Umweltagentur EEA werden mittlerweile in Deutschland zwei Drittel des Haushaltsmülls recycelt. Ein Rekord in Europa. Das Bun­desumweltministerium spricht sogar von einer Recycling­Quote von 80 Prozent, gewerblicher Müll und Industrie­abfälle eingeschlossen. Also alles gar nicht so schlimm?

Bei näherem Hinsehen erscheint die offizielle deut­sche Recyclingquote fragwürdig. Selbst der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Abfallwirtschaft (DGAW), Thomas Obermeier, nennt die Zahlen „Au­genwischerei“. Die DGAW spricht von einer realistischen Recyclingquote von 31 bis 41 Prozent [14]. Und der Umweltwissenschaftler Prof. Henning Friege, der den Report des Nachhaltigkeitsrates erarbeitet hat, führt aus: „Der Kreislauf ist bei vielen Abfällen nur Fiktion.“ [11] Was sind die Gründe für diese Kritik? Zunächst einmal ist die Ermittlung der Recyclingquote fragwürdig. Gemes­sen wird nur die Inputmenge in eine Recyclinganlage [15]. Was diese aus dem Müll macht und wie effizient das funktioniert spielt für die Statistik keine Rolle. Und der eingehende Müll ist nur schwer sortierbar. So landen in den Großstädten in der Gelben Tonne bis zu 50 Prozent „Fehleinwürfe“ [11]. Sie werden in den Recyclinganla­gen aussortiert und meist verbrannt. In der Statistik gilt aber dies alles als „recycelt“. Ein weiteres großes Problem: Kunststoffverpackungen bestehen aus kunterbunten Stoff­gemischen, denn die Industrie hat alle Freiheiten und kann vorgabefrei produzieren, was sie will. Das sortenrein für eine hochwertige Wiederverwertung aufbereiten zu wol­len ist schlicht unmöglich. Im Ergebnis findet für kleinere Mengen ein „Downcycling“ statt: Plastikmüll wird zu Parkbänken oder Blumentöpfen. Der größere Anteil aber wird verbrannt.

Ein anderes Problem resultiert daraus, dass sich die Industrie immer neue Verbundmaterialien einfallen lässt. Gesetzliche Regeln oder Richtlinien gibt es ja nicht. So

werden unterschiedliche Kunststoffe miteinander ver­schweißt oder mit Metall und Pappe fest verbunden. Das lässt sich im Sortierprozess kaum trennen – jedenfalls nicht mit vertretbarem Aufwand. Was sich aber nicht separieren lässt, landet in der Müllverbrennung. Dies wird oft noch euphemistisch als „thermische Verwertung“ oder gar als „thermisches Recycling“ bezeichnet. Doch die aus Müll gewonnene Energie macht nur 1 Prozent der gesamten in Deutschland erzeugten Strommenge aus [18]. Also ein großer Ressourcenverlust – und wenig Energie. Das Fazit: Bei einer genauen Betrachtung bleibt vom deutschen Recyclingweltmeister nicht viel übrig – außer einer gut frisierten Statistik.

Neues Verpackungsgesetz – Gut für neuen Müll

Könnte sich die Situation mit dem neuen Verpackungsge­setz der Großen Koalition verbessern? Leider gibt es keinen Grund zur Hoffnung. Das Gesetz, das am 1. Januar 2019 in Kraft tritt, nimmt die Fake­Daten zum Recycling als Basis und sattelt noch drauf: Die Recyclingquote für Kunst­stoffverpackungen soll bis 2022 auf 63 Prozent steigen. Bei Verbundverpackungen, Glas, Papier und Blech sollen dann jeweils sogar 90 Prozent erreicht werden und bei Geträn­keverpackungen 80 % [19]. Das Problem: Die Politik ist auf das „Recycling“ fixiert. Dabei ist der hohe Ressour­cenverbrauch das Problem. Und die erzeugte Müllmenge in Deutschland hat über die Jahre immer weiter zugenom­men. Eigentlich wird im § 6 des Kreislaufwirtschaftsge­setzes eine sinnvolle Abfallhierarchie benannt. Danach hat die Vermeidung von Müll die oberste Priorität. Es folgt die Wiederverwendung von Stoffen, also z.B. Glasflaschen. Erst an dritter Stelle folgt das Recycling und danach die Verbrennung. Leider ist die Realität in Deutschland genau anders herum. Für die Müllvermeidung und damit die Senkung der Treibhausgasemissionen müssten Mehrweg­verpackungen in den Mittelpunkt gestellt werden. Das neue Verpackungsgesetz leistet dies gerade nicht.

Hoffnung auf die bürgerlichen Politiker?

Könnte die Politik hier nicht eingreifen? Leider ist von den bürgerlichen Politikern keine Änderung des Verpa­ckungswahns zu erwarten. Dafür sind sie zu eng mit den kapitalistischen Konzernen verbandelt und können nur eindimensional denken. Was dabei rauskommt, zeigt die lächerliche Initiative der EU­Kommissionen, die zehn Kunststoffwegwerfartikel aus dem Verkehr ziehen will. Darunter Trinkhalme, Wattestäbchen und Ballonhalter. Angeblich soll das dem Schutz der Meere dienen. Aber was

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ist mit den Millionen Einwegflaschen, den Verpackungen, Seilen oder Eimern, alles aus Kunststoff, die jedes Jahr vielmillionenfach im Meer landen? [20]

Die deutschen Politiker sind vom selben Schlag wie ihre EU­Kollegen. Typisch ist die Antwort der früheren SPD­Bundesumweltministerin Barbara Hendricks, die in einer Fernsehsendung auf die Frage, ob man sinnlose Verpackungen denn nicht verbieten könne, antwortete: „Nein, sowas kann man nicht alles per Gesetz verbieten. Wir sind schon ein freiheitliches Land und nicht alles, was Menschen ärgert, kann man per Gesetz verbieten“ [21].

Quellen

[1] Süddeutsche Zeitung, 10.3.2016: Der große Müllberg beim Kaffeekochen[2] Susanne Donner: Die Plastikfresser, Bild der Wissenschaft, Nr. 6­2018[3] Die Weltmüllkippe schließt sich, Zeit online, 6.1.2018[4] Umweltbundesamt: Kunststoffabfälle, umweltbundesamt/de, 10.01.2017[5] Kunststoff in Zahlen, SWR, www/swr.de/odysso, 16.11.2017[6] Spiegel online, 19.3.2015: Was wurde eigentlich aus dem Dosenpfand? [7] Einweg gegen Mehrweg: Ärger um Wegwerf­Flaschen, Die Zeit, 13.6.2017[8] Der NABU­Mehrweg­Guide: Die wichtigsten Fragen und Antworten zu Mehrweg und Einweg, www.nabu.de, abgerufen: Mai 2018[9] Plastik oder Glas? Welche Flaschen sind umweltfreundlicher? www.br.de, 29.5.2013[10] Das Märchen vom umweltfreundlichen Getränkekarton, Deutsche Umwelthilfe, 24.11.2014[11] Süddeutsche Zeitung, 12.5.2017: Das Märchen vom Recy­cling[12] Spiegel Online, 25.8.2016: Umweltsünde Kaffee[13] Süddeutsche Zeitung, 21.10. 2016[14] EU­Recycling: Abfallwirtschaft ist noch längst keine Kreis­laufwirtschaft, www.eu­recycling.com, Abruf am 12.5.2018[15] Statistisches Bundesamt: Umwelt Abfallbilanz 2015, erschie­nen am 10.07.2017[17] Fasern in Form, VDI Nachrichten, 11.5.2018[18] Aus Müll wird Strom und Wärme, Süddeutsche Zeitung, 30.5.2018[19] Verpackungsgesetz­info.de: Die Informationsplattform für Hersteller und Vertreiber zum Verpackungsgesetz[20] Cocktail ohne Strohhalm, Süddeutsche Zeitung, 29.5.2018[21] WDR 3­Fernsehen: Der Haushaltscheck mit Yvonne Willicks, Sendung vom 9.11.2015

analysen. fakten. argumente.

institut für sozial-ökologische wirtschaftsforschung e.V.

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März 2018 / 48 S. / 4,50 Euro zzgl. Versandisw-report 112/113

Der Autor (Winfried Wolf) weist nach, dass dieElektromobilisierung des Autoverkehrs keinegeeignete Maßnahme ist, um die lebensbe-drohlichen Luftverunreinigungen und verkehrs-technisch bedingten Lebenseinschränkungen inden Städten zurückzudrängen. Im Grunde ge-nommen handelt es sich um den wiederkeh-renden Versuch, angebliche Möglichkeiten einerinneren Reform der Autogesellschaft aufzuzei-gen. Winfried Wolf votiert für eine sozial undökologisch verträgliche Wirtschaftsentwicklungderen Elemente Nachhaltigkeit, Klimaverträg-lichkeit, Umweltfreundlichkeit, Mobilität undStadtqualität von zentraler Bedeutung für einemenschengerechte Lebensweise sind.

Elektro-Pkw als Teil der Krise der aktuellenMobilität. Oder: Die Notwendigkeit einerumfassenden Verkehrswende

Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.

REPORT NR.

Winfried Wolf

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Schutzgebühr: 4,50Euro

Elektro-Pkw als Teil der Kriseder aktuellen Mobilität.

Oder: Die Notwendigkeit einerumfassenden Verkehrswende

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LeseempfehLung

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ElEktroautos – Ein tEil dEs ProblEmsAuf knapp 50 Seiten der vom ISW herausgegebe-nen Broschüre zeichnet Winfried Wolf in Elektro-PKW als Teil der Krise der aktuellen Mobilität die teils haarsträubenden Zustände in einer Branche, die von der interessierten bürgerlichen Öffent-lichkeit zur Zukunftstechnologie hoch gehypt wird. Außerdem skizziert Wolf die Alternative zu diesem Irrsinn.

�� Paul Michel

Es gibt eine dreifache Krise der der Automobilität, die sich immer weiter zuspitzt – so Winfried Wolf im ersten Kapi-tel seiner Schrift. Die deutliche Häufung von Starkregen, Orkanen und Taifunen wird nicht nur von Klimaforschern, sondern auch von Teilen der Bevölkerung als Ausdruck ei-ner sich beschleunigenden Klimaerwärmung gewertet. Au-ßer Zweifel steht, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Dabei spielt der Autoverkehr eine herausragende Rolle – und zwar nicht nur die schweren Diesel-PKWs mit ihrem überdurchschnittlich hohen Kraftstoffverbrauch. Mitver-antwortlich sind gerade auch die Benziner, bei denen in den letzten 15 Jahren die Diskrepanz zwischen offiziell genann-tem und tatsächlichem Spritverbrauch von 10 Prozent auf 40 Prozent angewachsen ist.

Infolge fortschreitender Automobilisierung wird das Leben in den Städten immer unerträglicher. Laut WHO sterben derzeit jährlich acht Millionen Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung. Besonders schlimm sind die Zustände in den Metropolen von Ländern des Südens wie Indien und China. Aber auch in deutschen Städten wie Stuttgart und München werden die WHO-Werte um das Sieben- bis Achtfache überschritten.

Verantwortlich dafür sind die Autokonzerne, die zudem geheime Absprachen getroffen haben, deren Inhalt es war, mittels einer Mogelsoftware sicherzustellen, dass bei den offiziellen Abgastests die Werte weit unter dem im Realbe-

Leseempfehlung

trieb ausgestoßenen Abgaswerten lagen. Seit der Aufdeckung dieses als „Dieselgate“ bekannt gewordenen Skandals im Jahr 2015 ist das Ansehen der Autokonzerne stark in den Keller gesunken. Die Position des Autos als das goldene Kalb der Nation ist zumindest angekratzt. Die Autokonzerne sind dringend darauf angewiesen, Ablenkungsmanöver zu fahren. Winfried Wolf zitiert hier den Umweltjournalisten Manfred Kriener: „Es ist kein Zufall, dass die Skandalmeldungen um manipulierte Motorentechnik und die neue Aufbruchsstim-mung hin zur Elektromobilität zusammenfallen.“

Das neue Zentrum der Autoindustrie: China

Nach einem kurzen Abriss der diversen Krisen der Auto-branche seit 1973 widmet sich Wolf dem Land, das er für das neue Zentrum der Branche hält. China ist nicht nur das neue Zentrum der Weltautobranche (Anteil an der Weltautoproduktion 2 017: 29,6 %). Es ist auch der mit Abstand größte Absatzmarkt für Elektro-Pkws (2017: 1 650 00 E-Pkws in China gegen über 60 000 in der BRD). Der chinesische Staat fördert seit ca. 10 Jahren auf verschiedene Arten den Verkauf von E-Pkws.

� Wer in China ein E-Auto erwirbt, bekommt sofort und gratis ein Nummernschild, also die sofortige Zulassung. Das ist in China wie ein Sechser im Lotto. Normalerweise werden die Nummernschilder verlost – und das kann dau-ern und kosten.

� Ein großer Teil der Elektrofahrzeuge wird von öffentli-chen Einrichtungen und Unternehmen gekauft.

Bis Sommer 2016 hatte die Regierung für die Durchset-zung ihrer Elektro-Pkw-Ziele mehr als vier Mrd. Euro an direkten Subventionen ausgegeben. Im Herbst 2016 verkündete das Pekinger Industrieministerium eine Quo-tenregelung, die ab 2018 in Kraft treten sollte. Damit waren mehrere internationale, darunter natürlich auch deutsche Autokonzerne überhaupt nicht einverstanden – worauf die deutsche Kanzlerin intervenierte und zumindest eine zeitliche Verzögerung des Inkrafttretens durchsetzte. Um was geht es? Alle auf dem chinesischen Markt vertretenen Autobauer werden verpflichtet, einen festen Anteil alter-

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LeseempfehLung

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nativer Antriebe bei Produktion und Verkauf einzuhalten. Wenn ein Hersteller die Elektroquote nicht erfüllen kann, muss er entweder „Kreditpunkte“ von anderen (in aller Regel chinesischen) Herstellern erwerben oder direkt an den chinesischen Staat Strafzahlungen leisten. In der Summe werden allein die deutschen Autokonzerne, die natürlich diese Quoten nicht einhalten, ab dem 1. Januar 2019 pro Jahr mehrere Milliarden Strafzahlungen zu zahlen haben. Im Kern bedeuten die Pläne der Volksrepublik China nichts anderes als eine ausgeklügelte Subvention der eigenen Autoindustrie auf Kosten ausländischer Mitbewer-ber. Mit dieser Offensive auf dem Feld der Elektromobilität geht es der chinesischen Staatsführung darum, bei den Elektroautos endlich das zu schaffen, was ihr bei den Autos mit Verbrennungsmotor trotz großer Anstrengung nicht gelungen war: die Schaffung eines „nationalen Champi-ons“, der auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig ist.

Winfried Wolf hält es für möglich, dass die chinesische Staatsführung in den nächsten Jahren jeden Import und jede Produktion von Pkws, die mit Benzin oder Diesel be-trieben werden, verbietet. Über die weltweiten politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen, die eine solche Maß-nahme auslösen wird, sagt Winfried Wolf nichts.

Es geht nicht um Umweltschutz

WW liefert im Weiteren eine kompakte, gut verständliche Zusammenfassung der wichtigsten Kritiken am Elektro-Auto. Wolfs Bilanz lautet: Der Wechsel des Antriebssystems löst die durch den Autoverkehr aufgeworfenen Proble-me nicht. Erstens ist die Ökobilanz von Elektro-PKWs fragwürdig, weil bei der Herstellung der Elektro-Autos doppelt so viel Produktionsenergie wie bei einem Auto mit Verbrennungsmotor erforderlich ist. Er verweist auf die Rohstoffproblematik der E-Auto-Batterien, die zahlrei-che Rohstoffe wie Lithium, Kobalt oder seltene Erden (z. B. Neodym-Oxid) enthalten, deren Gewinnung mit erheblicher Schädigung der Umwelt verbunden ist. Und schließlich nennt Wolf diverse „Rebound-Effekte“ im Zusammenhang mit dem Kauf von E-Autos, die absolut kontraproduktiv sind. In der gegenwärtigen Situation, so zeigt WW, kommt es dank Elektro-Auto zu einem Wachs-tum der Zweit- und Drittwagen sowie zu einer Zunahme der Pkw-Fahrten. Darüber hinaus tragen Elektroautos natürlich nicht dazu bei, die immanenten Probleme des Autoverkehrs zu lösen: die Verstopfung der Städte und die durch Unfälle verursachten menschlichen Leiden.

Mein persönliches Lieblingskapitel ist das fünfte, das mit „Die irrlichternde Tesla-Sage und die unsägliche

Musk-Ideologie“ überschrieben ist. Es ist voll von inte-ressanten Details über die marktschreierische, auf Bluff ausgelegte Unternehmenspolitik von Tesla. Obendrein erfährt man einiges über die Persönlichkeit des selbstdar-stellerischen Tesla Eigners Elon Musk, das einem beinahe die Schuhe auszieht. Am Ende des Kapitels stellt Wolf die Frage: Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn eine führende Wirtschaftszeitung den Hochstapler, Spekulan-ten, Abzocker und geistigen Dünnbrettbohrer Elon Musk zur „Persönlichkeit des Jahres“ erklärt?

Kapitel 6 ist insofern interessant, als man darin einiges über den chinesischen Autokonzern Geely erfährt, des-sen Einstieg bei Daimler kürzlich hierzulande für Aufre-gung gesorgt hat. Es ist nicht besonders überraschend, dass Winfried Wolfs Bilanz des Elektro-Autos negativ ausfällt. Es leistet keinen positiven Beitrag im Kampf gegen den Kli-mawandel – wie überhaupt die ganze Debatte um Elektro-Autos keine Debatte um weniger Umwelt- und Klima-belastung ist. Es geht damit allein und ausschließlich um Weltmarktkonkurrenz pur. In der aktuell konzipierten Form befördert das E-Auto die Tendenz zu noch größeren Pkws und trägt auch nicht zur Verbesserung der Lebensqualität in den Städten bei. Winfried Wolf hält es für eine grundsätzlich falsche Weichenstellung, weiter am Auto festzuhalten.

Empfehlung

Winfried Wolfs neue Schrift zeichnet sich durch thematische Breite und inhaltliche Tiefe aus. Er bietet der Leser*in eine große Fülle von anschaulichen Details. Der Text ist kurz-weilig und bisweilen fast unterhaltsam. Und er lässt einen auch nicht ratlos zurück. Kapitel 7 bietet jenen, die nach Auswegen aus der Sackgasse Autogesellschaft suchen, eine Orientierungshilfe: Wolfs Thesen zu einer umfassenden Verkehrswende von der Straße hin zu Schiene und Fahrrad, von privat zu öffentlich können von Aktivist*innen (und solchen, die es werden wollen) als eine Art Leitfaden zum Handeln genutzt werden. Und es gibt noch einen zusätzli-chen Anreiz zum Kauf dieser wirklich lesenswerten Schrift: die 4, 50 Euro sind ein Schnäppchenpreis.

Winfried Wolf: „elektro-pkw als Teil der Krise der aktuellen mobilität“. Isw Report nr. 112/113. preis:4,50 €erhältlich bei: isw- Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.Johann-von-Werth-str. 3 80639 münchenTel 089/1689419 e-mail: isw_muenchent-online.de Web: www.isw-muenchen.de

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200 Jahre Marx – wie in die KritiK der

politischen ÖKonoMie einführen?

Genau diesen Weg gehen die Kapital-Studium-Kurse, die seit einigen Jahren wieder Konjunktur haben. Aber ist dieser Weg zielführend? Wer ein Interesse am Verstehen unserer physikalischen bzw. biologischen Welt hat, würde keineswegs nach Newtons Hauptwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (lateinische Erstausgabe 1687) bzw. nach Darwins On the Origin of Species by Means of Natural Selection (Erstausgabe 1859) greifen, sondern nach einem Lehrbuch der Physik bzw. der Evolutionsbiologie. Gibt es gute Gründe dafür, dass beim Studium des Kapitalismus ein Vorgehen praktiziert und empfohlen wird, das in Bezug auf die physikalische bzw. die biologische Welt nur Kopfschütteln auslösen würde?

Die Argumentation der Befürworter des Kapital-Studiums1

Michael Heinrich z.B. beantwortet in Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung2 die Frage, warum man heute Das Kapital studieren soll, folgendermaßen:

„Offensichtlich kommt man auch heute nicht um das

Marx

Marxsche ‚Kapital‘ herum, will man sich grundsätzlich mit dem Kapitalismus auseinandersetzen.“3 „Im ‚Kapital‘ werden zentrale Teile eines Basiswissens bereitgestellt, das für eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen notwendig ist.“4

Nun tauchen beim Kapital-Studium bekanntlich schnell Verständnisprobleme auf. So heißt es etwa bei Heinrich: „Beginnt man das ‚Kapital‘ zu lesen, stößt man auf einige Schwierigkeiten. Gerade am Anfang ist der Text nicht immer ganz einfach zu verstehen. Abschreckend dürfte auch der Umfang der drei Bände wirken.“5

Zur Lösung des Verständnisproblems, an dem das Studium des Kapital nicht selten scheitert, bietet nicht nur Heinrich Lesehilfen an. Diese Lesehilfen sollen dazu beitragen, die Schwierigkeiten des Kapital-Studiums zu überwinden. Sie sollen aber keineswegs das Studium des Kapital im Original ersetzen. Heinrich über seine Lese-hilfen Wie das Marxsche ‚Kapital’ lesen?: „Der Kommentar dient nicht dazu, sich einen schnellen Überblick über den Anfang des ‚Kapital‘ zu verschaffen, er ist vielmehr

Seit einiger Zeit wächst die Kritik am Kapitalismus und das Interesse, seine Funktionsweise möglichst gut zu verstehen, um ihn überwinden zu können. Da ist es naheliegend, nicht auf irgendwelche Sekundärquellen, sondern auf das ‚Original‘ der Kapitalismus-Kritik, auf Marx’ Kapital, zurückzugreifen.

�� Johann-Friedrich Anders

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ein Arbeitsbuch, d.h. es soll mit ihm und dem ‚Kapital‘ gearbeitet werden.“6

Warum das systematische Kapital-Studium nicht zielführend ist

1. Es ist nicht notwendigHeinrich u. a. setzen die Kenntnis der Kapitalismus-Theorie gleich mit der Kenntnis des Kapital. Zweifellos ist die Kenntnis der im Kapital entwickelten Kapitalismus-Theorie nötig, um den Kapitalismus zu verstehen; jedoch keineswegs die Kenntnis des Werkes, in dem diese Theo-rie in ihren Grundzügen erstmals entwickelt wurde. Das wusste schon der ‚Arbeiterphilosoph‘ Joseph Dietzgen, der 1869 in seinem Buch Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. Dargestellt von einem Handwerker. Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft schrieb:

„Was die Wissenschaft der Vergangenheit Positives produzierte, lebt nicht mehr im Buchstaben seines Autors, sondern ist mehr als Geist, ist Fleisch und Blut geworden in der gegenwärtigen Wissenschaft. Um z.B. die Produkte der Physik zu kennen und dazu Neues zu produzieren, ist es nicht erforderlich, erst die Geschichte dieser Wissen-schaft zu studieren und die bisher entdeckten Gesetze an der Quelle zu schöpfen. Im Gegenteil, die geschichtliche Forschung dürfte der Lösung einer bestimmten physischen Aufgabe nur hinderlich sein, indem die konzentrierte Kraft notwendig mehr leistet als die geteilte.“7

Wer nach der physikalischen Erklärung der Welt sucht, der greift nach einem aktuellen Lehrbuch der Physik und nicht nach Newtons Principia. Und einfach nur befremd-lich wäre die Empfehlung von Büchern mit Titeln wie: „Wie Newtons Principia mathematica lesen? Leseanleitung und Kommentar zu den Principia“8. Selbst eine so klare und verständliche – und insofern klassische – Darstellung wie die von Darwin in On the Origin of Species by Means of Natural Selection von 1859 ist, wie sich von selbst versteht, keine systematische Darstellung des aktuellen Stands der Darwin’schen Theorie9.

2. Lesehilfen lösen das Verständnisproblem nichtHeinrich empfiehlt zum Studium die drei von Engels herausgegebenen Bände des Kapital (die MEW-Bände 23–25) als „eine lesbare Ausgabe …, die auch heute noch einen ersten Einstieg ermöglicht.“10 Und welche Texte von Marx wären als Fortsetzung dieses „ersten Einstieg(s)“ zu studieren? Die Kapital-Bände der zweiten historisch-kri-tischen MEGA-Ausgabe, also die 15 Bände in 23 Teilbän-

den? Aber auch dann hätte man noch fast nichts von der Marx’schen Staatstheorie zur Kenntnis genommen, ohne die aber das Marx-Verständnis sehr unvollständig bleibt, wie Heinrich erklärte: „Im ‚Kapital‘ finden sich lediglich vereinzelte Bemerkungen zum Staat. Kapitalkritik ist aber ohne Staatskritik nicht nur unvollständig, sie lädt zu Miss-verständnissen geradezu ein.“11

Und wie viele Bände Lesehilfen wären erforderlich, um auch nur die drei Bände des Kapital (in der MEW-Ausgabe 955, 559 und 1007 Seiten) einigermaßen zu verstehen? Reichte der eine Band Lesehilfe von Altvater, der allerdings nur den Band I des Kapital behandelt? Oder die zwei Bände Lesehilfen von Haug (198 und 270 Seiten)? Oder die (bis-her) zwei Bände von Heinrich Wie das Marxsche „Kapital“ lesen? Leseanleitung und Kommentar zum Anfang des „Kapi-tal“, die allerdings nur die ersten 5 Kapitel der 25 Kapitel des ersten Bandes des Kapital behandeln?

Derartige Vorschläge erleichtern den Einstieg in die po-litische Ökonomie nicht; im Gegenteil, sie erschweren ihn. Wer die Lese-Empfehlung von Heinrich ernst nähme und zu befolgen suchte, würde angesichts gelegentlich großer Verständnisprobleme und angesichts der überwältigenden Fülle an Marx-Manuskripten das angestrebte Ziel, ein hin-reichendes Kapitalismus-Verständnis, nicht erreichen. Er/sie dürfte immer wieder steckenbleiben und angesichts der Länge des noch vor ihm/ihr liegenden Wegs irgendwann endgültig aufgeben.

3. Was kein Kapital-Studium leistet: die Analyse der Gegenwart Eine weitere Kritik am Kapital-Studium bringen die Kapital-Studium-Befürworter wie Heinrich indirekt selbst vor: „(M)an darf die analytische Reichweite des ‚Kapital‘ […] nicht überschätzen.“12 Denn: „Die Marxsche Argu-mentation ist auf einer sehr abstrakten Ebene angesiedelt“. „Was Marx darstellen will, ist […] die kapitalistische Produktionsweise ‚in ihrem idealen Durchschnitt‘ (MEW 25, S. 839). Es geht ihm um das, was den Kapitalismus zum Kapitalismus macht.“13 Das Marx’sche Kapital „kann daher keine bereits erschöpfende Analyse des jeweils interessie-renden historischen Kapitalismus sein, die lediglich durch ein paar aktuelle Daten zu ergänzen wäre. Um die Ent-wicklungstendenzen des gegenwärtigen Kapitalismus zu verstehen, ist noch weit mehr an Analyse nötig(,) als man im ‚Kapital‘ findet.“14

Offenkundig ist also selbst für Kapital-Studium-Verfech-ter das Kapital-Studium nicht ausreichend für das Ziel, zu dem sie unternommen wird – für das Verstehen des gegen-

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wärtigen Kapitalismus, das anscheinend von allen Kapital-Studium-Kursen immer wieder neu geleistet werden muss.

Angesichts der dargestellten Schwierigkeiten stellt sich die Frage, ob nicht die Lektüre eines aktuellen marxistischen Lehrbuchs eine sinnvolle Alternative zum Kapital-Studium wäre. Könnten Lehrbücher nicht die zwei Probleme jedes Kapital-Studiums lösen: die Verständnisschwierigkeiten beim Studium des Marx’schen Originals und das Fehlen einer Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus?

Marxistische Lehrbücher15 – eine Alternative zum Kapital-Studium?

1. Heinrichs prinzipielle Kritik an LehrbüchernVerfechtern des Kapital-Studiums zufolge ist das Studium eines Lehrbuchs der marxistischen politischen Ökonomie kein gangbarer Weg, keine Lösung der mit dem Kapital-Studium verbundenen Probleme.

Heinrich z.B. nennt zwei Gründe, warum eine Lehr-buch-Darstellung der Marx’schen Theorie ungeeignet sei: „Jede derartige Zusammenfassung ist mit ihren Beto-nungen und Auslassungen von den Einschätzungen des jeweiligen Autors geprägt. Zu einem eigenen Urteil über das Originalwerk kann man nur aufgrund eigener Lektüre kommen. Darüber hinaus kann aber auch die beste Ein-führung nur Resultate benennen. Die Begründungen dieser Resultate können nur angedeutet werden.“16

� Unvermeidlich ist jede Wiedergabe eines Werks sub-jektiv. Das muss aber keineswegs ein Nachteil sein. Ganz im Gegenteil: Sie kann verständlicher sein als das Original; denn sie steht nicht mehr vor der schwierigen Doppel-Auf-gabe, neue Ideen zu entwickeln und sie klar und verständ-lich darzustellen. Sie ist nur noch mit dem Darstellungspro-blem befasst.

� Ist das Ziel der Lektüre wirklich, wie Heinrich for-muliert, ein „eigenes Urteil“ über das Marx’sche Kapital? Nicht das Verstehen der im Marx’schen Kapital erstmals in ihren Grundzügen entwickelten Theorie?

� Warum schließlich sollten „Begründungen von Resul-taten“ in Lehrbüchern nur „angedeutet“ werden können? Warum sollten in einem Lehrbuch ausführliche Begrün-dungen da, wo sie für das Verständnis nötig sind, nicht möglich sein?

2. Sind Popularisierungen unvermeidlich eine Verfälschung?Es gibt verschiedene kurzgefasste, einfache Darlegungen der Marx’schen Theorie, die Marx bzw. Engels verfasst haben17. Zwei dieser von Marx geschriebenen populären

Darlegungen seiner ökonomischen Theorie – Lohnarbeit und Kapital (1847) und Lohn, Preis und Profit (1865) – hat Heinrich kritisiert:

„… auch einfachere ‚ökonomische‘ Texte von Marx, wie ‚Lohnarbeit und Kapital‘ oder ‚Lohn, Preis, Profit‘, sind als Vorbereitung auf das ‚Kapital‘ nicht geeignet. Die erste Schrift beruht auf Vorträgen, die lange vor dem ‚Ka-pital‘ verfasst wurden, und die daher noch nicht auf dessen Erkenntnisstand argumentieren. Die zweite Schrift bein-haltet einen Vortrag, den Marx niederschrieb, während er bereits am ‚Kapital‘ arbeitete, den er aber nur sehr wider-willig verfasste, weil er wusste, dass er zu einer Reihe von problematischen Vereinfachungen gezwungen war. Statt sich zuerst mit solchen unzureichenden Darstellungen zu beschäftigen, sollte man besser ohne Umwege gleich mit dem ‚Kapital‘ beginnen.“18

Zweifellos hatte Marx 1847 noch nicht den Erkennt-nisstand, den er mit dem Kapital erreichte, als er die 1849 unter dem Titel Lohnarbeit und Kapital19 veröffentlichten Vorträge 1847 im Brüsseler deutschen Arbeiterverein über die Fragen hielt: Was ist der Arbeitslohn? Wie wird er bestimmt? und: Wodurch wird der Preis einer Ware bestimmt? Und auch 1849 noch nicht, als er diese Vor-träge veröffentlichte. Aber bekanntlich liegt diese Schrift in einer Ausgabe von 1891 vor, in der Engels den Begriff „Arbeit“ durch „Arbeitskraft“ ersetzt hat20. Damit hatte Engels den Text auf Marx’ späteren Erkenntnisstand ge-bracht.

Heinrichs weitere Behauptung, dass Marx seinen Vortrag Lohn, Preis und Profit von 1865 „nur sehr wider-willig verfasste“, und zwar, „weil er wusste, dass er zu einer Reihe von problematischen Vereinfachungen gezwungen war“, dürfte mit Marx’ eigenen Aussagen kaum in Ein-klang zu bringen sein:

Am 20. Mai 1865 wurden im Zentralrat der I. Interna-tionale die von dem Mitglied des Zentralrats John Weston vorgebrachten ökonomischen Behauptungen diskutiert, dass eine Erhöhung der Löhne nutzlos sei und die Gewerk-schaften schädlich seien. Marx beteiligte sich an dieser Dis-kussion. Vor der Diskussion im Zentralrat schrieb Marx an Engels: Es ist „nicht leicht, alle die ökonomischen Fragen, die dabei konkurrieren, Ignoranten auseinanderzusetzen. You can’t compress a course of Political Economy into 1 hour. But we shall do our best. …”21

Marx arbeitete dann einen Vortrag zu den strittigen Fragen aus, den er in englischer Sprache am 20. und 27. Juni 1865 vor dem Zentralrat hielt. Über diesen Vortrag schrieb Marx am 24. Juni 1865 an Engels: „… Ich habe in

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dem Central Council ein paper gelesen (was vielleicht zwei Bogen im Druck machen würde) über die von Mr. Weston eingebrachte Frage, wie a general rise of wages etc. wirken würde. Der erste Teil davon Antwort auf Westons Blöd-sinn; der zweite a theoretical Auseinandersetzung, soweit Gelegenheit passend dazu. … das Ding enthält im zweiten Teil, in außerordentlich gedrängter, but relatively popular form, viel Neues, das aus meinem Buch vorweggenom-men ist, während es zugleich doch notwendigerweise über allerlei wegschlüpfen muß. …“22

Sicherlich hätte Marx, wie von Heinrich für erfor-derlich gehalten, die von ihm behandelte Problematik differenzierter darstellen können. Aber wäre das ange-bracht gewesen? Marx’ Vorträge waren, wie mir scheint, problem- und adressatenadäquate Popularisierungen und sicherlich keine Verfälschung der originalen Theorie23.

