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Ednessiv Die Namenlose von JD

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Marie hat mir ihrer neuen Situation zu kämpfen - ihr Vater ist tot, ihre Mutter Hannah zieht um, sie muss mit ihr nach England und all ihre Freunde in Deutschland zurücklassen. Ihre Stiefschwester Josie und sie können sich auf den Tod nicht ausstehen und dann fangen auch noch diese merkwürdigen, beängstigenden Träume an... Linnea versucht ihr Gedächtnis, das ihr wie durch Zauberhand genommen wurde, wiederzuerlangen und stellt ganz nebenbei noch fest, dass sie überhaupt nicht so ordinär ist, wie sie es immer angenommen hatte...Kommentiert werden darf natürlich auch :)

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Ednessiv

Die Namenlose

von JD

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Die Namenlose copyright © 2010 by JD. All Rights Reserved.

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arie schreckte hoch und saß kerzengerade in ihrem Bett – keuchend und zitternd. Aus vor Angst groß aufgerissenen Augen sah sie sich in ihrem Zimmer um, das vom Licht der Straßenlaterne vor ihrem Fenster karg

beleuchtet war. Doch sie war allein. Keine Fratzengesichter, die sie aus steinernen Augen anstarrten und von den verwetterten, mit Moos bewachsenen Steinen war auch keiner mehr zu sehen. Natürlich nich, schalt sie sich selbst und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es war leer geworden, schoss es ihr durch den Kopf. Kalt und tot und unbewohnt und leer. Sie schaltete die Nachttischlampe neben ihrem Kopfkissen an und ihr Blick fiel auf das Foto ihres Vaters. Der einzige Gegenstand, der außer ihrem MP3-Player noch nicht eingepackt und nach England verschifft worden war. Noch vor gut einem Monat hatte ihr Zimmer etliche Kartons enthalten, in die sie ihr Hab und Gut hatte verfrachten müssen. Jetzt war außer dem Bett, auf dem sie saß, der leere Kleiderschrank und der alte Schreibtisch nichts mehr in ihrem Zimmer. Über dem Fußende hingen die Jeans und das T-Shirt, das sie für den Flug herausgelegt hatte. „Und alles nur wegen dir,“ flüsterte Marie und seufzte. Sie hörte die leisen und schnellen Schritte ihrer Mutter auf dem Flur und gleich darauf wurde zaghaft an ihre Tür geklopft. „Marieschatz? Bist du wach?“ Hannelore – kurz Hannah... Allein der Name reichte zurzeit aus, um die pechschwarze Faust der Aggressivität in Maries Magengegend hervortreten zu lassen. Sie hasste ihre dunkelbraunen Haare, hasste ihr blasses Gesicht, ihre fröhlich strahlenden blauen Augen, wenn sie von Irwing sprach, hasste ihr... Doch dann schlugen Maries Gedanken einen Haken, verließen das Bild ihrer Mutter und kamen zurück zu ihrem neuen Vater. Irwing E. Atherton... Was für n Name is das eigntlich? iiir-wing, sie ließ den Namen angeekelt auf der Zunge zergehen. Hört sich eher nach nem kleinn, gottverlassnen, beschissnen Vorort inner Provinz an, als nach nem menschlichn Vornam... „Marie?“ „Ja, Gott,“ brummte Marie genervt. „Ich komme!“ Sie rollte die Augen, atmete noch einmal tief durch und schlug dann die Bettdecke zurück, um aufzustehen. Das Parkett fühlte sich kalt an unter ihren Füßen und Marie fröstelte. Sie griff nach ihren bereitgelegten Klamotten und begab sich ins Bad. Das Wasser in der Dusche wollte und wollte einfach nicht warm werden und sie fluchte kurz. Was für n Morgen! Ihren letzten Tag in Deutschland hatte sie sich anders vorgestellt. Genau genommen hatte sie sich alles ganz anders vorgestellt. Sie hatte sie noch nicht einmal gefragt, was sie von all dem hielt. Hannah hatte einen neuen Mann gefunden. Schön für sie. Und was wird aus mir? dachte Marie erbost. Was is mit all meinn Freundn, die ich ihretwegn hier zurück lassn muss? „Du kannst doch per Email mit ihnen in Kontakt bleiben,“ äffte sie ihrer Mutter Stimme leise nach. Ja? Und für wie lange, denkt se, soll das so funktioniern? Freundschaftn lebn davon, dass man sich sieht. Persönlich! Dass man unter vier Augn redn kann und nich nur so übers beschissene Telefon oder übers Netz! „Und neue findest du da doch auch ganz schnell,“ hörte sie ihrer Mutter Stimme in ihrem Kopf herumschwirren.

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Das ist aber nich dasselbe, verdammt! Und da spürte sie es schon wieder. Das heiße Brennen der Tränen in ihren Augen. Nich jetzt, man! Nicht schon wieder... Marie lehnte den Kopf an die kalten, nassen Fliesen und atmete durch. Denk an was andres, Marie. Biss sich auf die Unterlippe. Irgendwas. Fing an, sachte mit dem Hinterkopf gegen die Fliesen zu schlagen. Nu mach schon! Aber nichts half. Gott, verdammt... Sie kniff kurz die Augen zusammen und ließ sich dann an der Wand herunterrutschen. Lauwarmes Wasser prasselte auf ihren Rücken und ihre Tränen, die sie nicht länger zurückhalten konnte, vermischten sich mit den kleinen Tropfen, die ihr über das Gesicht liefen. Sie fühlte sich hilflos. So hilflos. Wie des Schicksals Spielball. Wer, oder eher was entschied über das Leben, wenn nicht jeder selbst? Man würde sie aus ihrem Zuhause zerren. Ob sie es nun wollte oder nicht. Und sie konnte nichts dagegen tun. In ein fremdes Haus. Zu fremden Leuten. In einen fremden Ort. In ein fremdes Land. In n gottverdammtes, fremdes Land... Und das ganze von der Frau, der sie ihr ganzes Leben lang vertraut hatte. Weshalb war das Wohl der Mutter höhergestellt als das der Tochter? Warum mussten sich immer die Kinder fügen? Hättse nich noch fünf Jahre wartn könn? Hättse Irwing nich n bisschen später kenn lernn könn? Dann wär ich achtzehn und könnt allein lebn... Nur fünf verdammte Jahre später. Marie lehnte die Stirn an die kalte Fliese und fing sich langsam wieder. Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, stand auf. Ihre Knie zitterten leicht. Sie griff nach der Shampooflasche und wusch sich die Haare. Beim Abtrocknen wanderte ihr Blick zum Fenster. Es war noch stockdunkel draußen. Die eingebaute Uhr im Regal zeigte gerade einmal 4:32 Uhr an. Sie trat vor den Spiegel und ihr Spiegelbild sah ihr mit verwuschelten, tropfnassen braunen Haaren und ein wenig rotumrandeten Augen entgegen. Aus Gewohnheit griff sie links neben sich, doch die Bürste war schon eingepackt und auf dem Waschbeckenrand lag nur noch ein Kamm. Sie versuchte das zerbrechliche Ding durch ihre widerspenstigen Haare zu ziehen, was ihr nicht sonderlich gut gelang und somit ließ sie es schließlich bleiben, wickelte sich das klamme Handtuch um den Kopf und zog sich an. Hannah hatte gesagt, sie solle das Shampoo einfach wegwerfen – in England würden sie neues kaufen. Doch Marie trocknete die Flasche sorgfältig ab, nahm sie mit auf ihr Zimmer und verstaute sie in ihrem Handgepäck. Sie wollte jede noch so kleine Sache, die sie an ihr Zuhause erinnerte... ... Noch-Zuhause, verbesserte Marie sich, für lediglich noch 24 Minutn... ... erinnerte mitnehmen, selbst, wenn es nur eine Shampooflasche war.

* * *

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Als sie in die Küche kam, hatte ihre Mutter bereits Frühstück gemacht und pfiff vergnügt zur Musik aus dem Radio. Sashas Lucky Day. Oh ja, dachte Marie genervt und traurig, was für n happy day! Am liebstn würd ich Luftsprünge machn. So glücklich bin ich... „Da bist du ja, Marieschatz.“ Hannah sah sie freudig und liebevoll an. Ganz offensichtlich freute sie sich auf den Flug. Auf England. Auf Irwing... „Nenn mich nicht immer Schatz,“ entgegnete Marie ihr gereizt und setzte sich. Hannah grinste nur und schwieg. „Was?“ Doch ihre Mutter drehte sich zum Toaster um und griff nach dem Brot. Legte ihrer Tochter wortlos eine Scheibe auf den Teller. Und immer noch war dieses verdammte Grinsen da. „Ma,“ hakte Marie nach, „was?“ „Du und Josi, ihr werdet euch prächtig verstehen.“ Und da war sie wieder: Josi. Irwings Tochter Joselina, kaum ein Jahr älter als Marie und derzeit angeblich genauso gut auf ihren Vater zu sprechen wie Marie auf ihre Mutter. Sie hatten auf Irwings Drängen hin per Email Kontakt aufgenommen. Kontakt... ts. „Oh ja,“ stimmte Marie ihrer Mutter sarkastisch zu. „Ganze zwei Emails haben wir uns geschrieben. Sie kann mich nicht ab und ich sie nicht. In dem Punkt verstehen wir uns doch... prächtig.“ „Marie, ich bit...“ Nun stand sie da, mit entglittenem Gesicht. Marie hatte sich wieder erhoben, stand ihr gegenüber und schrie sie an. „ICH BRAUCHE KEINE SCHWESTER!“ „Aber Marieschatz...“ „ICH HATTE NIE UND ICH WILL AUCH NIE EINE HABEN! UND GENAU DAS HAT DEINE TOLLE JOSI AUCH GESCHRIEBEN!“ Mit wenigen Schritten hatte sie die Tür erreicht und war schon aus der Küche gestürmt, als Hannah ihre Sprache wiederfand und ihr nachrief. In ihrem Zimmer angekommen, knallte sie die Tür hinter sich zu, riss sich das nasse Handtuch vom Kopf und schleuderte es in die nächste Ecke. Ein wütender Schrei entwich ihrem Mund und sie versetzte dem Bettpfosten einen Tritt. Doch anstatt ihrem Ärger Luft zu machen, durchzog ein stechender Schmerz ihren rechten Fuß. „AH, VERDAMMT,“ brüllte sie, ließ sich auf dem Bett nieder, um ihren schmerzenden Fuß zu halten und heulte schon wieder. „Marie, ich...“ hörte sie Hannahs flehende Stimme vom Flur her. „Geh weg,“ schluchzte Marie. „Lass mich in Ruhe!“ Hannah schwieg und Marie wartete darauf, die Laute ihrer sich entfernenden Schritte zu hören, doch es kam nichts. „Unser Taxi kommt in zehn Minuten,“ erklang es schließlich ernüchternd, sachlich und kalt von der Tür her, bevor Hannah zurücktrat. Warum? Warum?! WARUM??? Womit hab ich das verdient? Hä? Was hab ich n getan? WAS HAB ICH DENN GETAN??? SAG ES MIR, DAMIT ICH ES VERSTEHN KANN! Bitte, sag es mir...

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Marie wusste nicht, zu wem sie in Gedanken sprach. Sie erwartete auch keine Antwort. Die erwartete sie schon lange nicht mehr. ... bitte, damit ich es verstehn kann. Und doch horchte sie. In sich hinein. Hätte sie ein Bild über ihren Gefühlszustand malen müssen, so wäre es wohl schwarz gewesen, mit dunkelroten, verlorenen Strichen und Punkten, die weder wussten, woher sie kamen, noch wohin sie gingen. Und was genau sie in der schwarzen Masse verloren hatten, darauf hätten sie auch keine Antwort gehabt. Es klingelte und Marie hörte, wie ihre Mutter zur Eingangstür ging. Marie stand auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Sie griff nach ihrem MP3-Player und stopfte ihn, zusammen mit dem Bild ihres Vaters, in ihre Tasche. Und ohne sich noch einmal umzudrehen, trat sie aus ihrem Zimmer und ihrem neuen Leben entgegen.

* * * „Na, hast du jetzt wieder bessere Laune?“ empfing Hannah sie auf dem Flur. Marie starrte sie nur entgeistert an, schnappte sich ihren schwarzen Mantel, warf sich ihren dunkelroten Wollschal um den Hals und ging an ihrer Mutter vorbei aus der Wohnung, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Ohne ein weiteres Wort schloss Hannah die Tür hinter sich und kam hinter ihrer Tochter her, die bereits die wenigen Treppenstufen hinter sich gelassen hatte und nun auf dem Gehweg vor dem Taxi stand. „Morgen,“ brummte der Fahrer, der noch recht verschlafen wirkte. Marie nickte ihm kurz zu. Hannah hingegen versuchte ein Gespräch mit ihm anzufangen, was ihr nicht recht gelang und so ließ sie es nach kurzer Zeit bleiben. Marie hatte sich gleich auf der Rückbank niedergelassen und ihren Mantel und ihre Tasche neben sich gelegt, so dass Hannah gezwungen war auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. „Wohin soll es gehen?“ erkundigte sich der Taxifahrer. „Zum Flughafen,“ kam es sofort freudig von Hannah. „Dem Ende entgegen,“ nuschelte Marie und kramte in ihrer Tasche nach dem MP3-Player. Sie hatte ihn bald gefunden und steckte sich die Stöpsel in die Ohren. „Hey Marie!“ erklang Tanjas Stimme über die Stöpsel. Oh, Tanja. Marie seufzte kurz. Tanja war ihre beste Freundin. Die beiden kannten sich schon aus dem Kindergarten. Zusammen waren sie durch dick und dünn gegangen. Marie erinnerte sich an die letzte Klassenfahrt, bei der sie sich nachts aus dem Schlafraum geschlichen hatten. Sie waren aus dem Fenster geklettert. Zusammen mit Kati und Debbi. Weil sie den Mond auf dem Meer hatten sehen wollen. Zu dumm nur, dass Herr Walter sie erwischt hatte... „Ich wollt dir nur noch ganz, ganz viel Spaß in England wünschen. Und...“ Tanjas Stimme brach. „Ich werd dich vermissen, man. Ich...“ Dann kam das Klicken, eine Weile lang gar nichts und dann setzte das Rauschen wieder ein. „Okay. Marie, hör zu, ja?“ Tanja klang schon wieder etwas gefasster. „Wir machen das so,“ Marie hörte sie schniefen. „Wir schreiben uns jeden Tag. Immer abends. Dann haben wir was zum Erzählen. Und jeden Samstag rufen wir uns an, ja? In geraden Wochen ruf ich an und in ungeraden du. Dann wechseln wir uns ab. Mit den Kosten, mein ich. Ja... Also... So machen wir das, ja? Hab dich lieb.“ Wie oft hatte sie das jetzt schon gehört? Sie konnte den Text schon mitsprechen. Als nächstes kam Kati. „Marilli!“ Marilli.