Heinrichs prinzipielle Kritik an Lehrbüchern, sie seien vereinfachende, verkürzte, unvollständige, selektive, kurz: popularisierende Darstellungen, ist seltsam. Lehrbücher werden, wenn nötig, kritisiert, weil sie schlecht gemacht, schwer verständlich, fehlerhaft, lückenhaft sind oder neue Erkenntnisse nicht berücksichtigen24. Solche Kritik sagt aber nichts gegen den grundsätzlichen Wert von Lehr-büchern; sie ist (vielmehr) eine Aufforderung zu ihrer Verbesserung. Dass Popularisierungen unvermeidlich eine Verfälschung seien, das scheint mir nicht mehr als ein Akademiker-Vorurteil zu sein.

Wann ein Studium des Marx’schen Originals angebracht wäre

Voraussetzung für das Verfassen eines Lehrbuchs ist das Vorliegen einer (mehr oder weniger) entfalteten Theorie, zumindest eines Theorie-Konzepts (oder wie es inzwi-schen gern heißt: eines Paradigmas), mit dem sich mit Aussicht auf bedeutsame Ergebnisse arbeiten lässt.

Das gibt es zweifelsfrei etwa bei Newton oder bei Dar-win: die (klassische) Physik bzw. die Evolutionsbiologie. Aber bei Marx? Gibt es mehr als bloß das Werk von Marx? Gibt es marxistisches Lehrbuchwissen? Gibt es einen zur systematischen Theorie ausgebauten und modifizierten Marx, also Marxismus? Gibt es, mit anderen Worten, kri-tische, emanzipatorische Sozialwissenschaft?

� Von Gegnern des Marxismus wird bestritten, dass es eine sachlich vertretbare (eine erfolgreiche, eine bisher haltbare) Theorie, den Marxismus, gibt.

Diese Position ist kein großes theoretisches Problem. Schon Thomas Hobbes wusste25: Menschen „widersetzen sich der Vernunft, wenn es ihre Interessen erfordern …

Wäre der Satz: Die drei Winkel eines Dreiecks sind gleich den zwei rechten Winkeln eines Quadrats dem Herrschafts-recht irgendeines Menschen oder den Interessen derer, die Herrschaft innehaben, zuwidergelaufen, so zweifle ich nicht daran, daß diese Lehre wenn nicht bestritten, so doch durch Verbrennung aller Lehrbücher der Geometrie unterdrückt worden wäre, soweit die Betroffenen dazu in der Lage gewesen wären.“

� Andere – meist Marx-Anhänger – argumentieren, es gebe nicht den Marxismus26, sondern (mehrere) Marxismen.

Diese Behauptung ist wenig überzeugend. So viele Gruppierungen mit voneinander abweichenden Marxis-mus-Versionen es auch gibt, so ist doch kaum ernsthaft zu bestreiten, dass all diese Versionen Gemeinsamkeiten aufweisen, die den Begriff der Marxismus (im Singular) sinnvoll erscheinen lassen. (Kein Mensch bestreitet etwa, dass das Christentum aus verschiedenen Konfessionen und unzähligen Sekten mit voneinander abweichenden Glaubenslehren besteht; doch hindert das niemanden, den Begriff das Christentum zu benutzen, um das Gemeinsa-me, etwa gegenüber anderen Religionen, zu betonen.)

Gleichwohl: Unbestreitbar ist, dass es verschiedene Versionen marxistischer Theorie gibt. Und sollte man angesichts dieser Situation nicht doch auf den originalen Marx zurückgreifen, um herauszubekommen, welche der verschiedenen Ausformungen die authentische marxisti-sche Theorie ist?

Dagegen spricht, dass es doch wohl darum geht – je-denfalls gehen sollte –, die marxistische Theorie zu einem möglichst hilfreichen Werkzeug der Emanzipation zu machen. Und dafür ist es belanglos, wieweit sie originaler Marx ist. (Auch wenn es sicherlich ein propagandistischer Vorteil wäre, wenn man erklären könnte und die Anderen zustimmen müssten, die eigene Theorie-Version sei die authentische Marx’sche Theorie. Was aber illusorisch ist. Der Streit um diese Frage dürfte zu keiner Klärung, son-dern nur zu endlosen, ergebnislosen Debatten führen.)

� Wieder Andere – ebenfalls meist Marx-Anhänger – erklären, alle Marxisten hätten bisher Marx falsch verstan-den27. Oder sie kritisieren den bisherigen Marxismus als „Weltanschauung“28 oder als „Arbeiterbewegungsmarxis-mus“29. Und der Fortschritt liege gerade in der Auflösung dieses als Weltanschauung oder als Arbeiterbewegungs-marxismus missverstandenen Marxismus, er liege in der Umwandlung vermeintlicher marxistischer Erkenntnisse in – offene – Probleme. So kann man etwa lesen: „Der neuen Marx-Aneignung ist zu verdanken, dass mit Marx keine Weltanschauung mehr möglich ist. Es ist nicht mehr

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möglich, aus der Kritik der politischen Ökonomie eine wissenschaftliche oder gar revolutionäre Theorie zu ma-chen, im Gegenteil, die Neue Marx-Aneignung hat eher ein Problembewusstsein als einen irgendwie ‚positiven‘, wissenschaftlich gesicherten Bestand geschaffen, und zwar ein Bewusstsein sowohl was die Probleme einer radikalen Kritik des Kapitalismus als auch was dessen bloße Darstel-lung angeht.“30

Ist diese (keineswegs erstmals behauptete31) Auflösung des Marxismus, wenn sie denn tatsächlich der Fall sein sollte – wirklich wünschenswert? Ist sie wirklich „intel-lektuell befreiend“32, wie Frieder Otto Wolf sie ohne jede Begründung preist?

All diese (behaupteten) „Auflösungen“ sprechen dem Marx’schen Werk ab, heute noch gültige, brauchbare Ein-sichten gewonnen zu haben. Marx würde damit allenfalls zugestanden, ein großer Denker gewesen zu sein. Das würde bedeuten, dass man ihn nicht mit Newton und Darwin in eine Reihe zu stellen hätte, sondern mit Platon, Descartes oder Kant (oder anderen großen Philosophen).

Marx wäre sozusagen zu einem bedeutenden Philoso-phen degradiert, zu einem Schöpfer einer Weltsicht und -kritik, die eine Zeitlang zwar viele Menschen geteilt haben, die aber keine haltbare Theorie ist. Marx wäre (bloß) Philosoph, den zu lesen, neu zu lesen und neu zu interpretieren vielleicht immer wieder lohnt. Bei einer solchen Betrachtungsweise, die negiert, dass die Marx’sche Theorie der politischen Ökonomie die Grundlegung einer kritischen, emanzipatorischen Sozialwissenschaft, genannt Marxismus, ist, wäre in der Tat die Lektüre der Marx’schen Originaltexte angebracht.

Widerlegen lässt sich so eine „philosophische“ Sicht von Marx’ Werk theoretisch kaum. Nur praktisch: durch die systematische Darlegung der marxistischen kritischen Theorie, so haltbar und so aktuell wie möglich.

Ein anderer Grund für ein Studium des Marx’schen Originalwerks wäre, wenn Das Kapital ohne Folgen geblieben wäre, wenn es nicht zur systematischen Theorie ausgebaut und modifiziert worden wäre, mit der gearbeitet werden kann und gearbeitet wurde und wird. Wenn es also nur Marx’sche Theoreme gäbe, aber keinen Marxismu S. (Genauso wie man die Hauptwerke von Newton und Darwin studieren müsste, wenn es keine auf ihnen aufbau-ende, sie systematisierende und erweiternde Physik bzw. Evolutionsbiologie gäbe.)

Heinrich u.a. behandeln Marx wie einen Newton ohne auf ihn folgende Physik, wie einen Darwin ohne auf ihn folgende Evolutionsbiologie. Heinrich u.a. zufolge müssen

die Leser von Marx’ Hauptwerk die aufs Kapital aufbauen-de Sozialwissenschaft erst selber liefern – im Anschluss an ihr Studium des Marx’schen Hauptwerk S. Eine mehr als herkulische Arbeit, eine kaum von den Lesern zu erbrin-gende Leistung, die da erwartet wird.

Anforderungen an marxistische Lehrbücher

Die Aufgabe von marxistischen Lehrbüchern ist es, eine systematische Darstellung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes des Marxismus zu geben: die grundle-genden Fragestellungen, die Grundbegriffe, die wesent-lichen Ergebnisse (zu denen auch die Verarbeitung der Erfahrungen der Zeit nach Marx und Engels gehört) und schließlich die offenen strittigen Fragen. Also all das, was Marx und Engels und ihre Nachfolger zu einer emanzi-patorischen Theorie des Kapitalismus und des Sozialismus beigetragen haben.

Was nicht Aufgabe eines marxistischen Lehrbuchs ist, ist die Darstellung der Gedankenentwicklung der „Klas-siker“ Marx und Engels usw. (Genauso wie ein Lehrbuch der Physik oder der Entwicklungsbiologie kein Buch über Newton oder über Darwin ist.) Was marxistische Lehrbü-cher wie alle Lehrbücher darüber hinaus leisten sollten: Sie sollten klar und allgemeinverständlich geschrieben sein.

1. Zur Kritik dogmatischer LehrbücherDie meisten marxistischen Lehrbücher sind dogmatische Lehrbücher. Dogmen sind Aussagen, die als wahr ange-sehen werden (müssen) und die nicht bezweifelt werden (dürfen). Es ist nicht der Inhalt oder die Form, wodurch sie sich von wissenschaftlichen Theoremen unterscheiden, sondern das Verbot, sie infrage zu stellen.

Geschichtlich einflussreich wurde die Dogmatisie-rung des Marxismus, die von der Führung der UdSSR praktiziert wurde. So erklärte die stalinistische politische Führung z.B.

� Theorien für unbezweifelbar wahr (etwa die Agrar-Theorien von T. D. Lyssenko),

� Strategien bzw. Taktiken für unbezweifelbar richtig (etwa die Bekämpfung der SPD in der Weimarer Republik als „de(n) gemäßigte(n) Flügel des Faschismus“ (Stalin)33 durch die KPD von 1924 bis 1935),

� Sachverhalte für unbezweifelbar existent bzw. nicht-existent (etwa, dass bestimmte Menschen historisch nicht existieren bzw. nicht existiert haben, dass sie zu Unperso-nen gemacht worden sind34).

Der Vorgang der Dogmatisierung wird deutlich, wenn Stalin 1931 etwa erfolgreich kritisiert, dass geschichtliche

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Tatbestände, die er bereits interpretiert hat, weiterhin zur Diskussion gestellt werden. Stalin: Man dürfe nicht ein „Axiom zu einem Problem […] machen, das der ‚weite-ren Bearbeitung‘ bedürfe.“35 Wohlgemerkt: Es war seine eigene Interpretation, die Stalin hier als ‚Axiom‘ bezeich-nete. Und so war es nur noch erlaubt – so formulierte es Wolfgang Harich –, „Kommentare und popularisierende Exegesen dessen zu liefern, was in den Schriften dieses ei-nen Mannes – bzw. in den Werken von Marx, Engels und Lenin – zu lesen steht.“36

a) Zur Dogmatisierung des Marxismus als Mar-xismus-LeninismusDas Produkt dieser Dogmatisierungen war der Marxis-mus-Leninismus: eine dem Anspruch nach all(es)umfas-sende Theorie, die beanspruchte, im Besitz der Wahrheit zu sein. Und für Jeden im Machtbereich des Marxismus-Leninismus waren dessen Dogmen verbindlich.

Das entscheidende Strukturmerkmal dieses Marxis-mus-Leninismus war, dass die jeweilige Führung die Instanz war, die autoritativ festlegte, was der Fall ist und was nicht. Sie hatte das Deutungsmonopol. Sie – und nur sie – hatte das Recht, „den Schatz der ewigen Wahrheiten verbindlich zu interpretieren, durch neue zu vermehren oder eine bis dahin als unwiderleglich geltende Wahrheit außer Verkehr zu setzen.“37

Interpretationen, die nicht von der jeweiligen Führung stammten oder nicht von ihr legitimiert wurden, waren „Abweichungen“ von der Wahrheit, waren „Revisionis-mus“. Und Revisionismus war immer und ausschließlich im Interesse des Klassenfeindes – ein weiteres Dogma.

Solch eine Dogmatisierung des Marxismus zu einem System von unbezweifelbar wahren Grundsätzen, von Axiomen, wurde zwar bestritten – so beendete etwa Stalin eine Diskussion über Sprachwissenschaft mit den Worten: „Der Marxismus ist ein Feind jeglichen Dog-matismus.“38 Doch solche Beteuerungen zeigten nur, wie Henri Lefèbvre formulierte, das Bestehen eines „Ultradogmatismus“, „der imstande ist, seinen eigenen Dogmatismus zu leugnen, um ihn besser durchsetzen zu können, indem er rituelle ‚Diskussionen‘ ohne wirkliche Tragweite organisiert. In dem Maße, wie die aufgewor-fenen Probleme real sind, gestattet die ‚Diskussion‘ nur eine im voraus festgelegte und präfabrizierte Lösung.“39 Stalin „spottete über jene, die ihn in jeder Zeile zitie-ren, während man ihn in jeder Zeile zitieren mußte, um auch nur den bescheidensten Artikel veröffentlichen zu können.“40

Das Dogma, das nicht bezweifelt werden durfte, war übrigens nicht die Gesamtheit der Texte von Marx usw. Auch wenn die stalinistische Führung offiziell den gesamten Marx für „die Wahrheit“ erklärte, so wählte sie faktisch durchaus au S. So ist z.B. Marx’ Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhundert S. Über den asiatischen Ursprung der russischen Despotie, geschrieben 1856/57, in der mehr als 40-bändigen Marx-Engels-Werke-Ausgabe, der MEW, nicht enthalten. Und z. B. Lenins Brief an den Parteitag (vom Dezember 1922) wurde in der Sowjetunion erstmals 1956 veröffentlicht41. Und wie die zum Dogma erklärten Texte zu interpretieren waren, auch das legte die Führung fest.

Dadurch, dass die politische Führung sich zur letzten Instanz und zum Schiedsrichter in allen Fragen machte, sorgte sie dafür, dass keines ihrer Dogmen für ihre eigene Politik zum Hindernis werden konnte; durch ‚schöpfe-rische Weiterentwicklung‘ konnte sie dem Marxismus-Leninismus jeweils den Inhalt geben, den sie für politisch erforderlich hielt.

b) Ein Beispiel eines dogmatischen Lehrbuchs1974 erschien das Lehrbuch Politische Ökonomie des Kapi-talismus und des Sozialismus: Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium42. Es erschien 1988 in einer „vollständig überarbeiteten Auflage“; die letzte, die 15. Auflage erschien 1989. In dieser 15. Auflage heißt es im letzten Kapitel, das die Überschrift hat: „Perspektiven des ökonomischen Wettstreits zwischen Sozialismus und Kapitalismus“:

„Der Sozialismus existiert als objektive Realität vor allem in Gestalt der sozialistischen Staatengemeinschaft, deren weltweiter Einfluß durch die Erschließung und umfassende volkswirtschaftliche Nutzung von qualitativen Wachstumsfaktoren weiter zunehmen wird. Der Sozialis-mus hat in diesen Ländern ein für allemal gesiegt…

Die weitere Freilegung der dem Sozialismus immanen-ten sozialen Triebkräfte für die ökonomische Entwicklung gibt die Gewähr für den endgültigen und vollständigen Sieg des Sozialismus im ökonomischen Wettstreit mit dem Kapitalismus.“43 usw. Vier Seiten später endet dies Lehr-buch mit einem Zitat aus einer Parteitagsrede von Erich Honecker.

Hier zeigt sich klassisch, zu welcher Realitätsblindheit parteihörige Dogmengläubigkeit von Forschern führen kann.

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2. Nicht-dogmatische marxistische LehrbücherEs gibt, soweit ich sehe, nur wenige nicht-dogmatische marxistische Lehrbücher der marxistischen politischen Ökonomie. Dazu gehören

� der von Iring Fetscher herausgegebene Band Grundbe-griffe des Marxismu S. Eine lexikalische Einführung44,

� Harald Grzegorzewski Die marxistische Wirtschafts- und Staatstheorie. Eine umfassende Gesamtdarstellung auf dem Hintergrund der Entwicklung und der Realität des Kapitalismus in Deutschland45,

� das fünfbändige Werk von Stephan Krüger: Kritik der Politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse46

� und die drei Werke von Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie47 und: Einführung in die marxistische Wirt-schaftstheorie48 und: Einführung in den Marxismus49.50

Die genannten marxistischen Lehrbücher haben verschiedene Mängel. So sind Fetscher und Grzegorzew-ski thematisch etwas beschränkt: Bei Fetscher findet sich nichts über die Wirtschaftsordnung der Sowjetunion. Grzegorzewskis Analyse ist begrenzt auf die Analyse der BRD. Krügers Kritik der Politischen Ökonomie und Kapita-lismusanalyse ist zwar ein aktuelles marxistisches Lehrbuch der politischen Ökonomie, aber es ist schwierig zu lesen und verlangt umfangreiche Vorkenntnisse. Mandels Mar-xistische Wirtschaftstheorie hingegen ist thematisch umfas-send und ist verständlich geschrieben. Allerdings ist es vor inzwischen 50 Jahren (1968) erschienen51.

a) Ernest Mandel Marxistische Wirtschaftstheorie – ein geeignetes Lehrbuch der marxistischen politischen Ökonomie?In der 1960 geschriebenen Einführung zur Marxistischen Wirtschaftstheorie kritisiert Mandel die Marx-Anhänger: „Seit beinahe 50 Jahren begnügen sie sich damit, die Lehre von Marx in Zusammenfassungen des Kapitals zu wieder-holen, die mehr und mehr den Kontakt mit der heutigen Wirklichkeit verlieren.“52 Nach Mandels Ansicht sind „Ausführungen, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts damit begnügen, mehr oder weniger getreue Zusammen-fassungen des im vergangenen Jahrhundert geschriebenen Kapitals zu geben, gerade vom marxistischen Standpunkt aus völlig unzureichend“53.

Mandel unternahm deshalb mit seinem Buch den Ver-such, „für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu leis-ten, was Marx für das 19. geleistet hat“54, also nicht eine Darstellung der Marx’schen Theorie, die (unvermeidlich) an der Wirtschaft und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts orientiert ist, sondern eine systematische Analyse, die

hauptsächlich den Kapitalismus des 20. Jahrhunderts sowie die Sowjetunion und die anderen nicht-kapitalistischen Gesellschaften zum Inhalt hat – also eine systematische Analyse der (damaligen) Gegenwart, auf Marx fußend, doch über ihn hinausgehend: ihn ausbauend, erweiternd, systematisierend, kurz: eine marxistische Analyse.

Hierbei verzichtete Mandel auf das übliche Zitieren der ‚Klassiker‘: „Dem Leser, der nach vielen Zitaten von Marx und Engels oder ihren bedeutendsten Schülern sucht, sei … eine Warnung erteilt. Er wird dieses Buch enttäuscht wieder schließen. Im Gegensatz zu allen anderen Autoren marxistischer ökonomischer Schriften haben wir uns – mit wenigen Ausnahmen – strikt enthalten, ‚heilige‘ Texte zu zitieren oder auszulegen. Wir stützen uns vielmehr auf die namhaftesten Wirtschaftstheoretiker, Wirtschafts-historiker, Ethnologen, Anthropologen, Soziologen und Psychologen unseres Zeitalters, soweit sie Erscheinungen der wirtschaftlichen Aktivität menschlicher Gesellschaft in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft beurteilen.“55

Mandel sah in seiner Marxistischen Wirtschaftstheorie nicht mehr als einen ersten, verbesserungsbedürftigen Versuch: „Wir haben weder die sprachlichen Fähigkeiten noch die nötigen historischen Kenntnisse, um ein solches Unterfangen erfolgreich beenden zu können. Aber es ist deswegen nicht weniger dringend. … Unsere Arbeit bleibt daher ein Versuch, ein Entwurf, der auf zahlreiche Berich-tigungen gefaßt ist.“

Mandel verstand seinen verbesserungsbedürftigen Versuch von 1962 sehr optimistisch als „eine Aufforderung an die junge marxistische Generation in Tokio und Lima, in London und Bombay und – warum nicht – in Moskau, New York, Peking und Paris … durch gemeinsame Arbeit das zu vollbringen, was durch individuelle Arbeit offen-sichtlich nicht vollbracht werden kann.“56

b) Rezensionen zu Mandels Lehrbuch-Versuch57

Wie wurde dieser Versuch einer systematischen und aktu-ellen Darstellung der marxistischen Wirtschaftstheorie bei ihrem Erscheinen aufgenommen? Zu Mandels Marxisti-scher Wirtschaftstheorie liegen drei deutschsprachige Rezen-sionen vor, deren Kritik hilfreich ist zur Beantwortung der Frage: Ist Mandels Buch ein verbesserungswürdiger oder ein grundsätzlich verfehlter Versuch eines Lehrbuchs der marxistischen Wirtschaftstheorie? (Dass er als ein erster Versuch unvermeidlich mehr oder minder fehlerhaft und also verbesserungsbedürftig sein dürfte, das sollte eine Selbstverständlichkeit sein.)

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1. Wolfgang Müller Marxistische Wirtschaftstheorie und Fetischcharakter der Ware. Kritische Bemerkungen zum Hauptwerk Ernest Mandels58

Müller nennt Mandels Werk ein „imposantes Werk“59 und lobt dessen „umfassenden inhaltlichen Reichtum“60. Müller erklärt weiter, dass Mandel neue historische Tatsa-chen, die Marx nicht bekannt waren, für seine Darstellung nutzt, und fährt dann fort:

Es „muß das grundsätzlich andere Verfahren auffallen, das Marx … angewendet hat. … In der literargeschicht-lich vorliegenden Selbstverständigung der bürgerlichen Gesellschaft, der politischen Ökonomie seit dem 17. Jahr-hundert, näherte sich Marx seinem ‚Stoff‘, den er nach der Aneignung im Detail in der komplementären Einheit von dialektisch-logischer und historischer Ableitung ‚darstellte‘. … Erst beide Darstellungsformen zusammen ergeben die vollständige dialektisch-materialistische Analyse. Mandel dagegen beschreibt bloß die ‚historische Genesis‘.“61 Trotz dieser Kritik bezweifelt Müller nicht, dass Mandels Werk die Eignung zu einem Lehrbuch hat – nach einigen die Argumentation vertiefenden Verbesserungen.2. Autorenkollektiv62 „Marxistische Wirtschaftstheo-rie“ – ein Lehrbuch der Politischen Ökonomie?63

Auch diese Autoren stellen bei Mandel „eine Differenz zur Marx’schen Vorgehensweise“64 fest. Und diesen Unter-schied kritisieren sie: Damit gehe „Mandel im Gegensatz zu Marx“65 vor. Im Unterschied zu Müller ist das Ergebnis dieser Rezensenten negativ: „Mandels ‚Marxistische Wirt-schaftstheorie‘ ist als Lehrbuch der politischen Ökonomie nicht geeignet“66. 3. Karl-Heinz Roth Ernest Mandel – ein Vertreter der zeitgenössischen Kritik der politischen Ökonomie67

Roth zufolge ist in Mandels Buch „(d)ie Methode der Kritik der politischen Ökonomie im Sammelsurium ‚heutiger Wissenschaften‘ untergegangen, statt daß sich Mandel die Informationsmassen der heutigen Wissenschaften aneig-nete, um auf dieser breiten stofflichen Grundlage mittels der Methode die Kritik der politischen Ökonomie, die marxistische Wirtschaftstheorie(,) voranzutreiben.“68

Ein Beispiel dafür, was Mandel laut Roth nicht leistet, übersieht bzw. falsch macht: „Er ist nicht fähig, die jeweili-gen historischen Wertformen, die innerhalb des Tausch-aktes entstehen, auf den Begriff zu bringen. Ihm bleibt somit verborgen, wie der Gebrauchswert – und damit auch das ‚gesellschaftliche Mehrprodukt‘ als Bestandteil des Gebrauchswerts – überhaupt zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts, zu werden vermag. Folglich kann er auch nicht die sich zur allgemeinen Warenproduktion

schrittweise entwickelnde Produktionsweise als in sich widersprüchlichen und historisch entfaltenden Prozeß erfassen. Der Versuch, diesen inneren widersprüchlichen Prozeß historisch herzuleiten, scheitert, weil Mandel der hierzu sehr wohl erforderlichen Methode der Kritik der politischen Ökonomie nicht mächtig ist.“69 „So scheitert Mandel notwendigerweise auch bei der Analyse des ge-genwärtigen Kapitalismus.“70

Für Roth ist Mandels Marxistische Wirtschaftstheorie ein völlig verfehltes Buch. Ihm ist unerklärlich, warum Mandel „sich bis heute nicht von seiner ‚Marxistischen Wirtschaftstheorie‘ losgesagt“71 hat.

c) Zur Analyse der Rezensionen1. Der Kritik-Maßstab der RezensentenDer Maßstab der Kritik, die die Rezensenten üben, ist die Marx’sche Vorgehensweise, wie sie sie verstehen. Die Rezensenten behandeln ihre Interpretation von Marx wie ein Dogma: Wer die Marx’sche Theorie nicht genauso versteht wie sie, der verfehlt unvermeidlich nicht nur die Marx’sche Theorie, sondern auch die Wahrheit. Sie halten das Vorgehen von Marx für alternativlos, als allein der Sa-che angemessen. Jede Abweichung davon wird als Irrweg kritisiert. Sie unterlassen es zu prüfen, ob Einsichten, die Marx hatte und die bei Mandel (angeblich) fehlen, nicht auch mit Mandels Vorgehensweise erlangbar sein können und ob gelegentliche Abweichungen von Marx vielleicht gut begründet und damit gut marxistisch sind.

Zwar dürfte kaum stimmen, was Paul Feyerabend provokativ behauptete: Anything goes (Mach, was du willst)72. Sicherlich führen nicht alle Wege nach Rom; vielleicht aber doch mehr als nur einer?

2. Negative Bewertung alternativer Vorgehens-weisenDie von den Rezensenten festgestellte „Differenz zur Marx’schen Vorgehensweise“ bedeutet für sie, dass Mandel sich „im Gegensatz zu Marx“ befindet. Die Mandel’sche „Differenz zur Marx’schen Vorgehensweise“, beweise Mandels „Unfähigkeit“73 zu marxistischer Theorie-Produktion. Die Abweichungen Mandels von Marx’ Vorgehensweise und Begrifflichkeit würden dazu führen, dass Mandel nicht erkenne und nicht erkennen könne, was Marx erkennen konnte und erkannte.

Hier drei Beispiele für von den Rezensenten gerügte Abweichungen Mandels von Marx:

� Müller merkt zum Begriff „Wertgesetz“ bei Mandel kritisch an: „Gerade bei diesem Begriff ist die terminologi-

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sche Festlegung bei Marx selbst nicht festzustellen (wenn er überhaupt von Gesetz spricht, so vom Gesetz der Ware(n), des Wertes, des Warenaustauschs, dem Arbeitswertgesetz usw.); darin ist angedeutet, daß sein Interesse nicht so sehr den quantitativen Beziehungen, der Größe des Werts, als seiner besonderen Form gilt.“74

Mir scheint: Nach dieser Logik dürfte man bei Marx und Engels nicht von einer Analyse des Kapitalismus spre-chen. Denn der Begriff „Kapitalismus“ kommt in ihrem umfangreichen Werk (laut den Sachregistern der Kapi-tal-Bände der MEW) nicht vor. Nur einmal benutzt Marx demnach überhaupt den Begriff „Kapitalismus“, und zwar in einem Interview in der Tribune vom 18. Dezember 187875.

� Das Autorenkollektiv wirft Mandel zentral vor, dass er Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie identifizie-re, und sie belegen ihre Kritik folgendermaßen:

„…versucht Mandel einen Überblick sowohl über die universelle Wirtschaftsgeschichte als auch über die mar-xistische Wirtschaftstheorie zu geben, d.h. beide Aufgaben sind ihm eine, denn nach seiner Auffassung ist es gerade die ‚dynamische Verbindung von Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie‘, auf der ‚die große Überlegenheit der Marxschen Methode im Vergleich mit anderen ökono-mischen Schulen beruht‘.“76

Nun ist eine „dynamische Verbindung“ zweifellos etwas anderes als eine „unmittelbare Identität“, und so ist diese Kritik: „d. h. beide Aufgaben sind ihm eine“ schlicht unzutreffend.

� Roth kritisiert u. a., dass für Mandel die Produktions-weise der Sowjetunion keine kapitalistische Produktions-weise ist: „Mandel übersieht, daß seine ‚nichtkapitalistische Produktionsweise‘ eine Produktionsweise ist, die bis heute auf staatlicher Aneignung und Planung des gesellschaftli-chen Gesamtproduktionsprozesses beruht.“77

Diese Kritik von Roth legt die Frage nahe, was Roth unter „Kapitalismus“ versteht. An dieser Stelle jedenfalls offenkundig nichts, was dem Marxschen Kapitalismus-Begriff auch nur entfernt ähnlich ist. Denn für Marx und Engels ist eine Wirtschaft, die „auf staatlicher Aneignung und Planung des gesellschaftlichen Gesamtproduktions-prozesses beruht“, zweifellos keine kapitalistische Wirt-schaft, für die bekanntlich die Abwesenheit von gesamt-wirtschaftlicher Planung charakteristisch ist.

3. Können Abweichungen von Marx (gut) mar-xistisch sein?Haben aber die Mandel-Kritiker nicht insoweit Recht, als Abweichungen von Marx, selbst wenn sie sachlich ge-

rechtfertigt sein sollten, ein Beweis dafür sind, dass es sich um kein marxistisches Werk handelt? Um als marxistisch charakterisiert werden zu können, muss eine Theorie sicherlich die wesentlichen Einsichten von Marx und seine emanzipatorischen Ziele, zu deren Verwirklichung seine Theorie-Arbeit eine Hilfe sein soll, bewahren. Das kann aber nicht heißen, dass eine marxistische Theorie jedes einzelne Marx’sche Theorem, jede einzelne Vorgehens-weise, jedes Ergebnis und jede Hypothese von Marx über-nehmen müsste – im Gegenteil: Marxistische Theorie ist der systematische Ausbau, die Erweiterung der Marx’schen Theoreme – bei Beibehaltung der emanzipatorischen Intentionen. Aber welche Abweichungen sind marxistisch zulässig?

� Die Revision von Ergebnissen scheint mir zulässig bzw. geboten, wenn diese sich nach aktuellem Wissensstand als unhaltbar herausstellen.

� Die Revision von Methoden, mit denen Marx zu seinen Ergebnissen gelangt ist, sollte man ebenfalls nicht prinzipiell für unzulässig halten. Denn es ist, wie gesagt, nicht auszuschließen, dass mehr als nur ein Weg nach Rom führt. Und vielleicht gibt es sogar kürzere oder bequemere Wege als die von Marx gewählten.

Dieser banalen Erkenntnis scheinen sich allerdings die meisten (heutigen) Marxisten zu verschließen, da sie die Marx’schen Methoden für die allein zum Ziel führen-den Methoden halten – ungeachtet der Tatsache, dass bis heute keine Klarheit und Einigkeit darüber erzielt werden konnte, wie Marx denn tatsächlich vorgegangen ist. Ohne diese tatsächliche Unklarheit wäre das Entstehen einer Neuen Marx-Lektüre völlig unverständlich, die über 100 Jahre nach Marx und Engels endlich herausfinden will, was Marx denn tatsächlich herausgefunden hat und wie er dabei vorgegangen ist – was alle Marxisten bis dahin nicht verstanden hätten.

� Was schließlich die Revision von Begründungen der von Marx praktizierten Vorgehensweisen betrifft, ist zu bedenken, dass diese Begründungen zeitgebunden sein könnten und geleitet von zeitverhafteten Argumenten für bzw. gegen Zeitgenossen – vor dem Hintergrund der damaligen Philosophie (Hegel usw.) und der damaligen Wissenschaftsphilosophie (der klassischen politischen Ökonomie). D.h.: Auch die Marx’schen Begründungen sollten revidierbar sein.