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Marie musste lächeln. So hatte sie nur Kati genannt. Warum? Das wusste sie selbst nicht. Ich hättse mal fragn solln... „Was fällt dir eigentlich ein, einfach so abzuhauen und uns alle hier zurückzulassen? Und dann auch noch nach England. Wär es nach, keine Ahnung, Paris oder so gewesen, würd ich dich besuchen komm. Aber so... Du weißt ja, erstens meine beschissene Flugangst und zweitens, Gott, wer will schon ins verregnete England, man? Nein, Spaß beiseite! Das ist eine riesen Chance, man. Ergreif sie. Mach was draus. Und eigentlich ist es gar nicht sooo schlecht. Immerhin kann ich jetzt immer sagen, ich kenne eine, die in England lebt. Also, Marilli. Ich knutsch dich und wir sehn uns.“ Ja, wir sehn uns, dachte Marie und fühlte, wie erneut Tränen in ihr aufstiegen. Sobald ich genug Geld gespart hab, um nach Deutschland zurück zu komm. Das Klicken war wieder zu hören und als nächstes kam Debbi. Und nach ihr dann Isabel. Und dann Laura. Und dann... Sie alle hatten Marie etwas auf ihren MP3-Player gesprochen. Als Andenken. Und sie wusste, in was es ausarten würde, wenn sie die ganzen Nachrichten hören würde. Deswegen drückte sie die Forward-Taste, bis sie endlich bei der Musik angekommen war. Die Toten Hosen. Pushed Again. Na, das passt ja hervorragend. Sie lehnte den Kopf gegen die kalte Fensterscheibe und wurde der winzigen Regentropfen gewahr, die vom Fahrtwind über die Scheibe gescheucht wurden. Sie hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass es zur regnen begonnen hatte. Das is also das Ende. Das letzte Mal. Und Deutschland zeigt sich von seiner bestn Seite... Die Wassertropfen verzerrten die wenigen Lichter, an denen das Taxi vorbeirauschte und Marie sah nur noch farbige Schlieren in der Dunkelheit. Begleitet wurde das ganze von Campino, der Marie in die Ohren brüllte.

* * * Die Fahrt dauerte nicht all zu lange und somit waren Marie und ihre Mutter nach noch nicht einmal einer halben Stunde am Flughafen angekommen. Trotz der frühen Stunde, war dort schon reichlich viel los. Menschen mit vollbepackten Trollis, Stewardessen mit kleinen Reisekoffern, die sie hinter sich herzogen und das ein oder andere schreiende Kind rannten umher. Mit gesenktem Kopf und tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen, trottete Marie Hannah hinterher. „Marieschatz,“ drängte Hannah, „nun beeil...“ „Nenn mich nicht immer Schatz,“ nuschelte Marie durch geschlossene Zähne und schloss zu ihrer Mutter auf. „Wir verpassen unseren Flug noch.“ Und wenn schon? Mich würd’s freuen. „Es ist nur noch eine Viertelstunde, bis der abfliegt.“ Marie ließ sich von Hannah über den Flughafen leiten. Sie kam sich ein wenig vor wie eine Marionette oder eine Art Roboter. Man hatte ihr gesagt `Flieg nach England´ und genau das tat sie jetzt, ohne sich dagegen wehren zu können. Innerlich schrie sie, kämpfte gegen ihre Zukunft an. Doch äußerlich brachte sie es nicht fertig, sich zu widersetzen. Sie wusste nicht wie. Wo sie anfangen sollte. Es war ihr alles über den Kopf gewachsen und sie fühlte sich klein und hilflos. Sie hatte nur noch ihre Mutter und wenn diese es vorzog auszuwandern, dann sah sie keine andere Möglichkeit, als ihr wortlos zu folgen. Marie hatte versucht, Hannah umzustimmen. Oh ja, das hatte sie. Und was hatte es gebracht? Nichts. Sie hatten sich

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gegenseitig angeschrien, zwei Tage lang nicht mehr miteinander geredet und sich dann doch mehr oder weniger wieder versöhnt. Was hätten sie sonst auch tun können? Und jetzt befanden sie sich hier. Mitten auf dem Flughafen. Nach wenigen Minuten hatten sie den Schalter erreicht und Hannah gab ihr Gepäck auf. Auf Nimmerwiedersehn, hoffte Marie, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass ihr Koffer sie auf dem englischen Flughafen erwarten würde. Genau so, wie es sein sollte. Und trotzdem besteht noch Hoffnung… Hannah seufzte erleichtert, als sie vom Schalter wegtraten und alles seinen geregelten Gang zu nehmen schien. Mit gemächlicheren Tempo führte sie ihre Tochter ins Check-Inn, durch die Metalldedektoren, vorbei an den Security Leuten, und hinein ins Duty-free-Paradies. „Möchtest du noch irgendwas haben, Mariesch…“ „Nein,“ unterbrach Marie ihre Mutter genervt, „will ich nicht!“ „Irgendein Andenken, eine letzte Kleinigkeit aus Deut…“ „Nein, man,“ entgegnete sie ihrer Mutter heftiger als sie es vorgehabt hatte. „Ich hab nein gesagt!“ Hannah sah gekränkt aus, doch anstatt Mitgefühl empfand Marie nur ein leise in sich emporsteigendes Gefühl der Genugtuung. Des Triumphes. „Was ist denn los?“ erkundigte Hannah sich und berührte ihrer Tochter liebevoll an der Schulter. Marie blieb stehen und entzog sich somit dem Griff ihrer Mutter. „Ach, gar nichts,“ meinte sie sarkastisch. „Ist doch schön, wenn man aus seinem Leben rausgerissen wird.“ Hannah biss die Zähne zusammen und ihre Nasenflügel fingen an leicht zu beben. Soll se doch sauer werdn! Is mir egal! Soll se mich doch anschrein – hier vor alln Leutn! Marie wartete, dass Hannah etwas sagte. Doch die schaute kurz weg, atmete tief durch und fasste sich innerhalb von Sekunden wieder. Ach Gott, sie traut sich sowieso nich… „Das hatten wir doch alles schon,“ meinte Hannah leise, doch mit Nachdruck. Dann setzte sie ihr Lächeln auf und fasste Marie bei den Schultern. „Es wird dir gefallen, glaub mir,“ versuchte sie ihre Tochter zum hunderttausendsten Mal zu überzeugen. „Du wirst…“ Über die Lautsprecher wurde ihr Flug aufgerufen. Hannah drückte Maries Schultern noch einmal leicht, was sie wohl aufmuntern sollte, die Wirkung aber gänzlich verfehlte. „Na komm.“ Widerwillig trottete Marie hinter ihrer Mutter her. Mit jeden Schritt ein Stückchen weiter von dem Leben weg, das sie zu leben gehofft hatte.

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anna hatte die Augen geschlossen und döste vor sich hin. Sie hatten kein Wort mehr miteinander geredet und Marie war es nur recht so. Sie saß jetzt schon seit knapp einer Stunde in dem Flugzeug und starrte Löcher in die Luft.

Auf der kleinen Leinwand vor ihr, konnte Marie sehen, wo genau das Flugzeug sich befand. Wie hoch es flog. Wie viele Minuten sie noch von ihrer neuen Heimat trennten. Ich will nich, ich will nich, ich will nich… Wie eine Beschwörungsformel hatte sie die Worte in ihren Kopf gehämmert und nun fühlte es sich so an, als würden sie dort oben lebendig werden und ein Eigenleben führen. Ich will nich, ich will ni… Sie brauchte sie schon gar nicht mehr mit den Lippen formen. Schon gar nicht mehr denken. … will nich, ich wi… Das Flugzeug sackte ab und Marie spürte, wie ihr leerer Magen aufmuckte. Ja komm schon, flehte sie. Stürz ab. Aber das Flugzeug fing sich wieder. „Da ist wohl die Flugautobahn nicht ganz ausgebaut,“ scherzte der ältere Herr neben ihr und Marie verzog das Gesicht zu einem Nicht-Lustig-Lächeln. „Freust du dich denn gar nicht auf den Urlaub?“ erkundigte er sich. „Wenn es nur Urlaub wäre, sicher.“ Hannah rammte ihr nicht gerade sachte den Ellbogen in die Rippen. „Was?“ fuhr Marie sie genervt an. Zu gern hätte sie einen Streit vom Zaun gebrochen. Doch ihre Mutter warf ihr nur einen strafenden Blick zu und blieb stumm. Marie schluckte den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag hinunter und wandte ihren Blick wieder dem Fenster zu. Der Mann neben ihr zog es vor, zu schweigen und widmete sich wieder seiner Zeitung. Von irgendwo hinter ihnen nährte sich eine der Stewardessen mit dem Getränkewagen. Langsam arbeitete sie sich zu den dreien vor und bevor Marie auch nur ein Wort über die Lippen gebracht hatte, hatte Hannah auch schon für sich und ihre Tochter bestellt – zwei Mal Apfelsaft, bitte – was nicht gerade dazu beitrug, Maries Zorn auf ihre Mutter zu bändigen. Denkt die, ich hab keinn eignen Mund? Vielleicht hätt ich ja auch lieber was ganz andres gewollt. Orangensaft, oder so… „Marieschatz,“ kam es von Hannah, als sie ihrer Tochter den durchsichtigen Plastikbecher reichte. „Ich habe keinen Durst,“ meinte Marie ohne Hannah anzuschauen. „Marie, bitte,“ drang Hannahs nörgelige Stimme an ihre Ohren. „Ich kenne dich. Sobald sie weg ist, fängst du an zu plärren.“ „Das ist überhaupt nicht wahr,“ zischte Marie und funkelte ihre Mutter böse an. „Ich…“ „Was ist denn nun?“ mischte sich die Stewardess ein. Alles andere als freundlich. „Ich habe noch ein Dutzend Reihen vor Ihnen, die alle darauf warten, dass ich…“ Trotzig griff Marie nach dem Becher, lehrte ihn in einem Schluck und hielt ihn der Stewardess hin. „Da. Ging das schnell genug?“ „Marie,“ mahnte ihre Mutter. „Sie hatten es doch so eilig. Bitte.“ Mit einem vielsagenden Blick auf Hannah nahm die junge Stewardess Marie den Becher aus der Hand und zog dann ohne ein weiteres Wort weiter. „Marie, ich…“ fing Hannah an, doch Marie drehte ihren Kopf zum Fenster und ignorierte sie. Ihre Mutter gab sich dann vorerst geschlagen und Marie hörte sie nur noch eine Zeitlang schnell durch die Nase atmen. Um auch das hinter sich zu lassen, kramte sie ihren MP-3 Player aus dem Rucksack und prockelte sich die Stecker in die Ohren.

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* * * Schweigend waren sie aus dem Flugzeug gestiegen, Hannah hohen Hauptes und schnellen Schrittes vorweg und Marie mit einem mürrischen Gesichtsausdruck drei Leute hinter ihr. „Na, dicke Luft, was?“ meldete sich der ältere Herr noch einmal zu Wort, als er an Marie, die keinerlei Anzeichen zeigen ihre Mutter einholen zu wollen, vorbei ging. „Mhm,“ machte Marie nur, während sie ihm nachschaute. Na, und wenn schon? Sollse doch sehn, wasse davon hat! Da hatse selber Schuld! An der Gepäckausgabe holte sie ihre Mutter, die einen Trolly geholt hatte, dann wieder ein. Hannah sah nur kurz auf und blickte dann zurück zum Fließband. Und da kam er dann auch schon. Maries Koffer. Und dabei hat ich so gehofft, er würd verlorn gehn… Hannah beugte sich vor und fischte Maries Koffer vom Band. Bald darauf kam dann auch ihr Gepäck und ohne ein Wort setzte sie sich mit dem Koffertrolly in Bewegung. Schweigend gingen die Beiden durch den Zoll und dann schließlich aus dem Arrival-Gelände hinaus. Vor ihnen war eine Fensterfront, die den Blick auf eine verregnete Parkplatzanlage, und einen kleinen Wald dahinter freigab. Das is also England… Genauso, wie mans immer im Fernsehn sieht. Hannah kannte die Strecke bereits und begab sich ohne Umwege aus dem Terminal hinaus. Draußen wartete bereits ein großer dunkler Wagen auf sie und ein Herr in dunklem Anzug und weißen Haaren winkte Hannah zu. Marie verlangsamte irritiert ihr Tempo. Aufm Foto sah er aber anders aus… Jünger und… Und anders. Irwing war zum Kofferraum gegangen und begrüßte Hannah nun per Handschlag. „Mrs. Snaida, schön, dass Sie sind wieder hier. Ahhh und das muss sein Miss Mary.“ Määää – u – ie. Das heißt MaRIE und nich MÄui. Und außerdem heißn wir SCHneideR und nich SNaidA! Der Alte streckte ihr die Hand entgegen und mit einem gezwungenem Lächeln auf dem Gesicht, das ihre Augen nicht berührte, ergriff sie sie. Nachdem die Prozedur vorüber war und Irwing sich ihren Koffern widmete, fühlte Marie Hannahs Hand auf der Schulter. „Na, wenigstens etwas Anstand hast du behalten,“ flüsterte sie ihr mit spitzem Ton ins Ohr. Irwing trat an ihnen vorbei und öffnete ihnen die Wagentür, als er merkte, dass Hannah sich in die Richtung begab. „Vielen Dank,“ meinte diese und ließ sich auf die Rückbank nieder. Marie sah ihrer Mutter verwirrt hinter her. Warum zum Teufel setztse sich nich nach vorn zu ihm? Ich spring schon nich ausm fahrendn Auto. Ich… „Miss Mary.“ Marie sah zerstreut zu ihrem Gegenüber auf. Er hielt die Wagentür noch immer geöffnet und zeigte mit der Hand ins Wageninnere. Sie setzte sich also in Bewegung und stieg ein, ihre Mutter fragend musternd. Doch die hüllte sich in Schweigen und strich ihren Mantel glatt. Als Irwing sich dann auf dem Fahrersitz – rechts wohlbemerkt und sehr zur Irritation von Marie – niedergelassen und angeschnallt hatte, wandte Marie sich an ihn. „Mr. Atherton, wie lange wird die Fahrt dauern?“ Seine Augen fanden sie über den Rückspiegel und er sah sie kurz verwundert an. „Mr. Athe…“ begann er und fing an zu lachen. „Ich bin his Chauffeur. David Langston.“