Schluss

Was wäre vermutlich passiert, wenn man seinerzeit mit Newton und Darwin so umgegangen wäre, wie man mit

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Marx umgeht? Irgendwann hätten die Newton- bzw. die Darwin-Leser vermutlich herausgefunden, dass z. B. die beiden Wissenschaftler jeweils in die zweite Auflage ihres Hauptwerks Gott78 eingeführt haben. Das hätte ihnen klar und eindeutig gezeigt, dass das Hauptwerk von Newton für die Physiker und das Hauptwerk von Darwin für die Evolutionsbiologen bis heute „ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist“79. Und das hätte die Newton- und die Dar-win-Leser sicherlich zu weitreichenden und tiefsinnigen Untersuchungen genötigt – zu einer Neuen-Newton-Lek-türe bzw. zu einer Neuen-Darwin-Lektüre. Mit dem Ziel, Newton bzw. Darwin erstmals richtig – authentisch – zu interpretieren. Allerdings: Die Physik und die Evolutions-biologie gäbe es dann bis heute vermutlich nicht.

Die Wirkungsgeschichte von Newton ist bekannt-lich die (klassische) Physik, die Wirkungsgeschichte von Darwin die (evolutionstheoretische) Biologie. Und die Wirkungsgeschichte von Marx ist die Marxismus ge-nannte Gesellschaftstheorie. Und so wie heute niemand systematisch Newtons Hauptwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) bzw. Darwins Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection (1859) studiert, sondern Physik oder Biologie, wenn er sich über die Wirklichkeit orientieren will, so sollte man nicht weiterhin das Marx’sche Hauptwerk Das Kapital (1867) zu verstehen versuchen, sondern den Marxismus studieren, soweit er emanzipatorische Gesellschaftstheorie ist. Und dazu braucht man ein gutes Lehrbuch der Kritik der politi-schen Ökonomie.

1 Ich beschränke mich im Folgenden auf die Wiedergabe der Argumente, die Michael Heinrich vorgebracht hat. Ganz ähn-liche Argumente finden sich bei Elmar Altvater und Wolfgang Fritz Haug.2 2., durchgesehene und erweiterte Auflage Stuttgart 20043 Ebd., S. 84 Heinrich: Wie das Marxsche „Kapital“ lesen? Teil I, S. 205 Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, S. 86 Heinrich …, Teil I, S. 317 Zitiert nach: Joseph Dietzgen: Schriften in drei Bänden. Berlin 1961, Bd. 1, S. 17/88 Soweit ich sehe, gibt es solche Lesehilfen auch nicht.9 Siehe z.B. Ulrich Kutschera in: Charles Darwin: Die Entste-hung der Arten. Kommentierte und illustrierte Ausgabe. Hg.: Paul Wrede u. Saskia Wrede. Weinheim 2013, S. VI/VII: „Die we-sentlichen Aussagen von Darwin wurden durch die moderne Evolutionsforschung … in vollem Umfang bestätigt. Allerdings sind zahlreiche neue Fakten, Prinzipien und Theorien hinzu-gekommen, von denen Darwin nichts wissen konnte … Unser stetig wachsendes ‚Theoriensystem Evolutionsbiologie‘ hat sich

daher so weit von den ursprünglichen Thesen aus dem 19. Jahr-hundert entfernt, dass Charles Darwin heute keine Prüfung im Fachgebiet der Evolutionswissenschaften bestehen könnte.“10 Heinrich in: Bonefeld/Heinrich 2011, S. 168. Kursivierung nicht bei Heinrich.11 Heinrich in: Kritik …, S. 1012 Heinrich in: … Teil I, S. 1813 Heinrich in: … Teil I, S. 1714 Heinrich in: … Teil I, S. 18/1915 Als „Lehrbücher“ betrachte ich auch all die „Einführun-gen“, die beanspruchen, den jeweils aktuellen Wissensstand darzustellen und die Lektüre des Originals unnötig zu machen. Ein Beispiel dafür ist etwa Ernest Mandels Einführung in den Marxismus (8. Auflage 2008), die zweifellos ein Lehrbuch des Marxismus ist.16 Heinrich … Teil I, S. 1917 - Marx: Lohnarbeit und Kapital (1847 im Brüsseler Deutschen Arbeiterverein gehaltene Vorträge, 1849 niedergeschrieben), mit einer Einleitung von Engels (1891)- Engels: Grundsätze des Kommunismus (1847)- Marx und Engels: Manifest der kommunistischen Partei (1848), in dem Marx und Engels kurz und umfassend die „Anschau-ungsweise, Zwecke und Tendenzen der Kommunisten“ (MEW Bd. 4, S. 461) darlegen.- Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses (um 1863/64 geschrieben, 1933 erstmals veröffentlicht), eine Zu-sammenfassung des ersten Bands des Kapital durch Marx selbst- Marx: Lohn, Preis und Profit (1865 geschrieben; 1898 erstmals veröffentlicht)- Engels: Anti-Dühring (1876 bis 1878 geschrieben, 1878 erste Buchveröffentlichung), das Kapitel 10 des zweiten Abschnitts über Politische Ökonomie stammt von Marx- Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wis-senschaft (1880), mit einer „Vorbemerkung“ von Marx, in der er diese Broschüre als „Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus“ (MEW Bd. 19, S. 185) bezeichnet.18 Heinrich … Teil I, S. 22/2319 MEW Bd. 6, S. 397-42320 Engels rechtfertigte seine Textänderung ausführlich in seiner Einleitung zu der Marx’schen Schrift. Siehe MEW Bd. 6, S. 593-599.21 MEW Bd. 31, S. 12322 MEW Bd. 31, S. 12523 Siehe hierzu meinen Aufsatz: Was spricht eigentlich gegen eine Popularisierung der Marxschen Werttheorie?. In: Karl Reitter (Hg.): Karl Marx. Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals? Zur Kritik der „Neuen Marx-Lektüre“, Wien 2015, S. 234-250, sowie meinen Aufsatz: Die Neue Marx-Lektüre – Anspruch und Wirklichkeit. In: Z. Zeitschrift marxistische Erneue-rung Nr. 111, 201724 Heinrich zeigt übrigens von keinem Lehrbuch, dass es vereinfache, verkürze, unvollständig bzw. selektiv sei. Seiner Lehrbuch-Kritik liegt keine Untersuchung auch nur eines einzigen Lehrbuchs zugrunde.25 In: Leviathan, Neuwied 1966, S. 79/8026 Siehe z.B. Heinrich, der als eines seiner Ziele seiner Einfüh-

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rung in die Kritik der politischen Ökonomie nennt: Es „sollte deutlich werden, dass es ‚den‘ Marxismus gar nicht gibt.“ ( S. 9)27 So die Neue Marx-Lektüre; siehe z.B. Ingo Elbe: Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin, zuerst 200828 So z. B. Michael Heinrich. Siehe etwa in seiner Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung S. 2329 So z.B. Robert Kurz. Siehe etwa in seinem Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert. 2000. S. 730 Frank Engster in: Frank Engster und Jan Hoff: Die Neue Marx-Lektüre im internationalen Kontext. Philosophische Gespräche 28. Helle Panke e.V. Berlin 2012, S. 3831 Siehe z. B. George Sorel: Die Auflösung des Marxismu S. (1978) Erstmals 1908 erschienen.32 F.O. Wolf: Das Kapital neu lesen. In: Widerspruch. Heft 62, Zürich 2013, S. 155-164, S. 15933 Stalin: Werke, Band 6, S. 25334 Dazu gibt es einen umfangreichen Bildband von David King, der in der neuesten deutschen Fassung den Titel hat: Die Kommissare verschwinden: die Fälschung von Fotografien und Kunstwerken in Stalins Sowjetunion. Berlin 201535 Stalin: Fragen des Leninismus, 1970, S. 42636 Wolfgang Harich: Hemmnisse des schöpferischen Marxismu S. in: Sonntag, 15. April 1956, S. 4, zitiert nach: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), Heft 5, S. 75237 Lukács: Schriften zur Ideologie und Politik. 1967, S. 65438 Stalin: Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft, 1968, S. 6639 Henri Lefèbvre: Probleme des Marxismus, heute, 1965, S. 3540 Ebd., S. 3141 Lenin: Werke Bd. 36, S. 577ff.42 Herausgeber: Horst Richter, zusammen mit 7 weiteren Herausgebern und 17 Autoren43 Ebd., S. 902/344 Hamburg 197645 Frankfurt/Main 198846 Band 1: Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation ..., 2010, 1021 Seiten; Band 2: Politische Ökonomie des Geldes …, 2012, 616 Seiten; Band 3: Wirtschaftspolitik und Sozialismus …, 2016, 567 Seiten; Band 4: Keynes und Marx …, 2012, 416 Sei-ten; Band 5: Soziale Ungleichheit …, 2017, 708 Seiten.47 Frankfurt/Main 1968; Neuauflage 2007 im isp-Verlag48 Frankfurt/Main, auf Deutsch zuerst 1967; die französische Originalausgabe erschien 1964 in Paris49 Frankfurt/Main. Auf Deutsch zuerst 1973, 2008 in der 8. Auflage; auf Französisch zuerst Brüssel 197550 Michael Heinrichs Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung (zweite erweiterte Auflage Stuttgart 2004) gehört nicht zu dieser Gruppe, da diese Einführung nur eine interpre-tierende Lesehilfe für die drei Bände des Marx’schen Kapital und keine systematische Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie ist. Heinrich ebd. S. 9: „Trotz all(er) … Schwie-rigkeiten sollte man die Lektüre des ‚Kapital‘ auf sich nehmen. Die folgende Einführung kann diese Lektüre nicht ersetzen; sie soll lediglich eine erste Orientierung bieten.“ Und: In dieser

Einführung geht es – so Heinrich – „nur um den groben Zu-sammenhang der Marx’schen Argumentation, allerdings unter Berücksichtigung von allen drei Bänden des ‚Kapital‘.“ Über die drei Bände hinaus geht sie nur mit den beiden Schlusskapi-teln zum Thema: „Staat und Kapital“ und: „Kommunismus – Gesellschaft jenseits von Ware, Geld und Staat“. Insoweit ist der Titel der amerikanischen Ausgabe zutreffender: Introduction to the Three Volumes of Karl Marx’s Capital New York. 201251 Es erschien erstmals 1962 auf Französisch.52 Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie …, S. 1453 Ebd., S. 1554 Ebd., S. 1455 Ebd., S. 1656 Ebd., S. 2057 Ich stelle die drei Rezensionen im Folgenden nicht detail-liert dar, sondern beschränke mich, weil für meinen Zweck ausreichend, auf eine knappe Darstellung, die nur den jeweils wesentlichen Kritikpunkt der drei Rezensionen darstellt.58 In: Neue Kritik – Zeitschrift für sozialistische Theorie und Poli-tik. Nr. 51/52, Februar 1969, S. 69-8659 Ebd., S. 7060 Ebd., S. 8561 Ebd., S. 76/7762 Das Autorenkollektiv bestand aus: Veit-Michael Bader, Joachim Bischoff, Heiner Ganssmann, Werner Goldschmidt, Burkhard Hoffmann, Lothar Riehn.63 In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissen-schaften. Nr. 57, 1971, S. 217-22764 Ebd., S. 21765 Ebd., S. 21966 Ebd., S. 22767 In: Proletarische Front. Gruppe westdeutscher Kommunisten. 1. Jahrgang. Nr. 2/3, Juli 1971, S. 55-72.68 Ebd., S. 5869 Ebd., S. 6170 Ebd., S. 6771 Ebd., S. 5872 Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizzen einer anarchistischen Erkenntnistheorie, 1976, S. 3573 Z. B. das Autorenkollektiv …, S. 22174 Müller …, S. 7275 MEW Bd. 34, S. 51276 Autorenkollektiv …, S. 21677 Roth …, S. 6978 Siehe zu Newton etwa Voltaire: Elemente der Philosophie Newtons (1741), das Kapitel 1 des ersten Teils: Über Gott. Berlin 1997, S. 91-95. Und siehe zu Darwin etwa Ulrich Kutschera, S. VII in: Charles Darwin: Die Entstehung der Arten. Kommentierte und illustrier-te Ausgabe. Hg.: Paul Wrede u. Saskia Wrede. Weinheim 2013.79 So Ingo Elbe über das Kapital-Verständnis der Marxisten. In: Elbe: Marx im Westen …, zweite Auflage 2010, S. 283

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BUCHBESPRECHUNG

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Legitimer ProtestPlädoyer für einen kulturellen und akademischen Boykott Israels von Eyal Sivan/Armelle Laborie Promedia Verlag, Wien 2018, 184 Seiten, 17.90 €

�� Hermann Dierkes

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln zu der palästinensischen zivilgesellschaftlichen Kampagne BDS auch im deutschen Sprachraum. Das aktu-elle Buch von Eyal Sivan und Armelle Laborie, „Legitimer Protest“, zunächst 2016 in Frankreich erschienen, widmet sich einem wichtigen Zweig von BDS, der Kampagne PACBI (Akademischer und kultureller Boykott Israels), die noch weniger bekannt ist. PACBI war 2004 der Starter für die ein Jahr später aus der palästinensischen Zivilgesell-schaft hervorgegangenen und breiter angelegten Kam-pagne BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen). BDS hat inzwischen, quasi als Sammelbegriff für beide Kampagnen, einen großen internationalen Bekanntheits-grad gewonnen – nicht zuletzt durch die Gegner der hinter diesen Kürzeln stehenden Ideen und Aktionen. Das Buch über PACBI liegt nun auch auf Deutsch vor.

Zahlreiche Akademiker unterstützen inzwischen den Boykott israelischer Universitäten und Institutionen, obwohl sie damit oftmals Stellung und Karriere riskieren. Es geht darum, die Beziehungen zu diesen abzubrechen, wenn und solange diese die Besatzung von Palästinenser-gebiet, Landraub und Unterdrückung schönreden, ver-schweigen oder praktisch durch militärische F&E-Aufträge unterstützen. Ähnlich ist das Herangehen von PACBI an die Kulturszene. Alle Aktivitäten/Auftritte, die von staatlichen Geldern gefördert werden, bei denen Kultur-schaffende sich vertraglich gegenüber offiziellen Instanzen binden müssen, als „Botschafter Israels“ aufzutreten oder die – soweit es sich um internationale Künstler handelt – zur sog. „Normalisierung (von Besatzung, Unterdrü-ckung und Apartheid) beitragen sollen, sollen boykottiert werden. Weltbekannte Künstler sagen inzwischen Auf-tritte in Israel ab, wie zuletzt Gilberto Gil und Shakira, nachdem sie angesichts des letzten Gaza-Massakers von

BUCHBESPRE-CHUNG

der PACBI-Kampagne und zahlreichen Menschen dazu aufgefordert worden war. Hunderte Filmschaffende (so auf dem Filmfestival in Cannes) prangern die Unterdrückung der Palästinenser und die undemokratische, ausgren-zende Kulturpolitik in Israel selbst an. Anfang Juni griff Roger Waters (Ex-Pink-Floyd) auf seinen ausgebuchten Konzerten in Berlin die in der Bundesrepublik laufenden Versuche an, die BDS-Kampagne gegen Israel im Namen des „Kampfes gegen Antisemitismus“ zu verunglimpfen und zu bekämpfen. Waters, dem 2017 die Übertragung einer Konzertaufzeichnung von deutschen Sendern wegen seines angeblichen Antisemitismus verweigert worden war, nahm sich den unlängst von der Bundesregierung ernann-ten Antisemitismus-Beauftragten Klein vor. Der Kampf gegen Antisemitismus, so Waters, sei wichtig und unter-stützenswert. Er dürfe sich aber nicht gegen die berech-tigten Forderungen der Palästinenser und die Erklärung der Menschenrechte von 1948 richten. Roger Waters unterstützt seit Jahren engagiert und couragiert die Soli-daritätsbewegung mit Palästina, namentlich die BDS-Bewegung, die sich ausdrücklich an den Kampf gegen Apartheid-Südafrika anlehnt. Soeben hat die argenti-nische Fußball-Nationalmannschaft ein Freundschafts-spiel mit Israel abgesagt, nachdem die Palästinenser und Menschen aus aller Welt dies gefordert hatten aus Protest gegen die brutale Verletzung, die israelische Scharf-schützen einem hoffnungsvollen Nachwuchs-Fußballer aus Gaza im Rahmen des Massakers gegen unbewaffnet Protestierende zugefügt hatten.

BDS/PACBI wirken

BDS/PACBI bereiten der rechtslastigen israelischen Regierung erhebliches Kopfzerbrechen. Nachdem BDS zunächst heruntergespielt wurde, ja sogar von Netanjahu selbst für tot erklärt worden war, sieht sich das Kabinett inzwischen veranlasst, Dutzende Millionen Euro in die Entwicklung von Gegenstrategien zu stecken, massiv die Botschaften einzuspannen, ein bezahltes und freiwilliges Bekämpfungsnetzwerk aus angeblichen „Freunden Israels“ (die sog. Hasbara) bis hin zu evangelikalen, faschistoiden und offen antisemitischen Kreisen zu stricken, das Regie-rungen, Parlamente, Institutionen und Medien weltweit auf die Regierungslinie Israels bringen soll.

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Fühlbar sind inzwischen wirtschaftliche Auswirkungen und empfindliche „Prestige-Verluste“. Mit den letzten Be-schlüssen der Merkel-Regierung und der so gut wie ein-stimmigen Positionierung des Bundestags gegen BDS muss leider festgestellt werden, dass die Propaganda-Offensive der israelischen Regierung und ihrer Lobby auf offizieller Ebene Erfolge erzielt hat, obwohl es die Mehrheit der Bevölkerung anders sieht. Je offener die repressive Kolonial- und Apart-heidpolitik-Politik Israels zutage tritt und auch in der breiten Öffentlichkeit so wahrgenommen wird, umso unverschäm-ter hält die deutsche Mainstream-Politik die Hand darüber, beschwört Freundschaft und „gemeinsame Werte“. Dutzende Veranstaltungen, die sich kritisch mit der israelischen Politik auseinandersetzen wollten, wurden inzwischen massiv behin-dert, Ratsbeschlüsse wie in München und Frankfurt grenzen Kritiker im Namen des „Kampfes gegen Antisemitismus“ aus – unter ihnen reihenweise jüdische bzw. israelische! Was nur beweist, dass es sich um eine politische Auseinandersetzung handelt und nicht um „Rassismus/Antisemitismus“.

Es geht längst um mehr

Damit ist aber auch klar, dass die Bedeutung von BDS längst über die Frage Israel/Palästina hinausgewachsen ist, wie die Autoren zu Recht feststellen. Es geht nicht mehr allein darum, sich mit den geschundenen Palästinensern zu solida-risieren, sondern in der Tat um die Verteidigung von De-mokratie und Völkerrecht. Nicht nur gegen den israelischen Kolonialismus, sondern auch gegen die Trump, Macron, May, Merkel, Nahles, Scholz, Söder und Co., die nicht nur umfangreiche Waffengeschäfte und Handel von „Sicherheits-technologie“ zwischen Israel und ihren jeweiligen Ländern absegnen, sondern auch die an den Palästinensern erprobten Repressionsmethoden schleichend bis galoppierend über-nehmen (die Runderneuerung von Landespolizeigesetzen lässt grüssen!). Sie verraten – wieder einmal - die eigenen „Verfassungswerte“ – aus Verantwortung vor der Geschichte versteht sich ...

Umso wichtiger ist es, dass über die Ziele, Mittel und Methoden von PACBI und BDS immer wieder wahrheitsge-mäß aufgeklärt wird (im Anhang zum Buch sind die Aufrufe für PACBI und BDS sowie die Leitlinien zu ihrer Umset-zung von PACBI dokumentiert). Umso wichtiger ist es, einer breiteren Öffentlichkeit die Ziele, Mittel und Methoden des israelischen Macht- und Propaganda-Apparats aufzudecken.

Eine politische Kriminalgeschichte

Das Buch von Sivan/Laborie leistet dazu einen hervorra-genden Beitrag. E. Sivan ist israelischer Regisseur und lebt

in Frankreich. A. Laborie ist eine französische Filmpro-duzentin. Kenntnisreich, detailliert, gut strukturiert und engagiert für die Sache der Palästinenser und der demokra-tischen Rechte und „ohne Angst vor Königsthron“ (BDS-Unterstützung kann in Israel inzwischen zivilrechtlich verfolgt werden, soll auch strafrechtlich relevant werden und gilt als „Verrat“. In Frankreich wurden in den letzten Jahren mehrmals BDS-Unterstützer verurteilt) sprechen die beiden Autoren Klartext. Streckenweise liest sich das Buch nicht nur wie ein Krimi – es ist eine politische Krimi-nalgeschichte! Gestützt auf eine Fülle von Fakten, Beweisen und Zitaten analysieren die Autoren die Gegenstrategien des israelischen Macht- und Propaganda-Apparats.

So zitieren Sivan/Laborie aus dem (kulturpolitischen) Arbeitsprogramm der israelischen Regierung für das Jahr 2011. Danach gehören zu den Hauptzielen des Außenmi-nisteriums: „Die Delegitimierung bremsen; israelfreundli-che Aktivisten im Internet mobilisieren; den Schwerpunkt auf den Auftrag israelischer KünstlerInnen im Ausland, insbesondere an Design-Ausstellungen und Messen in Eu-ropa, legen und Schauspiele mit israelischer Kultur produ-zieren, die sich an ausländische Universitäten richten, um dem liberalen Publikum die kulturelle Vielfalt und geistige Offenheit Israels zu zeigen“.

Besser, so die Autoren, ließe sich die Bedeutung der Kultur in der israelischen Auslandspropaganda nicht be-schreiben. Das alles hat allerdings mit legitimer Werbung für Staat und Gesellschaft nichts zu tun, es handelt sich um planvolle Aktivitäten zur Rechtfertigung, Vertuschung und Verewigung von kolonialer Herrschaft.

Gegenstrategien und Maßnahmen

Gestützt auf akademische Ausarbeitungen, loyale Wissen-schaftler, Geheimdienste und Marketing-Strategen zielen diese Maßnahmen bewusst darauf ab, die koloniale und repressive Realität in Israel und den geraubten Gebieten „weißzuwaschen“, der internationalen Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen und schwerwiegende Eingriffen in die demokratischen Strukturen anderer Länder zu orga-nisieren. Die Besatzung und Annexion werden gerecht-fertigt, die inneren – sozialen und kulturellen - Wider-sprüche des Landes werden verkleistert, Israel wird ein sympathisches „Nation Branding“ (z.B. mit der liberalen LGBT-Szene in Tel Aviv) verpasst; kulturelle Aktivitäten und entsprechende internationale Auftritte werden gezielt im Interesse des Staates eingesetzt, ausgewählte Autoren, Kultur- und Filmschaffende (in aller Regel privilegierte jüdische und keine arabischen Israelis), die sich mal ein

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kritisches Wort gegenüber der Besatzung erlauben, aber die grundlegenden zionistischen Staatsdogmen niemals in-frage stellen, werden international platziert, um damit die „lebendige Demokratie Israels“ zu beweisen; die Berufung auf grundlegende demokratische und Freiheitsrechte wird systematisch untergraben, ihre Unterstützer verleumdet, um ihre berufliche Existenz gebracht; kritische Politiker (prominentestes Beispiel: Labour-Vorsitzender Jeremy Corbyn) sollen aus dem Weg geräumt werden. All dies tue man, um die „Zerstörung Israels“ zu verhindern. Dagegen zitieren die Autoren den Mitbegründer von PACBI und BDS, Omar Barghouti: „Wenn Freiheit, Gerechtigkeit und gleiche Rechte für alle die Zerstörung Israels bedeuten, was sagt das über Israel aus?“

Sivan/Laborie behandeln auch eine Reihe von Ein-wänden gegen PACBI/BDS und widerlegen diese. So richtet sich PACBI/BDS eindeutig nicht gegen Individu-en, gegen ihre Herkunft, ihre Religion oder ihre politi-schen Einstellungen. Die Zusammenarbeit mit Gegnern der offiziellen israelischen Politik ist im Gegenteil aus-drücklich erwünscht.

Kolonialismus hat auf Dauer keine Chance

Eins dürfte nach der Lektüre dieses verdienstvollen Buchs klar werden: Die brutale Wirklichkeit eines Apart-heid- und Besatzerstaats kann auf Dauer auch nicht mit wechselnden Strategien des Verleugnens, der Manipula-

tion, Sympathie-Werbung und immer neuen Verschöne-rungsbegriffen vertuscht werden. Die dahinter stehende Angst, dass – wie bei Südafrika - Entwicklungen eintreten können, die irgendwann einmal ganz schnell die „Firewall gegen die Delegitimierung“ Israels zum Einsturz brin-gen, ist mit Händen zu greifen. Natürlich geht es nicht um Israel an sich oder den jüdischen Teil der israelischen Bevölkerung. Es geht um die Aufgabe des zionistischen Staatsdogmas und seiner – dem Völkerrecht hohnspre-chenden – kolonialen und Apartheid-Praxis. Es geht da-rum, für beide Völker – Israelis und Palästinenser – einen Weg in eine friedliche und gerechte Zukunft zu bahnen. Jedes neue Massaker an den um ihre Existenz und Zukunft kämpfenden Palästinensern, jede Verhaftung und Vertei-lung von Jugendlichen wie der tapferen Ahed Tamimi, jeder weitere Abbau von demokratischen Rechten in Israel selbst stellt die letzte Kolonialmacht der Erde bloß, wie den Märchenkaiser mit seinen angeblich „neuen“ Kleidern. Dem Buch ist weite Verbreitung und politische Wirksam-keit zu wünschen.

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Donald Trumps Ankündigung am 8. Mai, sich aus dem gemeinsamen Nuklearabkommen mit dem Iran zurückzuziehen, kam nicht überraschend. Offen ist jedoch, welche Gefahren davon nicht nur für den Iran, sondern auch für den Nahen Osten und die gesamte Welt ausgehen werden.

�� Frieda Afary

Für den Iran bedeutet dies erdrückende Sanktionen und direkten oder ständigen unterschwelligen Krieg seitens Israels und Saudi-Arabiens mit Unterstützung der USA. Für den Nahen Osten bedeutet dies weitere Zerstörung und Gerangel zwischen den Imperialisten in der Region. Für die Welt bedeutet dies eine weitere Spaltung zwischen den USA und der Europäischen Union und einen weiteren globalen imperialistischen Wettbewerb.

Trump und Netanjahu behaupten, dass die iranische Regierung die Bedingungen des Atomabkommens von 2015 verletzt hat, indem sie an geheimen Plänen für die Entwicklung von Atomwaffen festgehalten, ein ballistisches Raketenprogramm gefördert und in Syrien, im Jemen, dem Libanon und dem Irak militärisch interveniert hat. Während die beiden letztgenannten Punkte nicht Bestand-teil des Atomabkommens waren, wurden dort erfolgreich eine Beschränkung der nuklearen Fähigkeiten des Irans und fortwährende Kontrollen durchgesetzt, an die sich der Iran gemäß der Internationalen Atomenergiebehörde, den Vereinten Nationen und den anderen Unterzeichnern des Atomabkommens (Deutschland, Großbritannien, Frank-reich, Russland, China) gehalten hatte.

Der Rückzug der USA aus dem Atomabkommen und die Verhängung weiterer Sanktionen gegen den Iran richten sich nicht nur gegen den Iran, sondern gegen alle Banken, die Geschäfte mit der iranischen Zentralbank, und gegen alle Unternehmen, die Geschäfte mit dem Iran tätigen. Diese Unternehmen haben 90 bis 180 Tage Zeit, um ihre Geschäfte im Iran abzubrechen, oder sie werden mit dem US-Banken-system in Konflikt geraten. Die angekündigten Sanktionen gegen den Erdölhandel sollen die europäischen und asiati-schen Länder dazu verpflichten, ihre Einfuhren aus dem Iran zu reduzieren.

Iran

Großbritannien, Deutschland und Frankreich haben vorerst erklärt, dass ihre Länder und die EU als Ganzes dem Atomabkommen verpflichtet bleiben werden, aber auch versuchen werden, ein umfassenderes Abkommen mit dem Iran hinsichtlich der Entwicklung ballistischer Raketen und militärischer Interventionen in der Region auszuarbeiten. Die iranische Regierung hat ebenfalls angekündigt, dass sie an dem Atomabkommen festhalten wird, sofern sich Europa, China und Russland daran halten. Israel und Saudi-Arabien hingegen haben Trumps Entscheidung enthusiastisch be-grüßt. Nur eine Stunde nach der Ankündigung von Trump startete Israel einen weiteren Raketenangriff auf eine syrische Basis, die vom Iran benutzt wird. Der Iran reagierte, indem er Raketen auf israelische Militärposten in den Golanhöhen abfeuerte. Israel informierte anschließend Russland, bevor es mit Luftangriffen auf 50 iranische Militär- und Sicher-heitseinrichtungen in Syrien reagierte. Somit hat bereits ein direkter Krieg zwischen Israel und dem Iran begonnen.

Geostrategische Implikationen

Der Iran ist nach der Türkei nach wie vor die zweitgrößte Volkswirtschaft des Nahen Ostens und einer Regierung mit gewissen imperialistischen Ambitionen in der Region, die mit Saudi-Arabien (der drittgrößten Volkswirtschaft des Na-hen Ostens) konkurrieren. Während die Opposition der Isla-mischen Republik gegen den westlichen Imperialismus und Israel sowohl unter den schiitischen als auch den sunnitischen Muslimen ein großes Ansehen verschafft hatte, hat die militä-rische Intervention des Irans in Syrien zur Unterstützung des mörderischen Regimes von Baschar al-Assad diese Reputati-on wieder weitgehend zunichte gemacht. Diese Intervention und andere Interventionen im Libanon und im Irak haben den Iran außerdem wirtschaftlich in den Ruin getrieben.

Das jüngst geschlossene Bündnisabkommen des Irans mit der Türkei im Gegenzug zu Saudi-Arabien und dessen neuem Verbündeten Israel zeigt einmal mehr, dass der Machtkampf in dieser Region über die traditionellen schiitisch-sunniti-schen und inzwischen sogar die muslimisch-jüdischen Spal-tungslinien hinausgeht. Es geht dabei um die Kontrolle über den strategisch entscheidenden geopolitischen Einfluss in der Region und beschränkt sich nicht auf den Export schiitisch-fundamentalistischer Ideologie.

Der gegenwärtige wirtschaftliche Bankrott des Irans und die wachsende Opposition der Bevölkerung gegen die

Aufruhr stAtt DiplomAtie

Iran

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Islamische Republik haben jedoch eine Situation erzeugt, in der Saudi-Arabien und Israel eine Gelegenheit wittern, das iranische Regime zu beseitigen.

Ein Eigentor für die USA?

Die gegenwärtige Position der USA setzt sie jedoch nicht nur in Widerspruch zu ihren ehemaligen europäischen Verbündeten, sondern könnte letztlich ihren globalen imperialistischen Rivalen, Russland und China, Auftrieb verschaffen.

Mit den Worten von Susan Rice, der nationalen Sicher-heitsberaterin während der zweiten Amtszeit von Präsident Barack Obama: „Die Kosten für die weltweite Führungs-position der USA sind hoch. Wenn die Vereinigten Staaten einseitig ein internationales Abkommen kündigen, ohne dass ein Verstoß vorliegt, machen wir uns international unglaubwürdig, was unsere Zuverlässigkeit und Verant-wortung angeht. Genau das haben wir mit dem Pariser Kli-maabkommen und dem TPP-Handelsabkommen bereits getan. Aber der Bruch des Iran-Abkommens ist noch viel gefährlicher.“ (New York Times, 9. Mai 2018)

China, einer der Haupthandelspartner des Irans und sein größter Lieferant von Importgütern, wird weiterhin iranisches Öl kaufen und mit Waren und logistischer Hilfe im Gegenzug bezahlen. Russland, das Waffen an den Iran verkauft und am Bau von Öl- und Gasanlagen und Kern-kraftwerken im Iran beteiligt ist, hat bereits angekündigt, dass Russland vom Rückzug der USA aus dem Atomab-kommen de facto profitieren wird. Wladimir Jermakow, ein hochrangiger Vertreter des russischen Außenministeri-ums, sagte: „Der Rückzug der USA wird uns wirtschaftlich helfen, weil es keine Einschränkungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Iran mehr geben wird. Wir werden unsere bilateralen Beziehungen in allen Bereichen fortsetzen, einschließlich Energie, Transportwesen, Hoch-technologie etc.“

Solidarität mit der außerparlamentarischen Opposition

Diejenigen, die am meisten darunter leiden werden, sind die iranischen Volksmassen. Sie werden nicht nur mit noch mehr rücksichtslosen Sanktionen konfrontiert sein, sondern ihnen droht ein unmittelbarer Krieg auf iranischem Boden, der von Israel, Saudi-Arabien und den USA ausgeht.

Gerade jetzt, wo sich nach den Massenprotesten im Dezember und Januar, in denen der Sturz der Islamischen Republik und ein Ende ihrer Intervention in Syrien und im Libanon gefordert wurde, eine Welle von Arbeiterpro-

testen und Streiks im ganzen Land ausgebreitet hat, werden die Sanktionen und ein möglicher direkter Krieg tödliche Folgen haben. Das Regime erhält nun einen Vorwand, jede echte progressive oder revolutionäre Opposition als Unter-stützung für die USA, Israel und Saudi-Arabien zu geißeln. Auch der Nationalismus wird hochkochen und die Massen hinter dem Regime zusammenscharen. Jugendliche, die jetzt noch auf den Straßen protestieren, werden als Soldaten eingezogen werden.