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„Oh,“ war alles, was Marie dazu einfiel. Ja… Das erklärt so einiges. David ließ den Wagen an und fuhr los. „Aber zu kommen zurück zu deine Frage, Miss Mary,“ seine wässrig blauen Augen erschienen wieder im Spiegel, „30 Minuten, nicht ganz.“ „Danke, Mr. Langston.“ „Oh, David. David, m´dear.“ Marie lächelte ihm zu und Davids Augen richteten sich wieder auf die Straße vor ihnen. Sie waren bald vom Flughafengelände herunter und auf einer Art Schnellstraße, die sie in den nächsten größeren Ort brachte. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen und die schwarze Wolkenmasse riss sogar an manchen Stellen auf, um die Sonne hindurch zu lassen. So anders isses ja nich, fuhr es Marie überrascht durch den Kopf. Menschnmassn, verschiedene Einkaufslädn, feine Boutiqun, uralte Kirchn… Nur dieser verdammte Linksverkehr! Ihr wurde ganz anders, wenn David die Kreisel auf der falschen Seite nahm oder aber falschherum in Straßen einbog. „Da wirst du dich gewöhnen schon noch dran, Miss Mary,“ kam es plötzlich von ihm, da er wohl bemerkt hatte, wie es ihr erging. „Wollen Sie ihr nicht geben eine kleine sightseeing tour, Mrs. Schneider?“ Hannah winkte ab: „Sie wäre sowieso nicht dran interessiert.“ Gerade deswegen… „Doch, natürlich wäre ich das,“ versicherte Marie ihnen und sah David verwirrt zwischen den beiden hin und her schauen. Hannah warf ihrer Tochter nur einen giftigen Blick zu, und wandte sich an David. „Wenn Sie wollen, David.“ „Wie Sie wollen, Mrs. Snaida,“ meinte er zögerlich. „Na, dann schießen Sie los, David,“ forderte Marie ihn fröhlich auf. „Also, hier links vorn wir haben die Kirche von St. Anna.“ Marie sah, wie seine Augen stolz zu leuchten begannen. „Sie ist die älteste Kirche im Radius von fast hundert Kilometer.“ Er muss n sehr gläubiger Mensch sein… „Und dort dann,“ er zeigte nach rechts, „wir haben die… die, wie Sie sagen?“ Hannah murmelte „Einkaufspassage“ mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht und David lächelte dankbar. „Ja, Einkaufspassage. Das ist wohl eher was für die Geschmack von die junge Mädchens. Mit Cafes und Kino und Tanzlokal neben an.“ „Tanzlokal?“ fragte Marie irritiert. „Disko, Marieschatz, er meint Disko,“ übersetzte Hannah, die Maries vorgetäuschte Interesse an England plötzlich wieder ganz freundlich stimmte. „David,“ wandte sie sich belehrend an den Fahrer, „sie ist erst dreizehn.“ „Oh, da musst du dann warten noch ein bisschen. Aber in ein paar Jahren du kannst hingehen dann dort.“ Sie hatten den Komplex schon hinter sich gelassen und bogen nun in eine Querstraße ein. „Ah… Und hier wir haben die Museums-Viertel. Mit vielen schönen Museums. Kunst, frühe Geschichte, alte Geschichte, und viele, viele Ausstellungs.“ Der alte Mann schien wirklich darin aufzugehen, etwas über seine Heimatstadt berichten zu können. „Und wenn du fährst darunter, dann du kommst zu die Hafen mit schönen Boots und Hafenmuseum. Aber wenn du fährst rechts runter, dann du… ach, ich zeige dir.“

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David ordnete sich rechts ein und nahm die nächste Straße. Vor einem alten, riesigen steinernem Gebäude drosselte er das Tempo so weit es ging. „Das ist deine Schule, Miss Mary.“ „Meine…“ Es überrumpelte sie. Das Gebäude sah nicht wirklich aus, wie eine Schule, eher wie ein uraltes Staatsgebäude oder ähnliches. „Sie ist riesig,“ entwich es ihren Lippen. „Findest du?“ meinte David gleichgültig und beschleunigte wieder. „Eine Privatschule, nur die besten gehen dort. Josi ist dort auch. Ich werde fahren euch jeden Morgen.“ Marie war noch so sehr mit dem Begutachten des alten Schulgebäudes beschäftigt, dass die Erwähnung ihrer Stiefschwester sie nicht im Mindesten interessierte. Der Wagen bog um die nächste Ecke und das große Gebäude verschwand aus dem Blickfeld. „Und wenn du fährst hier lang,“ erläuterte David und deutete gerade aus, während er die nächste Rechtskurve nahm, „dann du kommst zu die Bahnhof. Und zu die Theater,“ setzte er nach kurzer Pause hinzu. „Ja… das war es, ich glaube. Jedenfalls für diese Seite von die Stadt. Aber wenn du hast Fragen, dann du kannst kommen gerne zu mir.“ „Vielen Dank, David, das werde ich tun.“ Schweigend vergingen dann die nächsten paar Minuten und Marie bekam langsam mit, wie sie die Stadt verließen. Was soll das n jetzt? Ich dachte, wir wohnn hier. „David,“ wandte sie sich an den Fahrer, „wo genau fahren wir hin?“ „Nach Hause,“ meinte dieser leicht irritiert. „Aber, ich dachte… dass…“ „Oh! Nein, nein. Mr. Atherton wohnt doch nicht in die Stadt,“ belehrte er sie in einem Tonfall, der anmuten ließ, dass sie etwas extrem dummes gesagt hatte. „Nein, m´dear. Mr. Atherton könnte es aushalten hier nicht länger als zwei Tage. Zum Wohnen, ich meine. Geschäftlich, ist andere Sache.“ Na super, n Landei… Und damit war sie vorerst wieder hin, Maries bessere Laune.

* * * Rings umher waren nur Felder, Wälder und Koppeln mit Vieh. Fast zehn Minuten fuhren sie nun schon durch diese Einöde und die ganze Zeit über hatte sich eine Art Kirchturmspitze gegen den dunklen Himmel abgezeichnet, so dass Marie unwillkürlich der Gedanke kam, dass wenigstens David seine Freuden hatte und sie mindestens einmal in der Woche unter Leute kommen würde. Aber warum ausgerechnet inner Kirche? Sie bogen um eine letzte Ecke, fuhren aus dem Wald hinaus und vor ihnen lag es. Maries neues Zuhause. Komplett anders, als sie sich es vorgestellt hatte. Die Sonne schien durch die fast schwarze Wolkendecke und strahlte das alte riesige Gemäuer an, dessen weißer Sandstein sich beinahe golden von dem dunklen Himmel absetzte. Marie entglitten alle Gesichtszüge und Hannah sah weitaus mehr als zufrieden aus. „Ich habe dir doch gesagt, es wird dir gefallen.“ Es hatte Ähnlichkeit mit einem alten Herrenhaus, mit seinen unzähligen Türmen, seinen Zinnen und seinen gotischen Fenstern und Flügeltüren. Der Turm war auch kein Kirchturm gewesen, sondern die Spitze der höchsten Campanile des alten Gebäudes. Er muss n Millionär sein, schoss es Marie durch den Kopf während sie an zwei mannshohen Adlerstatuen vorbei und durch ein schwarzes gusseisernes Tor fuhren. Das Tor schloss sich

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hinter ihnen wieder und Marie starrte aus dem regenbenetzten Fenster auf das helle Gebäude, dessen Ausmaßen schon längst nicht mehr in die Scheibe passten. David lenkte den Wagen durch eine kleine Unterführung des Haupthauses, die gerade breit genug für den Wagen war und brachte das Auto dann auf einem runden, mit weißen Kieseln und riesigen Springbrunnen versehen Platz zum Stehen. „Na los,“ forderte Hannah sie zum Aussteigen auf, als David ihr die Tür öffnete. Marie schnallte sich ab und begab sich, immer noch reichlich überwältigt, aus dem Wagen. Efeu rankte an den hellen Wänden empor und schlang sich um die vielen Balustraden und Säulen. „Da seid ihr ja,“ erklang es plötzlich freudig von hinter Marie und sie drehte sich um. Ein schlanker Mann mittleren Alters trat lächelnd auf sie zu. Seine lockigen, mittlerweile an vielen Stellen ergrauten Haare hatte er zurückgekämmt. Eine hellblaue Fliege zierte seinen ansonsten dunklen Anzug und auf der Nase trug er eine eckige Brille. „Irwing,“ kam es freudig von Hannah. Ich hätt erwartet, dasse sich in die Arme falln… Doch stattdessen gingen die beiden gesittet aufeinander zu, umarmten und küssten sich kurz. Als wärn se schon Jahre lang zusamm! Nachdem Hannah und Irwing von einander zurückgetreten waren, fiel Irwings Blick auf Marie, die immer noch ein wenig benommen neben dem Wagen stand. „Ah… Und du musst Mary sein.“ MaRIE, Gott, verdammt!!! Doch sie zwang sich zu einem Lächeln und ergriff Irwings ausgestreckte Hand. „Mr. Atherton.“ „Na, aber nicht doch, Schätzchen. Irwing, nenn mich Irwing.“ „Irwing, gut.“ Am liebsten hätte sie noch und nenn mich nich Schätzchen hinzugefügt, schluckte ihre Bemerkung aber hinunter. „Wo ist Josi?“ erkundigte sich Hannah. Irwing sah sich suchend um und murmelte: „Eben war sie doch noch direkt hinter mir.“ Schließlich erblickte er sie in einer der vielen Türen und winkte sie zu sich. Doch das Mädchen weigerte sich und rührte sich nicht. Marie war seinem Blick gefolgt und musterte Josi. Auch sie hatte sie sich anders vorgestellt. Ihre dunkelroten Haare hingen ihr ein wenig verwuselt ins Gesicht und ihre Augen waren schwarz umrandet. Trotz der Kälte lehnte sie nur im schwarzen, leichten Pullover, dünnen und an vielen Stellen zerschlissenen Strumpfhosen und einem kurzen schwarz-rot karierten Rock an der Tür. Sie hatte die Arme unter der Brust verschränkt und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das Geschehen vor ihr. „Du meine Güte, was ist denn mit ihr passiert?“ Hannah sah überaus schockiert aus. „Sie rebelliert,“ erklärte Irwing erstaunlich ruhig. „Am liebsten würd sie sich noch ein Lippen-piercing machen lassen, aber das habe ich ihr verboten.“ Warum bin ich darauf nie gekomm? „Josi! Komm her, bitte!“ Widerwillig ließ sie die Arme sinken und trat auf die drei zu. „Hannah kennst du ja schon. Aber ich möchte dir Mary vorstellen.“ Josi fixierte sie feindselig, sagte aber keinen Ton. Stattdessen verschränkte sie die Arme wieder. Ob wegen der Kälte oder der Antipathie, wusste Marie nicht. „Josi,“ ermahnte Irwing seine Tochter nach einigen Sekunden Stille. Doch anstatt zu antworten, drehte sie sich um und marschierte zurück in Richtung Tür. „Joselina!“ “I know what she looks like now!“ rief sie ihrem Vater zu, ohne sich dabei umzudrehen.

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„Entschuldigt mich,“ wandte Irwing sich an Hannah und Marie, bevor er seiner Tochter nachsetzte. In wenigen Schritten hatte er sie eingeholt, am Arm gepackt und sie zu sich umgedreht. Leise, doch mit wutverzehrtem Gesicht, redete er auf sie ein, was sie ziemlich unbekümmert ließ. „Sie hat verändert sich vor noch nicht langer Zeit,“ schaltete David sich nun plötzlich wieder ein. Er war dabei gewesen, Hannahs und Maries Gepäck in das Gebäude zu bringen. „Ich glaube, Mr. Atherton weiß nicht umzugehen mit ihr mehr. Er hat versucht alles, aber nichts geholfen.“ Er seufzte und schüttelte traurig den Kopf. „Ich weiß auch nicht, was ist falsch. Josi war gewesen so ein nettes Mädchen. Jetzt, sie ist ganz anders.“ Er seufzte ein weiteres Mal und ging dann zum Wagen, um ihn wegzufahren. „Kommt,“ forderte Irwing Hannah und Marie auf, während er sich mit Josi, dessen Arm er fest umgriffen hatte, in Bewegung setzte. Marie spürte Hannahs Hand sachte auf ihrem Rücken und sah zu ihrer Mutter empor. „Na komm,“ meinte Hannah leise. Das hattse sich wohl anders vorgestellt… Sie sah traurig aus und mitgenommen. Marie begann Mitleid mit ihr zu fühlen. Doch prompt schalteten sich die Alarmglocken wieder ein. Ja, und wenn schon! Josi is großartig!!! Die lässt sich nich so schnell kleinkriegn wie ich! Die is zäh. Die hält das durch. Man, ich lieb se jetz schon! Schon allein deswegn, weil ses noch weiter getriebn hat als ich!

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eter hohe, meistenteils torbogenartig zulaufende und mit Stuck verzierte Decken. Steinerne Wände, die mit Wandteppichen und großen Portraits versehen waren.

Bis zur Hüfte reichende Vasen mit Blumen darin. Ebenhölzerne Kommoden, Truhen, Stühle und Tischchen hier und dort. Fensterscheiben, die fast so hoch waren, wie die Wände. Alle paar Meter eine Tür oder neue Abzweigung. Und endlose Läufer auf dem Boden, die die Schritte dämpften. Marie war schier erschlagen von dem Interieur des Gebäudes. Sich pausenlos umsehend folgte sie Hannah, Irwing und Josi. Mein neues Zuhause, schwirrte ihr immer wieder durch den Kopf. Genau genomm isses gar kein ZuHAUSE. Es is n Zuhause - SCHLOSS. Man, ich brauch n Plan, um mich hier drin zurechtzufindn. Oder so n Auto-Navigier-Gerät… So n, wie heißts doch gleich? So n… Ach, is ja auch egal... Ich werd mich garantiert andauernd verlaufn… Gott, das is… „Marieschatz,“ unterbrach Hannah ihren Gedankenfluss, „wo bleibst du denn?“ Marie hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass sie stehen geblieben war. Die anderen waren gerade in einem Raum links des Ganges, etliche Meter vor ihr, entschwunden. Nur Hannah stand noch vor der Tür und wartete leicht amüsiert auf ihre Tochter. Marie lief die letzten paar Meter und ließ sich von ihrer Mutter in den Raum lotsen. Er war ebenso hoch wie die Gänge, durch die sie gekommen waren und etliche Bilder hingen an den Wänden, darunter auch viele Fotos, die Irwing, Josi und eine andere Frau zeigten, vermutlich Joselinas Mutter. Ein großer schwarzer Flügel stand in einer der vielen Ausbuchtungen des geräumigen Raumes. Irwing und Josi hatten sich an einen runden Tisch in einer der anderen Wölbungen begeben. Hannah und Marie ließen sich nieder, während Irwing Josi noch einen letzten mahnenden Blick zuwarf, dann aber mit einem Lächeln zu den beiden hinüber schaute. Kaum hatte Marie auf dem gepolsterten und mit rotem Samt verkleideten Stuhl platzgenommen, da ging eine Tür zu ihrer Linken auf und eine rundliche, ältere Frau kam mit einem Servierwagen zu ihnen, auf dem etliches Geschirr stand. „Ihr seid bestimmt hungrig,“ erklärte Irwing, während die alte Dame anfing Untertassen, Tassen, Gläser, Teller und Besteck auf dem Tisch zu verteilen. Es folgten eine Teekanne, ein Milchkännchen, eine Zuckerdose, ein Korb mit Brot, Aufschnitt, eine Schüssel rote Bohnen und gebratener Speck. Ah… Das is jetz also typisch englisch, stellte Marie fest. Nachdem die alte Frau jedem Orangensaft und Tee eingeschenkt hatte, verabschiedete sie sich mit einem Nicken und trat vom Tisch zurück. “Thanks, Marge,“ meinte Irwing, während die Frau wieder durch die Tür verschwand, durch die sie gekommen war. „Gehört das Haus wirklich Ihnen?“ platzte Marie plötzlich heraus. „Marie,“ kam es mahnend von Hannah, die von der Frage doch ziemlich überrumpelt war. „Nein, nicht doch. Ist schon in Ordnung,“ meinte Irwing mit einem Lachen in der Stimme. Dann wandte er sich an seine Stieftochter. „Ja, es gehört mir. Und ich dachte, wir wären mittlerweile beim du angekommen,“ setzte er lächelnd hinzu. „Hast du es geerbt?“ „Nein,“ schüttelte er den Kopf, „ich habe lange und hart dafür gearbeitet.“ „Wie lange?“ „Sehr lange. Mein ganzes Leben lang.“ „Wie alt bist du?“

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„Marie! Also, ich muss schon…“ Irwing legte Hannah eine Hand auf den Arm und sie verstummte. „Älter, als ich aussehe. Und nun lass es dir schmecken.“ Er selbst griff zu dem Glas, das vor ihm stand und prostete Marie stumm zu, die ihres ebenfalls ergriff. „Auf ein neues Leben,“ sprach Irwing, als auch Hannah ihr Glas erhoben hatte. Nur Josi saß stumm da, mit verschränkten Armen, ihren zornigen Blick auf Irwing geheftet und rührte sich nicht.

* * *

„So,“ beendete Irwing die rund zweistündige Führung und schloss eine Tür zu seiner Linken auf, „und das hier ist es, dein vorläufiges Zimmer.“ Sie hatten auf den zwei Etagen des Gebäudes unzählige große Räume, ja fast schon Säle, angeschaut. Überall hingen diese Wandteppiche und uralten Bildnisse. Auf den Böden waren meterlange Läufer. Überall standen riesige Blumenvasen mit Pflanzen darin. Hier und da sah man mehrarmige Kerzenständer, dessen Arme über und über mit weißem Wachs bezogen waren. Sie waren im Eßzimmer gewesen – der frühere Rittersaal; mit einer cremefarbenen, aufwendig verzierten, hohen Decke und einem ovalen Tisch, an dem gut zwanzig Leute dinieren könnten. Hatten vier verschiedene cremefarben gekachelte und mit braunen Stumpfkerzen und Schalen voller Potpourri versehene Badezimmer besucht. Waren in der hauseigenen Bibliothek gewesen, die laut Irwing rund zehntausend Bücher beherbergte. Hatten die Wohnstube gesehen, deren Fernsehbildschirm wohl eher einem kleinen Kino glich. Waren im Musikzimmer gewesen, das einen zweiten Flügel, eine Handvoll Gitarren und Geigen und etliche andere, teils antike Instrumente beinhielt, die Marie nicht kannte. Hatten einen Abstecher in die Vorratskammer gemacht, die wie erwartet zwar riesig war, aber im Vergleich zu der Größe relativ wenig Lebensmittel vorwies – diese würden allerdings die neue vierköpfige Familie bis weit über das Weihnachtsfest versorgen. Und waren anschließend in der Küche gewesen, in der man locker Maries und Hannahs gesamte alte Wohnung hätte unterbringen können. Danach ging es dann in die Gartenanlage. Wegen des Regens und der Jahreszeit war dort allerdings nicht all zu viel zu sehen und sie gingen bald wieder in das warme Gebäude zurück. Die riesigen Grünflächen waren dennoch prachtvoll und anfangs war Marie sich nicht ganz sicher, ob sie sie überhaupt betreten durfte oder ob sie nur zum Anschauen existierten. Doch als Irwing den weißen Kieselweg verließ, um ihnen eine der vielen Statuen zu zeigen, erübrigte sich die Frage. Sie kamen an etlichen verlassenen Vogeltränken, teilweise zugewachsenen Pavillons, insgesamt drei Kaskaden, verschiedenen Springbrunnen, sowie hölzernen und steinernen Sitzbänken vorbei. Wanderten entlang der vielen unterschiedlich großen angelegten Beete. Überquerten mehrmals einen kleinen Bach mit Hilfe von steinerne Brücken. Gingen durch verschiedene pflanzliche Unterführungen.

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Besuchten die Stallungen, in denen sich ein Pferd und ein Pony befanden (die allerdings erst auf Irwings Pfeifen hin aus ihrem angrenzenden Paddock kamen) und wo Irwing Marie anbot, ihr ebenfalls ein Pony zu kaufen, falls sie eines haben wollte. Marie entgegnete ihm, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie geritten sei und genau genommen sich ein wenig vor den Tieren fürchtete. Irwing bekehrte sie, meinte, es seien sanfte Riesen und es werde ihr schon Spaß machen. Hannahs Angst vor Pferden und ihre generelle Abneigung gegen den Reitsport war ihm wohl durchaus bekannt, denn sie versuchte er nicht eines Besseren zu belehren. Danach ging es dann zu einem kleineren Haus (dem „Schuppen“, wie Irwing meinte, das von außen allerdings wie eines dieser Ferienhäuser in Dänemark aussah, nur, dass es kein strohgedecktes Dach hatte). Hier tummelten sich eine Handvoll Pfaus, Enten und Gänse, die bei wegen der Kälte und der Nässe Unterschlupf gesucht hatten. Erst hatte Marie angenommen, man hätte sie in dem großen Haus eingesperrt, doch dann sah sie eine Art Katzenklappe am anderen Ende des Raumes, durch die zwei Laufenten watschelten. Sie richtete ihren Blick nach oben und sah noch mehr dieser Katzenklappen, durch die kleinere Vögel rein und wieder rausfliegen konnten. Danach ging es dann noch kurz zu einem Labyrinth, dessen Hecken dank der Jahreszeit allerdings so gut wie durchsichtig waren. Ein wenig verfroren und durchnässt, machten sich die vier wieder auf den Rückweg ins warme Heim, wo sie ihre klammen Mäntel vor einen der Kamine hängten und erneut die zweite Etage aufsuchten. Irwing reichte Marie, die ihn leicht verdattert anschaute, den Schlüssel. „Wieso vorläufig?“ „Na, es soll doch dein Zimmer sein.“ Marie verstand immer noch nicht. „Was nützt es da, wenn er eines für dich aussucht?“ versuchte Hannah ihr zu erklären. „Also,“ begann Irwing, „ich habe 142 Zimmer, die für dich in Frage kämen. Die Mehrzahl liegt allerdings außerhalb des beheizten Gebietes. Somit bleiben also noch,“ er rechnete kurz, „27 über.“ Es dauerte eine Weile, bis Marie verstand, was ihr Stiefvater da gerade von sich gegeben hatte. Erstens: „Soll das heißen, wir… wir haben noch gar nicht alles gesehen?“ „Selbstverständlich nicht,“ meinte Irwing amüsiert. „Um das ganze Gebäude zu besichtigen, jedes Zimmer, jede Kammer, die Dachböden, den Keller und die Türme nicht zu vergessen, bräuchte man vermutlich Jahre.“ Marie sah verblüfft zu ihm auf, brachte aber keinen Ton über die Lippen. „Es wär viel zu teuer, alles zu beheizen.“ „Wozu auch?“ setzte Hannah hinzu. „Bewohnen könnten wie eh nicht alles.“ Zweitens: „Und in dieser beheizten Gegend,“ fragte Marie, sobald sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, „da darf ich mir mein eigenes Zimmer aussuchen?“ „Selbstverständlich.“ Na, das wird ja immer besser! 27 Zimmer zur Auswahl. Gut. Wo fang ich an? „Woran erkenne ich, dass es ein unbenutztes Zimmer ist?“ „Ah, das ist nicht zu übersehen,“ meinte Hannah wegwerfend. „Die Möbel sind abgehängt.“ „Und… Und woher weiß ich, dass es ein beheiztes Zimmer ist?“ „Komm mit,“ kam es von Irwing und er setzte sich in Bewegung. „Ich gebe dir einen Plan.“

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* * * Irwing hatte Marie mit in die Bibliothek genommen und reichte ihr eine alte Pergamentrolle. „Hier, pass gut darauf auf, Mary, die ist sehr wertvoll.“ MaRIE… Ach, was soll´s. Sie entrollte das Pergament und ließ ihren Blick darüber schweifen. „Das hier links ist das Erdgeschoss,“ erklärte Irwing, während er sich von hinten über Maries Schulter lehnte, „das andre ist die erste Etage. Und hier,“ er deutete auf eine dicke schwarze Linie, „verläuft die Grenze zwischen beheizten und unbeheizten Zimmern.“ „Wo sind wir jetzt?“ Irwing wies auf einen Raum Mittig des Erdgeschosses. „So, dann…“ „Willst du sie allein losschicken?“ kam plötzlich Hannahs leicht beunruhigte Stimme von der Tür. Was? Irwing schien genauso wenig zu verstehen, wie Marie. „Was, wenn sie sich verläuft?“ Man! Ich bin doch kein Kleinkind mehr! „Hannah, Liebling, sie hat doch die Karte.“ „Aber was, wenn…“ „Wie wär es, wenn du,“ sein Blick fiel auf seine Tochter, „sie begleitest?“ WAS??? Josi entglitten sämtliche Gesichtsmuskeln und sie ließ die sorgfältig verschränkten Arme sinken. “Me? But Dad…“ Ich schaff das schon allein! Ich brauchse nich! Ich verlauf mich schon nich! „Josi,“ ermahnte er sie und sie wechselte ins deutsche. „Dad, warum soll ich…“ „Dann habt ihr beiden Mädchen ein bisschen Zeit für euch,“ versuchte es nun auch Hannah, die von Irwings Vorschlag sichtlich angetan war. „Josi, na los.“ Erst einmal herrschte eine angespannte Stille und Josis Augen waren nicht die einzigen, die vor Zorn glühten. “Fine,“ meinte sie schließlich und es klang gar nicht danach. Ohne irgendjemanden eines weiteren Blickes zu würdigen, stapfte sie aus der Bibliothek. „Kommst du jetzt, oder was?“ rief sie vom Gang und Marie schluckte, bevor sie den Raum ebenfalls verließ.

* * * Josi war fort, als Marie aus dem Zimmer kam. Sie sah sich um, konnte sie aber nirgends sehen. Sie ging den Flur entlang, blickte in die Räume links und rechts davon, doch ihre Stiefschwester war nicht aufzufinden. Rufen wollte sie nicht. Nicht, dass Hannah sie nicht gehen ließ. Also zog sie allein los. Marie entrollte die Karte, suchte die Bibliothek und fuhr mit dem Finger die kurze Strecke entlang, die sie gegangen war. Dann ließ sie ihren Blick erneut über die Karte schweifen und entschied sich folgender Maßen vorzugehen: Erst einmal würde sie das Erdgeschoss abklappern, von Osten nach Westen und dann über die kleine