Selbst wenn es dem Regime nicht gelingen sollte, wie-der ausreichend Kredit unter der Bevölkerung zu erlangen, würden ein Krieg und eine imperialistische Intervention die fortschrittlichen und revolutionären Kräfte vor erhebli-che Probleme stellen.

Inmitten dieser Kriegssirenen sind alle fortschrittlichen und sozialistischen Kräfte dieser Welt dazu angehalten, das Plädoyer einer Gewerkschaftsführerin, Parvin Mo-hammadi, zu verbreiten: „Die iranische Regierung verfügt über ein großes Budget und immense Vermögenswerte. [...] Enorme Summen davon werden für militärische und religiöse Institutionen innerhalb des Landes und für die Kriegsführung in Syrien, im Libanon, im Jemen oder für die Hamas etc. ausgegeben. Ganz zu schweigen von den Milliarden, die gestohlen und veruntreut wurden. […] Eine Regierung, die auf hungrige Arbeiter mit Aufstands-bekämpfung, Repression, Inhaftierung und Vertreibung reagiert, hat nur eine Botschaft, nämlich dass sie keine Lösung hat für die Probleme, die wirtschaftliche Ausweg-losigkeit und das Elend der Lohnabhängigen. […] Unsere Aufgabe besteht darin, die unwürdigen Lebensumstände von Millionen von Arbeiterhaushalten anzuprangern und diesen Menschen Auskommen, Gesundheitsfürsorge, Wohnen, Bildung, mit einem Wort, ein menschenwürdiges Leben im 21. Jahrhundert zu ermöglichen.“1

Alle, die gegen den US-Imperialismus und die anderen globalen oder regionalen imperialistischen Mächte kämp-fen, müssen auf der Seite der fortschrittlichen und revoluti-onären Kräfte stehen, die aus der iranischen Arbeiter- und Frauenbewegung und der studentischen und intellektuellen Opposition heraus ihr Wort erheben.

10. Mai 2018aus: alliance of Middle East Socialists

�� Übersetzung: MiWe

1 http://www.ettehad-e.com – (nur auf Persisch!)

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Am Freitag, den 27. April 2018 haben sich zum ersten Male die Regierungsoberhäupter beider Staaten auf der Demarkationslinie getroffen. Dieses in der Weltpresse prominent kommentierte Ereignis wurde von der südkoreanischen Bevölkerung mit großer Aufmerk-samkeit verfolgt, die den ganzen Tag vor dem Fernseher zugebracht hat – bei sich zuhause oder in einem der zahl-reichen Cafés oder Restaurants.

Eine sehr große Mehrheit der Bevölkerung Südkoreas hat diese beginnende Annäherung sehr positiv aufgenom-men. Dies aus drei Gründen. Erstens herrscht eine große Angst vor einem offenen Konflikt zwischen den beiden Koreas, bei dem die Zivilbevölkerung das erste Opfer wäre; dies ist ein offensichtlicher, aber nicht der wichtigste Grund. Die südkoreanische Bevölkerung hat sich an die unablässigen Krisen mit dem Norden gewöhnt und die Reden ihrer Regierenden haben mehr mit Kraftmeie-rei zu tun als denn mit wirklich kriegerischer Absicht. Dem Norden geht es um einen Schutz vor jeglicher US-amerikanischen Intervention und er versucht, durch seine Friedensinitiativen wirtschaftliche Zugeständnisse herauszuholen.

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Zweitens geht es um die Traumatisierung und den Schmerz einer Trennung, die zahlreiche Familien ausein-andergerissen hat; der südkoreanische Präsident Moon Jae-in selbst ist in eine nordkoreanische Familie hineingebo-ren, und seine Eltern sind während des Koreakrieges nach Pusan geflohen. Wohlgemerkt ist die Trennung zwischen den beiden Koreas viel strikter als vormals zwischen den beiden deutschen Staaten: in den allermeisten Fällen konn-ten die getrennten Familien nie zusammentreffen.

Der dritte und ebenso wichtige Grund für diese breite Unterstützung liegt in der Furcht vor einem Zusammen-bruch des Regimes im Norden, das die gesamte Region destabilisieren und die Spannungen zwischen den mäch-tigen Nachbarn der koreanischen Halbinsel verschärfen würde und zu einer Wiedervereinigung, allerdings unter äußerst schwierigen Bedingungen, führen könnte.

Wir dürfen vor allem nicht vergessen, dass die Halb-insel im Norden an China und an Russland grenzt, dass Japan nur einige Hundert Kilometer entfernt liegt und dass die USA aktuell mit einem Kontingent von 25 000 Militärs in Südkorea präsent sind. In diesem Kontext ist es unmöglich, das Gewicht dieser «Schutzmächte» außer

Die Rolle DeR RaDikalen linken SüDkoReaS im

annäheRungSpRozeSS

Das Treffen zwischen Moon Jae-in und Kim Jong-un stellt eine Wende in den Beziehungen zwischen den beiden koreanischen Staaten dar; dabei zeichnet sich

eine Lösung dieser internationalen Krise ab. Diese Wende entspringt aus der neuen Situation, die durch die Absetzung der Präsidentin Park Geun-hye entstanden ist. Wir nehmen dies zum Anlass, die Situation der südkoreanischen radikalen Linken

darzulegen, die maßgeblich zu diesen Ereignissen beigetragen hat.

�� Christophe Aguiton

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Acht zu lassen, selbst wenn – wie wir noch sehen werden – die spezifischen Gegebenheiten Koreas für die Zukunft der Beziehungen zwischen den beiden Staaten ebenso wichtig sind. Zudem leben die 25 Millionen Menschen im Norden (der Süden zählt 50 Millionen) in beinahe vollständiger Abgeschiedenheit und unter beträchtlich schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen.

Für Südkorea würde der Zusammenbruch des Regimes in Pjöngjang zu einer viel schwierigen Lage führen, als dies Anfang der 1990er Jahre für die BRD nach der Ein-verleibung der DDR der Fall war, die eine vier mal klei-nere Bevölkerung umfasste, internationale Beziehungen unterhielt und wirtschaftlich Nordkorea weit überlegen war. Für die südkoreanische Regierung, die Unternehmer und einen großen Teil der Bevölkerung geht es dabei nicht um eine sofortige Wiedervereinigung, sondern um die Einleitung einer Annäherung, die eine längere Periode des Überganges in eine Wiedervereinigung eröffnen würde.

Politischer und sozialer Umbruch

Das Treffen der Regierungschefs beider Staaten hat vor dem Hintergrund politischer und sozialer Umbrüche in Südkorea stattgefunden. Das Land wurde seit 2007 von der „Freiheitspartei Koreas“ regiert, die unter neuem Namen aus der „Großen Nationalen Partei“ aus der Zeit der Diktatur hervorgegangen war; die letzte Präsidentin, seit 2013, war Park Geun-hye, Tochter des Diktators Park in den 1960er und 1970er Jahren. Der Untergang eines Fährschiffes im April 2014, der 300 Gymnasiast*innen in den Tod zog, war ein wahres nationales Trauma, das durch begleitende Korruptionsverdachtsfälle nur noch verstärkt wurde. Dieses Trauma erschütterte die Popularität von Park zutiefst. Eine sie direkt betreffende Korruptionsaffäre führte dann zu einer anhaltenden Mobilisierung unter der Bevölkerung, der „Kerzenrevolution“, in deren Verlauf Millionen über Wochen auf die Straßen gingen und die 2017 schließlich zur Absetzung von Park führte.

Zwei Monate später wurde Moon Jae-in von der Demokratischen Partei zum Präsidenten gewählt und die Freiheitspartei verlor ihre Parlamentsmehrheit. Für die linken Aktivist*innen Südkoreas rührte die Macht der Großen Nationalen Partei aus dem Fortbestehen eines Systems, in dem die Eliten zuerst die japanische Besetzung und dann die starke Militärpräsenz der USA unterstützt hatten. In Seoul gibt es noch heute Kundgebungen zur Unterstützung von Park, mit sehr alten Teilnehmern, die Jacken tragen, auf deren rechten Schulter eine koreanische Flagge und auf der linken eine US-amerikanische auf-

genäht sind. Dieses System schöpfte seine Macht aus der Verbindung mit den „chaebols“, den Industriekonglome-raten wie Samsung und Hyundai, wobei diese Verbindung jedoch mittlerweile im Zerfall begriffen ist. Die Demokra-tische Partei ist die andere Partei des politischen Systems in Südkorea. Eine Partei, deren Führungspersönlichkeiten während der Diktatur unterdrückt wurden und deren ehe-maliger Führer Kim Dae-jung in den 1970er Jahren Ziel von zwei Mordversuchen war und dann von der Diktatur zum Tode verurteilt wurde.

Die Demokratisierung des Landes hat es den Demokra-ten ermöglicht, von 1998 bis 2007 die Regierung zu füh-ren. Es handelt sich um eine liberale Partei im wirtschaft-lichen Sinne, auch mit der Absicht, mehr Transparenz hinsichtlich der Chaebols durchzusetzen, demokratisch im politischen Sinne und offen für eine Entspannungspolitik gegenüber dem Norden, bekannt unter dem Namen der „Politik des Sonnenstrahls“.

Die Bedeutung der radikalen Linken

Neben den beiden Parteien, die sich die Macht teilen, gibt es in Südkorea eine radikale Linke, die im Kampf gegen die Diktatur und beim Aufbau der koreanischen Arbeiterbewe-gung eine sehr wichtige Rolle gespielt hat; ihre Aktivistin-nen und Aktivisten verfügen nach wie vor über ein gewisses Gewicht im politischen und sozialen Leben des Landes. Am Ende der japanischen Besatzung existierte eine mächtige kommunistische Bewegung im Süden Koreas, die Partei der Arbeit, die mehrere Hunderttausend Mitglieder zählte; die-se stand der Schaffung eines eigenen Staates im Süden der Halbinsel sehr feindlich gegenüber. Diese Partei wurde von der US-amerikanischen Armee gewaltsam unterdrückt, be-vor sie im Verlauf des Koreakrieges ganz ausgelöscht wurde und ihre Führer in den Norden flüchteten.

Erst in den 1980er Jahren konnte sich eine neue radikale Linke herausbilden, die in den Folgejahren immer stärker wurde. Der Ausgangspunkt ist die Erhebung in der Stadt Gwangju im Mai 1980 gewesen, als sich eine studentische Bewegung gegen die Diktatur formierte und eine Demo-kratisierung des Landes forderte. Diese Bewegung wurde zwar unterdrückt, aber auf sie folgte recht bald eine breite Mobilisierung unter der Stadtbevölkerung, die in einem Blutbad ertränkt wurde. Die südkoreanische Armee stellte die Ordnung zum Preis von Tausenden von Toten wieder her. Das Ausmaß der Repression löste eine Schockwelle in den südkoreanischen Universitäten aus, wo sich schnell eine radikale Studierendenbewegung herausbildete. Die Student*innen zogen aus dem Drama von Gwangju den

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Schluss, dass nur eine Massenmobilisierung die Diktatur beseitigen könne, die sowohl die gesamte Nation umfassen als auch ihre soziale Basis – vor allem auf die Arbeiterklas-se – ausdehnen müsse; diese war in den 1980er Jahren sehr schnell angewachsen, da in diesem Jahrzehnt das Land eine starke industrielle Entwicklung durchmachte.

So haben sich Tausende von Student*innen proletari-siert und sind in die Fabriken gegangen, wo damals viele Arbeitskräfte eingestellt wurden. Diese Student*innen haben Gewerkschaften gegründet, aufbauend auf den Standesorganisationen, wie man sie in Diktaturen und Einparteien-Staaten häufig vorfindet und wo die Zugehö-rigkeit zu einer Gewerkschaft obligatorisch ist und diese nach Branchen und Großunternehmen gegliedert sind. Dies erlaubte den Student*innen, institutionelle Positionen in diesen Gewerkschaften zu erobern.

Damit gelang es der radikalen Linken, in den beiden wichtigsten sozialen Bewegungen des Landes die Mehrheit zu gewinnen: den Gewerkschaften und der Studentenbe-wegung. Sie bauten die KTCU auf, die bald zur wichtigs-ten Gewerkschaft des Landes wurde.

Hinzu kam der Aufbau einer Bauernbewegung, basie-rend auf den Kleinbauern und -bäuerinnen, die sich später der Via Campesina anschloss, der internationalen Bauern-organisation, die in der Antiglobalisierungsbewegung und im Widerstand gegen die Freihandelsverträge sehr aktiv ist; die Bauernschaft umfasst 6 % der berufstätigen Bevöl-kerung Südkoreas.

Die radikale Linke Südkoreas ist in zwei Stränge aufge-teilt, wobei jede von ihnen ihre eigenen Nuancen und Un-tergliederungen hat. Die erste ist unter dem Namen „Peop-le Democracy“ oder PD bekannt. Dabei handelt es sich um Aktivist*innen, die den Kampf um Demokratisierung des Landes in den Zusammenhang mit sozialen Forderungen stellen; Forderungen, die im Verlaufe der vergangenen Jahr-zehnte auf die Ökologie, den Feminismus und die Verteidi-gung der Rechte der LGBT+ ausgedehnt wurden. Sie legt zudem Wert auf die Wahrung der Unabhängigkeit sowohl gegenüber Nordkorea wie auch der Demokratischen Partei. Dieser Strang ist weiter in verschiedene Strömungen aufge-teilt, radikalere und weniger radikale.

Der zweite Strang „National Liberation“ oder NL, ist größer und setzt sich aus Aktiven zusammen, für die die nationale Befreiung die wichtigste Forderung ist, eine Befreiung, die über einen Kampf gegen die Diktatur und gegen die Präsenz der US-Armee im Lande, aber auch über einen Wiedervereinigungsprozess der beiden Koreas führt. Der Anti-Amerikanismus wuchs nach dem Massa-

ker von Gwangju an, da die US-amerikanischen Behörden das Vorgehen der südkoreanischen Armee gestützt hatten.

Die NL weist auch jede Kritik an Nordkorea zurück, egal ob sie auf die Menschenrechtssituation oder auf die Atomtests hinzielt. Wenn sie auch den Aufbau einer unabhängigen Partei als nützlich ansieht, so ruft sie doch oft dazu auf, für die Kandidat*innen der Demokratischen Partei zu stimmen, als Mittel, die „erste Etappe“ der natio-nalen Befreiung zu verwirklichen.

Die radikale Linke und die sozialen Bewegungen nach der Diktatur

Nach den großen Studentenbewegungen im Juni 1987, dem sogenannten „Frühling von Seoul“, ist die Diktatur zusammengebrochen. Dies war der Auftakt zu einem großen sozialen und politischen Aufbruch, mit zahlrei-chen Streiks der Arbeiterklasse und der Gründung neuer Gewerkschaften, die sich einige Jahre später dem KTCU anschlossen. Aber erst ein Jahrzehnt später war – unter dem Druck des KTCU – die Gründung einer Linkspartei möglich, nach dem Beispiel der englischen Gewerkschaf-ten, als sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die „Labour Party“ aufbauten, oder der brasilianischen Ge-werkschaften, die mit Lula in den 1980er Jahren die Partei der Arbeiter, die PT, aufbauten.

In Südkorea wurde diese Partei, die DLP, „Democra-tic Labour Party“, im Januar 2000 offiziell gegründet und gewann rasch an Einfluss, bis sie bei den Parlamentswahlen von 2004 mit 13 % der Stimmen 10 Abgeordnetensitze erlangte, in einem System mit Persönlichkeitswahl und lediglich einem Wahlgang. Bei der Gründung der DLP hatten die Mitglieder der PD einen großen Einfluss, aber durch einen großen Zustrom von Mitgliedern der NL haben sich die internen Kräfteverhältnisse verändert und es entstanden starke Spannungen, die 2007 zu einer Spaltung führten, bei der Anhänger der PD die DLP verließen und die NPP gründeten, die „New Progressive Party“. Eine Spaltung, die die Wahlresultate belastete: 2008 erhielt die DLP lediglich 6 % und die NPP 3 % der Stimmen. Im De-zember 2011 kam es zu einer teilweisen Umgruppierung, als sich die SLP mit anderen Strömungen zusammen-schloss, einschließlich einem Flügel der NPP, und die UPP bildete, die „Unified Progressive Party“; diese erreichte bei den Wahlen von 2012 rund 10 % der Stimmen und 13 Sitze. Recht bald jedoch hat sich der PD-Flügel abgespal-ten und die “Partei der Gerechtigkeit“ gebildet. Ein Jahr später, 2013, hat die konservative Regierung, gestützt auf die Anklage eines “nordkoreanischen Komplottes“, die

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UPP aufgelöst und die Abgeordneten der Partei abgesetzt.Bei den Parlamentswahlen von 2016 hat die Partei der Gerechtigkeit 7 % der Stimmen und 6 Abgeordnetensitze gewonnen und bei den Präsidentschaftswahlen 2017, nach dem Rücktritt von Park, 6 % der Stimmen; bei diesen Wahlen herrschte ein starker Druck einer nützlichen Stim-me für Moon Jae-in, den Kandidaten der Demokratischen Partei, der von den Anhängern der NL unterstützt wurde.

Auch die sozialen Bewegungen erfuhren nach der Diktatur einen kräftige Aufschwung und eine Ausweitung ihrer inhaltlichen Ausrichtung. Ökologische, feministische und pazifistische Bewegungen und Bürgerinitiativen traten auf die Bühne, entwickelten sich weiter und stellten die bis dahin unhinterfragte zentrale Rolle der Arbeiterbewegung in Frage. Neuerdings strukturieren und entwickeln sich die Mobilisierungen der sogenannten “Kerzenrevolution“ eher dank Internet und den sozialen Netzwerken auf der Basis individueller Initiative als entlang festgefügter Bewegungen. Heute befinden sich die Bewegungen und Organisatio-nen in einer ganz anderen Lage als zur Zeit des Sturzes der Diktatur.

Der KTCU stellt nach wie vor eine wichtige Kraft dar, wie die Straßendemonstrationen zum 1. Mai dieses Jahres gezeigt haben. Das Gravitationszentrum seiner Aktionen hat sich jedoch verschoben; es sind die unterneh-menszentrierten Gewerkschaften, die eine zentrale Rolle einnehmen, auf die Gefahr hin, dass sich die Forderungen und die Mobilisierungen je nach den Gegebenheiten und den Kräfteverhältnissen in den einzelnen Unternehmen verzetteln. Die politischen Parteien spielen weiterhin eine wichtige Rolle bei den Wahlen, die aktive Beteiligung ih-rer Basis ist jedoch stark zurückgegangen. Es existiert eine große Vielfalt von Vereinigungen und Bewegungen, aber die Mobilisierungen stützen sich auf die Beteiligung von Einzelnen, die sich über das Internet informieren und koor-dinieren. Von daher ist die Situation in Südkorea ähnlich der in Europa.

Regierungsverantwortung

Parallel zu dieser komplexen Geschichte der verschiedenen Parteien und Bewegungen, die aus der radikalen Linken hervorgegangen sind, haben sich einige ihrer Führer der Demokratischen Partei angeschlossen und dort wichtige Positionen erlangt. Dies gilt insbesondere für Mitglieder der NL, für die der Aufruf zur Unterstützung der Demo-kratischen Partei bei Wahlen im Sinne einer nützlichen Stimme Anlass war, sich auf deren Apparat hinzubewegen und sich zu integrieren, um dort Karriere zu machen und

so Einfluss zu nehmen auf für das Land wichtige Ent-scheidungen. Beispielhaft dafür ist Im Jong-seok, der ein wichtiger Führer der NL war und zur rechten Hand des Präsidenten Moon Jae-in wurde. Jong-seok stand 1989 an der Spitze der südkoreanischen Studierendenvereini-gung, wurde anschließend verhaftet und – aufgrund seiner Beziehungen zu Nordkorea – zu fünf Jahren Gefängnis wegen „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ verurteilt. Jahre später ist er stellvertretender Bürgermeister in Seoul gewesen, unter Park Won-soon, einem unabhängigen, fortschrittlichen Politiker, der 2011 mit der Unterstützung der Demokratischen Partei wie auch der DLP an die Spitze der Hauptstadt Südkoreas gewählt wurde.

Als Moon Jae-in 2017 zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, ernannte er Im Jong-seok zu seinem ver-antwortlichen Sekretär und somit zum Hauptverantwortli-chen der Verwaltung des Präsidialamtes. In letzter Zeit hat sich Im Jong-seok der Kontakte mit den Verantwortlichen Nordkoreas angenommen und eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung des Treffens vom 27. April zwischen Moon Jae-in und Kim Jong-un, des nordkoreanischen Führers, gespielt. Im Jong-seok ist heute sichtlich ein anderer als der pro-Nordkorea-Aktivist, der er zum Zeitpunkt des Sturzes der Diktatur war. Aber, wie Lee In-young bemerkt, ein an-derer Verantwortlicher der NL, der heute in der Präsidial-Verwaltung arbeitet: „Nachdem wir in Nordkorea gewesen sind, haben wir heute einen klaren Blick“, und fügt hinzu: „Wir sind keine Sympathisanten Nordkoreas, haben aber vielleicht ein wärmeres Herz und mehr Geduld als andere, um auf den Frieden hinzuarbeiten“. Dank dieser ehema-ligen Anhänger der NL verfügt Moon über ein Team, das das Vertrauen der nordkoreanischen Führung genießt und ihre Logik wie auch ihren Diskurs gut versteht.

Es ist offensichtlich, dass der Konflikt zwischen den beiden koreanischen Staaten nur gelöst werden kann mit dem Einverständnis ihrer großen Schutzmächte, den USA und China und in geringerem Maße von Russland und Japan. Moon und sein Team jedoch haben es verstanden, die Gelegenheit seit den Olympischen Winterspielen bis zum Treffen vom 27. April zu ergreifen; der Friedenspro-zess, wenn er denn gelingen sollte, wird dieser Fähigkeit zur Initiative und diesen Aktivist*innen viel zu verdanken haben, die seit über dreißig Jahren eine wichtige Rolle spielen beim Umbau ihres Landes!

�� Übersetzung: W. Eberle

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Pakistan

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Beschreibung und Erklärung der Situation von fast zwei Dritteln der in der Landwirtschaft arbeitenden Bevölkerung laufen auf den Schluss des Autors hinaus, dass dem Klassenkampf der Arbeiter*innen und der Bauernfamilien unter der Führung der proletarischen Avantgarde eine herausragende Bedeutung beim Sturz des hybriden Feudalismus zukommt.

�� Tariq Farooq

Große Teile Pakistans befinden sich im Würgegriff eines karikaturhaften Feudalismus. Doch die feudalen Verhält-nisse werden zunehmend vom Finanzkapital durchdrun-gen, das sich über die sozialen Beziehungen, die Politik und die Wirtschaft stülpt. Es verstärkt und brutalisiert die Klassenausbeutung und hat dadurch Millionen von Menschen ins Elend gestürzt. Die wachsende Ungleichheit und die Armut bleiben ein chronisches Problem, denn Millionen von Menschen befinden sich noch immer in Schuldknechtschaft. Ein Ausdruck dieser erschütternden Situation ist die Tatsache, dass in Pakistan fünf Prozent der Landwirtschaftsbetriebe fast zwei Drittel der Anbaufläche besitzen.

Vor der Ankunft der Briten herrschte auf dem in-dischen Subkontinent ein System, das als Asiatische Produktionsweise oder in den Worten von Karl Marx als „Asiatischer Despotismus“ bezeichnet wurde. Die landwirtschaftlichen Nutzflächen befanden sich nicht in Privatbesitz, sondern waren gemeinsames Eigentum. In diesem Sinne herrschten egalitäre Verhältnisse. Der Feuda-lismus wurde von den britischen Imperialisten durch den Permanent Settlement Act durchgesetzt. Ein „klassischer“ Feudalismus, wie er im europäischen Kontext beschrieben wird, existierte nie.

Der Permanent Settlement Act wurde zuerst in Bengalen und Bihar vom Verwaltungschef der East India

Pakis tan

Company eingeführt und später vom Generalgouverneur Lord Cornwallis durch eine Reihe von Bestimmungen, die am 1. Mai 1793 erlassen wurden, auf Nordindien ausgedehnt. Damit übergaben die britischen Kolonialisten große Landstriche vor allem den Steuereintreibern (, die dadurch zu Zamindaren, also Grundbesitzern wurden, [Anm. d. Red.]), um mehr Grundstückseinnahmen zu erzielen. Diese Maßnahme band die indische Bevölkerung in die Strukturen der Briten ein und sicherte ihre Loyalität gegenüber der britischen Herrschaft.

Nach der Teilung wurde diese Klasse zusammen mit der Kompradoren-Bourgeoisie zur herrschenden Klasse Pakistans. Die pakistanischen Kapitalisten schafften es nicht, eine nationale demokratische Revolution durch-zuführen, wie es die europäische Bourgeoisie im 18. und 19. Jahrhundert tat. Deshalb wurde der Feudalismus in Pakistan nicht beseitigt, sondern es setzte sich ein hybrides Modell feudaler und kapitalistischer Verhältnisse durch.

In den letzten Jahrzehnten, insbesondere in den Phasen der Militärdiktatur, hat sich eine neue Form des Feudalis-mus herausgebildet. Mit Unterstützung des Staatsapparates werden arme, kleine Landbesitzer gezwungen, ihr Land für unbedeutende Summen an eine bestimmte Familie zu übergeben. Neue Feudalherren wie Jahangir Tareen von Imran Khans Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf besitzen heute Tausende Acres Land. Mittlerweile ist Tareen ein typischer pakistanischer Feudalist: eine „gut ausgebildete“ Person, die mithilfe von Militärdiktatoren neben riesigen Landflächen auch Zuckerfabriken erwerben konnte. Es handelt sich um eine simple Kombination von Feudalismus und Kapitalismus.

Die Macht der Großgrundbesitzer über die lokale Be-völkerung zeigt sich auf Schritt und Tritt und die Schuld-knechtschaft wird von Generation zu Generation weiter-gegeben. Die Grundbesitzer kontrollieren die Verteilung von Wasser, Düngemitteln, Traktorzulassungen und Landwirtschaftskrediten, was ihnen wiederum ermöglicht, Einfluss auf die Finanz-, Polizei- und Justizbehörden der lokalen Regierungen und auf deren Beamte zu nehmen. Ein besonders hart ausgeprägter Feudalismus herrschte in letzter Zeit im ländlichen Sindh, in Belutschistan und in

Pakistans hybrider Feudalismus

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einigen Teilen des südlichen Pandschab – eine Art Sklaverei im Pakistan des 21. Jahrhunderts.

Das Feudalsystem beschränkt sich nicht auf den politi-schen Bereich. Der Landbesitz verbindet die Feudalherren mit den verschiedenen anderen klientelistischen Netzwer-ken Pakistans. Großgrundbesitzer wie Shah Mahmood Qureshi fungieren als religiöse Schutzheilige für Tausende von Bauern, die bei Wahlen wie Jünger loyal für ihre Feu-dalherren stimmen.

Auch die pakistanische Armee ist tief in dieser hybriden Wirtschaft verwurzelt und tritt als wichtiger Akteur auf, insbesondere im Industrie- und Dienstleistungssektor und in der Parallelwirtschaft. Die führenden Schichten der Armee sind gleichzeitig auch Teil der Feudalaristokratie und Aus-löser einer massive Konzentration des Grundbesitzes. Denn für ihren Dienst in der Armee erhalten Offiziere Agrarland, das sie dann oft an größere Grundbesitzer verpachten. Allein im Pandschab werden 68 000 Acre (ca. 275 qkm) Ackerland direkt oder indirekt von den Military Farms verwaltet. Die Kämpfe der betroffenen Bäuerinnen und Bauern um ihre Rechte sind vom Staat und seiner zivilen Verwaltung jeweils mit aller Härte niedergeschlagen worden.

Bodenreform

Die Bodenreform von Ayub Khan scheiterte nach ihrer Einführung im Jahr 1959. Auch die Umsetzung der Re-form von Zulfiqar Ali Bhutto in den Jahren 1972 und 1977 wurde vom Landadel im Einverständnis mit der Bürokratie verhindert. Die Idee der Bodenreform war einfach: das Land von den Reichen nehmen und es kostenlos an die Armen verteilen. Das breit abgestützte Bodenreformgesetz von 1977 wurde von Qazalbash Waqf angefochten. Er erhob Klage und machte dabei geltend, dass die islamischen Gesetze einen umfassenden Schutz vor Enteignung bieten, wenn das Grundeigentum mit legitimen Mitteln erworben wurde. Der Oberste Gerichtshof Pakistans stimmte dem zu. Eine Petition gegen diese Entscheidung des Scharia-Berufungsge-richts ist seit 2012 hängig, eine Anhörung steht noch immer aus.

Als der Militärdiktator Zia ul Haq 1977 mit seiner Islamisierungsagenda an die Macht kam, stützte er sich voll auf religiöse Erlasse, um den Interessen der Großgrundbe-sitzer und Kapitalisten entgegenzukommen. Nachdem er die Kontrolle übernommen hatte, wurde erstens verkündet, dass kein Gesetz in Pakistan gegen den Heiligen Koran und die Sunna verstoßen dürfe, und zweitens, dass im Interes-se der pakistanischen Großgrundbesitzer Bundesgerichte eingerichtet würden. Die Erfahrung aus den letzten siebzig

Jahren zeigt, dass die staatlichen Strukturen die Macht der Grundbesitzer und Kapitalisten stärken und einer Agrarre-volution entgegenwirken.

Landflucht als Lösung?

Immer mehr Klein- und Kleinstbauern wandern in städ-tische Gebiete ab, um der Armut zu entkommen. Pakistan ist bereits das am stärksten verstädterte Land Südasiens. Die ungebremste Landflucht wird den Druck auf die ohnehin schon überlastete Infrastruktur der städtischen Metropolen erhöhen. Hinzu kommt, dass das industrielle Wachstum auf dem Land stagniert und ein Großteil der vorhandenen Industrie bereits kapitalintensiv ist. Die meisten Migranten werden deshalb im Dienstleistungssektor arbeiten müssen. Wahrscheinlich wird die Mehrheit von ihnen im informel-len Sektor und in der Schwarzarbeit landen, wo die Löhne extrem niedrig sind und schlimme Arbeitsbedingungen herrschen. Der Kreislauf von Armut und Ausgrenzung wird so weiter verstärkt.

Kleinbauern und Pächter*innen

Werfen wir einen Blick auf die heutige Situation von Kleinbauern und Kleinpächter*innen. Im Jahr 2017 trug die Landwirtschaft rund 24 % zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Pakistan bei und machte die Hälfte der erwerbs-tätigen Bevölkerung aus. Wichtige Kulturen sind Weizen, Baumwolle, Reis, Zuckerrohr und Mais. Das volle Poten-zial der Pflanzenproduktion wird jedoch nicht erreicht.

Obwohl über 60 % der Bevölkerung aus Kleinbau-ern und -bäuerinnen, Pächter*innen sowie landlosen Landarbeiter*innen besteht, gibt es keine einzige praxisori-entierte Schule oder Ausbildungsstätte für Landwirtschaft. Auch Stellen zur fundierten Weiterbildung und Beratung von Landwirt*innen fehlen. Die Lücke wird mit Handels-vertretern der Zulieferfirmen geschlossen. Natürlich raten sie den Landwirten, Betriebsmittel zu kaufen, die zu höhe-rer Verschuldung führen und gleichzeitig die Qualität der Produkte herabsetzen und die Umwelt stärker belasten.

Pakistans Grundwasserspiegel sind in den letzten 20 Jahren durch übermäßiges Abpumpen im Durchschnitt um über 80 Fuß (ca. 25 m [Anm.d.Red.]) gesunken. Dies hat zu Bodenschwund und Bodenversalzung geführt und damit zu einer verminderten Fruchtbarkeit der Anbau-flächen. Sowohl die Qualität als auch die Quantität der landwirtschaftlichen Produktion nimmt ab. Die indust-rielle Landwirtschaft, die Ende der 60er-Jahre eingeführt worden ist, setzt anorganische Stoffe und gentechnisch verändertes Saatgut ein.

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Trotz des großen Widerstands von Landarbeiterverei-nigungen, Organisationen der Zivilgesellschaft (CSOs) und Kleinbauern verabschiedete der Senat von Pakistan Anfang 2016 den Seed (Amendment) Act. Gemäß dieser Gesetzesänderung dürfen nicht registrierte Personen, egal ob Landwirt*innen oder Institutionen, ohne offizielle Genehmigung kein Saatgut lagern, verkaufen oder tau-schen. Tun sie es trotzdem, begehen sie eine Straftat, auf die Geldbußen und Haftstrafen stehen.Im Gegensatz dazu war das Saatgutgesetz von 1976 noch bauernfreundlicher. Es gab den Bürger*innen Souveränität über ihr Saatgut und übertrug die Verantwortung für die Registrierung der Saatgutentwicklung allein auf den öffentlichen Sektor. Das heutige Saatgutgesetz hingegen erlaubt multinationalen Konzernen, Basissaatgut zu produzieren, um es zu ver-mehren und zu zertifizieren. Außerdem sind die Konzerne heute für akkreditierte Saatgutprüflabors zuständig.