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Wendeltreppe, die in der Karte eingezeichnet war, von dort aus in die zweite Etage vordringen und diese dann von Westen nach Osten durchkämmen. Somit würde sie keinen Raum auslassen und würde nicht die ganze Zeit hin und her rennen müssen. Marie begab sich also zum äußersten Westflügel des Gebäudes und begann ihre Suche nach einem geeigneten Zimmer. Sie durchkämmte zahllose Gänge. Versuchte sich an zahlreichen Türen, von denen einige sich allerdings, wahrscheinlich weil sie entweder zu alt oder aber abgeschlossen waren, nicht öffnen ließen. Sah in unzählige Räume. Große Räume, kleine Räume, runde Räume, Räume mit gigantischen Ausmaßen, Räume mit Fenstern, Räume ohne Fenster, Besenkammern, Räume mit Möbeln, Räume ohne Möbel, Räume mit Himmelbetten, Räume mit Musikinstrumenten darin, spinnenbenetzte Räume, eingestaubte Räume, Räume, in denen das Chaos herrschte und Möbel, Bilder und andere Dekorationsstücke zerbrochen kreuz und quer auf dem Boden zerstreut lagen, Räume, in denen die Fenster zersplittert waren und die eisige Kälte und Nässe von Draußen hereinkam, wohnliche Räume, in denen trotz verhängter Möbel der Kamin brannte, Räume mit Bildern an den Wänden, Räume ohne Bilder an den Wänden, Räume, die aussahen, wie kleine Kirchen, Räume, die aussahen, wie Lagerräume. Nie hätte Marie gedacht, dass es so viele verschiedene Räume gibt. Sie traf auf einen Raum, der keine Bilder und Teppiche an den Wänden hatte, dafür aber gut ein Dutzend Betten, die links und rechts entlang an den Wänden standen. N Hospital, wahrscheinlich. Dann befand sie sich in einem Raum, in dem gut drei Dutzend uralte kleine Holztische standen, die mit einzelnen Sitzbänken verbunden waren. N altes Schulzimmer. In den maroden Regalen standen noch in Leder gebundene Bücher, dessen Seiten zu Staub zerfielen, sobald Marie sie öffnete. Dann traf sie auf ein geräumiges Zimmer, in dem alles mit Ruß bedeckt war und die Wände und Möbel angekokelt waren. Selbst der riesige Kronenleuchter an der Decke war an etlichen Stellen verschmort und mit einer schwarz Schicht Ruß bedeckt. Sie fand einen Raum, in dem nur ein einziges verhangenes Gemälde an einer der Wände lehnte. Marie versuchte, das helle Bettlaken vom Bilderrahmen zu ziehen und wirbelte erst einmal eine Staubwolke auf, so dass sie niesen musste. Sie kippte den Rahmen, der für seine Größe verhältnismäßig schwer war, ein wenig nach vorn und zog erneut an dem Tuch. Sie bekam es frei und schaute enttäuscht auf einen lehren Rahmen. Sie hatte mehr erwartet, war er doch der einzige Gegenstand in dem Zimmer. Sie kam in eine Art Garage, in der zwei riesige, goldbesetzte Kutschen standen. Sie wagte, nach der Begegnung mit den Büchern, nicht sie zu berühren und hielt somit einen kleinen Abstand zu den Karossen als sie sie umrundete, um jedes Detail genau zu betrachten. An den Wänden erblickte sie die dazugehörigen ledernen Pferdegeschirre. Auch sie betrachtete Marie aus einiger Entfernung, da sie sich nicht traute sie anzufassen. Sie stieß auf einen Raum, in dem hunderte von – teilweise nicht mehr funktionierenden – Uhren standen. Kleine und große, einige in Glaskuppeln, andere ein wenig eingestaubt, und Standuhren, die fast doppelt so groß waren, wie sie. Um ehrlich zu sein, gestand Marie sich in einer kleinen Pause, die sie auf einer der Fensterbänke verbrachte, hat ich gedacht, gäbs mehr Zimmer, die bewohnbar sind. Sie hatte die komplette untere Etage schon besichtigt und in etwa zwei Drittel der zweiten. Es hatte knapp drei Stunden gedauert. Und nur ne Handvoll komm überhaupt in Frage…

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Ihr zukünftiges Zimmer sollte schon so ziemlich alle Möbel, die sie brauchte, haben. Sie wollte sie nicht von irgendwo anders herschleppen müssen. Außerdem musste es viele Fenster haben. Und ne Fensterbank, auf der man sitzn kann! Marie seufzte und wollte sich gerade wieder aufraffen, als sie Schritte auf der breiten Haupttreppe hinter sich hörte. Ohne auch nur einen weiteren Gedanken zu verschwenden, sprang sie auf und rette sich in den nächsten Raum. Vorsichtig und leise schloss sie die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und wagte kaum zu atmen. Lass se mich nich findn, flehte sie. Ma kriegt n Herzinfarkt, wenn se wüsste, dass ich allein unterwegs bin. „Mary?“ Es war Irwing. Gott, er weiß, dass… „Josi?“ Erleichtert atmete Marie leise aus. „Wo seid ihr denn?“ Marie hörte, wie er sich langsam entfernte und die Anspannung fiel allmählich von ihr. Sie blickte sich um und sah, dass sie sich in einem Zimmer befand, das vier alte Nähmaschinen beherbergte, auf denen noch halbfertige Kleider lagen. Als hätt man se da liegn gelassn. Als ob man Hals über Kopf aufgebrochn sei. Marie ging auf die erst beste Maschine zu und begutachtete den gelben, voluminösen Stoff, der teilweise mit weißer Spitze besetzt war. Wär ganz schön gewordn. Nach einer Weile verließ sie die Nähstube und schritt den Gang entlang, ging an einem der Badezimmer vorbei, und kehrte in das nächste Zimmer ein, das sich aber als Abstellkammer entpuppte. Das nächste Zimmer war zwar ganz nett, hatte für Maries Geschmack aber zu wenige Fenster. Das danach war geräumig und hell, hatte aber keine Möbel. Und so mit blieb nur noch eines über. Mit einem eher unguten Gefühl im Bauch ging Marie langsam auf die letzte Tür des Ganges zu. Sie legte ihre Hand auf den kühlen Knauf und hörte sich ausatmen. Man! Es wird ja wohl nich so schwer sein, n vernünftiges Zimmer zu finden. Das Haus… Ding… was-auch-immer, hat ja wohl mehr als genug! Sie drehte den Knauf und mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Knarrend schwang sie auf und gab den Blick frei auf… YES!!! Das isses! Marie trat über die Türschwelle und blickte sich um. Durch die vielen, teilweise mit weißen Gardinen behangenen Fenster drang das karge Licht des verregneten Tages in den sechseckigen Raum und tauchte ihn in ein karges Grau. Hätte die Sonne geschienen, war Marie sich sicher, hätte sie den Staub tanzen gesehen. An der vierten, der Tür gegenüberliegenden Seite wölbe sich die Wand mit den drei größten Fenster nach außen und gab genug Platz für eine Sitzfensterbank, auf der sogar schon ein altes, reichlich eingestaubtes Kissen lag. An der Wand links von Marie stand, was unter dem Bettlaken aussah wie ein Kleiderschrank. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, löste das Laken und hervor kam dann auch wirklich ein alter, rotbrauner Schrank, der mit reichlichen Verzierungen, in der Form von Blättern und Ranken, versehen war. An der hinteren rechten Wand stand ein Himmelbett, dessen Behänge dank der unzähligen Laken, die es bedeckten, nicht vom Staub befallen waren. Marie ließ sich rücklings auf das Bett fallen und ihr Körper federte wieder nach oben. Oh ja!

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Das is cool! Sie musste grinsen. Das is meins! Meins, meins, meins. Nach einiger Zeit erhob sie sich wieder und sah sich weiter um. Sie fand noch einen alten Sekretär, einen mannshohen Spiegel, drei Gemälde und zahlreiche unterschiedliche große Kerzenständer. Irgendwann trat sie an eines der Fenster, überblickte die Pferdekoppel, die Stallungen, das Vogelhaus und das Labyrinth und versuchte sich zu entsinnen, wie genau das Gebäude von außen ausgesehen hatte, warum das Zimmer sechseckig war. Und dann plötzlich kam ihr die Erklärung. N Turmzimmer! Ja, natürlich! Es is n Turmzimmer!

* * * „Na, habt ihr was gefunden?“ Marie drehte sich um und blickte auf ihren Stiefvater, der in der Tür lehnte. Ihr Blick wanderte tiefer auf die Kreatur, die rechts von ihm stand und ihm bis über die Hüfte reichte. Was zum Teufel… Irwing bemerkte Maries Irritation und erklärte: „Das ist Akillies. Ein irischer Wolfshund.“ „Das… das ist ein Hund?“ „Mhm,“ bestätigte er und tätschelte der Bestie den Kopf. Das is n Kalb, man! N Kalb, kein Hund! „Jonathan ist gerade erst mit ihnen wiedergekommen.“ „Wer?“ „Jonathan, mein Hundetrainer.“ Aha… Wie viele Gott verdammte Angestellte hat der Kerl eigentlich? „Na komm her,“ winkte Irwing Marie zu sich, „der tut schon nichts.“ Zögerlich trat Marie vor und ging auf die beiden zu. Ihr war gar nicht wohl dabei auf eine Kreatur zuzugehen, dessen Kopf ihr locker bis zur Brust reichte und die ihr mit offenem Maul entgegen hechelte. Ich muss verrückt sein, sagte sie sich, während sie die fingerdicken weißen Zähne des Hundes betrachtete. „Nicht so zögerlich. Er ist ein ganz lieber.“ Das sagn se alle… Langsam streckte sie die Hand aus und hielt sie dem Hund entgegen, der auch prompt seine Schnauze vorstreckte und an ihr schnüffelte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals und sie hoffte, dass das Tier es nicht mitbekam, dass sie Angst hatte. Doch wider aller Erwartungen, fing der Hund an ihr die Finger abzulecken. „Na, was habe ich gesagt?“ meinte Irwing fröhlich. Marie merkte, wie sie sich langsam entspannte und der Knoten in der Brust sich allmählich löste. „Wie hieß er doch gleich nochmal?“ fragte sie, indem sie dem Hund die Schulter streichelte. Er hatte sonderbar drahtiges graues Fell und sie konnte jeden Knochen fühlen. Außerdem verströmte er einen eigenartigen Geruch. „Akillies.“ N merkwürdiger Name.

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Als hätte er ihre Gedanken gelesen, meinte Irwing: „Das ist die englische Form von Achilles. Wird gleichgeschrieben, nur anders ausgesprochen.“ Aus dem Gang ertönte leises Geklapper und Irwing drehte sich um, sobald er es hörte. „Ah, und da kommt auch schon Hörkjulies.“ „Lass mich raten,“ sagte Marie, „noch so ein Hund und eigentlich heißt er…“ Sie musste kurz überlegen, „Herkules.“ Irwing lächelte und trat beiseite, um einen zweiten irischen Wolfshund durchzulassen. Doch der weitaus hellere und etwas zierlichere Hund hielt direkt auf ihn zu und drehte sich winselnd und jaulend vor ihm im Kreis. „Ist ja gut, mein Kleiner,“ versuchte Irwing den Hund zu beruhigen und strich ihm liebevoll über den Rücken, ohne, dass er sich hätte bücken müssen, „ist ja gut.“ Kleiner! Der is alles andre als klein! „Ja, also,“ wandte er sich dann wieder an Marie, „das sind unsre beiden Hunde. Für die Namen war allerdings Josi zuständig. Ach, wo ist sie überhaupt?“ Er sah sich ein wenig suchend im Zimmer um. „Sie ist… äh… Ich weiß nicht genau, wo sie hingehen wollte,“ log Marie und versuchte ihrem Stiefvater dabei so aufrichtig wie möglich in die Augen zu blicken, „aber als wir das Zimmer hier gefunden hatten, haben wir uns getrennt.“ „Ah,“ meinte Irwing nur und Marie war sich nicht so ganz sicher, ob er ihr Glauben schenkte oder aber nicht. Erst einmal herrschte Stille zwischen den beiden, die nur von Hercules Winseln und Getapste unterbrochen wurde. „Tja,“ meinte Irwing dann schließlich und trat vollständig in den Raum ein, „das ist also das Zimmer, das du dir ausgesucht hast.“ „Ja… Also, ich mag es wirklich. Und es hat schon so ziemlich alles, was ich brauche und… und ich würd es echt gern haben.“ „Fast alles?“ erkundigte sich Irwing. „Was fehlt denn noch?“ „Ein Fernseher,“ versuchte es Marie. Es trieb ein leichtes Lächeln auf Irwings Gesicht und er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Mary, aber mit Josi habe ich die Abmachung, dass sie ihren ersten eigenen Fernseher mit 16 bekommt. Da kann ich bei dir keine Ausnahme machen.“ Naja, n Versuch war´s wert. „Sonst irgendwas?“ Marie überlegte kurz. „Ein Computer vielleicht, dann kann ich meinen Freunden schreiben.“ Er musterte sie kurz und erkundigte sich dann: „Was sagt Hannah dazu?“ „Ich weiß nicht,“ meinte Marie und zuckte mit den Schultern. „Ich werde das mit ihr besprechen,“ versprach er, „und wenn sie nichts dagegen hat, dann von mir aus gern.“ „Wenn ich nichts wogegen hab?“ erklang Hannahs Stimme plötzlich aus dem Gang. Irwing setzte sie schnell in Kenntnis über Maries Wunsch und nach einigem Hin und Her willigte auch sie dann schließlich ein. „Ich werde gleich Jonathan fragen,“ kam es schließlich von Irwing. „Jonathan?“ fragte Marie irritiert. „Ich dachte, er ist dein Hundetrainer.“ „Ja, ja,“ winkte ihr Stiefvater ab, „aber er kennt sich mit solchen Dingen bestens aus.“ Irwing ging dann, gefolgt von Achilles, und Hannah sah sich in dem Zimmer um. „Das Turmzimmer, also,“ meinte sie schließlich nachdenklich. „Was ist?“

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Hannah sah ihrer Tochter, die nicht nachvollziehen konnte, was in ihrer Mutter Kopf vor sich ging, ins Gesicht. „Josi und du,“ erklärte Hannah, „ihr habt doch ziemlich denselben Geschmack, weißt du.“ Marie war immer noch leicht irritiert und sah dementsprechend zu Hannah auf. „Es ist doch merkwürdig,“ kam es fast triumphierend von Hannah, „dass von all den Räumen, die dir zur Verfügung standen, du dir ausgerechnet diesen hier aussuchst.“ „Ma, was bitte schön hat das mit Josi zu tun?“ meinte Marie genervt und fühlte, wie sich langsam wieder das alte Gefühl der Aggressivität in ihr breit zu machen versuchte. Sie wollte nicht mit Josi verglichen werden. Die und ich, wir ham rein gar nichts gemein. Und ich will auch nichts mit ihr zu tun ham! Sie geht mir ausm Weg und ich geh ihr ausm Weg. „Sie hat genau dasselbe Zimmer. Nur, dass ihres im Westflügel liegt.“ Ja und? Was beweist das schon? Doch ihrer Mutter gegenüber brachte sie nur ein gelassenes „mhm“ über die Lippen und ließ sich auf ihr Bett nieder. Hercules kam Rute wedelnd an das Bett heran und Marie klopfte geistesabwesend neben sich auf die Bettdecke. „Marieschatz,“ kam es sofort von Hannah, „die Hunde gehören nicht ins Bett.“ „Wie du meinst,“ entgegnete ihr Marie ohne sie anzusehen und streichelte dem Hund über den Kopf. „Ich werde David sagen, dass er deine Koffer hier hoch bringen soll.“ „Ja, mach das.“ Hannah kam noch einmal zu ihrer Tochter, beugte sich zu ihr herunter und küsste Maire, die sich heftig dagegen wehrte, aufs Haar. Dann ging sie aus dem Zimmer. Marie schaute ihr noch kurz hinter her, stand auf, schloss die Tür und ließ sich dann wieder aufs Bett nieder. „Na, komm her, Kleiner,“ meinte sie und klopfte leicht mit der Hand neben sich. Und im nächsten Augenblick hatte Hercules sich neben sie auf das Bett niedergelassen, seinen großen Kopf auf Maries Oberschenkel gelegt und starrte sie nun aus großen dunklen Augen erwartungsvoll an.

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osi lehnte am Türrahmen. Ihr zerzaustes rotes Haar verdeckte einen Teil ihres Gesichtes. Ihre Lippen wurden durch die Kälte allmählich blau. Sie starrte Marie feindselig an, machte ansonsten aber keinerlei Anstalten ihrer Wut und ihrem Hass

freien Lauf zu lassen. Anders als am Morgen waren Marie und Hannah allein im Hof, von Irwing und David war weit und breit keine Spur. Genau genommen war es auch gar nicht Morgen. Es war am Dämmern, doch das karge Licht und die flatternden Flammen der Öllampen, die an den steinernen Wänden angebracht waren, reichten aus, um den Schauplatz in Zwielicht zu tauchen. „Scher dich fort,“ verlangte Josi in einer tiefen, festen Stimme. Es wunderte Marie, dass sie sie auf Deutsch ansprach, wo ihr Vater doch gar nicht zugegen war. Plötzlich vernahm sie ein merkwürdiges helles, hohes Kreischen und sah sich schreckhaft um. Doch hinter ihnen befand sich nichts als das zweischneidige Licht der Nacht und eine kaum wahrnehmbare Nebelbank, die langsam über den Hof waberte. Dann kam es wieder. Dieses Kreischen. Kam von rechts über ihr. Marie fuhr herum und starrte in die leblosen Steinaugen einer Kreatur, die unter dem Dach angebracht war. Kam erneut von hinter ihr. Sie zuckte zusammen. Sah sich um. Und allmählich nahm etwas Form an im Nebel. Von Sekunde zu Sekunde wurde es klarer und bald machte Marie es als einen Grabstein aus, der über und über mit Moos bewachsen und an den Ecken bereits ganz abgerundet, zersplittert und abgenutzt war. Sie sah genauer hin, um den Namen auf dem Stein zu erkennen. Doch der Stein verschwand wieder. Genauso schnell, wie er gekommen war. Und übrig blieb der Nebel. Erneut kam dieses Kreischen und Marie vernahm ein unangenehmes Ringen in den Ohren. In das Kreischen mischte sich jetzt Josis Stimme, die sie erneut aufforderte, wegzugehen. Das Ringen wurde unerträglich und Marie presste die Hände auf die Ohren. Hör auf! Bitte! Das Kreischen wurde höher und lauter und bald wand Marie sich vor Schmerzen. Hör auf, hör auf, hör a… „SCHER DICH FORT!“ …r auf, hö… „SCHER DICH FORT!!!“ … f, hör au… Das Kreischen erreichte einen neuen Höhepunkt und aus dem Augenwinkel sah Marie, wie eine helle Gestalt sich aus Josis Körper schelte. Sie schnellte auf Marie zu und ihr weißes Nachthemd und ihre braunen langen Haare flatterten hinter ihr her.

* * *

Noch immer die Hände auf die Ohren pressend und sich von den imaginären Schmerzen windend, erwachte Marie. Es dauerte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, wo sie sich befand. Dass es nicht der nächtliche Hof war, sondern ihr neues Zimmer, das zwar im Dunkeln lag, doch das garantiert keine steinernen Kreaturen beherbergte und auf keinen Fall eine Stiefschwester, aus der plötzlich ein anderes schrill kreischendes Mädchen hervorkam. Genau genomm, redete Marie sich ein, als sie den Schock des Traumes einigermaßen

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überwunden hatte, is sowas auch überhaupt nich möglich. Dass jemand einfach so aus ner andren Person rauskommt. Sie schalt sich selbst, den Kopf verloren zu haben. Es is ja nur n Traum. Man! N gottverdammter Traum. Doch dann kamen die Erinnerung an die letzte Nacht zurück. Da hatte sie auch von diesen merkwürdigen steinernen Kreaturen und dem Stein – wobei es damals mehrere gewesen waren – geträumt. Das war was ganz andres, schaltete sich ihr Verstand wieder ein. Erstns war das ganz wo anders und zweitns war das Mädchen nich da. Und Josi auch nich, fügte sie nach einer Weile hinzu. Sie legte sich wieder hin, versuchte sie Augen zu schließen, doch immer wieder sah sie dieses Bild. Ein dunkelhaarige Mädchen, das aus Josis Körper trat. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen und es war ihr unheimlich. Nach einigen Malen des Hin und Herdrehens und den Versuchen sich gut zuzureden, schlug Marie schließlich die Decke zurück und stand auf. Das alte Holz fühlte sich kalt an unter ihren nackten Füßen. Ich brauch n Teppich. So n Bettvorleger. Sie öffnete die Tür so leise wie möglich und schlüpfte in die Dunkelheit des Flures. Ah Gott, verdammt! Wo is der verdammte Lichtschalter? Ohne auch nur irgendetwas erkennen zu können, tastete Marie die Wand ab. Nach einer Ewigkeit des vergeblichen Suchens, erfühlte sie sich ihren Weg zurück in ihr Zimmer und nahm einen der vielen Kerzenleuchter zur Hand. Sie durchsuchte die Schubladen der Schränke und fand schließlich eine Schachtel Streichhölzer im Sekretär. Mit der entzündeten Kerze trat sie dann in den Flur zurück. Gott, wie bescheuert. Sie kam sich lächerlich vor, wie sie so da stand. In ihrem Schlafanzug, barfuß, die Haare garantiert noch total zerzaust und einen Kerzenständer in der Hand. Langsam und leise ging sie den Flur entlang, bis sie zur großen Haupttreppe kam. Die Kerzenflamme hinterließ merkwürdig tanzende Schatten auf den Ölgemälden, die an den Wänden hingen und Marie fragte sich, wie viele Menschen wohl schon mit Kerzen in den Händen des Nachts an ihnen vorbeigehuscht waren. Vorsichtig stieg sie eine Stufe nach der anderen hinab und ging dann in den großen ehemaligen Rittersaal. Und dort, wie sie es erwartet hatte, lagen sie. Der eine zusammengerollt, der andere weit ausgestreckt vor dem warmen Kamin, in dem nur noch die Glut vor sich hin glomm. Sobald Marie den Saal betreten hatte, schreckten die Hunde aus ihrem Schlaf auf und wohingegen Hercules nur verschlafen den Kopf hob, war Achilles aufgesprungen und knurrte Marie tief und bedrohlich an. Sie blieb stehen und ihr furchtsamer Blick heftete auf dem riesigen Hundemaul, aus dem die Geräusche kamen. „Ist ja gut,“ versuchte sie ihn zu beruhigen. Im Gegensatz zu Achilles schien Hercules Marie endlich erkannt zu haben, erhob sich und trottete gemächlich und leicht mit der Rute wedelnd auf sie zu. Sobald der andere sah, dass Marie wohl ein Recht darauf hatte, Mitten in der Nacht so mir nichts dir nichts in die Wohnstube zu kommen und die beiden aus dem Schlaf zu reißen, hörte auch er auf zu knurren und kam auf das Mädchen zu. Marie war überaus erleichtert, dass Achilles das Knurren eingestellt hatte und strich den beiden Hunden über die Köpfe. „Na kommt,“ flüsterte sie, drehte sich um und trat aus dem Saal. Die beiden Tiere folgten ihr und gemeinsam gingen sie zurück in Maries Zimmer. Dort angekommen, ließ sie sich aufs Bett nieder und deutete den Hunden an, es ihr gleich zu tun. Hercules saß sofort neben ihr, während sie Achilles ein zweites Mal auffordern musste. Doch dann sprang auch er auf die Bettdecke und legte sich ab. Marie ließ sich nun auch nieder,

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drehte sich auf die Seite und spürte, wie Hercules sich ebenfalls hinlegte – direkt an ihren Rücken. Sie konnte nicht sagen weshalb, doch fühlte sie sich durch die Anwesenheit der beiden großen Hunde sicherer. Nicht, dass diese die Möglichkeit gehabt hätten, ihr in den Traum zu folgen, geschweige denn sie vor dem dunkelhaarigen Mädchen hätten beschützen können, doch zu wissen, dass die beiden dort waren, dass sie nicht allein war, tat Marie gut.

* * * Das kleine dünne Biest legte sich langsam über ihren Hals und drückte zu. Marie hatte das dürre gelbe Etwas nur aus dem Augenwinkel kommen sehen. Es war so schnell auf sie zugeschossen gekommen, dass sie keine Zeit zum Reagieren gehabt hatte. Noch nicht einmal aufsetzen konnte sie sich. Und jetzt schnitt ihr die Bestie die Luft ab. Marie versuchte das Ding zu ergreifen und von ihrem Hals wegzuzerren. Doch es war kräftig und ließ sich nicht so einfach von seinem Opfer abbringen. Marie hörte, wie sie anfing zu röcheln. Sie hatte angefangen wild um sich zu treten, um endlich diesem eisernen Griff zu entkommen. Doch alles, was sie damit erreichte, war, dass etwas hartes am Ende ihres Bettes ein lautes Fiepen von sich gab, dann ein Winseln und dann mit einem leisen Krachen auf dem Boden landete. „Hil…,“ setzte sie an, doch das Wort blieb ihr im Halse stecken. Oh Gott! Bitte! Luft… Und dann hörte sie plötzlich direkt links neben ihrem Kopf ein kreischendes Lachen und fuhr zusammen. Da war sie wieder. Das braunhaarige Mädchen von vorhin. Und dann war sie fort. Genau so schnell, wie sie gekommen war. Keuchend setzte Marie sich auf und fasste sich an den Hals. Was sie in den Händen hielt, war keine gelbe Schlange, sondern lediglich ein Fetzen Stoff. Was zum Teufel… Hercules hatte den Kopf gehoben und schaute Marie neugierig aus verschlafenen Augen an. „Soviel also zu den Wachhunden,“ murmelte Marie und strich dem Hund trotzdem liebevoll über den großen Kopf. Achilles hatte inzwischen auch schon wieder auf dem Bett Platz genommen und schnüffelte an dem Stück Stoff, das Marie auf dem Schoß lag. Sie nahm es und betrachtete es erneut. Irgendwoher kam es ihr bekannt vor. Aus dem Raum mit den Nähmaschinn, schoss es ihr durch den Kopf. Ich muss es mitgenomm ham… Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht daran erinnern, es eingesteckt zu haben. Sie stand auf und legte den Stoff in eine der vielen Schubladen ihrer Kommode. Draußen dämmerte es bereits und es war mittlerweile so hell, dass sie selbst ohne Lampe etwas erkennen konnte. „Kommt,“ meinte sie und die beiden Hunde sprangen vom Bett herunter und folgten ihr aus dem Raum. Sie trat auf den kalten Korridor hinaus. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die großen Fenster und tauchten den langen Gang in ein sanftes Gelb. Die vielen Gemälde spiegelten das Licht wider und was genau auf ihnen zu sehen war, war nicht zu erkennen. Marie ging leise den Flur entlang, immer gefolgt vom Getapse der Hundekrallen, wenn die beiden nicht gerade auf den Teppichen liefen. Ohne lange suchen zu müssen, hatte Marie den Nähmaschinenraum

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wiedergefunden. Vorsichtig öffnete sie die Tür, um die restlichen Leute nicht zu wecken. Leise knarrend öffnete sie sich und gab den Blick frei auf den Raum, der dahinter lag. „Was zum Teufel,“ murmelte Marie fassungslos und trat ein. „Was ist hier denn passiert?“ Die fast fertigen Kleider lagen in Fetzen auf dem Boden. Die Tische und Stühle waren umgeworfen worden. Und die einzelnen Teile der Nähmaschinen lagen im ganzen Zimmer zerstreut. Marie watete durch das Chaos und konnte es nicht recht begreifen. All die Sachen… Die schönen Kleider. Sie hockte sich hin und strich traurig über das zerrissene Kleid. Der Stoff fühlte sich kalt an in ihren Händen. Die Rüschenbordüre hing nur noch an wenigen Fäden am Saum und die breite weiße Schärfe, die als Gürtel diente, war aus ihren Halterungen gerissen worden und ein langer Riss zierte ihre Mitte. Der Staub tanzte in den morgendlichen Sonnenstrahlen, die durch die Fenster in das Zimmer fielen. Er wirkte aufgewirbelt und Marie fragte sich, wie lange es wohl her sein mochte, dass man das Zimmer derart verwüstet hatte. Und vor allem, wer es gewesen war… Warum ham wir nichts gehört? Ich meine, das muss doch n hölln Krach gewesn sein! Plötzlich hörte sie ein Keuchen hinter sich und fuhr herum. Was will die denn hier? In der Tür stand Josi. Abhetzt. Bleich im Gesicht. Und mit weit aufgerissenen Augen. Ihr Atem ging schubweise und ihr Brustkorb hob und senkte sich unter ihrem schwarzen T-Shirt. Erst nach einigen Augenblicken wurde sie Marie gewahr und starrte sie irritiert an. Plötzlich schien sie zu verstehen und ihr Gesicht verwandelte sich in eine Fratze des Zorns. “WHAT HAVE YOU DONE?“ Marie konnte nicht nachvollziehen, was ihre Stiefschwester meinte und erhob sich langsam, während Josi, wild mit den Armen fuchtelnd und immer noch keifend, auf sie zukam. Von dem Lärm angelockt, kamen Irwing und Hannah. Marie konnte bereits ihre eiligen Schritte im Flur hören. Na super. „Josi?!“ rief Irwing besorgt, „Josi, was ist denn los?“ Dann waren beide in den Raum gekommen und das Chaos, das ihnen entgegensprang, ließ sie in ihren Schritten stoppen. „SIE WAR`S, DAD!“ schrie Josi und deutete mit ausgestrecktem Arm auf Marie. WAS??? Na warte! Du blöde Kuh! Was fällt dir ein? „Marieschatz,“ kam es entsetzt von Hannah, sie sah reichlich blass aus, „wieso hast du…“ „Das stimmt doch überhaupt nicht,“ unterbrach Marie ihre Mutter nun ebenfalls aufgebracht, „das war schon alles so, als ich reingekommen bin. Und nenn mich nicht immer Marieschatz,“ setzte sie dann noch hinzu. „Ja, klar,“ kam es sarkastisch von Josi und sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Das hat sich einfach alles…“ „Und wieso soll ich es gewesen sein?“ schrie Marie. „Weil du…“ setzte Josi an. „Vielleicht warst du es ja selbst,“ hielt Marie dagegen, „bevor ich…“ Irwing unterbrach die beiden: „Genug jetzt.“ „Aber Dad…“ nörgelte Josi.