Die industrielle Landwirtschaft unterbricht grund-legende natürliche Prozesse, die Voraussetzung für die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit sind. Statt sich in die Dynamik der natürlichen Ökosysteme einzufügen, setzt diese Art von Landwirtschaft Energie und Chemikalien ein, die die biologischen Prozesse beeinträchtigen und/oder zerstören.

Die Produktivität der Landwirtschaft hängt wesentlich davon ab, dass die Fruchtbarkeit des Bodens nachhaltig gewährleistet ist und genügend produktive Ressour-cen – Land, Wasser, Arbeit und Kapital – vorhanden sind. Für die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe und Kleinpächter*innen sind jedoch keine Unterstützungsleis-tungen vorgesehen. Sie sind die wahren Verlierer*innen dank der Saatgut- und Düngemittelfirmen.

Die Situation der Landarbeiter*innen ist noch gravie-render als die der armen Bauern und Bäuerinnen. Mehr als 80 % der Landarbeiter*innen besitzen keine eigene Woh-nung; sie leben unter dem jahrhundertealten halbfeudalen Herrschaftssystem, das ihnen kein Recht auf Unterkunft gewährt. So bleiben alle Siedlungen auf Staatsland, das sich im Besitz von zivilen oder nichtzivilen Regierungsstellen oder Institutionen befindet, unregistriert. Die Politik der Regierung ist darauf ausgerichtet, die Großgrundbesitzer und die Eigentümer der landwirtschaftlichen Verarbei-tungsbetriebe zu unterstützen.

Bäuerlicher Widerstand

Ein besonders eindrückliches Beispiel von bäuerlichem Widerstand ist der Kampf der Pächter*innen auf den Okara Military Farms. Sie setzen sich seit über 18 Jah-

ren ununterbrochen für ihre Landrechte ein. Trotzdem werden sie noch immer unterdrückt. Die meisten Führer ihrer Organisation, der Anjuman Mazarin Punjab (AMP), sitzen seit 2015 im Gefängnis. Der wichtigste AMP-Füh-rer, Mehar Abdul Sattar, befindet sich im pakistanischen „Guantánamo-Bay-Gefangenenlager“, dem Hochsicher-heitsgefängnis in Sahiwal, das für verurteilte religiöse Terroristen bestimmt ist.

Die AMP, die zum Komitee Pakistan Kissan Rabi-ta (Pakistanischer Bauernverband, [Anm.d.R.]) gehört, hat sich namentlich auf den Okara Military Farms für die Landrechte eingesetzt. Die Pächter*innen und ihre Vorfahren arbeiten seit 100 Jahren auf diesem 68 000 Acre großen Grundstück. Die aufeinanderfolgenden zivilen Regierungen haben ihnen Landrechte versprochen. Doch aufgrund des Drucks des Militärs waren sie nicht in der Lage, diese Versprechen einzuhalten.

Die Gründung der AMP geht auf das Jahr 2000 zurück, als die Diktatur von General Musharraf versuch-te, den Status der Pächter*innen zu verschlechtern, eine Taktik, um sie auf lange Sicht vom Land zu entfernen. Die Pächter*innen begannen damals zu rebellieren und weigerten sich, den Teil der Ernte abzuliefern, den sie üb-licherweise zahlen. Den Behörden teilten sie mit, dass sie genug bezahlt hätten und dies nun nicht mehr tun würden.

In der Folge kam es zu schwerer staatlicher Repression. Elf Pächter*innen wurden bei verschiedenen Vorfällen getötet und Hunderte unter Anwendung der Antiter-rorgesetze verhaftet. Die Frauen stehen an der Spitze der Bewegung und wurden ebenfalls von der Polizei und von Rangern verhaftet und geschlagen.

Wir können das Ziel, den Feudalismus zu beenden und der armen Landbevölkerung zu ihrem Recht zu verhelfen, durch den Klassenkampf der Arbeiter*innen und Bauern-familien unter Führung der proletarischen Avantgarde er-reichen. Es braucht eine sozialistische Revolution, um das ungerechte System zu stürzen und die Grundrechte und das kollektive Eigentum an Land und Produktionsmitteln sowie eine demokratische Kontrolle des Staates und der Gesellschaft durch die werktätigen Massen sicherzustellen.

�� Übersetzung: A. W.

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Südafrik a

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Freedom Day (Freiheitstag) ist ein gesetzlicher Feiertag in Südafrika, der jedes Jahr begangen wird, um den Jahrestag der ersten demokrati-schen Wahlen des Landes im Jahr 1994 zu feiern. Die Euphorie dieses Moments ist jetzt eine ferne Erinnerung. Für viele scheint das Versprechen ei-ner wirklich demokratischen Zukunft, dargelegt in der Freiheitscharta von 1955, oder selbst die weniger radikalen Versprechen der 1996 ange-nommenen Verfassung verraten worden zu sein.

�� Vashna Jagarnath

In den Gemeinden, den Bergwerken, den Fabriken, Universitäten und den ländlichen Gebieten gibt es ein tief sitzendes Gefühl, dass die Verheißung eines einst so bezeichneten „neuen Südafrikas“ zerschlagen wurde. Das findet seinen Ausdruck in Protesten und dem Entstehen neuer Organisationen außerhalb des regierenden African National Congress (ANC).

Das ausgehandelte Abkommen, das die Apartheid am Ende des Kalten Krieges abschaffte, wurde einst weithin – wenn nicht gar überall – gefeiert. Aber das Abkommen war ein Kompromiss; eine Tatsache, die schnell zu Tage trat. Es stellte sicher, dass beim Übergang viele koloniale Elemente der südafrikanischen Gesellschaft bestehen blie-ben. Die Interessen der alten weißen und der entstehenden schwarzen Eliten erhielten systematisch Vorrang vor den Interessen der Arbeiterklasse und der verarmten Mehrheit.

Darüber hinaus gibt der ANC an der Regierung ein außerordentlich schlechtes Bild ab. Der Partei wird regelmäßig vorgeworfen: verbreitete Korruption, Unter-

Südafr ika

drückung (einschließlich des berüchtigten Massakers an streikenden Bergarbeitern in Marikana 2012), Aufrecht-erhaltung von apartheid-ähnlichen Herrschaftsformen auf dem Land und in den Städten, Versagen bei der Neuvertei-lung des Landes und bei der Demokratisierung der Kom-mandohöhen der Wirtschaft, die nicht der Vorherrschaft des weißen Kapitals entzogen werden.

Eine große Enttäuschung

Die weit verbreitete Enttäuschung im Nach-Apartheid-Südafrika ist nicht nur eine Sache des Gefühls. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Millionen arbeitslos sind, dass Millionen in elenden Buden dahinvegetieren.

Laut dem neuesten Weltbankbericht von 2018 leben 55 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Diejenigen am obersten Rand der Armutsgrenze müssen mit monatlich gerade 992 Rand (80 US-Dollar) pro Per-son auskommen. Über 76 Prozent sind durchgehend von Armut bedroht.

Laut den Zahlen des letzten Jahres sind 27,7 Prozent der Bevölkerung arbeitslos und bis zu 70 Prozent der Haus-halte leiden unter Ernährungsunsicherheit und in vielen werden Mahlzeiten ausgelassen.

Die Bildungsstatistiken sehen genauso düster aus. Ein internationaler Alphabetisierungsbericht meldete, dass 8 von 10 Schüler*innen im Alter zwischen 9 und 10 Jahren nicht lesen können.

Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Apartheid arbeitet die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung noch unter Be-dingungen von Ausbeutung, Unterdrückung und Armut. Und das, obwohl Südafrika als Wirtschaft mit oberem mittleren Einkommen klassifiziert wird und die zweit-größte Wirtschaftsnation des Kontinents ist.

Der große Unterschied zwischen reich und arm führt dazu, dass Südafrika das am meisten ungleiche Land

Warum nur revolutionä-rer Wandel Südafrika Wirk-liche freiheit bringen Wird

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Südafrik a

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weltweit ist. Diese Ungleichheit ist eine Ungleichheit von Rasse und Geschlecht. Afrikanische Frauen befinden sich stetig am unteren Ende aller Indikatoren – sei es Armut, Einkommen, Bildung, Sicherheit und Ernährungsunsi-cherheit. Die entscheidende Frage, die sich stellt, ist: War-um konnten solche Bedingungen in einem so reichen Land wie Südafrika bestehen bleiben?

Verrat an einem Versprechen

Der ANC errang die Macht durch die Stärke einer Mas-senbewegung der Arbeiterklasse in den Gemeinden und an den Arbeitsplätzen. Aber als der ANC an der Macht war, demobilisierte er die Bewegungen, die die Apartheid besiegt hatten. Das ermöglichte es, dass die Partei zu einem Instrument für die Durchsetzung von Elite-Interessen wurde. Schwarze Eliten versuchten sich in die bestehenden Machtstrukturen zu integrieren und zu Partnern beim Ma-nagement von Ausbeutung und Unterdrückung zu werden, statt am Aufbau einer gerechten Gesellschaft mitzuwirken.

Der Mehrheit der schwarzen Südafrikaner blieben libe-rale Rechte nur auf dem Papier. Tatsächlich jedoch litten sie weiter unter extremer Verarmung und Ausbeutung. Als die Lücke zwischen den Versprechungen eines „neuen Südafrika“ und der erlebten Wirklichkeit größer wurde, gab es immer öfter Proteste und die Repression nahm schnell zu.

Dem ANC fehlte der politische Wille, selbst die ele-mentarsten Wirtschaftsreformen zugunsten der Mehrheit der Südafrikaner*innen umzusetzen. Das steht in starkem Kontrast zu Lulas Regierung in Brasilien, der bescheidene Reformen durchführte, die aber dennoch einen wirkli-chen Unterschied für das Leben der Menschen machten.

Die Rhetorik des ANC und seiner Partner, der Kom-munistischen Partei Südafrikas und des Congress of South African Trade Unions, war und ist oft links, manchmal so-gar sozialistisch. Aber in Wahrheit wird das Land von einer Kompradorenelite beherrscht, die nicht willens ist, auch nur die geringsten Schritte zur Reform der ländlichen Gebiete, der Städte oder der Wirtschaft zu unternehmen. Der Knackpunkt für die Enttäuschung des Landes ist die Tatsache, dass der ANC sich an die Interessen des Kapitals band und nicht an die der Mehrheit der Südafrikaner.

Ramaphosa ist kein Allheilmittel

Unter Jacob Zumas schändlicher Herrschaft führte die De-generation der herrschenden Partei zum freien Fall. Aber so sehr der Sturz Zumas als Präsident auch zu begrüßen ist – er löst nicht die fundamentalen Probleme des Landes.

Die Korruption begann nicht mit Zuma und das ganze verhandelte Abkommen war ein Handel, um die habgie-rigsten Formen des Kapitalismus zu erhalten.

Präsident Cyril Ramaphosa ist ein Oligarch, der zu ei-ner Schlüsselfigur für die Formen von Akkumulation und Repression wurde, die dazu führten, dass die Mehrheit der schwarzen Südafrikaner auch nach der Apartheid noch verarmt und ausgebeutet ist.

Wenn Freiheit für die Mehrheit der Bevölkerung wieder eine Bedeutung haben soll, muss Südafrika eine neue ländliche, städtische und wirtschaftliche Ordnung aufbauen. Aber das Leben verarmter und der Arbeiterklas-se angehörender Südafrikaner wird sich nicht dadurch än-dern, dass man den Eliten in Davos und der Londoner City schmeichelt. Eine Rückkehr zum Neoliberalismus kann nicht die Antwort auf unsere gewaltigen Probleme sein.

Wenn für die Südafrikaner das Versprechen auf Freiheit wieder eine Bedeutung haben soll, ist der erste Schritt dahin die Wiederherstellung der Kraft der Arbeiterklasse und der verarmten Bevölkerung. Und es muss eine klare Vision für eine bessere Zukunft entwickelt werden, die über liberale Rechte hinausgeht, hin zu substantiellen Rechten. Neue Kräfte müssen ihre Macht aufbauen bis zu dem Punkt, wo eine neue Ordnung in den ländlichen Ge-bieten, den Städten und der Wirtschaft aufgebaut werden kann.

Südafrika hat glücklicherweise noch eine Arbeiterbe-wegung, die Massen organisiert. Durch den Aufbau der Macht fortschrittlicher Organisationen der arbeitenden und der verarmten Menschen im ganzen Land, kann begonnen werden, eine alternative Gesellschaft aufzubau-en, in der der Sozialismus nicht nur leere Rhetorik ist. In dieser Art von Wandel, revolutionärem Wandel, liegt die Hoffnung auf wahre Freiheit.

26. april 2018

�� Übersetzung: Wolfgang Weitz

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ARGENTINIEN

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In der Mitte seiner Amtszeit kann der argentinische Präsident Macri den gigantischen Abgrund zwischen seinen Versprechen und der Realität nicht län-ger verbergen. Versprochen hatte er einen Zustrom von Dollars zur Senkung der Inflation, mit hohem Wachstum, Schaffung von Arbeitsplätzen, einem unternehmerischen Boom und Abschaffung der Sozialhilfe. Eine drastische Reduzierung des Haushaltsdefizits und massive öffentliche Investitionen durch Beendigung der Korruption wurden ebenfalls angekündigt. Vollmundig wurde erklärt, dass die „Rückkehr in die Welt“ mit riesigen produktiven Investi-tionen und einer Ausweitung der Exporte belohnt würde.

Das Scheitern dieser Prognosen war von Anfang an mehr als deutlich. Daher hat die Regierung den Auf-schwung erst ins zweite Halbjahr verlegt und dann auf das nächste Jahr verschoben. Jetzt tarnt sie ihre mageren Ergebnisse mit neuen Tricks.

Vorwände und Täuschungen

Die Verantwortlichen des Regierungsbündnisses Cambie-mos stellen den Rückgang der Inflation, die sich anfangs verdoppelt hatte, als große Errungenschaft dar. Über zwei Jahre gerechnet erreichte sie die sehr hohe Rate von 73 %. Das Ziel für 2016 waren 12 %, doch es wurden 41 % und statt der geplanten 17 % für das folgende Jahr waren es 24 %. Mit der einzigen Ausnahme des Höchststands in

ARGENTINIEN

Macris neoliberale Phantasien

2014 (38 %) übertraf die Inflation unter der Regierungs-partei Propuesta Republicana (PRO) alle Durchschnitts-werte seit 1991.

Die Daten einiger Untersuchungen (CIFRA, 2018) widersprechen den Ankündigungen der Regierung. Was Macri als ungewöhnliches „unsichtbares Wachstum“ dar-stellt, ist die bekannte Erholung nach einem Absturz. Rech-net man die Rezession 2016 (-2,2 %) mit der Erholung von 2017 (2,9 %) zusammen, ist das Ergebnis neutral und das Wirtschaftsniveau liegt auf dem gleichen Niveau wie 2015. Das Beschäftigungswachstum ist überschaubar und spiegelt einfach diese Bewegung wider. Es schließt außerdem die Ersetzung stabiler Arbeitsplätze durch prekäre mit ein.

Die Regierung behauptet, dass sich die Löhne erholt hätten, und vergisst, dass die Anpassungen 2017 den Rück-gang des Vorjahres nicht kompensieren konnten. Über zwei Jahre gerechnet gab es einen Rückgang der Ein-kommen um 4,2 % im privaten und 6,3 % im öffentlichen Sektor. Die gewichtete Erholung der Investitionen liegt bei dem niedrigen Prozentsatz von 14–16 % der letzten Jahre. Die Verbesserungen in der Landwirtschaft oder im Bau können den Rückgang der Industrie kaum ausgleichen.

Offiziell wird der Rückgang der Anleiheemissionen gefeiert, aber deren Ersetzung durch Verschuldung wird verschwiegen. Macri hat das Land zum weltweit wich-tigsten Emittenten öffentlicher Wertpapiere gemacht, und

Macri und sein Parteienbündnis „Cambiemos“ haben Argentinien vollmundig den Weg in eine glänzende Zukunft versprochen. Doch von wenigen

Scheinerfolgen abgesehen geht alles seinen spätkapitalistischen Gang – nach unten.

�� Claudio Katz

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ARGENTINIEN

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das zu Zinssätzen, die über dem regionalen Durchschnitt liegen. Damit ist Argentinien bereits unter den fünf Volkswirtschaften gelandet, die am stärksten verwundbar durch die Auswirkungen einer möglichen internationalen Krise wären.

Nach allen Berechnungsmethoden ist das Haushalts-defizit sprunghaft angestiegen. Der Primärsaldo [Neu-verschuldung ohne Zinsen] ging anfangs wegen außeror-dentlicher Einkünfte aus Geldwäsche leicht zurück. Aber die Finanzierungskomponente des Haushaltsdefizits ist mit dem Zinssatz auf die Schulden angestiegen. Der Steuereinbruch (6–7 %) grenzt bereits an die gleichen Zahlen wie bei den großen Wirtschaftsbeben der Ver-gangenheit.

Diese Häufung von Ungleichgewichten führte zu der unerwarteten Abwertung im Dezember. Die gleichen Banker, die den Anstieg der Währungsparität unterstütz-ten (um vom Recycling von Lebacs [lokale Währung aus abgewerteten Peso-Noten der Zentralbank] zu profitie-ren), waren erschrocken. Mit Besorgnis beobachteten sie die mangelnde Synchronisierung des Dollars mit den Inlandspreisen und die wachsende Gefahr durch die Verschuldung. Die Regierung hat zwar bereits die Hälfte ihres Finanzbedarfs für das Jahr gedeckt, aber Zweifel an ihrer zukünftigen Zahlungsfähigkeit bestehen weiterhin.

Das Handelsdefizit ist das höchste der letzten 40 Jah-re. Die Kapitalflucht steigt unaufhörlich und betrifft 84 von 100 einlaufenden Dollars, dasselbe Niveau wie unter dem Kirchnerismus. Dieses Szenario verschärft das Schwarze-Peter-Spiel unter den Verantwortlichen der Wirtschaft. Diejenigen, die höhere Zinssätze und einen Stopp der Anleiheemissionen verlangen, kollidieren mit Anhängern einer Abwertung und Konjunkturbelebung. Dies ist eine auswegslose Diskussion, die stets zum selben Desaster führt. Ohne Wachstum und Investitionen gibt es auch wenig Raum für irgendeine Alternative.

Macri erklärt, dass „das Schlimmste vorbei“ sei. Dabei steht dies erst noch bevor: Anfang 2018 hat sich die Erholung des BIP verlangsamt. Die offizielle Inflati-onsprognose (15 %) ist angesichts der massiven Preiserhö-hungen für öffentliche Dienstleistungen unglaubwürdig. Indem die Regierung den Aufschwung des Dollars be-feuert, schürt sie die Inflation. Die Regierungspartei hat-te gehofft, die Preise durch Lohnsenkungen eindämmen zu können, aber dies reduziert den Konsum und würgt den einzigen Motor des BIP ab, angesichts der Stagna-tion der Investitionen und des Rückgangs der Exporte. Erschwerend kommt hinzu, dass der Steuerrückgang

den Fortgang öffentlicher Aufträge als Konjunkturmotor bedroht.

Verwirrung und Rechtfertigungen

Angesichts des trostlosen Wirtschaftsszenarios geraten die Regierungsbehörden ins Schwimmen und versteifen sich auf die Ausrede, man sei nur im Rückstand und die Aus-sichten ab Mitte 2018 glänzend aufgrund der Anpassungen bei Zöllen und Wechselkursen. Aber diese Lesart ignoriert die Tatsache, dass die Inflation weiterhin diese beiden Variablen untergräbt.

Ökonomen aller Couleur erheben ihre Stimmen. Die Untauglichkeit der aktuellen Wirtschaftspolitik ist offensichtlich und offen ist nur, ob die Fehlentwicklung reversibel ist oder bereits eine Zeitbombe gezündet hat. Verzweifelt suchen die Strategen der PRO nach neuen Entschuldigungen und argumentieren, dass das „Erbe schwerer als erwartet“ war und dass sie nicht „die ganze Wahrheit“ erzählt hätten. Aber dieser Gemeinplatz, den alle Regierungen bemühen, um die Schuld abzuwälzen, findet wenig Gehör, da diese „geerbten“ Unstimmigkeiten bei weitem nicht das Ausmaß der Hyperinflation von 1989 oder des Crashs von 2001 hatten und durch Maßnahmen von Cambiemos eher noch verstärkt wurden.

Zumeist wird argumentiert, dass die Veränderungen nur langsam und schrittweise („gradualistisch“) vonstatten gingen und daher auch zähe Ergebnisse erzeugen. Aber dies erklärt nichts und rechtfertigt nur die eigene Ineffizi-enz mit der Behauptung, dass man nur das Tempo erhöhen müsse, um zu den richtigen Ergebnissen zu gelangen. Es ist einfacher, den umgekehrten Fall zu betrachten: Das ak-tuelle Desaster wäre mit einer höheren Dosis des gleichen Rezepts unendlich schlimmer.

Wenn der Kurs richtig wäre, müssten die grünen Triebe der von Macri vorhersagten großartigen Zu-kunft sprießen. Im Gegenteil jedoch zeigen sich bereits die ersten Anzeichen der kommenden Katastrophe. Der „Gradualismus“ ist nur eine vorgeschobene Rechtferti-gung der wachsenden Verschuldung. Früher galt sie als Grundlage für produktive Investitionen, inzwischen aber ist sie als Instrument zur Deckung laufender Ausgaben akzeptiert. In Wahrheit zeugt das schrittweise Vorgehen nur, wie stark der Widerstand in der Bevölkerung ist. Die Regierung sagt selbst, dass eine „abrupte Anpassung einen sozialen Krieg entfesseln würde“, und gibt damit zu, wie groß die Opposition gegen ihre brutalen Maß-nahmen ist und dass sie daher nur schrittweise vorgehen kann.

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ARGENTINIEN

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Die Unfähigkeit von Macri hat auch die Kritik der Steinzeit-Rechten befeuert. Sie wettern gegen die zöger-lichen Anpassungsmaßnahmen und plädieren für ein for-ciertes Tempo. Sie schimpfen gegen Beamte, die „es nicht wagen, Staatsangestellte zu entlassen“, und sie verkünden, dass es keine Lösung ohne einen schmerzhaften Schock gebe. Natürlich nehmen sie sich selbst von den Folgen der Maßnahmen aus, die sie für den Rest des Volkes fordern. Die wohlhabenden Klassen sollen unter der angestrebten Prekarisierung nicht leiden. Die Rechten verschweigen auch, wie die Renaissance, die aus der von ihnen geprie-senen Schocktherapie hervorgehen soll, aussehen wird. Und sie verschweigen auch, dass die „Chirurgie ohne Betäubung“, die sie jetzt als Innovation bewerben, schon in den 1990er Jahren versucht wurde. Sie erinnern auch nicht daran, dass der Zusammenbruch von 2001 eine Folge dieses Experiments war. Das Problem liegt nicht in der Umsetzungsgeschwindigkeit des Modells, das – ob schnell oder langsam – nur in eine Katastrophe führen kann.

Mythen des Neoliberalismus

Der Macrismus bemüht die alten (neo)liberalen Glaubens-sätze, um seine Rückschläge zu rechtfertigen. Der Nieder-gang der Wirtschaft wird der Aufblähung des Staatsappa-rates und der daraus resultierenden Schwäche des privaten Sektors zugeschrieben. Aber dabei wird vergessen, dass die Expansion des Staates immer eine Reaktion auf ein Versa-gen des privaten Sektors war. Der Staat rettete unzählige Banker, Industrielle oder Agrarier vor dem Bankrott und versuchte lediglich, die ausbleibenden Investitionen der Kapitalistenklasse sowie Kapitalflucht und Inflation zu kompensieren.

Die Probleme der Wirtschaft sind nicht von Staats wegen gemacht, sondern dem Versagen der herrschenden Klassen geschuldet. Statt dies anzuerkennen, polemisieren die Führer*innen von Cambiemos gegen den „Populis-mus“ ihrer Vorgänger und preisen sich demgegenüber als tatkräftige Modernisierer Argentiniens. Zugleich wird Macri nie konkret und deutet nur an, dass die bösen Popu-listen das Paradies der Oligarchie zerstört hätten. Die Neo-liberalen machen den Populismus für alle Übel verant-wortlich, die von Maduro, Kirchner oder ihren damaligen Gegnern verursacht wurden. Die PRO-Ideologen blenden dabei die tatsächliche Verantwortung ihrer Vorgänger aus und unterstellen, dass Argentinien seit 1930 von Feinden des Liberalismus geführt worden sei. Sie vergessen dabei all die Regierungen, die die gleiche Wirtschaftspolitik betrie-ben haben wie heute. Macri hat die Öffnung der Märkte,

den aggressiven Kampf gegen die Gewerkschaftsbewegung oder die Ausplünderung durch ausländisches Kapital nicht erfunden. Insofern ist es unsinnig, die Konservativen, die Militärs, die Gorillas oder Menemistas, die den Staat zuvor regiert haben, in dieselbe Schublade zu stecken.

Regierungspropagandisten wie Llach verkünden, dass sie Zeit brauchen, um die „Kultur des Unverhältnismäßi-gen“ auszulöschen, die einfache Lösungen durch erlösende Caudillos sucht. Dabei präsentierte sich Macri selbst als Erlöser, der vorgab, dass seine Person das notwendige Ver-trauen schaffen würde, um die Probleme der Wirtschaft zu lösen. Andere werfen den Argentinier*innen vor, „über ihre Verhältnisse zu leben“ und das Land in einer nost-algischen Erinnerung an längst vergangene Reichtümer gefangen zu halten (Gerchunoff, 2016). Sie schreiben diese Fata Morgana der „Psychologie des Mittelstandes“ (Levy Yeyati, 2015) zu und wüten gegen das „Anspruchsdenken“ des letzten Jahrzehnts (González Fraga, 2016). Die Gürtel müssten enger geschnallt werden.

Dabei verallgemeinern sie das Verhalten der Reichen auf die gesamte Gesellschaft und vergessen, dass Ver-schwendung keine Gewohnheit der einfachen Menschen ist. Es ist ein Privileg von Minderheiten, Ressourcen zu verschwenden, die den Arbeiter*innen verweigert werden. Argentinien ist nicht zu einer Wüste geworden, sondern genauso reich wie in der Vergangenheit, bloß dass der Staat geplündert wird. Die Verantwortlichen dafür werden nicht benannt und stattdessen die Opfer beschuldigt.

Liberale verbinden gerne trostlose Diagnosen mit enthusiastischen Vorhersagen von Chancen für alle. Der Mythos des Unternehmers soll diese Träume versinnbild-lichen. Dabei wird unterstellt, dass mit einigen Ersparnis-sen jede Person durch private Aktivitäten reicher werden kann. Selbst Entlassungen werden als Chance dargestellt, Grills oder Brauereien zu eröffnen. Mit dieser Illusion lobpreisen sie die Umwandlung stabiler Arbeitsplätze in prekäre. Sie drücken sich vor jeder Bilanz der Geschehnisse in den 1990er Jahren, als durch Privatisierungen erzeugte Arbeitslosigkeit Millionen von Argentinier*innen in die Schattenwirtschaft drängte.

Im selben Geiste des Individualismus werden Sozialplä-ne gestrichen, während den Sozialhilfeempfänger*innen eine Verringerung der Ausgrenzung durch größere Bildungsanstrengungen versprochen wird. Aber ein Blick auf den Kahlschlag im Unterrichtswesen genügt, um die Heuchelei dieses Vorstoßes zu erkennen. Wie wollen sie die Arbeitslosen schulen, wenn sie zur gleichen Zeit die öffentliche Bildung zerstören? Aber auch nach Verbesse-

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rung ihre Qualifikation wird der Großteil der Arbeitslo-sen weiter ohne Arbeit sein. Ursache für den Mangel an Arbeitsplätzen ist die Stagnation der Wirtschaft und nicht das Fehlen von Absolventen von Grund- oder weiterfüh-renden Schulen.

Liberale Blindheit verhindert nicht nur das Erkennen so offensichtlicher Tatsachen. Sie lässt auch glauben, dass die Bürger*innen die Opfer des aktuellen Modells akzep-tieren würden. Die Angst vor einer Wiederholung von 2001 ist ein Trauma, das in einem Großteil der Gesell-schaft immer noch vorhanden ist. Rechtsextreme Kritiker ziehen Nutzen aus dieser Kombination von Unbehagen und Angst, um ihre Demagogie zu entfalten. Die hegemo-nialen Medien fördern diese Parolen und bieten Platz für jene, die die Unzulänglichkeit der Anpassungsmaßnah-men verkünden und die Vorteile einer massiven Senkung der öffentlichen Ausgaben erklären. Sie plädieren für das Beschneiden der Löhne und nicht der Schuldzinsen und instrumentalisieren die allgemeine Unzufriedenheit, um ein noch regressiveres Vorgehen zu rechtfertigen.

Offshore-Banker auf Bestellung

Cambiemos hat den alten liberalen Glauben wiederbelebt, die argentinische Krise der Korruption zuzuschreiben. Aber sie verschweigt, dass diese Geißel von Kapitalisten oft als Vorteil gesehen wird, da sie schnelle Gewinne ermöglicht. Zudem gibt es in vielen Ländern hohes Wachstum mit geringer Transparenz in der öffentlichen Verwaltung. Der Motor des Systems ist Profitabilität und nicht Ehrlichkeit.

Die falsche Gleichsetzung von institutioneller Sauber-keit mit Wohlstand ist ein Mythos der Rechten zur Mani-pulation der öffentlichen Meinung. […] Die Kleptokratie, die die Regierung beherrscht, privilegiert ganz offen ihre privaten Geschäfte. Der Verkauf kapitalkräftiger Unter-nehmen mit vertraulichen Informationen ist ein beliebter Dreh für solche Betrügereien. Mehrere durch offizielle Mittel geförderte Unternehmen, die mit der Präsidenten-familie verbunden waren, wurden zu hohen Preisen ver-kauft (Mautgebühren, Windparks, Luftverkehr). Macris Kumpan (Nicol s Caputo) verkaufte seine Baufirma in der gleichen Weise und sein Cousin (Calcaterra) verhandelt über einen ähnlichen Deal.

Alle Kabinettsmitglieder sichern ihre Geschäfte von beiden Seiten des Schalters ab: [Energieminister] Arangu-ren begünstigt Shell, [Wirtschaftskoodinator] Quintana Farmacity und [Wirtschaftssekretär] Braun die Super-märkte. Während sie Interessenkonflikte bestreiten, über-tragen sie Vermögen auf ihre eigenen Unternehmen. Nur

die Manipulation der Richter und die Abschirmung der Medien verhindern die Verbreitung dieser Skandale.

Es ist offensichtlich, dass Macri eine Regierung von Kapitalisten leitet, die das Management des Landes an seine Eigentümer delegiert und ein Kabinett von CEOs bildet, das das Managementmodell auf alle Ebenen des öffentlichen Sektors ausgedehnt hat. Ein großer Teil der Wählerschaft unterstützte dies, weil sie dachten, dass dies Investitionen der Bourgeoisie stimulieren würde. Cambie-mos förderte diesen Glauben und stellte seine Minister als Patrioten dar, die zugunsten der Nation auf große private Einkommen verzichtet hätten.

Zwei Jahre waren genug, um diese Träume platzen zu lassen. Jeder Minister verwaltet seinen Einflussbereich wie einen Business-Plan. Aber diese Unterschlagung war nicht so unerwartet wie die Inkompetenz der CEOs. Sie zeigten eine weit höhere Ineffizienz als ihre politischen Kollegen. Das aktuelle Chaos ist auch auf die Vorherrschaft der Fi-nanziers zurückzuführen. Die Banker bauen eine verrückte Verschuldung auf, die die nächsten Generationen treffen wird. Sie agieren nicht als einfache Kommissionäre. Sie verwalten ihre Vermögen mit Offshore-Unternehmen, um Steuern zu hinterziehen, Betrug zu vertuschen oder Geld zu waschen.

Alle Führer der PRO verstecken ihr Geld in Steu-erparadiesen – ganz wie die Großkapitalisten (Mindlin, Elsztain, Galperín), die ihre großen Operationen durch Offshore-Konten steuern. Die Minister ihrerseits platzieren ihre persönlichen Vermögen im Ausland, während sie zur Stärkung der nationalen Ersparnisse aufrufen. Auf dem Hö-hepunkt der Heuchelei wurde die Steuererhebung an einen Experten für Steuerhinterziehung delegiert. Der neue Chef der AFIP (Cuccioli) ist auf den Schutz von Millionär*innen spezialisiert, die sich Steuerpflichten entziehen. Argentinien belegt bereits Platz fünf in der Weltrangliste der Steuerhin-terziehung und wird mit Macri in dieser Liga bleiben.

Der Vergleich mit den 1990er Jahren

Der enorme Einfluss der Banker überschattet die anfäng-liche Bevorzugung der Agrar- und Bergbau-Lobby. Soja, Lithium und Öl sind die wichtigsten Geschäfte, aber sie kompensieren nicht den Geldstrom, der von den Finanzi-ers abgezogen wird. Darüber hinaus bestehen alte Konflik-te mit internationalen Saatgutlieferanten (Monsanto) und die von Macri gepriesenen Regierungen schließen ihre Märkte in Europa und den USA. Die anhaltende Aufwer-tung des Wechselkurses und die Auswirkungen der Dürre lassen neue Spannungen erwarten.

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Aber die größten Probleme betreffen die Industrie. Ob-wohl der Unternehmerverband die Regierung unterstützt – und einen drastischen Abbau der Rechte der Beschäf-tigten fordert – leidet der Großteil des Sektors unter der Öffnung für Importe. Das enorme Handelsdefizit veran-schaulicht das Ausmaß dieser Invasion. Der Konflikt mit der Industrie nimmt mit der Schließung von Unterneh-men dramatische Formen an. Die Welle von Stilllegungen, Insolvenzen und Entlassungen geht durch alle Sektoren. Das Projekt der Umwandlung von Firmengelände auf Feu-erland in leere Räume für den Tourismus veranschaulicht diese Verwüstung.

Dieses Szenario hat viele Ähnlichkeiten mit Menem. Macri betreibt dieselben Anpassungen der argentinischen Wirtschaft an die Erfordernisse der neoliberalen Globali-sierung. Analogien erstrecken sich auch auf das Personal – die alten Rechten kehren zurück, um wichtige Staatsposi-tionen zu besetzen. Es ist offensichtlich, dass der Macrismo die 1990er Jahre mit einer neuen Rhetorik wiederholt.

Diese Politik zerstört das soziale Gefüge und vergrö-ßert das Elend. Das verbreitete Bild eines Projekts für ein Drittel der Bevölkerung (ohne Platz für den Rest) be-schreibt das aktuelle Modell. Aber es gibt einige Unter-schiede zu seinem Vorgänger. Cambiemos steht einem Volkswiderstand gegenüber, der weit über dem der 1990er Jahre liegt, und muss für jeden Angriff einen hohen Preis bezahlen. Im Dezember setzte es die Plünderung der Rentner im Kongress durch, verlor aber die Schlacht auf der Straße. Da das derzeitige Kräfteverhältnis es am Voranschreiten hindert, setzt es auf Wiederwahl, um seine Anpassungen durchzusetzen.

Macri nimmt – wie einst Menem – an, dass die Welt ihn unterstützt und goutiert die pathetischen Komplimen-te, die er vom Westen erhält. Er registriert nicht, wie viel sich auf der internationalen Szene in den letzten Jahrzehn-ten verändert hat. Die Euphorie über die Privatisierung in Lateinamerika ist längst Geschichte und die Märkte der Großmächte sind den argentinischen Exporten verschlos-sen. Die Mächtigen der Welt versuchen, ihre Geschäfte im Land zu machen, ohne dafür im Gegenzug etwas anzubieten. Trump blockiert die Einfuhr von Zitrus-früchten und Biodiesel und jetzt auch noch von Stahl. In Europa herrscht das gleiche Verhalten. Keine Regierung hat zugestimmt, Fleisch oder Biodiesel im Tausch gegen eine Vereinbarung mit MERCOSUR zu kaufen, die die Vorrechte des Staates bei öffentlichen Ausschreibungen beseitigen würde. Die Enttäuschung über den Westen hat Macri veranlasst, seine Kritik an Russland und China zu

vergessen und bei improvisierten Blitzbesuchen in diesen Ländern um Verkäufe, Kredite und Investitionen zu bitten. Die „Rückkehr Argentiniens in die Welt“ bringt eine unerschöpfliche Ansammlung von Problemen mit sich.

Auch auf der internen Ebene ist der Vergleich mit den 1990ern für Cambiemos unvorteilhaft. Als Macri ohne den Alptraum einer vorangegangenen Hyperinflation an die Macht kam, konnte er nicht von der Fata Morgana der freien Konvertierbarkeit profitieren. Wie in den 1990ern zerstörte die Wechselkursaufwertung die Produktion und schwächte die Exporte. Aber die dramatischste Ähnlich-keit mit der Vergangenheit liegt in der Verschuldung. Die Regierung hat Reserven und Spielraum, um weiterhin Kredite aufzunehmen, aber sie treibt eine gefährliche Eskalation. Jedes Misstrauen der Gläubiger*innen oder unvorhergesehene internationale Ereignisse können ein Desaster auslösen. Macri hat das Land wieder in diese Falle geführt.

Der Hintergrund für den Niedergang

Die Neoliberalen verbergen die Probleme der Wirtschaft hinter Tagträumen. Der neueste Trend ist, Kolumbien und Peru als Modelle darzustellen, denen man folgen solle. Traditionell haben die Rechten die USA oder in jüngerer Zeit Spanien und Italien nachgeahmt. Die Tatsache, dass sie jetzt die Nachahmung unterentwickelter Volkswirt-schaften postulieren, ist ein Bekenntnis dessen, was sie für die Zukunft erwarten. Sie versuchen, eine verzuckerte Vision der extraktivistischen Modelle zu vermitteln und verbergen, wie sie die soziale Ausgrenzung erhöhen wol-len.

Aber sie erklären auch nicht, warum Argentinien Migrant*innen aus diesen Nationen anzieht (und nicht umgekehrt). Ihre Bilanz vergisst auch, dass Kolumbien oder Peru eine industrielle Struktur fehlt, die der Neoli-beralismus in unserem Land zerstören will. […] In ihrem Vergleichseifer übersehen die PRO-Propagandist*innen, die Analogien zu Brasilien. Dort hat die gleiche industri-elle Regression und Beschränkung auf exportorientierte Rohstoffe wie in Argentinien stattgefunden. Eine Vo-latilität des Kapitals wird auch dort beobachtet, und die Höchst- und Tiefstwerte des BIP sind sehr ähnlich.

Aber der industrielle Rückgang unseres Landes ist viel größer. Es genügt, die Handelsbilanz zwischen den beiden Nationen zu betrachten, um diesen Rückgang zu sehen. Argentinien wurde mit einem solventeren Binnenmarkt und größeren sozialen Errungenschaften industrialisiert. Deshalb ist es schlechter an die Forderungen der Rentabi-

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lität der kapitalistischen Globalisierung angepasst. Argentinien hat den privilegierten Platz verloren, den

es in der Vergangenheit im Hinblick auf die Ausfuhr von Fleisch und Weizen hatte und der durch Soja-Ausfuhr nicht ersetzt werden kann. Der Konkurs der integralen Landwirtschaft und der Einbruch des Bergbau-Extrakti-vismus führen zu noch mehr Abbau von Arbeitsplätzen. Neoliberale Globalisierung ist ein Alptraum für die kapita-listische Umstrukturierung des Landes und hat ein Drittel der Bevölkerung in die Schattenwirtschaft verbannt.

Die „neo-developmentalistische“ Kritik

Viele Gegner des aktuellen Kurses vermeiden es, die Probleme, die ein wirtschaftlicher Expansionskurs für Argentinien bedeuten würde, zu berücksichtigen. Sie betrachten den Kapitalismus als unverrückbare Tatsache und reduzieren die Probleme der Wirtschaft auf die Fehler des aktuellen Modells. Gegen Macris Politik plädieren sie und besonders die Vertreter der Kirchnerismus für eine neo-developmentalistische Politik, die uns erlauben würde, einen Weg des Wachstums und der Integration zu unterstützen.

Aber dieser Ansatz vergisst, dass beide Herange-hensweisen auf dem Kapitalismus beruhen und bloß an unterschiedliche Akkumulationsmechanismen anknüp-fen. Der Neo-Developmentalismus entstand, um auf das Debakel von 2001 zu reagieren. Er versuchte, die Industrie mit staatlichen Beihilfen, niedrigen Zinsen und wettbe-werbsfähigen Wechselkursen wiederzubeleben, ohne auf das Modell des Agrar-Exports zu verzichten. Daher war er von der internationalen Lage abhängig und konnte nur gedeihen, solange die Exportpreise hoch waren. In diesem Zeitraum reorganisierte er die Produktion und stabilisier-te das Wachstum mit dem Zustrom von Dollars. Da aber die Grundlagen der Unterentwicklung bestehen blieben, wurde er durch die weltweite Krise gelähmt. Dann traten die Engpässe wieder auf, die Konsumanreize verloren ihre Wirkung und Haushaltsdefizit sowie Inflation stiegen wieder an.

Diese Bilanz wird von Unterstützer*innen des Kirch-nerismus in der Regel ignoriert. […] Sie vermeiden, ihre Pläne offenzulegen und brüten noch konservativere Alter-nativen als Spielarten des Peronismus aus. Diese Haltung deckt sich mit den strategischen Interessen der herrschen-den Klasse, die die Kontinuität des gegenwärtigen Kurses in der Variante PRO oder in einer „peronistischen“ Op-tion sicherstellen will. Um einen anderen Weg zu finden, müssen wir berücksichtigen, wie sich die argentinische

Krise in die Krise des abhängigen Kapitalismus insgesamt einfügt. Das heißt, wir müssen nach Alternativen außer-halb eines Systems suchen, das die Mehrheit der Bevölke-rung in die Armut treibt.

22. März 2018

�� Übersetzung aus dem Englischen: Björn Mertens

Claudio Katz ist Wirtschaftswissen-schaftler am National Council of Science and Technology (CNCT) und lehrt an der Universität von Buenos Aires (Argentinien).

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Dossier Ma zeDonien

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Dossier Mazedonien

Mazedonien – ein Streit uM

nichtS?Gegen den Aufschwung nationalistischer Tendenzen entlang des

Namensstreits, der in Griechenland gar zur Bildung einer Querfront geführt hat, plädieren wir für einen strikt antikapitalistischen Internationalismus.

Ein Dossier mit 3 Beiträgen

Nationalistische Fall stricke für die LinkeSEitE 50

Ein Jung brunnen für die FaschistenSEitE 52

Für eine sozialis-tische Bewegung auf dem BalkanSEitE 54

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Dossier Ma zeDonien

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nationaliS­tiSche Fall­Stricke Für die linkeAngesichts der verschärften Bemühungen seitens von EU und NATO, den Balkan in die westlichen Bündnisse stärker einzubinden, kocht die Mazedonien-Frage wieder hoch. Namentlich in Griechenland nimmt der nationalistische Spuk beunruhigende Ausmaße an und stellt besonders die Linke auf die (Zerreiß-)Probe. Emil Ansker

Um den NATO-Beitritt der Republik Mazedonien zu forcieren, setzen die USA Tsipras und den mazedonischen Premier Zoran Zaev unter Druck, sich im Namensstreit um den mazedonischen Staat zu einigen. Seit dessen Grün-dung 1991 wird dieser Name von sämtlichen griechischen Regierungen angefochten, weil es sich hierbei um eine Usurpation fremder Geschichte durch die missbräuchliche Verwendung des Namens und der Symbole des antiken hellenischen Königreichs unter Alexander dem Großen handele. Dessen Erbe gehöre allein dem griechischen Staat und deswegen müssten auch die seiner Meinung nach irre-dentistischen Passagen aus der mazedonischen Verfassung gestrichen werden.

Ein erbärmlicher Disput

Auch wenn sie innenpolitisch unter Druck stehen, wie sich an den nationalistischen Kundgebungen in jüngster Zeit gezeigt hat, scheinen beide Parteien entschlossen, diesen unseligen Streit in der durch die US-amerikanischen und europäischen „Partnerländer“ vorgegebenen Zeit beilegen zu wollen. Zaev hat bspw. bereits akzeptiert, den zentralen Flughafen und die Hauptautobahnachse des Landes so umzutaufen, dass die Be-züge auf Alexander den Großen getilgt werden. Außerdem ständen mehrere Namen zur Disposition1, um Tsipras’ An-sprüchen Genüge zu tun und eine eindeutige Unterscheidung zwischen dem mazedonischen Staat und der gleichnamigen Provinz in Nordgriechenland zu treffen.

Auf griechischer Seite hat dieser diplomatische Vorstoß umgehend die reaktionärsten Kreise des politischen und gesellschaftlichen Spektrums auf den Plan gerufen. Am 21. Januar kam es zu der ersten nationalistischen Demons-tration mit mehreren Zehntausend Teilnehmer*innen in Thessaloniki, an deren Ende ein besetztes Haus abgefackelt wurde. Danach gab es am 4. Februar eine Kundgebung auf dem Syntagma-Platz in Athen, zu der die Nea Dimokra-tia, die extreme Rechte (darunter natürlich die Goldene Morgenröte), die Kirche, die Vertriebenenverbände, die rechten Medien etc. aufgerufen hatten.

Auch wenn die Organisatoren eine Teilnehmerzahl von 1,5 Millionen reklamieren – wohingegen die Polizei von 150 000 spricht –, liegen die Zahlen weit unterhalb der Massenkundgebungen zu dieser Frage in den 1990er Jahren. Bedenkt man hingegen, dass zweieinhalb Jahre zuvor dort noch eine Massenkundgebung für das Nein zum dritten EU-Memorandum stattgefunden hat, zeigt ein solcher Massenauflauf zu einem solchen Thema, dass das Pendel zurückschwingt.

Die diesmal aufgestellten Parolen wandten sich strikt gegen jeden Gebrauch des Namens „Mazedonien“, selbst als geographische Bezeichnung. Welche geistige Verfasst-heit dort herrschte, zeigt das folgende Zitat des Hauptred-ners, des 92-jährigen Komponisten Mikis Theodorakis2: „Mazedonien war immer griechisch und wird es immer sein.“ Und schlimmer und verwirrender noch (gerade in Hinblick auf die eigene politische Biographie): Nachdem er die Regierung als „Vaterlandsverräter“ angeprangert hatte, rief er dazu auf, „den Faschismus in jeder Form anzuprangern und zu bekämpfen, v. a. in seiner hinterlis-tigsten, perfidesten und gefährlichsten Form, nämlich als Linksfaschismus“.

Zwei Herzen in der rechten Brust …

Obwohl sie zutiefst konservativ inspiriert sind, kommen diese Demonstrationen dem Vorsitzenden der Nea Dimo-kratia Kyriakos Mitsotakis nicht recht zupass. Einerseits versucht er, sich gegenüber seinem Vorgänger Samaras als Vertreter der politischen Mitte zu profilieren. Bei Fragen, die die Ziele der EU und der NATO kompromit-tieren könnten, befindet er sich dabei auf derselben Seite wie Tsipras. Auf der anderen Seite hatte sich seine Partei einst unter der Regierung Karamanlis für einen Namen ausgesprochen, der „Mazedonien“ als Bestandteil enthält. Indem er nun diese Position aufgibt, gleitet er gezwun-genermaßen nach rechts ab, was ihm Syriza genüsslich vorhält.

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Dossier Ma zeDonien

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Angesichts dieser Konstellation und des stagnierenden Einflusses der neofaschistischen Goldenen Morgenröte seit 2015 wird über die Gründung einer neuen Rechtspar-tei spekuliert. Nahrung erhielt diese Mutmaßung durch die Anwesenheit des General Frangos Frangoulis auf der Rednertribüne der Kundgebung in Thessaloniki. Er wäre dafür der ideale Kandidat: Als ehemaliges Mitglied des Generalstabs der Armee und ultranationalistischer Tür-kenfresser war er kurzzeitig Verteidigungsminister unter Pikrammenos (Mai bis Juni 2012) und später Unterzeich-ner eines Aufrufs von Reserveoffizieren für ein Ja beim Referendum zum EU-Memorandum 2015. Kurzum, eine perfekte Mischung aus aggressivem Nationalismus und unerschütterlicher Loyalität gegenüber EU und NATO. Allerdings gibt er sich sehr reserviert hinsichtlich seiner politischen Zukunftsperspektive und tatsächlich lassen ND und Goldene Morgenröte momentan keinen Raum zwischen sich für eine weitere Partei.

Tsipras muss dies auch nicht sonderlich kümmern, zumal seine Koalition mit der Anel die bei den Verhand-lungen mit Zaev zutage getretenen inneren Widersprüche gut aushalten kann. Zwar befinden sich die nationalistisch gesinnten Unabhängigen Griechen (Anel) unter Panos Kammenos, die der Kirche und der Armee sehr naheste-hen, durch diese Verhandlungen gegenüber ihrer Basis in einer heiklen Lage, aber es scheint sich ein tragfähiger Kompromiss abzuzeichnen. Die Anel könnte sich bei der Abstimmung enthalten und das griechisch-mazedonische Abkommen käme mit den Stimmen von Pasok und Pota-mi durch das Parlament. Diese Konstellation bewährt sich bekanntlich seit 2015.

… und auch die Linke ist ambivalent

Der tragische, wenn auch nicht überraschende Fall Mikis Theodorakis steht emblematisch für das strukturelle Di-lemma in der griechischen Linken. Unter dem Deckmän-telchen der Opposition gegen die NATO-Strategie und die EU-Erweiterung um die Balkanstaaten schrecken viele nicht vor einer Querfront mit den übelsten Chauvinisten und gemeinsamen Auftritten mit Vertretern der Reaktion zurück.

Beispiele dafür sind die Maoisten der KOE (Kommu-nistische Organisation Griechenlands; früher Mitglied von Syriza, jetzt unabhängig), die die obigen Versammlungen aktiv unterstützt haben. Oder Zoé Konstantopoulou, die ehemalige Parlamentspräsidentin und Vorsitzende ihrer Minipartei „Kurs der Freiheit“ (Plefsi Elefterias), die vor wenigen Monaten im Beisein von Jean-Luc Mélenchon

gegründet wurde. Zu allen Schandtaten bereit, wenn es gegen die Regierung geht, begeisterte sie sich für die „Hunderttausende Bürger, die ein neues Blatt in der Geschichte zur Verteidigung unserer Würde und unseres Vaterlandes geschrieben“ hätten. Dabei entblödete sie sich nicht, ihre Unterstützung für die Versammlungen damit zu rechtfertigen, dass man das Terrain nicht den Faschisten überlassen dürfe.

Andere wiederum lamentieren über die Verkeh-rung der Prioritäten, wo doch die größte Bedrohung für Griechenland aus Ankara und weniger aus Skopje käme. Diese Position wurde auf der Webseite der Linken Strö-mung von Lafazanis (Volkseinheit, LAE) veröffentlicht, ausgeschmückt mit Kommentaren über die potentielle Bedrohung durch den mazedonischen Irredentismus und den albanischen Nationalismus. Es hat übrigens nicht viel daran gefehlt, dass die Volkseinheit offiziell zu den Kundgebungen mobilisiert hätte, so wohlwollend wie ihre Führung diese kommentiert hat.3 Die LAE hält hartnäckig an der „provisorischen“ Bezeichnung „Ehemalige jugo-slawische Republik Mazedonien“ fest, die Griechenland 1993 durchgesetzt hat, und wendet sich strikt gegen jedes Abkommen „unter der Fuchtel der NATO“.

Die KKE wiederum lehnt zwar gemäß ihrer sterilen antiimperialistischen Rhetorik diese Bezeichnung als expansionistisch ab und verurteilt die nationalistischen Kundgebungen als Ablenkungsmanöver und Fallstrick für die Völker der Region, passt sich aber de facto an die Regierungsposition eines zusammengesetzten Namens für Mazedonien an.

Unsere Position als internationalisten

Obwohl die gesamte radikale Linke einhellig die nationa-listischen Kundgebungen verurteilt und gegen die impe-rialistischen Pläne auf dem Balkan kämpft, gibt es unter-schiedliche Auffassungen über die sich daraus ergebenden Forderungen und die Analyse der spezifischen Rolle Griechenlands im Modell des westlichen Imperialismus.

Diese Divergenzen gehen auf die unterschiedlichen ideologischen Traditionen zurück, da die aus dem Sta-linismus stammenden Strömungen schon immer eine andere Auffassung vom Charakter des griechischen Staates hatten als die trotzkistischen und der Großteil der anar-chistischen Strömungen. Für die einen ist Griechenland ein vom westlichen Imperialismus beherrschter Staat, dessen nationale Interessen zur Disposition stehen: Die EU-Memoranden stützen natürlich diese Theorie. Für die anderen ist Griechenland ein unverzichtbares Kettenglied

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für die imperialistische Herrschaft in der Region: Es war Gründungsmitglied der NATO und der erste Balkanstaat in der EU und der Eurozone und seine Unternehmen (besonders im Banken- und Bausektor) expandieren schon lange massiv auf die Märkte der Nachbarländer, besonders in Mazedonien.

Innerhalb des antikapitalistischen Bündnisses An-tarsya halten ein Teil der NAR (Strömung der Neuen Linken, die aus einer Abspaltung der KP-Jugend 1989 hervorgegangen ist) und andere Strömungen maoistischen Ursprungs einen zusammengesetzten Namen für eine gute Lösung und verurteilen sämtliche nationalistischen Tendenzen auf dem Balkan in gleicher Weise und ohne die geringste Unterscheidung zu treffen – eine Position, die der KKE nahesteht. Andere wie die OKDE-Spartakos und die SEK fordern die Anerkennung des Namens „Re-publik Mazedonien“ sowie der slawisch-mazedonischen Minderheit in Nordgriechenland und lehnen es ab, beide Nationalismen über einen Kamm zu scheren, da sie Grie-chenland als vorherrschende imperialistische Kraft auf dem Balkan einstufen.

Das ändert aber nichts daran, dass der antikapitalis-tischen Linken und der libertären Bewegung das Ver-dienst zukommt, sich um eine politische Antwort auf das nationalistische Gift bemüht zu haben, das diesen Namen verdient, und dafür auch mobilisiert zu haben. Bereits am 3. Februar, also am Vorabend der Kundgebung in Athen, gelang es einer Versammlung von 2500 Antifaschisten, eine Demonstration zu verhindern, zu der die Goldene Morgenröte aufgerufen hatte. Am nächsten Tag wurden die Vereinslokale im Viertel Exarcheia, die ein paar-hundert Meter vom Syntagma entfernt liegen, dank der Mobilisierung unter den anarchistischen Netzwerken gut bewacht und 2000 Antifaschist*innen versammelten sich vor den Propyläen. Dadurch konnten die Faschist*innen aller Couleur trotz ihrer massiven Präsenz im Zentrum Athens am 4. Februar an ihren üblichen Attacken gehin-dert werden.

[…] Weitere Aktionen werden notwendig sein, um zu demonstrieren, dass es wider die Interessen der Arbeiter*innen und der Völker des Balkans ist, den natio-nalistischen Sirenen zu folgen.

�� Übersetzung: MiWe

1 Nordmazedonien, Obermazedonien, Republik Mazedoni-en-Skopje, Neumazedonien etc.2 Symbol des Widerstands gegen die Nazis und später gegen

die Militärdiktatur. Langjähriges Mitglied der KKE und zwi-schen 1990 und 1992 Minister in der rechten Regierung unter Constantinos Mitsotakis.3 Eine andere Strömung innerhalb der LAE aus DEA und Red Network hingegen hat klar antichauvinistische Positionen bezogen.

ein Jung­brunnen Für die FaSchiStenDer Nationalitätenstreit zwischen Athen und Skopje verhilft der Neonazipartei Goldene Morgenröte zu neuer Blüte, derweil Griechen-land weiter im Sumpf steckt. Daher könnte die Rechte bei den Parlamentswahlen 2019 aus dieser Kontroverse Kapital schlagen. Angélique Kourounis

Die neuesten Zahlen belegen eine wahre Überraschung: Die Goldene Morgenröte liegt mit 9,4% und damit 3% über den letzten Umfragen in den Wahlprognosen wieder an dritter Stelle. Der „Jubel“ ließ nicht lange auf sich war-ten: Am selben Abend überfielen ein Dutzend maskierter und behelmter Faschos das Vereinslokal der antifaschis-tischen Initiative Favela in Piräus mit Leuchtraketen und brüllten: “Ihr Arschficker kommt jetzt an die Reihe!“

Sie schlugen mit Eisenstangen und Spaten auf die Köp-fe ein in der Absicht, ihre Gegner zu töten. Anschließend zogen sie sich zurück unter dem Gebrüll der Parteiparole: „Blut, Ehre, Goldene Morgenröte!“ und hinterließen fünf Verletzte, darunter zwei mit schweren Schädel-Hirn-Traumata.

Die vor Ort anwesende Elefteria Tobatzoglou, An-wältin der Familie des vor vier Jahren von der Goldenen Morgenröte ermordeten Rappers Pavlos Fyssas stand dabei im Visier der Angreifer. Noch keine drei Stunden später dementierten die Faschos im Netz jedwede Beteiligung an dem Angriff, den sie „nachdrücklich verurteilten“. Es

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Dossier Ma zeDonien

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ist allerdings nicht das erste Mal, dass die Anwälte in den laufenden Zivilprozessen gegen die Parlamentsfraktion der Goldenen Morgenröte und mehrere Anhänger von den Mitgliedern dieser Partei physisch angegriffen werden.

Im September letzten Jahres wurde eine andere Rechtsanwältin beim Verlassen des Gerichtsgebäudes verfolgt und geschlagen und die Polizei nahm die Anzeige nur sehr widerwillig entgegen und verfolgte die Angreifer. Kurz davor war Favela erstmals angegriffen worden und die Polizei hatte vier Personen festgenommen, bei denen Nazipropagandamaterial und Übungswaffen gefunden wurden.

Für den Anwalt Andreas Tzélis „liegt es auf der Hand, dass die Sturmtrupps der Goldenen Morgenröte wieder aktiv sind“. Tatsächlich war man bis zu der jüngsten Wahl-umfrage davon ausgegangen, dass dieser Prozess, der nach-weisen soll, dass die Organisation keine politische Partei ist, sondern „eine straff militärisch organisierte kriminelle Vereinigung, in der die Anweisungen von der Führung kommen und von den Mitgliedern ausgeführt werden“, die Organisation nachhaltig geschwächt hatte, zumal sie nur noch 6% in den Umfragen erhielt und zwei ihrer 18 Abgeordneten ausgetreten waren. […]

Dieser Strafprozess zieht sich allerdings in die Länge und findet kaum mehr Beachtung. Stattdessen steht die Mazedonienfrage im Mittelpunkt des medialen Interesses und gießt Wasser auf die Mühlen der Goldenen Morgen-röte und der sonstigen Rechten. […] Eine höhere Weihe erhielten die Neonazis ausgerechnet von Mikis Theodora-kis, der ihnen zubilligte, „ihr Vaterland ebenfalls zu lieben, allerdings auf eine aggressive Weise, die Zwietracht sät“. Da muss man sich kaum mehr wundern, dass die Neonazi-partei wieder in den Umfragen steigt. […]

Dass sie sich überhaupt solange im Parlament eines Landes, das sich als Wiege der Demokratie rühmt, halten kann, liegt neben historischen Ursachen in der anhal-tenden ökonomischen und sozialen Misere des Landes, die einhergeht mit einem Zerfallsprozess der Linken und einer erheblichen Diskreditierung der Opposition. Der links-unabhängige Ex-Parlamentarier Odysseas Boudou-ris meint dazu: „Seit mittlerweile drei Jahren hat keine größere Demonstration gegen die regierende sog. „links-radikale“ Syriza mehr stattgefunden. Die Menschen fühlen sich orientierungslos und erniedrigt, weil ihr Votum vom Juli 2015, als sie mit über 61% der Stimmen das Memoran-dum abgelehnt haben, nicht respektiert worden ist. Zudem haben sie das Gefühl, dass das Land die Kontrolle verloren hat, sei es über die Steuer- oder Einwanderungspolitik und

v. a. die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es steht komplett unter der Fuchtel von außen und das wird noch lange so bleiben. Und es wird auch seine Souveränität nicht wieder-erlangen, wenn es diesen Sommer aus dem Memorandum entlassen wird.“

Diese Konfusion schlägt sich in den Wahlurnen nieder. Der bekannte Politikwissenschaftler Ilias Nicolakopoulos meint: “Etliche werden sich enthalten, und zwar vorwie-gend Wähler*innen der Linken. Rechte Wähler werden zur Goldenen Morgenröte abwandern, der einzigen wirklich rechtsextremen Partei in Griechenland. Die drei anderen weit rechts stehenden Parteien hingegen gewin-nen zusehends Einfluss in der Nea Dimokratia.“

Diese Partei träumt davon, bei den nächsten, für 2019 vorgesehenen Wahlen wieder an die Macht zu gelangen. Ihr Vorsitzender Samaras versprach bereits im Wahlkampf von 2015, „das Land von den Flüchtlingen zu befreien, die unsere Gesellschaft tyrannisieren“. In seiner dama-ligen Regierungsmannschaft waren zwei ausgewiesene Rechtsextremisten, Adonis Georgiadis und Makis Voridis, ein Sympathisant von Jean-Marie Le Pen. Und als Außen-minister 1997 war die Mazedonienfrage sein Leib- und Magenthema.

Der Faschismusexperte Stamellos ist überzeugt: „In Griechenland liegt die Zukunft der extremen Rechten in der Strategie der traditionellen Rechten, die sich an die Agenda der Goldenen Morgenröte adaptiert, sei es in der Wirtschafts- und Sozialpolitik oder in der Flüchtlingsfra-ge.“

Angélique Kourounis forscht über den aufstieg der extremen rechten in europa und ist Koautorin des Buches Trouble on The Far Right.

�� Übersetzung: MiWe

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FüR EINE SO-ZIALISTISchE BEwEGUNG AUF DEM BALKANDas Onlinemagazin LeftEast befragt Alek

Atevik in dem folgenden Interview mit einem besonderen Interesse am griechisch-mazedonischen Streit um den Namen der nachjugoslawischen Republik Mazedonien und das Verhältnis der Linken beider Länder zueinander. Die zurückhaltenden Antworten des Befragten stimmen nachdenklich …

LeftEast: Angesichts der wechselseitigen Be-einflussung der Linken beider Länder in der Vergangenheit stellt sich die Frage, wie sich die politische Degeneration von Syriza im Nachbar-land Griechenland auf die Linke in Mazedonien ausgewirkt hat? Hat dies Einfluss auf Eure orga-nisationspolitischen und politisch-strategischen Debatten?Alek Atevik : Zwischen den linken Bewegungen in die-sen beiden Ländern während der jüngeren Vergangenheit muss strikt unterschieden werden. Die mazedonische Lin-ke ist entstanden, nachdem Jugoslawien auf alptraumhafte Weise auseinandergebrochen ist und sich der Kapitalis-mus dort wieder vollständig entfalten konnte. Bei diesem Prozess spielte der ehemalige Bund der Kommunisten Jugoslawiens eine entscheidende Rolle, indem er den „freien Markt“ zwar nicht initiiert, aber doch befördert hat und damit der Arbeiterklasse eine authentische politische Massenorganisation genommen hat. Die Linke in Ma-zedonien befindet sich noch in ihrer Entstehungsphase, ohne dass es eine breite Arbeiterpartei oder einflussreiche Gewerkschaften gibt. Die Gründung von Levica ist inso-fern ein Schritt nach vorn, weil dadurch die aktiven Kräfte aus ihrer Lethargie gerissen wurden. Allerdings warf dies

zugleich ein Schlaglicht auf die Verfasstheit der Linken und deren mangelnde ideologische und organisatorische Verankerung in der Bevölkerung, die sowohl auf objektive wie auf subjektive Gründe zurückzuführen ist. Natürlich stehen wir und die hiesige Arbeiterklasse auch unter dem Einfluss der Linken in Griechenland, aber diese äußeren Einflüsse sind nicht entscheidend für das Fortbestehen der mazedonischen Linken.

In jüngster Zeit ist wieder der Disput über die Bezeichnung Mazedonien entbrannt. Beispiels-weise wurden besetzte Häuser in Thessaloniki im Zuge nationalistischer Demonstrationen angesteckt. Auch in Athen demonstrierten kürz-lich zehntausende Nationalisten. Warum kocht dieser Nationalismus ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt hoch?Formal liegt die Verantwortung dafür auf mazedonischer Seite, wo die neu gewählte sozialdemokratische Regierung unter Zaev den Beitritt zur NATO anstrebt und dafür eine Einigung mit Griechenland im Namensstreit herbeiführen muss. Allein um an der Macht zu bleiben, ist Zaev in dieser Angelegenheit äußerst kompromissbereit gegenüber den griechischen Nationalisten und den Westmächten.

Wie gehen die verschiedenen linken Organi-sationen in deiner Region mit dem Wiederer-starken des Nationalismus und der Etablierung neonazistischer und faschistischer Kräfte in der laufenden nationalistischen Kampagne um den Namensstreit um?Streng genommen kann man nicht von einer aktuellen Zunahme des Nationalismus in Mazedonien sprechen. Vielmehr ist er ein Produkt der gewaltsamen Zerschlagung der Sozialistischen Republik Jugoslawien und spielte bei der Entstehung aller politischen Parteien eine starke Rolle. Ich würde sogar behaupten, dass die Nationalisten im Ab-wind sind und die Menschen ihre Propaganda satt haben. Natürlich hat die Wahlniederlage der vormals regierenden nationalkonservativen VMRO-DPMNE (Innere Maze-donische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit) die nationa-listische Rhetorik innerhalb der Partei befördert, in der Hoffnung, so den Popularitätsverlust wieder auffangen zu können. Dafür jedoch sind sie durch ihre unterwürfige Haltung gegenüber dem westlichen Imperialismus und ihre hochgradige Korruptheit während der letzten 11 Jahre politisch viel zu sehr diskreditiert. Die klerikalfaschisti-

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schen Gruppierungen, die es seit dreißig Jahren gibt, soll-ten uns nicht weiter beunruhigen, da sie organisatorisch zu schwach sind, um zu einer ernsthaften gesellschaftlichen Bedrohung zu werden. Es versteht sich von selbst, dass sie nur durch den Aufbau einer starken und disziplinierten Partei der Arbeiterklasse bekämpft werden können.