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„Alle beide.“ Josi öffnete entrüstet den Mund. Schloss ihn. Öffnete ihn wieder. Schnaufte laut. Machte auf dem Absatz kehrt. Und stürmte aus dem Raum. „Josi,“ rief Irwing ihr nach und machte Anstalten ihr zu folgen, überlegte es sich dann aber wohl doch anders und stoppte kurz hinter der Tür. „Marieschatz, was ist denn nun passiert?“ Marie rollte die Augen. Lass mich in Ruhe! „Nichts,“ meinte sie zickig. Lass mich in Ruhe, lass mich in Ruhe, lass mich in Ruhe!!! „Rein gar nichts.“ „Marie,“ Hannah versuchte ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Fass mich nich an! Doch Marie wich vor ihr zurück und Hannah ließ es bleiben. „Das Chaos ist doch nicht von allein entstanden.“ „Ich war es aber nicht,“ zischte Marie und lief an ihrer Mutter vorbei. „Mary, bitte,“ versuchte es Irwing. Lasst mich doch einfach alle in Ruhe! Verdammt noch mal! Doch Marie ließ sich nicht beirren und hielt direkt auf ihren Stiefvater zu. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr Platz zu machen und sie durch zu lassen. „Mary!“ rief man hinter her. Lasst mich in Ruhe, man!

* * * Marie hatte keine Ahnung, wo genau sie hinlief. Doch eines wusste sie: Nur weit weg von diesm beschissnen Raum! Sie lief die langen, hohen Gänge entlang und hörte plötzlich, wie jemand eine Tür unweit von ihr knallte. Sie lief weiter, erreichte eine Wende im Gang und entschloss, dass es eine der Türen im Umfeld gewesen sein musste. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete, als sie die nächstbeste Tür aufriss und war umso überraschter, als sie in Josis Zimmer blickte. Dem Turmzimmer im Westflügel. Und nun verstand Marie auch, was Hannah damit gemeint hatte, dass die beiden denselben Geschmack hätten. Das Zimmer war in etwa genauso eingerichtet, wie Maries. Nur, dass alles spiegelverkehrt war. Es stand dasselbe massive, klobige Bett darin, dieselben Kommoden und ein Schreibtisch, der in etwa genau dieselben Ausmaßen hatte, wie Maries. Die Wände waren mit etlichen Postern tapeziert. Allesamt grau-weiß-schwarz mit nur einem, maximal zwei Farbkleksen. Und alle zeigten sie dunkle Gestalten in dunkler Kleidung. Auf der Kommode, der Anrichte und dem Schreibtisch hatte Josi verschiedene schwarze Kerzenhalter – in Drachen- und Elfenformen – platziert. “GET OUT,“ keifte Josi und erhob sich vom Bett, auf dem sie saß. „WAS SOLLTE DAS?“ wollte Marie wissen und machte keinerlei Anstalten das Zimmer zu verlassen. “I SAID…“ „WIESO HAST DU…“

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Und dann waren sie auch schon aufeinander losgegangen. Marie zerrte Josi an den Haaren und Josi versuchte sie aus dem Zimmer zu stoßen. Beide schrieen sie – aus Verzweiflung, Hass und Schmerz – doch keine der beiden wollte loslassen. „WAS MACHT IHR DENN DA?“ erklang es plötzlich zornig von der Tür her und Irwing versuchte die beiden Streithähne auseinander zubringen. „Wir erwarten ja nicht, dass ihr euch abgöttisch liebt,“ sagte er, als Hannahs entsetztes Gesicht hinter ihm auftauchte, „aber wir hatten doch so viel Anstand von euch beiden erwartet, dass ihr euch nicht gleich an die Gurgel geht.“ Er musterte beide mit einem strengen, enttäuschten Blick. Und beide standen sie da nebeneinander. Innerlich immer noch kochend. Doch äußerlich sich plötzlich ganz klein fühlend. Klein und so dumm… Wieso hab ich mich nur so von ihr aufwiegeln lassn! „Ihr werdet jetzt beide ins Nähzimmer zurückgehen,“ verlangte Hannah, „und das Chaos dort beseitigen.“ „Aber…“ kam es von Marie und Josi wie aus einem Munde. „Nichts aber,“ fuhr Irwing den Beiden über den Mund. „Ihr geht. Jetzt. Alle beide.“ Neben ihr schnaufte Josi laut und Marie schluckte einmal, bevor sie sich in Bewegung setzte. Sie folgte ihrer Stiefschwester, die mit hocherhobenem Haupt zügig voran schritt, auf den Flur. Schweigend begaben sie sich in das Nähmaschinenzimmer, wo sie sich daran machten, das Chaos zu beseitigen. Marie war sich nicht sicher, ob Josi es veranstaltet hatte. Eines, allerdings, wusste sie ganz gewiss: sie selbst war es nicht gewesen. Josi schoss ihr immer wieder feindselige Blicke zu, wandte den Kopf aber jedes Mal ab, wenn sich ihre Blicke trafen. Das macht doch alles keinn Sinn, mutmaßte Marie schließlich. Selbst wenn sie´s gewesn is… Warum sollte ses mir in die Schuhe schiebn? Dass wir uns nich – wie hat er gesagt? Abgöttisch lieben? – is auf jeden Fall klar. Aber was zum Teufel hättse denn davon, mir das ganze hier ankreidn zu wolln? Und dann plötzlich kam ihr der Traum wieder in den Sinn, den sie mittlerweile, über all die Hektik, vergessen hatte. Das Mädchen! Nein, schalt sie sich selbst, jetz werd nich verrückt, man. Dass Josi sich weigert es zuzugebn, heißt noch lange nich, dass das Mädchen ausm Traum es gemacht ham muss! Das war n Traum, verdammt. Nur n beschissener Traum. Leute spaziern nich einfach so aus Träumm raus und verwüstn Zimmer und versuchn einn zu erwürgn und so… Und schon wieder spürte sie den Blick ihrer Stiefschwester auf sich. Marie richtete sich auf und wandte sich nun direkt an sie. „Was?“ Josi schaute weg und griff nach einer kleinen Nadelschatulle, die vor ihr auf dem Boden lag. „Hey, man, ich hab dich was gefragt.“ Josi ignorierte sie vollkommen und widmete sich stattdessen dem Kleid, das sie bereits über einen der Stühle gelegt hatte. „Eh, weißt du was,“ meinte Marie genervt, „dann mach es doch alleine.“ Sie ließ die Schärpe, die sie in der Hand hatte, wieder zu Boden fallen und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Sie wartete darauf, dass Josi etwas von sich gab. Sie wollte es aus ihr heraus kitzeln. Vielleicht würde sie sogar zugeben, dass sie den Raum verwüstet hatte. Vielleicht würde sie sich sogar bei ihr entschuldigen.

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Aber nichts dergleichen war der Fall. Marie atmete kurz durch, als sie vor der geschlossenen Tür stand. Wie gern hätte sie Josi mit all der Unordnung allein gelassen. Doch sie traute sich nicht zu gehen. Sie hatte keine Lust schon wieder bei Hannah anzuecken. Und sie wollte es sich nicht schon innerhalb der ersten paar Tage mit ihrem neuen Vater verscherzen. Immerhin hoffte sie auf einen Computer… So drehte sie sich also langsam wieder um, ging zur Schärpe zurück, hob sie auf und machte sich ans weitere Aufräumen. Sie versuchte Josi so gut es ging zu ignorieren und zügig voran zu kommen. Doch trotzdem merkte sie aus dem Augenwinkel, wie das andere Mädchen immer langsamer wurde. Bald rieb sie sich verstohlen über die Augen und binnen kurzer Zeit kam dann das erste unterdrückte Schniefen von ihr. Marie versuchte es anfangs zu ignorieren. Warum zum Teufel fängtse jetz auch noch an zu heuln? Immer wieder riskierte Marie nun einen Blick zu dem Mädchen, das kaum älter war als sie. Und was sie sah, irritierte sie. Soll ich se jetz tröstn, oder was? Was erwartet se denn von mir? Erst soll ich se nich ma anschaun und jetz zieht se hier so was ab. Josi hatte sich vor eine der Nähmaschinen auf dem Boden zusammengekauert und ihr Flennen wurde immer lauter. Sie zitterte mittlerweile am ganzen Körper. Marie hielt inne, in dem, was sie tat und starrte Josi an. Langsam und vorsichtig nährte sie sich dem Mädchen und als sie ihr die Hand auf die Schulter legte, ließ Josi es geschehen. Mehr noch. Sie fasste mit ihrer eigenen Hand danach und schaute zu ihrer Stiefschwester auf. Oh man… Ihr Gesicht war blass und verheult und es bildeten sich langsam rote Ränder um die Augen. „I… Ich… ich will nicht… will nicht, dass es… dass es wieder… dass es wieder anfängt,“ schniefte Josi. „Dass was nicht wieder anfängt?“ fragte Marie freundlich, indem sie sich vor ihr niederließ. Josi setzte mehrere Male an etwas zu sagen, doch sie heulte nur noch stärker und ihr Körper wurde immer heftiger vom Zittern geplagt. „Hey,“ versuchte Marie sie zu beruhigen, „ist ja gut.“ Sie nahm die bebende Gestalt ihrer Stiefschwester in den Arm und fing an ihr sachte über den Rücken zu streichen.

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or einiger Zeit,“ begann Josi, nachdem sie sich wieder einiger Maßen gefangen hatte, „ träumte ich jede Nacht von diesem Mädchen…“ Marie konnte ahnen, welches Mädchen gemeint war.

„Sie stellte die verrücktesten Dinge mit mir an. Erst war es ganz harmlos. Sie weckte mich Mitten in der Nacht oder versteckte meine Sachen. Schnitt mir die Haare ab und kippte Wassereimer über mir aus.“ `Das´ nennst de harmlos? „Aber irgendwann wurde sie aggressiver. Einmal wurde ich wach, weil sie versuchte, meine Hand in glühende Asche zu stecken. Ein andres Mal schubste sie mich beinahe aus dem Fenster. Und als das nicht funktionierte, hat sie das Zimmer in Brand gesteckt.“ Das Zimmer unten, schoss es Marie durch den Kopf. „Und… und warum macht sie das alles?“ „Ich weiß nicht,“ meinte Josi nachdenklich. „Das einzige, was sie jemals zu mir gesagt hat, ist, dass ich weggehen und ihn in Ruhe lassen soll.“ „Wen? Ihn?“ Josi zuckte nur ratlos mit den Schultern. „Warum hat es irgendwann aufgehört?“ wollte Marie wissen. „Keine Ahnung,“ antwortete Josi langsam und schüttelte geistesabwesend den Kopf. „Wann hat es denn aufgehört?“ „Vor … Vor einem guten Jahr in etwa,“ argwöhnte Josi nachdenklich. „Ja, so vor einem Jahr ungefähr. Gott, ich weiß noch, wie erleichtert ich damals war,“ fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. „Damals hatte ich den ersten richtigen großen Streit mit meinem Dad.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und langsam bekam sie wieder Farbe im Gesicht. „Es war wegen Jason. Ein Junge, der damals neu war in meiner Klasse,“ sie grinste Marie an, die sich um einiges wohler fühlte, jetzt, da Josi nicht mehr weinte. „Ich hatte mich binnen eines Tages Hals über Kopf in ihn verknallt und Dad fand, dass ich dazu ja noch viel zu jung sei. Ich konnte machen und tun was ich wollte, er wollte mich einfach nicht mit ihm ausgehen lassen. Ich dachte, die ganze Welt sei gegen mich. Nicht nur, dass Dad mich nicht mit ihm treffen ließ… Nachdem ich Jason angerufen und abgesagt hatte, meinte er, es wäre nicht so schlimm, er würde sich dann einfach mit Nicole treffen. Die sei sowieso viel hübscher als ich. Ja, echt, das hat er gesagt,“ beteuerte Josi, als sie Maries entsetztes Gesicht sah. „Ich habe den ganzen Abend geheult und mit Dad hab ich mindestens eine Woche nicht mehr gesprochen. Selbst nicht, nachdem ich am nächsten Tag in die Schule kam und sah, dass Nicole auch schon wieder abgeschrieben war und Jason schon wieder eine andre hatte. Aber ich weiß noch, wie erleichtert ich mich fühlte, als ich nach drei Tagen festgestellt habe, dass ich wenigstens diese blöden Träume nicht mehr hatte.“ Ein Schauer lief über Josis rücken und ihr fröstelte. „Und jetzt fangen diese verdammten Dinger wieder an.“ Josi wischte sich die Tränen von den Augen und schüttelte die Hand aus. Der Nähhocker, der keine dreißig Zentimeter von ihr entfernt lag, schoss um einen guten Meter zurück und Marie schnappte nach Luft. Josi sah zwar leicht geschockt, aber nicht sonderlich überrascht darüber aus. “Oh, bloody hell,“ murmelte sie fluchend und erhob sich. „Josi?“ fragte Marie zögerlich. „Was war das grade?“ Mit einer weiteren Arm Bewegung Josis erhob der Hocker sich in die Luft und schwebte auf Augenhöhe. „Das,“ fing Josi schleppend zu erklären an, während sie den Schemel langsam drehen ließ, „war damals auch so. Als dieses Mädchen da war. Zu aller erst konnte ich es nicht. Aber dann...“ „Ja, aber das ist doch…“

„V

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Marie konnte ihren Ohren kaum glauben. Mit diesen Fähigkeiten sollte es doch ein Leichtes sein, sich gegen das Mädchen durchzusetzen. „…aber das ist doch… das…“ „Das ist kein Segen,“ meinte Josi bitter, „das ist ein… ein…“ Sie rang nach Worten. „Fluch?“, schlug Marie vor und Josi nickte, die Lippen eng aufeinander gepresst. „Ja, aber…“ „Verstehst du denn nicht?“ rief Josi aufgebracht und indem sie sich an ihre Stiefschwester wandte und den Schemel nicht mehr im Visier hatte, landete der Hocker auch schon krachend auf dem Boden. „Es fängt alles wieder von vorne an! Letztes Mal habe ich mich auch erst drüber gefreut! Aber dann… dann… Sie weiß immer, was du denkst. Was du vorhast. Sie ist dir immer einen Schritt voraus. Was helfen da solche Fähigkeiten?“