Worin liegen die Differenzen innerhalb der Lin-ken in Bezug auf den Namensstreit, so es welche gibt?Die politische Linke in Mazedonien ist strikt gegen eine Namensänderung, weil sie für das Prinzip der Selbstbe-stimmung der Nationen eintritt. Diejenigen, die das Ulti-matum Griechenlands und der Westmächte anerkennen, stehen unter dem Einfluss der regierenden Sozialdemo-kratie und folgen dabei der Logik, dass es zum Eintritt in die EU keine Alternative gäbe und Staat und Nation sich fügen müssten.

Es hat zahlreiche Solidaritätsaktionen über die Grenzen hinweg gegeben, in denen eine linke Kritik am neoliberalen Kapitalismus in Theorie und Praxis zum Ausdruck kamen, etwa in Bezug auf die Memorandumspolitik in Griechenland oder die Flüchtlingskrise oder kürzlich im grenzübergreifenden Engagement gegen die umweltzerstörerischen Bergbauvorhaben. Wie verläuft die Zusammenarbeit bei der Frage des Namensstreits?Die genannten Beispiele illustrieren die Zusammenarbeit unter den Aktivist*innen sehr gut. Auf die Bevölkerung jedoch hat dies kaum Einfluss, da unsere Bewegung zu schwach dafür ist. Hinzu kommen objektive Gründe, nämlich dass die mazedonische Linke aufgrund der ge-meinsamen Geschichte eher Verbindungen zu dem weiter entfernten Slowenien unterhält und es hier viel größere Gemeinsamkeiten gibt. Das soll nicht heißen, dass es künf-tig keine Zusammenarbeit zwischen mazedonischen und griechischen Sozialisten*innen oder Kommunist*innen geben wird.

Worin siehst du das Hauptproblem bei diesem Namensstreit und wie kann dies positiv „gelöst“ werden? Das Hauptproblem hinter diesem Streit ist der Kapitalis-mus, d. h. die schwache griechische Bourgeoisie und ihre „kleinimperialistischen“ Ambitionen, die Überbleibsel aus dem Griechischen Bürgerkrieg und dem Sieg der Kon-

terrevolution und die nationale Frage auf dem Balkan. Insofern fordert Levica die Linke auf, ihren Kampf gegen Kapitalismus und Nationalismus fortzuführen.

In welche Richtung entwickelt sich die gesell-schaftspolitische Lage in den beiden Ländern?Mazedonien hat sich von einem peripheren zu einem hochentwickelten kapitalistischen Staat weiterentwickelt, in dem Klassenantagonismen, Massenarbeitslosigkeit, beständige Immigration und Abbau des Gesundheits- und Erziehungswesens weit vorangeschritten sind. Die Frust-ration hierüber hat das autoritäre VMRO-Regime unter Gruevski zu Fall gebracht und zugleich hohe Erwartun-gen an die Folgeregierung befördert. Die Gewerkschaf-ten befinden sich auf Tauchstation. Die VMRO bleibt weiterhin die stärkste Oppositionspartei, obwohl ihre Unterstützung ebenfalls abbröckelt. Die Regierung Zaev wiederum betreibt trotz der linken Töne im Wahlkampf nahezu dieselbe Wirtschaftspolitik wie ihre Vorgängerin und wirkt offen planlos. Ihre unübersehbar prokapitalisti-sche Politik führt zu schwindender Akzeptanz unter ihren Wähler*innen.

Worin liegt die Zukunft der Linken in der Regi-on?Der Kapitalismus wird die aktive Linke vor neue Her-ausforderungen stellen und die gegenwärtige Krise wird letztlich zu einer Politisierung unter der Bevölkerung führen, von der der Balkan nicht ausgespart bleiben wird. Für die organisierte Linke wird es dabei um die Glaub-würdigkeit ihrer Demokratiefähigkeit und um die richtige Strategie gehen. Wer diesen Test besteht, wird künftig auch prädestiniert sein, politische Kader und Netzwerke zu organisieren. Wir brauchen internationalistisch orientierte Arbeiterparteien in all den Ländern unserer Region und wir brauchen sie jetzt. Die allfällige Parole sollte lauten: „Für eine sozialistische Föderation des Balkans, für eine sozialistische EU“.

Alek Atevik gehört zu den Heraus-gebern von Nova Iskra und ist Mitglied der marxistischen organisation Crveni (rot) sowie Gründungsmitglied der „Levica“ (Die Linke), wo er für den Bereich außen-, sicher-heits- und Verteidigungspolitik programmatisch arbeitet.

�� Übersetzung: MiWe

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Mary: Zunächst zu den Ergebnissen des Berichts: Unter welchen Bedingungen erfolgt die Übernah-me des Agrarlandes durch die Finanzwirtschaft in Brasilien und was sind die Folgen?Fábio: Diese Finanzialisierung des Agrarbodens in Brasi-lien existiert nicht erst seit heute, sondern ist gekoppelt an das Vordringen des Finanzkapitals seit den 1970er Jahren. Unter anderem haben David Harvey, François Chesnais und Robert Kurz diesen Prozess zu ihrem Untersuchungs-gegenstand gemacht, als die zentralen Funktionsmechanis-men der kapitalistischen Gesellschaft von der weltweiten Zirkulation des Finanzkapitals abhängig geworden sind. In Brasilien führte dies bereits damals zu erheblichen Verän-derungen der finanziellen Investitionen in landwirtschaft-liche Nutzflächen, was einherging mit einer wachsenden Außenverschuldung der öffentlichen und privaten Wirt-schaft. Zugleich entwickelte sich dort die Agrarindustrie und die Preise für Agrarland stiegen eindeutig in die Höhe. Umschuldung liegt in der Logik des kapitalistischen Be-triebs, so auch in Brasilien. Als in den 1990er Jahren Bra-silien unter dem neoliberalen Regime eine Schuldenkrise erlebte, kam auch die landwirtschaftliche Entwicklung ins Stocken und die Bodenreise fielen. Dadurch wurden damals kleinere Agrarreformen im Land möglich.

Brasi l ien

Zu den wichtigsten Veränderungen kam es nach der Rohstoffblase 2003, die 2008/09 im Gefolge der Subpri-me-Krise in den USA platzte. Zwischen diesen beiden Blasen wuchs die Agrarindustrie sowohl in der Fläche und Produktion als auch in der Produktivität (einschließlich Sojabohnen, Zuckerrohr, Mais, Baumwolle und Forst-wirtschaft). Das beförderte die Verdrängung des Faktors Arbeit aus dem Produktionsprozess und es kam zu struk-tureller Arbeitslosigkeit, der sog. Krise auf dem Arbeits-markt. Dies warf die Frage auf, wie der Kapitalismus den Akkumulationsprozess über den Mehrwert vollziehen kann, wenn zugleich immer weniger ausbeutbare Lohnar-beit in den Produktionsprozessen erforderlich ist.

Die Akkumulation der Schulden in diesem Finanziali-sierungsprozess führten zu einer Preisinflation bei den Vermögenswerten, die die Rohstoffpreise auf der ganzen Welt anheizte und die Immobilienpreise in den USA, Großbritannien und Spanien in immer schwindelerregen-dere Höhen trieb. Der logische Kern der Reproduktion des (fiktiven) Kapitals ist die kapitalistische Blasenbildung.

Tatsächlich war die Explosion der Rohstoffpreise an die Subprime-Krise ab Ende 2007 gekoppelt. Die auf der Fi-nanzialisierung und Fiktionalisierung der Wirtschaft und des Alltagslebens beruhende Logik der Kapitalakkumulati-

Landraub oder die Kommodifizierung des agrarbodens

Anlässlich der Veröffentlichung des Berichts über multinationale Konzerne und Bodenspekulation in Brasilien durch das dortige Netzwerk für soziale

Gerechtigkeit und Menschenrechte (Rede Social de Justiça e Direitos Humanos) sprach Mary Taylor für LeftEast mit den drei Autoren Fábio Pitta, Devlin Kuyek und Attila Szőcs über die Weiterungen ihrer Erkenntnisse

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on dominiert heutzutage die Welt, zumal sich der Kapita-lismus global als die einzig existierende Gesellschaftsform durchgesetzt hat.

Im Zentrum der Weltwirtschaftskrise stand die Subpri-me-Krise. Die Menschen kauften neue Häuser, denen an-dere Häuser als Hypothek hinterlegt waren. Der Bau und der Kauf von Häusern wurden durch Kredite finanziert. Dies ist sozusagen die Akkumulation fiktiven Kapitals, von der ich oben gesprochen habe, wobei die Inflation der Vermögenspreise die Wirtschaft antreibt. Auch wenn ur-sprünglich eine gegenständliche Ware hergestellt worden ist – die Häuser – ging es hauptsächlich darum, die Immo-bilienpreise aufzublähen und teuer zu vermieten. Dieser Prozess kommt zwangsläufig an einen Punkt, wo die Blase zerplatzt und die Preise fallen und wir mit Formen sozialer Barbarei zu tun haben, die mit der gesellschaftlichen Krise des Kapitalismus verbunden sind.

Dieses sozusagen fiktive Wachstum der Produktion und Produktivität in der Agrarindustrie vermehrte die Nachfrage nach anbaufähigem Land und damit die Preise. Nach der Krise von 2008/09 wurden Agrarflächen als Finanzanlage begehrt, als eine Investition, die unabhängig von den Rohstoffpreisen ist. Diese verfielen vielmehr zur gleichen Zeit, zu der die Agrarflächen aufgrund der Nach-frage teurer wurden.

Weltweit wirklich neu darin ist, dass mächtige Finan-zinvestoren und Agrarkonzerne Joint Ventures gründeten, um in Agrarland als bloße Finanzanlage zu investieren. Dies war vorher nicht der Fall gewesen. Radar S/A zum Beispiel ist ein Joint Venture zwischen TIAA (Pensions-fonds der USA) und Cosan S/A (dem größten brasiliani-schen Zuckerrohr-, Zucker- und Ethanolhersteller aus Brasilien). Radar S/A ist ein Immobilienunternehmen, das ausschließlich auf Agrarflächen spezialisiert ist. Ihr einziges Geschäft besteht darin, billiges Land zu kaufen, darauf zu warten, dass der Preis steigt, und es dann mit „Gewinn“ zu verkaufen, also eine sog. Finanzrente zu erzielen.

In dem bereits erwähnten Bericht zeigen wir Bilder von Radar-S/A-Farmen in der brasilianischen Region Cerrado, die gekauft und unberührt verkauft wurden, was zeigt, dass es bei diesem Geschäft bloß um Spekulation geht.

Bei diesen Geschäften geht es im Kern darum, Land billig zu kaufen und teuer zu verkaufen und dafür neues Agrarland billig zu generieren, indem illegale Landnah-men erfolgen. Die Folgen sind Vertreibung ländlicher Bewohner, Entwaldung, riesige Umweltschäden, schwe-re Dürren etc. Diese Bedingungen verhindern, dass die

Gemeinden auf den kleinen Grundstücken, die sie für sich behalten, überleben können.

Die sozialen Reproduktionsbedingungen für die länd-lichen Gemeinden und Arbeiter*innen sind inzwischen noch schlechter geworden, da infolge der Industrialisie-rung der Landwirtschaft in den letzten 40 Jahren kaum mehr Arbeitsplätze angeboten werden und aufgrund der Konkurrenz um diese Plätze sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert haben. Die Lage ist wahrhaft tragisch.

Wie wirken sich die von Fábio geschilderten Be-dingungen global aus?Devlin: Was in Brasilien passiert, hängt mit einem welt-weiten Phänomen zusammen, das nach der Finanzkrise von 2008 zum Ausbruch gekommen ist, als Finanzmana-ger begannen, nach Agrarflächen als neuer Anlageform Ausschau zu halten. Das Gerangel um Agrarflächen hängt auch mit den Belangen der Ernährungssicherung in einigen importabhängigen Ländern zusammen und mit der wachsenden Industrialisierung und der Kontrolle der Nahrungsmittelerzeugung durch Konzerne.

Fábio: Betrachten wir das Kapitel über die Schaffung des globalen Agrarlandmarktes nach 2008 in Saskia Sassens Buch Ausgrenzungen. Das von mir beschriebene Phäno-men der Veränderungen im Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten und auch die Verschiebung innerhalb des Finanzkapitalismus von der Umschuldungsphase zur Inflation der Vermögenspreise ermöglichten erst, dass ein solcher globaler Agrarflächenmarkt entstehen konnte und dass Finanzinvestoren überall nach Anlagemöglichkeiten Ausschau halten, ob in Afrika, Lateinamerika oder gar in den USA.

Attila: Das Thema Land hat auch in Europa an Brisanz gewonnen. Über zehn Jahre lang blickten die Europäi-sche Union und die nationalen Behörden auf den globalen Süden und sahen die massiven Landnahmen in afrikani-schen, asiatischen und südamerikanischen Ländern, aber inzwischen eskaliert die Landnahme in unserem eigenen Hinterhof. Ausschlaggebend dafür sind unter anderem die weit verbreitete monokulturelle Landwirtschaft, Forst-wirtschaft, Bergbau, Energie, Tourismus und letztlich Spekulation – und der Prozess schwächt die ländliche Wirtschaft und behindert die Entwicklung eines dynami-schen ländlichen Sektors. In meinem Land, Rumänien, ist nach dem Sturz des kommunistischen Regimes, in dem der größte Teil des Landes unter staatlicher Kontrolle

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stand (dominiert von einer Elite), das Land zusammen mit der Privatisierung und Liberalisierung des Grundstücks-marktes schnell zum Gegenstand von Spekulationen und massiven privaten Investitionen geworden. Unabhängig von der ausgebeuteten Ressource wird derzeit das Land der rumänischen Bauern, also von insgesamt fast 5 Millionen Menschen, okkupiert und mit grundlegend umgewandelt. Kleinbäuerliche Betriebe verschwinden rapide. Statistiken des Rumänischen Nationalen Instituts für Statistik zeigen, dass zwischen 2002 und 2010 etwa 150 000 kleine Betrie-be verschwunden sind. Das sind drei Bauernhöfe pro Stun-de! Es ist ein massiver Wandel unserer Gesellschaft, in der die lokalen Nahrungsmittelproduzenten durch Konzent-rationsprozesse oder unumwundene Landnahme aus ihren ländlichen Gebieten vertrieben und zur Migration und in die Arbeitslosigkeit gezwungen werden, während 40 % der landwirtschaftlichen Flächen bereits in den Händen einiger weniger privater Unternehmen liegen.

Darüber hinaus forcieren die meisten Regierungen der EU-Mitgliedstaaten die Entwicklung der neoliberalen Agrarindustrie und unternehmen alles, um multinationale Investoren anzuziehen. Die Strukturpolitik entwickelt sich zusehends in Richtung einer großagrarischen, export-orientierten Landwirtschaft, die einen globalen Markt anheizt. Während Millionen osteuropäischer Bauern und ökologischer Lebensmittelproduzenten an den Rand gedrängt werden, verkommt das Land zu einer Ware, mit der die Unternehmen spekulieren können. Wie in anderen Regionen der Welt ist Land in Europa zum neuen Gold geworden. Dadurch wird der Kampf um die Ernährungs-souveränität auch hier deutlich härter.

Wie beeinflussen die strukturellen Bedingungen für diese Landnahme die Art und Weise, wie das Land genutzt wird?Fábio: Ich würde sagen, dass die aktuelle Vermögenspreis-inflation des Finanzkapitalismus in der Tat die Basis dieser strukturellen Bedingungen ist. Sie ist verantwortlich für einen globalen Wettbewerb darüber, wie man Rohstoffe in industrialisierter Form produziert. Die einzigen, die in diesem Szenario konkurrenzfähig sind, sind transnatio-nale globale Konzerne. Sie können durch Verschuldung über die überhöhten Preise der Rohstoffe oder über ihre eigenen Kaufoptionen an den Warenterminmärkten wach-sen und diese überhöhten Preise als Garantie hinterlegen. Solange die Preise weiter steigen, scheint alles in Ordnung zu sein, aber wie bei allen Finanzblasen wird es zu einem Platzen kommen. Die Nutzung von Land zur Produktion

von Rohstoffen oder als finanzieller Vermögenswert wird im Rahmen dieser weltweiten Logik erfolgen.

Attila: Osteuropa ist ein interessanter Fall, da es auf der einen Seite einen gescheiterten Kommunismus erlebt hat, bei dem private Ländereien von Bauern gewaltsam enteignet und unter staatliche Kontrolle und Nutzung gestellt wurden, und einen Kapitalismus, bei dem in den meisten Fällen Land reprivatisiert wurde und der Wett-bewerb dem so genannten freien Markt ausgeliefert war. Beides ist gescheitert und das allmähliche Verschwinden von Millionen osteuropäischer Bauern kann als Kollate-ralschaden all dieser politischen und sozialen Experimente angesehen werden. Gegenwärtig wandelt sich die Land-wirtschaft rasch von einer Ressource, die die Nahrungs-mittelproduktion und die Intaktheit ländlicher Strukturen gewährleistet, zu einem finanziellen Vermögenswert und einem Spekulationsobjekt. Dies spiegelt sich am besten in den boomenden Bodenpreisen in ganz Europa wider, aber auch in den enormen Preisunterschieden: 1 Hektar Ackerland in den Niederlanden kostet bis zu 63 000 Euro, während der gleiche Hektar in Rumänien durchschnittlich 1958 € kostet (Eurostat-Pressemitteilung, 48/2018). Man könnte jetzt fragen, an welcher Stelle Investmentfonds, die auf Millionen von Euro sitzen, in diesem Szenario zuerst investieren würden? Tatsächlich hat sich die Landnahme in osteuropäischen Ländern wie Rumänien im Galopp entwickelt, sobald sich das Land in eine erschwingliche Spekulationsware verwandelt hat.

Dies hat dazu geführt, dass es multinationalen Unter-nehmen und Investmentfonds gelungen ist, sich knapp die Hälfte der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche des Landes unter den Nagel zu reißen. Tatsächlich kontrollie-ren sie mehrere Millionen Hektar Land und nutzen sie für die agroindustrielle Produktion oder für reine Immobili-enspekulation.

Der Bericht zeigt auf, wie Pensionsfonds in Nord-amerika und Westeuropa in diese Landnahme ver-wickelt sind, und trägt zur Kampagne bei, um die Anlagepraktiken der TIAA (Teachers Insurance and Annuity Association) -Pensionskasse zu beein-flussen. Ich weiß, dass diese Fonds mehr Anlage-kapital kontrollieren als die größten Hedgefonds. Das ist sehr interessant, da Pensionsfonds oft als eine Errungenschaft der Linken angesehen wer-den. Wie sollen wir einerseits mit dem Bewusst-sein oder der Praxis der Arbeiter*innen umgehen,

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die eine Alterssicherung unter den obwaltenden prekären Bedingungen anstreben, und anderer-seits den Auswirkungen dieser Fonds auf ihre Klassengenoss*innen anderswo?Devlin: Pensionsfonds sind vielleicht die einflussreichsten Akteure im heutigen globalen Finanzsystem mit einem verwalteten Vermögen von über 41 Billionen Dollar. Wenn diese Pensionsfonds beschließen, auch nur einen kleinen Teil ihres Portfolios in Ackerland anzulegen, sind die Auswir-kungen enorm. Deshalb halten wir es für entscheidend, jetzt Druck auszuüben, solange die meisten Pensionsfonds noch darüber diskutieren, ob sich Ackerland für eine spekulati-ve Investition eignet. Da Pensionsfonds auf Beiträgen der Lohnabhängigen beruhen, sollten diese Fonds theoretisch sensibler für soziale und ökologische Belange sein, und tatsächlich haben viele von ihnen Leitlinien für sozial ver-antwortliche Investitionen, und einige haben sogar solche Leitlinien für landwirtschaftliche Flächen entwickelt. Die Realität ist jedoch, dass die Pensionsfonds tief im kapitalis-tischen System verwurzelt sind. Bei landwirtschaftlichen Nutzflächen bedeutet dies, dass ihre Investitionen unweiger-lich Immobilienspekulationen und -blasen sowie industrielle Formen der Landwirtschaft fördern, die auf der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Umwelt und den Lieferketten der Unternehmen beruhen. Die Pensionsfondsmanager haben kein Interesse daran, in Kleinbauern und lokale Ernährungs-systeme zu investieren, und es ist schwer vorstellbar, wie dies umgesetzt werden soll. Die Richtlinien können nur die gravierendsten Verstöße mildern – aber wie wir in Brasilien sehen, geschieht auch das nicht.

Das Thema Pensionskassen müsste in der Tat proble-matisiert werden. In vielen Ländern des Westens waren Pensionsfonds tatsächlich eine Errungenschaft für die Lohnabhängigen, aber zugleich waren sie zweischneidig, weil dadurch die globale Finanzwirtschaft alimentiert und gestärkt wurde, was ja den Lohnabhängigen enorm schadete. Und heute haben nur wenige Arbeiter*innen eine Rentenversicherung und die meisten fallen aus den betrieb-lichen Pensionskassen raus, für die erfolgreich gekämpft wurde und um deren Aufrechterhaltung die Menschen heute kämpfen. Wir befinden uns also in einer Situation, in der beide Aktivitätsfelder unbedingt koordiniert werden müssen: der Kampf für ein universelles Rentensystem, das allen älteren Menschen eine angemessene finanzielle Sicherheit bietet, und ein Rücklagensystem, das soziale Investitionen im Interesse der gesamten lohnabhängigen Bevölkerung (einschließlich der Landwirte) tätigt.

Fábio: Du schneidest am Ende Deiner Frage ein sehr wichtiges Thema an, nämlich inwiefern Arbeiter*innen für die gesteigerte Ausbeutung ihrer Klassengenoss*innen verantwortlich sein können. Genau dies bewirkt die Finanzialisierung des Kapitals. Jedermanns Ersparnis-se landen zwangsläufig auf den Finanzmärkten und die Finanzialisierung wird zum Herzstück der produzierenden Unternehmen, weil die Fiktionalisierung der Kapitalakku-mulation unumgänglich geworden ist. Das geschieht durch die Substitution von Arbeit innerhalb der industriellen Produktion (Robotisierung und Automatisierung seit den 1970er Jahren). Die Ersparnisse der Gesellschaft werden als Investitionen, als Geld im abstrakten Sinne verwendet. Die so geschaffene Realität (Überausbeutung und Frei-setzung anderer Arbeiter) hat mit dem Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft zu tun. Das können wir nur mit kritischer Theorie begreifen und das ist hier nur eine Anregung. Es ist unmöglich, in der Kürze der Zeit die Probleme, die der Kapitalismus heute für die Gesellschaft als Ganzes mit sich bringt, eingehend darzulegen.

Attila: Ich kann meinerseits hinzufügen, dass in Osteu-ropa die Pensionsfonds immer noch weitgehend staat-lich kontrolliert werden. Wie bereits erwähnt, gibt es aufgrund der politischen Vergangenheit in den Ländern dieser Region eine Mischung aus kapitalistischen und post-sozialistischen Ansätzen. Pensionsfonds und andere Versorgungseinrichtungen fallen eher unter letztere. Da die Pensionsfonds immer noch die Staatshaushalte spei-sen, werden selten politische Entscheidungen getroffen, um dieses Geld in Agrarflächen zu investieren (vor allem auch, weil die Fonds kaum genug Mittel haben, um den eigentlichen Zweck zu erfüllen). Westeuropa hingegen hat eine andere Geschichte, die sich am besten durch den Fall der niederländischen multinationalen Bank Rabobank illustrieren lässt (siehe Eco Ruralis Factsheet Nr. 7, März 2016). Seit 2011 hat die Rabobank über Tochtergesell-schaften eines Investitionsfonds für landwirtschaftliche Nutzflächen in Rumänien und Polen namens Rabo Farm für 315 Millionen Euro mehr als 21 000 Hektar Land in ganz Rumänien erworben, als Teil einer Investition mit einer Laufzeit von fünfzehn Jahren, die den Investoren am Ende einen Ertrag von bis zu 900 Millionen Euro bringen soll. Die Investoren sind verschiedene Pensionskassen wie TIAA-CREF oder APG (Algemene Pensioen Groep) oder PFZW (Stichting Pensioenfonds Zorg en Welzijn).

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Welchen Effekt hätte eine Divestmentkampagne angesichts der „treuhänderischen Verantwor-tung“ der Pensionskassen? Würden Fonds dann nicht einfach in andere Investitionen mit hoher Rendite umshiften? Gibt es eine Möglichkeit, die-se Eure Berichte zu nutzen, um die Finanzialisie-rung des Alltags breiter zu thematisieren?Devlin: Es geht hier weniger um eine Divestmentkam-pagne als um einen Versuch, die Finanzindustrie daran zu hindern, Ackerland zu erwerben. Dabei zielen wir u. a. auf Gesetze auf lokaler oder nationaler Ebene, die Unterneh-men daran hindern, Ackerland zu kaufen, wie sie beispiels-weise in einer Reihe von US-Bundesstaaten existieren. Denkbar ist auch, Organisationsversuche lokaler Gemein-den zu unterstützen, in denen die Landnahme stattfindet, um es den Unternehmen zu erschweren, Menschen von diesem Land zu vertreiben. Mitunter geht es aber auch nur darum, Publicity zu erzeugen, also Pensionsfonds, die an der Landnahme beteiligt sind, an den Pranger zu stellen, aufzuzeigen, wie schlecht ihre Investitionen für die ländlichen Gemeinden und die Umwelt sind, und diese Botschaft so weit wie möglich in den Medien und bei den dort versicherten Lohnabhängigen zu verbreiten. Die Idee dahinter ist, Pensionsfonds, die Investitionen in landwirt-schaftliche Nutzflächen erwägen, abzuschrecken und es für TIAA und die anderen großen Pensionsfondsmanager, die bei den Investitionen der Pensionsfonds in landwirtschaft-liche Nutzflächen weltweit federführend sind, schwieriger zu machen, weitere Anlagegelder zu akquirieren. Es han-delt sich also nicht um eine Divestmentkampagne in dem Sinne, dass wir nur auf TIAA abzielen.

Fábio: Ich stimme zu, dass Divestment nur eine der möglichen Strategien ist. Investitionen in Agrarland waren in den letzten Jahren eines der wichtigsten Anlagefelder weltweit. TIAA verfügt über fast eine Billion Dollar, die sie irgendwo gewinnbringend anlegen muss. Die Fonds konkurrieren miteinander und es geht wieder einmal um die kapitalistische Gesellschaft und die Warenform der zwischenmenschlichen Beziehungen als Daseinsform dieser Gesellschaft. Ich würde sagen, dass wir nicht umhin kommen, die Investitionen der Pensionsfonds zu kritisie-ren, ohne zugleich die Finanzialisierung des Alltags zu thematisieren.

Die eher theoretischen Teile des Berichts haben wiede-rum mit einem globalen Prozess zu tun, in den jeder von uns eingebunden ist. Um nur ein konkretes Beispiel zu nennen. Als Trump vor einigen Monaten die „Mutter aller

Bomben“ (MOAB) in Afghanistan einsetzte, registrierte der Hersteller der Bombe (Raytheon) gleich am nächsten Tag einen enormen Preisanstieg bei den Aktienoptionen. Mit diesem Anstieg können sie (durch Verschuldung) neue Investitionen tätigen und noch mehr Bomben produzie-ren. Wenn wir Jeremy Scahills Behauptungen in seinem Buch Dirty Wars folgen, erzeugt diese Art von „Terror-bekämpfung“ unmittelbar wieder terroristischen „Nach-wuchs“, was wiederum zu weiteren Bombenanschlägen führt – eine endlose Spirale auf immer höherer Ebene. Die Finanzialisierung des Kapitals ist der Kern dieses Prozesses und eben diese gesellschaftliche Logik steckt auch hinter den Investitionen in Agrarland, Nahrungsmittel etc.

In seinem Text World Power, World Money führt Robert Kurz die Krise des Arbeitsmarktes auf die massenhafte Existenz überflüssiger und verarmter Menschen auf der ganzen Welt zurück, da die kapitalistischen Unternehmen gar nicht mehr in der Lage sind, so viele Arbeiter auszu-beuten, wie es händeringend Arbeitssuchende gibt. Dies gilt nicht nur für die sogenannten peripheren Länder, wie noch vor Jahrzehnten, sondern auch für die Länder, die wir dereinst als „Industrieländer“ bezeichnet haben. Soziale Repression wird dadurch unumgänglich, was wie-derum die Aktienkurse der Waffenindustrie beflügelt, die strukturelle Arbeitslosigkeit antreibt und die Ausbeutung der Arbeitskräfte und die soziale Ausgrenzung verschärft.

In seinem Buch Cities under siege zeigt Stephen Graham den Zusammenhang zwischen Finanzkapital und Militari-sierung auf. Akkumulation durch Enteignung gehört auch in den Industrieländern inzwischen zum Alltag, wo sie sich gegen die „ausgegrenzten Bürger*innen“ richtet. Die Militarisierung richtet sich nicht gegen „Terroristen“ aus dem Ausland, sondern dient der inneren Repression.

Auch Chinas „sozialistische“ Regierung hat inzwi-schen ein „Ranking“ für seine Bewohner entwickelt. Diese werden quasi als Vermögenswert klassifiziert, wobei Zahlungsunfähigkeit oder Gesetzesverstöße etc. berück-sichtigt werden. Einem Zeitungsbericht zufolge wird chi-nesischen Bürger*innen, die schlecht dabei abschneiden, die Nutzung von Zügen und Flugzeugen verboten. […]

Unter welchen Bedingungen findet Landgrabbing in den früheren „realsozialistischen“ Ländern statt und welche Auswirkungen hat dies?Attila: Innerhalb der EU ist die geographische Verteilung dieser Praxis in der Tat ungleich verteilt und es sind beson-ders die osteuropäischen Mitgliedsstaaten betroffen. Der Mangel an Transparenz in diesem Zusammenhang in der

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Br asilien

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EU führt dazu, dass bei diesen Geschäften zum Teil Kräfte involviert sind, die außerhalb des „üblichen“ Wirtschafts-lebens stehen und ganz verschiedene Akteure betreffen. Es ist quasi ein neuer Geschäftszweig entstanden, der aus großen Bankengruppen besteht und aus Pensions- und Versicherungsfonds, die einen immer größer werdenden Anteil des europäischen Ackerlandes kontrollieren.

Unsere Daten zeigen, dass allein in Rumänien bereits mehr als 4 Millionen Hektar Land aufgekauft wurden, wobei besonders Bankinstitute und Investmentfonds wie Rabobank, Generali oder Spearhead International ver-treten sind. Die Palette der Investoren ist „exotisch“ und reicht von österreichischen Adeligen über rumänische Oli-garchen bis hin zu dänischen und italienischen Agrarbusi-ness-Unternehmen. Die NGO Eco Ruralis (Land Grab-bing in Rumänien, 2015) argumentiert, dass Investoren sich hauptsächlich damit beschäftigen, wie sie die Erträge steigern und die Gewinne treiben können. Arbeitsbedin-gungen oder lokale wirtschaftliche Entwicklung sind für transnationale Unternehmen nicht von großer Bedeutung. Sie wachsen vertikal und kontrollieren in der Regel den gesamten Produktionsprozess bis hin zum Export. So sind Kleinbauern gezwungen, den Preis ihrer Produkte zu senken, um mit hochprofitablen und subventionierten Unternehmen zu konkurrieren. Infolge dieser Entwick-lungen in der Landwirtschaft geben viele von ihnen auf und verkaufen letztlich ihren Grund und Boden.

Hinzu kommt die Landnahme in Nicht-EU-Ländern wie der Ukraine. Da sie nicht zur EU gehören, sind diese Länder nach dem Fall der Sowjetunion mit solchen Über-nahmeversuchen durch die Konzerne schutzlos konfron-tiert. Es gibt dort die nationalen Oligarchien, die etwa 80% der großen Ländereien mit teils hunderttausende Hektar kontrollieren, und daneben regeln die internationalen Handelsabkommen, die in jüngster Zeit diskutiert werden, nur, wer die restlichen landwirtschaftlichen Flächen zur Verwertung erhält. Mit der Unterzeichnung des EU-Partnerschaftsabkommens wurde der Agrarlandmarkt für dieselben Akteure geöffnet, die auch in Ländern wie Rumänien den Landraub betrieben haben. Ein Bericht des Oakland Institute aus dem Jahr 2014 beschreibt auch die Rolle der Weltbank und ihrer Internationalen Finanz-Corporation bei diesen massiven Landnahmen. Inmitten all dessen vegetieren 7 Millionen ukrainische Kleinbauern, die noch nicht einmal in der Statistik erfasst werden und de facto vom Lebensmittelmarkt des eigenen Landes ausge-schlossen sind.

Ob in der EU oder nicht – die osteuropäischen Länder und ihre Millionen von Bauern stehen derzeit vor großen Herausforderungen und Veränderungen. Teils sind diese die Folge der postkommunistischen Ära und der damals erfolgten „staatlichen Landnahme“. Der Hauptgrund je-doch ist, dass sie in den Focus privater Kapitalinvestitionen gerückt sind, die auf der Suche nach schnellen Renditen sind, ohne Rücksicht auf die erheblichen sozialen, ökolo-gischen und wirtschaftlichen Auswirkungen. So aggressiv, wie die Landnahme erfolgt, können wir die Region auch als den Wilden Osten bezeichnen, wo man sich alles frei nehmen kann und die letzte Bastion des Widerstands die Bauern und andere ländliche Gemeinschaften sind.

�� Übersetzung: MiWe

aus LeftEast, http://www.criticatac.ro/lefteast/land-grab-bing-and-the-financialization-of-agricultural-land/

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Pr ager Frühling

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Die Wirtschaftskrise Anfang der 60er Jah-re erzwang Reformen, die ohne Veränderungen in Politik und Verwaltung nicht zu haben waren.

Phase I: Die Öffnung der Partei

Anfang Januar 1968 ernennt das Präsidium des ZK der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) nach heftigen Auseinandersetzungen Alexander Dubček zum Ersten Sekretär. Erst am 4.März wird vertraulich ein detailliertes Protokoll des Präsidiums des ZK verbreitet. Darin heißt es:

„Im Verlauf der Diskussion ergab die Reflexion über die Umsetzung der Politik der Partei eine Konfrontation zwischen dem Neuen und dem Alten … Eine erste Ten-denz kam zum Ausdruck, die mehr oder weniger stark das in der sozialistischen Entwicklung unserer Gesellschaft be-reits erreichte Stadium nicht berücksichtigt und überholte Arbeitsformen der Partei verteidigt. In ihren Augen liegt die Ursache für unsere Schwächen vor allem in Schwierig-keiten, die auf den Gang der Wirtschaft, auf unzulängliche ideologische Arbeit, auf fehlende Strenge und auf eine

Prager Frühl ing

liberale Haltung an der ideologischen Front sowie auf die Auswirkungen der Manöver der ideologischen Diversion des Westens zurückzuführen sind. Für diese Tendenz gibt es in der Partei und im Land genug Demokratie. Es fand sich sogar eine Stimme, wonach wir ein ‚Übermaß an Demokratie‘ hätten. Demgegenüber kamen sehr deutliche Tendenzen zum Ausdruck, die die Dringlichkeit eines neuen Kurses behaupteten … und es für notwendig hiel-ten, das politische Handeln auf ein Niveau zu heben, das der aktuellen Entwicklung unserer Gesellschaft entspricht und die Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolution berücksichtigt. Die Entwicklung der Wirt-schaft und ihre neuen Formen der Leitung erfordern unvermeidlich eine Änderung in den Methoden der Parteiführung, um der Initiative und öffentlichen Aktivi-tät gesellschaftlicher Gruppen ausreichend Spielraum zu gewähren.“

Die erste Tendenz vertrat Antonín Novotný. Das zwei-te, heterogene Lager fand in Dubček einen Wortführer. Der Frühling begann. Am 5.April 1968 verabschiedete die KSČ ein Aktionsprogramm. Der Frühling wurde wärmer.

Der Prager Frühling – WirtschaFtliche

eFFizienz unD Demokratie

Die internationalen Mobilisierungen 1968 zeigten, dass damals weltweit ein gewaltiges revolutionäres Potential vorhanden war, das nicht nur in den Metropolen und in den neokolonialen Ländern der „Dritten Welt“ zu Tage trat, sondern auch

in den Staaten des „real existierenden Sozialismus“. Exemplarisch dafür stand der Prager Frühling, der in all seinen Beschränkungen die Hoffnung auf eine antibürokratische Revolution beflügelte. In gekürzter Form veröffentlichen wir

nachfolgend eine Chronik und Analyse der damaligen Ereignisse.

�� Anna Libera

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Eine der Besonderheiten der Reformen in der Tsche-choslowakei, die zum Teil ihren Massencharakter und ihre Dynamik erklärt, bestand darin, dass die von Chruscht-schow auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 eingeleitete „Entstalinisierung“ an Partei und Gesellschaft der Tsche-choslowakei vorbeigegangen war. Im Vergleich zu Polen und Ungarn genoss die KP zu dem Zeitpunkt noch Unter-stützung in breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung und sah sich deshalb nicht gezwungen, das stalinistische Partei- und Führungsmodell infrage zu stellen. Zaghafte Versuche von Intellektuellen, eine Debatte in Gang zu setzen, waren rasch unterdrückt worden. Novotný zog Lehren aus Polen und Ungarn und verstärkte die Parteidis-ziplin und den „antirevisionistischen Kampf“.

Die Unzufriedenheit wuchs. Die Intellektuellen sahen einen tiefen Widerspruch zu der von der UdSSR gepredig-ten Politik der „friedlichen Koexistenz und Öffnung“ und zu den erneuten Vorwürfen, die Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 gegen den Stalinismus erhob.

Die Unzufriedenheit der Intellektuellen fand Anfang der 60er Jahre zusätzlich ein Echo in der tiefen Wirt-schaftskrise. Mehrere Jahre hindurch sank die Wachs-tumsrate, erreichte 1962 das Nullniveau und rutschte 1963 sogar auf –3%. Junge Ökonomen der Partei, darunter Ota Šik, machten dafür die sklavische Nachahmung des sow-jetischen Industrialisierungsmodells verantwortlich, eine überzentralisierte Planung sowie einen Mangel an qualifi-zierten Managern, die eher aufgrund ihrer Anpassung an die Partei denn aufgrund ihrer Kompetenz in die Leitung der Wirtschaft berufen worden waren.

Zu Beginn der 60er Jahre verstärkten sich die ver-schiedenen Krisenelemente gegenseitig, sodass kritische Debatten zunehmend an die Öffentlichkeit drangen und schließlich offen geführt wurden.

Die Wirtschaftsreform

Die Führung der KSČ konnte auf dem XII. Parteitag 1962 die Debatte mit den Verfechtern einer Wirtschaftsreform nicht mehr verhindern. Maßnahmen wurden jedoch keine verabschiedet.

Die Debatte wurde in den Folgemonaten in der Wirt-schaftspresse fortgesetzt. Ota Šik, der Anführer der Refor-mer, unterstützte die Auffassung, eine Wirtschaftsreform könne nur verwirklicht werden, wenn auch die politischen und administrativen Strukturen des Landes verändert würden. Er sprach sich gegen Tabus und für eine offene Diskussion aller Probleme aus. Der Wirtschaftsplan sollte

auf die Bedürfnisse der Bevölkerung antworten (und nicht umgekehrt!), das Kollektiveigentum sollte Mittel, nicht Zweck sein. Er befürwortete eine Dezentralisierung der Planung, eine relative Autonomie der Produktionseinhei-ten, die Festlegung der Preise nach Angebot und Nachfra-ge sowie eine „effiziente“ Lenkung der Betriebe, womit u.a. das Recht gemeint war, Beschäftigte zu entlassen.

Es waren nicht die letztgenannten Maßnahmen, die die Konservativen in der KSČ aufscheuchten – zur selben Zeit schlugen in der UdSSR Liberman und Trapesnikow dieselben Rezepte vor, ohne auf Ablehnung zu stoßen. Sie schreckten vor der Infragestellung des absoluten Monopols der Partei über das wirtschaftliche und politische Leben zurück. Sie fürchteten um ihre Posten, wenn die Verant-wortlichen nach ihrer Kompetenz und nicht nach ihrer Zustimmung zur Parteilinie gewählt würden.

Doch die Wirtschaftskrise trieb sie in die Defensive. Anfang 1967 wurde die Reform im Grundsatz verab-schiedet. Ihre Umsetzung wurde jedoch vom Parteiappa-rat verhindert, der in den Betrieben eine demagogische Kampagne über ihre möglichen (und realen) Folgen für die Werktätigen führte. Arbeiter und Intellektuelle versuchte er gegeneinander aufzubringen.

Die Intellektuellen

Vom XXII. Parteitag der KPdSU ermutigt gingen die Intellektuellen in die Offensive. Auf dem ZK-Plenum vom April 1963 antwortete Novotný mit einem Bericht über „die Verletzung der Prinzipien der Partei und der sozialis-tischen Gesetzlichkeit in der Periode des Personenkults“. Der Bericht galt als so explosiv, dass an die Mitglieder der Partei nur eine stark gekürzte Fassung ausgegeben wurde. Selbst diese abgeschwächte Version löste heftige Unruhe aus.

Die Intellektuellen wurden an Fragen aktiv, die die nationale Kultur unmittelbar berührten. Kafka wurde wiederentdeckt, der verboten worden war, weil er als pessimistisch und dekadent bezeichnet wurde. Im Februar 1963 schrieb Eduard Goldstücker in den Literární Noviny, der Zeitschrift des Schriftstellerverbands, einen ersten Ar-tikel zur Verteidigung Kafkas. Im April griff der Kongress der slowakischen Schriftsteller den Ball auf, und im Mai 1963 fand in Prag eine internationale Kafka-Konferenz statt. Seine Schriften wurden verbreitet, um das bürokrati-sche Regime zu kritisieren.

Wieder antwortete dieses mit Repression. Eine hef-tige Kampagne gegen die Intelligenz wurde in Gang ge-setzt, einige Publikationen verboten. Schließlich wurde

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am 1.Januar 1967 ein schärferes Zensurgesetz verkündet. Die Folge war, dass die Intellektuellen sich radikalisierten und sich mit den Liberalen in der Parteiführung vereinig-ten.

Auf dem 4. Kongress des Schriftstellerverbands im Juni 1967 mischten sich bereits kulturelle und politische Debat-ten. Die Zensur wurde angegriffen, ein Brief Alexander Solshenizyns an den sowjetischen Schriftstellerverband (der an dessen Mitglieder nicht verteilt worden war) verle-sen, vor allem aber nahmen die Vorwürfe gegen Novotný und seine Umgebung zu. Dieser reagierte auf die bekannte Art. Die neue Leitung des Schriftstellerverbands wurde von der Partei nicht anerkannt, die Zeitschrift Literární Noviny dem Verband entzogen, prominente Intellektu-elle wie L. Vaculik, A. Liehm und P. Klima aus der Partei ausgeschlossen. Die Presse führte eine heftige Kampagne gegen den Schriftstellerverband, machte auf diese Weise aber nur bekannt, was auf dem Kongress geschehen war.

Entgegen dem Augenschein war die Novotný-Füh-rung in der Defensive. Sie hatte keine Antwort auf die Reformer, nur die Repression. Liberale und Konservative standen sich im ZK nun offen gegenüber. Der Wortfüh-rer der ersteren, Alexander Dubček (Parteichef in der Slowakei), stellte die persönliche Machtfülle Novotnýs in Frage – dieser war zugleich Erster Sekretär der Partei und Staatspräsident. Das ZK-Plenum behandelte das Problem im Dezember 1967 und im Januar 1968. Doch die Haupt-frage blieb die Wirtschaftsreform und der Kampf um die Parteiführung. Angesichts der heftigen Angriffe stellte Novotný seinen Posten als Parteichef zur Verfügung, in der Hoffnung, mit diesem taktischen Schritt eine Mehrheit von Konservativen um sich zu scharen.

Das Manöver scheiterte. Am 5.Januar 1968 akzeptierte das ZK den Rücktritt Novotnýs und wählte Dubček an die Spitze der Partei. Novotný blieb Staatspräsident und seine Anhänger in den Führungsgremien der KSČ waren sehr zahlreich. Der Ausgang des Plenums ließ nicht erwarten, was sich im Verlauf der kommenden Monate abspielen sollte. Noch handelte es sich um eine Palastrevolution.

Januar–April 1968

Die neue Führung der KSČ hatte nicht vor, sofort radikale Änderungen einzuführen. Sie wollte das Land nach und nach und von innen heraus verändern und die Intellektuel-len dafür einsetzen, um den konservativen Apparat durch-zurütteln. Am Ende dieses graduellen Prozesses sollte ein Parteitag Ende 1969 oder Anfang 1970 die vorgenomme-nen Änderungen institutionell verankern. In Überein-

stimmung mit ihrer Linie musste sie jedoch eine Debatte über die Probleme des Landes eröffnen.

Die Reformkräfte des Schriftstellerverbands wurden wieder in die Partei aufgenommen, der Verband erhielt sein Wochenblatt zurück, das sich unter neuem Namen, Literární Listy, an die Spitze der Debatte stellte und An-fang März 1968 eine verkaufte Auflage von einer halben Million hatte. Presse, Radio und Fernsehen machten sich zu Wortführern der Fragen, Ängste und Hoffnungen der Bevölkerung.

Die fortgesetzte Präsenz Novotnýs und seiner Anhänger in den Führungsorganen der Partei nährten Ängste, die Erklärungen Dubčeks dagegen Hoffnungen. Gegen ihren Willen musste die Reformführung den Konservativen die Stirn bieten. Die Debatte über die Verantwortung der Kon-servativen ließ sich nicht mehr aufhalten. Die Bevölkerung war indes schon weiter: Sie forderte auf Parteiversammlun-gen den Rücktritt Novotnýs und seiner Anhänger.

Alle Bereiche der Gesellschaft wurden vom Sog ergrif-fen: Die Gewerkschaften forderten die Verwirklichung des Streikrechts; die Studierenden schufen ein unabhängiges Studentenparlament; es bildeten sich Keimformen politi-scher Parteien und Clubs … sogar die Zensoren sprachen sich für die Abschaffung der Zensur aus! Am 21.März 1968 kapitulierte Novotný vor dem Druck der Massen und trat als Staatspräsident zurück. Er wurde durch Svoboda ersetzt.

Dubček und seine Freunde waren sich sehr wohl bewusst, dass die Probleme mit dem Rücktritt Novotnýs nicht erledigt waren. Die Dynamik der Massenbewegung überschritt die Grenzen, die die neue Parteiführung ge-setzt hatte. Sie barg die Gefahr, den Plan einer graduellen Veränderung von Partei und Gesellschaft von oben infrage zu stellen. Viele in der Partei und in den Massenorganisa-tionen forderten eine „Institutionalisierung“ der Reform-politik durch einen außerordentlichen Parteitag.

Druck der Massenbewegung

Auf dem April-Plenum des ZK wandte sich Dubček an zwei verschiedene Adressaten: An ein zögerliches ZK und an eine öffentliche Meinung, die ihm weit voraus-geeilt war. Ersteres beruhigt er, indem er den Vorschlag eines außerordentlichen Parteitags zurückwies; Letztere versuchte er zu beruhigen, indem er bekannte Liberale auf wichtige Posten berief: František Kriegel an die Spitze der Nationalen Front, Josef Smrkovský in den Vorsitz der Na-tionalversammlung und Oldřich Černík auf den Posten des Ministerpräsidenten. Darüber hinaus ließ er ein Aktions-programm verabschieden.

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Dieser Kompromiss stellte niemanden zufrieden. Die Konservativen blockierten das (moderate) Aktionspro-gramm; die Intellektuellen und die Bevölkerung verstärk-ten den Druck für einen außerordentlichen Parteitag. Die Bildung der Regierung Černík war jedoch keine formelle Geste. Sie beschloss weitgehende Liberalisierungen: ein Gesetz über Versammlungs- und Vereinsfreiheit, Pres-se- und Reisefreiheit; die Rehabilitierung und Entschädi-gung der Opfer des Stalinismus; die Unabhängigkeit der Gerichte; die präzise Abgrenzung der Kompetenzen des Innenministeriums; ein Gesetz über die Arbeiterräte.

Nach dem Januar tauchten Widersprüche auch in-nerhalb der Führung auf. Gegenüber der Blockade der Konservativen nahm die Gruppe um Josef Smrkovský und Čestmír Čísař (ab April Vorsitzender des tschechischen Nationalrats) radikalere Positionen ein, die auf ein wach-sendes Echo in der Arbeiterklasse trafen.

Ende April forderten die regionalen Parteikonferenzen vielfach die Einberufung eines außerordentlichen Partei-tags. In dieser Frage kam es schließlich zu einer unfreiwil-ligen Allianz zwischen Konservativen und Progressiven. Auf dem ZK-Plenum Ende Mai versuchte Dubček noch, Zeit zu gewinnen. Novotný aber verstärkte seine Angriffe, und das ZK schloss ihn aus der Partei aus. Nun waren auch seine Anhänger für eine rasche Einberufung des Parteitags. Er sollte Anfang September abgehalten werden.

Das Ende des Prager Frühlings

… war auch das Ende der Hoffnungen in eine Reform des „realen Sozialismus“.

Am 21.August marschierten Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein und beendeten da-mit gewaltsam einen weiteren Versuch, das stalinistische System durch einen „Reformkommunismus“ abzulösen. Die Veröffentlichung von Ludvik Vaculiks Manifest der zweitausend Worte wurde zum Vorwand für die „inter-nationalistische“ Hilfe für das „Bruderland“ genommen, das angeblich von einer „Offensive konterrevolutionärer Kräfte“ bedroht war.

Ab Ende Juni prägten der wachsende Druck und die Drohungen der Länder des Warschauer Paktes auf die Führung der KSČ die Situation in der ČSSR. Die sowje-tische Führung hatte die Veränderungen an der Spitze der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) ohne Besorgnis registriert. Dubček war ein treuer Verbündeter der UdSSR und sein Projekt war alles in allem sehr moderat.

Diese Haltung änderte sich ab März, angesichts des Aufschwungs der Massenbewegung, der sich entfaltenden

freien Diskussion im Lande sowie der zu großen Sensi-bilität der Führung gegenüber dem Druck der Basis. Die Entscheidung, den außerordentlichen Parteitag einzube-rufen, beschleunigte das noch. Der Kontrollverlust über die Partei wurde als der entscheidende Punkt angesehen. Anfang Juli brachten die Parteien der UdSSR, Polens, der DDR, Ungarns und Bulgariens in einem Brief an das Präsidium der KSČ ihre Besorgnis über die Entwicklung im Lande zum Ausdruck. Das Präsidium sprach sich für bilaterale Zusammenkünfte mit den Bruderparteien aus, um diese über die Lage zu informieren, die Fünf jedoch wollten die tschechoslowakische Führung zu sich zitieren, um so die Spaltungen in deren Reihen auszunutzen, was das Präsidium jedoch verweigerte.

Dennoch kamen die Fünf Mitte Juli in Warschau zu-sammen und wiesen die Führer der KSČ auf die „von der Reaktion mit Hilfe des Imperialismus gesteuerten Offensi-ve gegen die Partei und die Grundlagen des sozialistischen Regimes“ hin. Die Prager Führung sei nicht in der Lage, die Gefahren zu erkennen, es gebe sogar Konterrevoluti-onäre in der Führung der KSČ. Die Lage sei so ernst, dass sie die Intervention der gesamten sozialistischen Gemein-schaft erfordere.

Das Präsidium der KSČ wies die Anschuldigungen zu-rück. Eine breite Bewegung formierte sich im Land gegen die als unerträglich empfundene Einmischung, die Partei-tagsvorbereitungen wurden wie geplant fortgeführt. Um die Sowjets zu beruhigen, fand am 29.Juli an der Grenze zur UdSSR ein bilaterales Treffen statt. Vom Inhalt der Diskussion ist nichts bekannt, doch nach seiner Rückkehr unterrichtete Dubček seine Freunde vom „Verständnis der Sowjets“. Vielleicht wollte er sich damit selbst überzeugen, während er sich weigerte, auf einige Generäle zu hören, die ihn besorgt von ungewöhnlichen Bewegungen der Truppen des Warschauer Paktes informierten, die schließ-lich am 21.August 1968 in Prag einmarschierten.

Bis zum Schluss hoffte Dubček, das zu versöhnen, was in der Welt der Bürokratie unversöhnlich war: die De-mokratisierung und die „führende Rolle“ der Partei, die nationale Unabhängigkeit und die Unterordnung unter die geopolitischen Interessen der Kremlbürokratie. Er weckte damit die Erwartungen der tschechoslowakischen Arbeiter und ließ gleichzeitig die Tür für diejenigen offen, die diese Hoffnungen zunichtemachen wollten.

Der Widerstand

Die Sowjets wollten durch die Militärinvasion die Mobi-lisierung der Bevölkerung zunichtemachen. Eine Kon-

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frontation wie in Ungarn 1956 war unwahrscheinlich. Für die Sowjets ging es deshalb zunächst darum, mit Hilfe der Truppenpräsenz die bürokratische Kontrolle über die politischen Institutionen wiederherzustellen, damit diese wieder die Kontrolle über die Massenbewegung erlangen könnten. Die Führung um Dubček in der KSČ war dabei ein willfähriges Instrument.

Die Aufgabe der Sowjets war nicht einfach. Sie wollten keine rein militärische Lösung. Sie wollten den militärischen Druck nutzen, um die Krise „politisch“ zu lösen. Die Legalität musste wiederhergestellt werden, damit die KSČ Ordnung schaffen konnte. Dafür blieb nur die Gruppe um Dubček; sie musste die Bewegung wieder zerstören, die sie zugelassen hatte.

Die Führer des Prager Frühlings wurden deshalb nach Moskau zitiert und unter massiven Druck gesetzt. Aber ihre Kapitulation und die Unterzeichnung des Moskauer Protokolls, in dem sie die „vorübergehende Stationie-rung“ der Truppen des Warschauer Pakts auf dem Terri-torium der tschechoslowakischen Republik akzeptierten, war nicht Folge dieses Drucks, der Hauptgrund lag in den politischen Vorstellungen der Führung um Dubček. Für sie standen die Interessen des Apparats der KSČ und der „internationalen kommunistischen Bewegung“ unter der Führung des Kremls im Mittelpunkt; diese hatten Vorrang vor den Interessen der tschechoslowakischen Bevölkerung. Die KSČ hatte zwar Differenzen mit Mos-kau, aber in den Augen Dubceks und der Seinen waren sie taktischer Natur; ein Bruch mit Moskau war niemals geplant. Zu keinem Zeitpunkt stellte Dubček das Mos-kauer Protokoll infrage oder stützte sich auf die Wider-standsbewegung, an der die überwältigende Mehrheit der tschechoslowakischen Bevölkerung teilnahm.

Der geheime Parteitag der KP

Sobald die Invasion bekannt wurde, ergriff die Parteifüh-rung in Prag die Initiative: Sie rief zum passiven Wider-stand und zur Agitation der Soldaten auf, schuf mit Hilfe von Radio und Fernsehen ein Kommunikationsnetz und berief den 14.Parteikongress der KSČ ein. Zweifellos war dieser Kongress rechtmäßig; über zwei Drittel der Dele-gierten waren anwesend. In ihrer Resolution verurteilten sie die Invasion, forderten die Freilassung der in Moskau festgehaltenen Parteiführer und wählten ein neues Zent-ralkomitee.

Sofort nach Bekanntwerden der Unterzeichnung des Moskauer Protokolls am 27.August lehnte das neue Zen-tralkomitee dieses ab. Die Führung um Dubček erklärte

jedoch nach ihrer Rückkehr nach Prag den 14. Parteikon-gress für null und nichtig und setzte das Zentralkomitee von 1966 wieder in sein Amt ein, unter Hinzufügung einiger Mitglieder. Im September und Anfang Oktober hoffte die Bevölkerung noch, Dubček werde die wichtigs-ten Reformen retten können.

Der Widerstand der Arbeiter und Studenten

Straßendemonstrationen gegen die Besatzer waren nicht möglich, dennoch tat die Selbstorganisation der Massen einen qualitativen Schritt nach vorn, vor allem durch die Wahl von Arbeiterräten in allen Fabriken. Diese Wahl war vom Gesetz vorgesehen, jetzt bekam sie jedoch einen unmittelbar politischen Charakter. Ebenso stärkten die Studierenden ihre unabhängigen Organisationen.

Ende Oktober gab es erneut Demonstrationen. Am 28.10., dem 50. Jahrestag der Gründung des tschecho-slowakischen Staates, demonstrierten Tausende in Prag für den Abzug der sowjetischen Truppen, noch massiver waren die Proteste anlässlich der Feiern zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Daraufhin verbot die Regierung die drei bekanntesten Zeitschriften des Widerstands, Politika, Literarni Listy und Reporter.

Die Studenten verstanden als erste die Notwendig-keit, Aktionen gegen die Besatzung zu organisieren und eine von der Dubček-Führung unabhängige Führung aufzubauen. Am Vorabend der Sitzung des Zentralkomi-tees vom November gründeten sie ein Aktionskomitee, das alle Fakultäten repräsentierte, und erklärten es im Dezember zum Studentenparlament. Nach dem Verbot der vom Aktionskomitee initiierten Demonstration am 17.November wurden im ganzen Land zwei Tage lang die Fakultäten und Schulen besetzt. Die Studenten rich-teten einen „Brief an die Genossen Arbeiter und Bau-ern“: „ … Die Arbeiterklasse ist mutig, vernünftig und diszipliniert. Sie gerät nicht in Panik, sie lässt niemand im Stich, sie will Frieden und Freundschaft mit allen Völkern, Gerechtigkeit, den demokratischen Sozialis-mus, den Sozialismus mit menschlichem Antlitz; sie hasst die Gewalt und die Ungerechtigkeit, die Demütigung und Unterdrückung …“Die Arbeiter hatten die Manöver der Dubček-Führung satt, und der Brief der Studenten wurde zum Signal für eine neue Welle von Massenak-tionen und von Fabrik zu Fabrik weitergereicht. Die Studenten sprachen in den Werkshallen; Arbeiterdelega-tionen kamen in die besetzten Universitäten. Zahlreiche Fabriken beschlossen, zu streiken, falls die Studenten

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angegriffen würden. Auch die Intelligenz unterstützte die Bewegung ohne Vorbehalte.

Repression

Dubček erstickte nun alle Hoffnungen im Keim: Er stärkte die Polizeipräsenz in Prag, zensierte alle Informationen über den Streik der Studenten und startete eine Denunzia-tionskampagne gegen die Organisatoren.

Doch in dem Moment, als die Illusionen der Arbei-ter in die Führung des Prager Frühlings sich aufzulösen begannen, verfügte die Massenbewegung nicht über eine alternative Führung, die eine breite Autorität genossen hätte.

Um die Aktionseinheit zwischen Studenten und Arbeitern in den Großbetrieben hatte sich eine breite Avantgarde geschart. Doch eine so breite Mobilisierung konnte nicht unbegrenzt ohne ein politisches Projekt aufrechterhalten werden. Die Kräfte, die diese mächtige Widerstandsaktion in eine politische Offensive hätten verwandeln und die Parteiführung spalten können, waren zersplittert. Sie waren im Widerstand aktiv, gingen aber völlig in der Organisierung der Massen auf, hatten keine Verbindung untereinander und nicht die Möglichkeit, ein solches Projekt zu formulieren.

Smrkovski dankt ab

Zwei Ereignisse demoralisierten den Widerstand Anfang Januar 1969. Seit Herbst waren Differenzen in der Führung um Dubček aufgetreten. Hušak und Strougal hatten sich offen auf die Seite der Sowjets gestellt und wollten den Prozess der Normalisierung beschleunigen. Im Dezember forderte Hušak öffentlich den Rücktritt Smrkovskis von seinem Amt als Präsident der Nationalversammlung. Aus allen Fabriken des Landes erreichten Smrkovski zahl-reiche Solidaritätsresolutionen; doch am 5.Januar trat er vor das Fernsehen und griff diejenigen an, die ihn ver-teidigten. Zwei Tage später war er abgesetzt. Somit hatte einer der populärsten Führer des Prager Frühlings den Kampf aufgegeben. Das war auch für viele Aktivisten und Parteikader, die noch zögerten, das Signal, rechtzeitig ihr Lager zu wählen und sich nunmehr auf die Seite Hušaks zu schlagen.

Jan Palachs Selbstverbrennung am 16.Januar mitten in Prag war ein Symbol: Die Bevölkerung war immer noch bereit zur massiven Mobilisierung, hatte aber jede Hoff-nung verloren, bei der KSČ Unterstützung zu finden und siegen zu können. Am 21.Januar demonstrierten 100 000 Menschen auf dem Wenzelsplatz. Zum ersten Mal wur-

de die rote Fahne durch die der tschechoslowakischen Republik 1918–1939 ersetzt; daran zeigte sich die verän-derte Haltung der Bevölkerung zum Verrat der KSČ. Bei Palachs Beerdigung marschierte eine Million Menschen schweigend durch die Straßen Prags. Nur noch das Recht zu schweigen war übriggeblieben.

Ende Februar erklärte Dubček auf einer Milizver-sammlung: „Wir haben den Höhepunkt der Januarkrise überwunden“. Er hatte Recht. Von nun an hatte er für die Besatzer keinen Wert mehr.

Am 28.März schlug die tschechoslowakische Eisho-ckeymannschaft die der UdSSR mit 4 : 3. Zahllose De-monstranten zogen durch die Stadt – gegen die Besatzung. Der Kreml setzte nun den zweiten Teil seines Invasions-plans in Kraft: Dubček wurde von Hušak abgelöst und als Botschafter in die Türkei geschickt – dort schwieg er. Im Januar 1970 wurde er zurückbeordert und aus der Partei ausgeschlossen.

Tausende von Parteiausschlüssen, Entlassungen, Drohungen mit dem Entzug der Studienzulassung für die Kinder, Zwangsexilierungen und Verhaftungen zerschlu-gen die Massenbewegung. Im Schatten der sowjetischen Panzer wurde die Normalisierung auch durch wirtschaft-liche Zugeständnisse durchgesetzt, vor allem im Bereich der Konsumgüter. Im Unterschied zu Polen in den 80er Jahren erlebte die Tschechoslowakei in den 70er Jahren ein relatives Wachstum. Die verbliebene Opposition scharte sich schließlich um die Charta 77, die bis zur sogenannten „samtenen Revolution“ die Hauptkraft der Opposition blieb.

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InternatIonales sozIalIstIsches Jugendcamp

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Alles fein im Merkel-Land? Nach der Wahlnie-derlage haben Teile der SPD mal wieder versucht, sich als linke Partei zu profilieren, nur um kurz darauf wieder auf den Weiter-so-Kurs umzu-schwenken. Gleichzeitig hat sich die AfD mit stets wachsender Stärke endgültig im Politikbetrieb verankert – und alle großen Parteien passen sich an. In der Hoffnung auf Stimmenzuwachs grei-fen sie rechte Themen auf, angeführt von Horst Seehofer in seinem neuen Heimatministerium. Auch Sahra Wagenknecht redet über Einwande-rungsgrenzen ...

Die selbstverwalteten Gemeinden in Rojava sind eines der wenigen positiven Beispiele für progressive Projekte in der jüngeren Geschichte – und das in einer Region, die seit Jahrzehnten mit imperialistischen Kriegen überzogen wird. Der Vernichtungsfeldzug der Türkei gegen Rojava und die völkerrechtswidrigen Bombardierungen der Nato in Syrien zeigen, wie gefährlich die bloße Existenz selbstverwalteter, demokratischer und emanzipatorischer Strukturen für den Kapi-talismus ist. Sie haben Angst, dass die Erfahrun-gen mit dem demokratischen Konföderalismus Menschen in anderen Teilen der Welt inspirieren könnten. Gerade deshalb sollten wir davon für unsere eigenen Kämpfe lernen und gleichzeitig Solidarität zeigen mit den Menschen in Rojava und den Kurd*innen in Deutschland, die zuneh-mender Repression ausgesetzt sind.

Von der kämpferischen Stimmung könnte mensch sich ein wenig anstecken lassen. Wirft sie doch immer wieder die Frage auf: Wie können wir die Welt tatsächlich verändern? Wie kön-nen Kämpfe und Proteste international vernetzt werden? Was können wir von den Erfahrungen in Theorie und Praxis lernen, die in den verschiede-nen Ländern gemacht werden?

Die Jugendlichen in und um die IV. Internati-onale in Europa organisieren ein internationales Sommercamp. In diesem Jahr findet das „35. Internationale Socialistisk Ungdomslejr“ (ISUL) vom 22. bis 28. Juli 2018 in Billund im Südwesten von Jütland statt, es steht unter dem Motto „som-mer, sol og socialisme“.

Das Camp ist in Thementage/Themenblöcke eingeteilt. Es bietet eine gute Gelegenheit, sich Schritt für Schritt über die Situation in den ver-schiedenen Ländern auszutauschen und über die Kämpfe vor Ort zu sprechen.

2018 wird Selbstorganisation ein wichtiges Thema des ISUL sein; es wird viel darum ge-hen, welche Rolle Selbstorganisation in unseren Kämpfen spielt oder spielen sollte:

� Wie erkämpfen wir selbstverwaltete Räume? � Welche Strukturen können wir von unten

aufbauen? � Wie können sie helfen, wieder eine stärkere

Bewegung gegen den Kapitalismus aufzubauen?

Eine Woche lang werden im Sommer etwa 500 junge Menschen aus mindestens 18 Ländern Eu-ropas (von Russland bis Portugal, von Schweden bis Griechenland), aber auch einige aus den USA, Lateinamerika, Ägypten und den Philippinen zu-sammenkommen, sich austauschen und miteinan-der diskutieren. Kurz: Sie werden Menschen aus anderen Ländern kennenlernen, den Camp-All-tag in Selbstverwaltung mitbestimmen, gemein-sam feiern und lernen, die Welt zu verändern!

Für Fragen und die anmeldung zur teilnahme: mail an: [email protected]/sommercamp www.ungdomslejr.dk https://www.facebook.com/Isul.suF/

Internat ionales sozia l is t isches Jugendcamp

Sommer, Sonne und SozialismusInternationales Sozialistisches Jugendcamp 22. bis 28. Juli in Dänemark