* * * „Hier, schau mal.“ Irwing hatte Marie in den großen Salon im Erdgeschoss gebracht und präsentierte ihr stolz eine ganze Schublade voll Schmuck. Wär ich Hannah, würd ich mich sicherlich freun, schoss es Marie durch den Kopf und sie versuchte ein freundliches Lächeln. Gott, was soll ich mit all dem Zeugs? Um ihren Stiefvater nicht vollkommen vor den Kopf zu stoßen, griff sie, ohne irgendetwas bestimmtes im Sinn zu haben, in die Schublade. Sie zog ein silbernes Armband heraus, das mit roten Rosen versehen war. Na super… „Nicht so dein Fall, was?“ erkundigte sich Irwing, nachdem er ihren Gesichtsausdruck gesehen hatte. „Mhm,“ machte sie und schüttelte zögernd und entschuldigend lächelnd den Kopf. „Hier,“ meinte er und griff nach einem Ring, „was hältst du davon?“ Marie hielt ihm die Hand hin und Irwing ließ den Ring in ihre Handfläche fallen. „Au!“ Marie schrie vor Schmerz auf, als das kleine Schmuckstück ihre Haut berührte. Der Ring fiel zu Boden und hinterließ ein rundes Brandmal auf Maries Handteller. “What`s wrong?“ Irwing griff nach Maries Hand und das blanke Entsetzen auf seinem Gesicht verhieß, dass er genauso irritiert war wie Marie. “MARGE! GET SOME ICE! QUICK!“ „Nein, ist schon okay,“ versicherte Marie und zog ihre Hand weg. „Sicher?“ Marie nickte nur und hockte sich hin, um den Ring zu begutachten, dessen roter Stein eine unschöne Mischung mit dem Rot des Teppichs einging. Sie hütete sich davor, ihn zu berühren, doch bewunderte, wie fein er gearbeitet war. Die silberne geschwungene Fassung war dünn, fast zerbrechlich und mit winzigen Blättern übersehen und erst bei genauerer Begutachtung wurde Marie gewahr, dass der rote Stein selbst wie ein Blatt geschliffen war und winzige Adern ihn durchzogen. Plötzlich kam Irwings Hand aus dem Nichts und hob das kleine Schmuckstück auf. „Seltsam,“ murmelte er nur und starrte den Ring, den er zwischen zwei Fingern hielt, ungläubig an. „Was denn?“ fragte Marie und erhob sich.

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Schwerfällig lösten sich Irwings Augen von dem kleinen Schmuckstück in seiner Hand und wanderten zu Marie. „Ich… ähm… ich dachte, ich hätte ihn verloren,“ erklärte er und setzte dann fast unhörbar hinzu, „vor einer langen Zeit.“ Erst einmal herrschte Stille zwischen den beiden und Marie wusste nicht, was sie sagen sollte. Irwing war wieder voll und ganz auf den Ring fixiert und schien das Mädchen überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Marie beobachtete ihr Gegenüber und konnte mit seinem Verhalten nicht wirklich etwas anfangen. Man, der heult gleich, stellte sie schließlich irritiert fest. Das sind Tränn in seinn Augn. „Irwing…“ Er schreckte auf und sah sichtlich verwirrt aus. Verstohlen rieb er sich über das Gesicht. „Irwing, was…“ „Nichts,“ meinte er und seine Stimme klang fester als Marie es erwartet hatte. „Aber…“ „Mary, es ist nichts,“ versicherte er ihr und ließ den Ring in seiner Hosentasche verschwinden. „Lass uns das ein anderes Mal machen, ja?“ Marie nickte nur und sah mit an, wie Irwing die Schublade schloss und ohne ein weiteres Wort den Raum verließ. Komischer Kerl. „Mary!?“ Josis Stimme erklang im Flur. „Marieschatz, komm schon! Du musst dich beeilen!“ Marie schnaubte kurz – Gott, sie kanns einfach nich lassn! – und folgte der Stimme ihrer Mutter in den Rittersaal, in dem Marge bereites das Frühstück angerichtet hatte. Josi war wohl kurz vor ihr in den Raum gekommen und ließ sich gerade an dem runden, gedeckten Tisch nieder. „Oh,“ kam es erfreut von Hannah, „hübsch siehst du aus.“ „Mhm,“ machte Marie nur und strich über den blau karierten Rock. Ihr Blick fiel auf ihre Stiefschwester, die ein genaues Abbild von ihr war. Genau dasselbe weiße Hemd. Genau denselben dunkelblauen Pullunder. Genau dieselben weißen Kniestrümpfe. Genau dieselben dunkelblauen Schuhe. Nur, dasse eben rote Haare hat… Josi grinste kurz und meinte dann: „Du wirst dich schnell dran gewöhnen. Da sehen alle so aus.“ Das hoff ich doch! Sie hatte zwanzig Minuten vor dem Spiegel verbracht und konnte sich nicht recht damit abfinden, in so einer Montur zur Schule gehen zu müssen. Für Tanja, Kati, Debbie und all ihre anderen Freunde in Deutschland hatte sie extra ein Beweisfoto geschossen, welches sie später – sobald Irwing, beziehungsweise Jonathan, mit dem Computer kam – rüber senden würde. „Sitzen,“ ertönte Marges Stimme plötzlich hinter Marie und die dickliche, alte Küchenfrau deutete lächelnd auf den freien Stuhl neben Josi. “Sitzen. Breakfast.“ Marie ließ sich zwar auf den Stuhl nieder, doch brachte es nicht fertig mehr als ein halbes Glas Orangensaft hinunter zu würgen. Sie war aufgeregt. Eine neue Schule – englisch noch dazu. Neue Lehrer. Und noch viel wichtiger: Neue Schüler. Wie schnell würde sie neue Freunde finden?

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Wie würden die Leute überhaupt auf sie reagieren? Wie schwer würde das Verständigen werden? Ein leichtes Kribbeln breitete sich in Maries Bauch aus und es nahm von Minute zu Minute an Intensität und Größe zu. Das erste Mal seit Tagen war Marie froh darüber, dass Hannah sich einer Sache angenommen hatte – vielleicht war es auch Irwing gewesen, sicher war sie sich nicht. Aber was für nen Unterschied macht das auch? Wenigstens wusste sie ansatzweise, was sie erwartete. „Ah,“ kam es plötzlich von Hannah und Marie sah auf, folgte dem Blick ihrer Mutter und ihre Augen landeten auf David Langston, der in der Tür stand. „Mrs. Snaida,“ sagte er und deutete eine Verbeugung an. „Mädchens,“ wandte er sich an Josi und Marie und machte eine auffordernde Geste. „Wir sollten aufbrechen nun, weil sonst wir werden seien zu spät.“ Die beiden erhoben sich und Marie versuchte vergeblich an dem Stuhl ihrer Mutter vorbeizukommen. „Marieschatz,“ hörte sie Hannah neben sich, blieb stehen und schloss kurz die Augen. „Lass dich drücken.“ „Ma, bitte,“ nörgelte Marie, doch Hannah ließ sich davon nicht irritieren und schloss ihre Tochter in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich wünsche dir viel Glück an deinem ersten Schultag.“ „Ja… schön…“ Marie wand sich aus dem Griff ihrer Mutter, wischte sich über die Wange und lief die paar Schritte, bis sie Josi, die bereits im Flur war, wieder eingeholt hatte. Schweigend folgten die beiden David, der sie zum Auto brachte und ihnen die Tür aufhielt. Josi ließ sich ohne ein Wort auf die Rücksitzbank nieder und Marie murmelte ein Dankeschön. „Jederzeit,“ meinte David lächelnd, „jederzeit.“

* * * Josi dicht auf den Fersen, ging Marie auf das alte Gebäude zu. Gott, man, was für eine Schule? Um sie herum wimmelte es nur so von anderen Mädchen und Jungen, ebenfalls in Schuluniformen. Anfangs hatte es sie irritiert, dass alle so gleich angezogen waren, aber nach nur wenigen Augenblicken hatte sie sich daran gewöhnt. Die sind eigentlich genauso wie ich… nur eben, dass se diese komischn Sachn tragn und Englisch redn. Marie stockte und blieb schließlich stehen. Josi drehte sich zu ihr um und winkte sie weiter, doch als sie merkte, dass Marie sich nicht rührte, trat sie zu ihr heran. Sie musterte sie kurz, lächelte und legte ihr dann die Hand auf die Schulter. „Die sind alle ganz harmlos. Wirst schon sehen.“ Dann wandte sie sich wieder um und wollte gehen. Doch Marie hielt sie am Arm zurück. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie wusste nicht, wie sie es in Worte fassen sollte. Sie merkte, wie Josi langsam unruhig wurde. Sie hatte ihr von Mrs Brooks erzählt, der Direktorin. Dass sie sich dort melden musste, da sie mit ihr sprechen wollte, noch bevor die erste Stunde anfing. Irwing hatte einen Termin mit ihr vereinbart – für 8:15 Uhr. Und Josi hatte ihr erzählt, dass sie Wie hatte ses genannt? Tardiness? nicht ausstehen konnte. „Mary, komm schon,“ drängte Josi, „du willst nicht zu spät kommen, glaub mir.“ Aber Marie rührte sich nicht. “Mary! For God`s sake!“ fing ihre Stiefschwester an zu fluchen. „Josi! Josi, bitte.“ Erleichtert, dass Marie nun doch wieder etwas von sich gegeben hatte, hörte Josi auf an ihr herum zu zerren. „Josi, ich schaff das nicht.“

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„Was?“ Josi sah reichlich irritiert aus und ließ von Maries Arm ab, der mittlerweile schon leicht schmerzte von ihrer Zieherei. „Was, wenn ich was nicht verstehe?“ Josi konnte ihr nicht ganz folgen. „Die reden kein deutsch, so wie du und Irwing. Was, wenn die zu schnell sprechen? Wenn die mich was fragen und ich es nicht mitkriege? Was, wenn…“ „Mary,“ unterbrach Josi sie und ihre Stimme klang freundlich, doch bestimmt, „dein English ist gut.“ „Aber…“ „Und selbst wenn du was nicht verstehst, dann fragst du einfach noch mal nach.“ „Aber…“ Josi nahm sie bei den Schultern, sprach leise auf sie ein. „Die wissen, dass du nicht von hier bist. Die werden dir schon nicht den Kopf abbeißen.“ „Reißen…“ Josi sah sie irritiert an. „Abreißen. Den Kopf abreißen, nicht abbeißen.“ “Whatever… Der Punkt ist, dass die schon Rücksicht auf dich nehmen werden.“ Es herrschte kurz Stille zwischen den Beiden. „Und jetzt hör auf zu weinen und komm. Die Leute gucken schon.“ Oh, scheiße… Marie hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass sie zu flennen angefangen hatte und wischte sich verstohlen die Tränen vom Gesicht. “What`re you staring at? Mind your own business!“ machte Josi die umstehenden Schüler in einer solchen Tonart an, dass sich keiner wagte, ihrem Befehl nicht Folge zu leisten. Und zum ersten Mal war Marie froh, dass die in Josi eine solch schlagfertige und keinesfalls auf den Mund gefallene Stiefschwester gefunden zu haben.

* * * Josi klopfte an die Tür. Wie alles in dem alten Gebäude schien auch die Tür schon seit einer Ewigkeit in ihren Angeln zu hängen. Nicht, dass sie verschlissen oder abgenutzt aussah, es haftete nur dieser Hauch an ihr. Dieses Etwas. Unheimliche Alte. Marie fragte sich, wie viele Menschen wohl schon durch die hohen, langen Gänge gelaufen waren. Oder eher, verlaufn. Wie viele sich schon verlaufn hattn. Josi hatte sie durch ein Wegenetz geführt, aus dem sie sicher war, allein nicht wieder zurück zur großen Eingangshalle zu finden. Selbst mit diesn ganzn Schildern und Wegweisern. Auf ihrem Weg zum Zimmer der Direktorin waren sie an etlichen Klassenräumen vorbeigekommen. Die Blicke, die Marie im Vorübergehen in die Räume werfen konnten, ließen sie vermuten, dass diese nicht so anders als die in ihrer Heimat aufgebaut waren. Ne Tafel, Stühle und Tische eben. Man, Marie, was hatteste denn erwartet? schalt sie sich. Das is ne Schule wie jede andre auch! Nur, dass se eben alt is. Ziemlich alt. Im Gehen hatte Josi ihr den Aufbau des Systems erklärt. „Die unteren Klassen sind ausgelagert. Hier in diesem Gebäude sind nur die höheren Jahrgänge. Ab 7. Alle siebten Klassen sind im Erdgeschoss im Westflügel,“ sie deutete hinter sich, „und alle achten genau darüber. Die anderen sind alle im Ostflügel. Im Nordflügel sind

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Musik, Kunst und die Aula und im Südflügel die ganzen Sciences. Und die Bibliothek. Außerhalb ist dann die Kantine.“ Auf dem Weg wurden die beiden immer wieder durch andere Schüler aufgehalten, die Josi begrüßten, sie in die Arme schlossen und Marie neugierig musterten. Sie scheint beliebt zu sein, schoss es Marie durch den Kopf. Nach der ungefähr fünfzehnten Bekanntmachung mit einer von Josis Freundinnen, verlor Marie den Überblick und hatte Schwierigkeiten sich die Namen zu merken. Da waren Leslie, ein hageres, hochgewachsenes Mädchen mit stahlblauen, lachenden Augen. Angela, ein etwas plumpes Mädchen, das Marie mit den Worten “oh, I like your scrunchie“ begrüßte und auf Maries Haargummi deutete. Chris, der mit einer Erkältung kämpfte. Matt, der Marie mit seinen kinnlangen dunkelbraunen Haaren und seinen Sommersprossen irgendwie an einen Jungen aus ihrer Klasse – ehemaligen Klasse – erinnerte. Kathy, die zwar so rein gar nichts mit Kati gemein hatte, doch deren Namen ausreichte, um in Marie Heimweh auszulösen. Und Treesie, ein dunkelhäutiges Mädchen, das gerne und viel lachte. Trotz anfänglicher Angst, traute Marie sich dann auch bald nicht nur zu nicken, mit “yes“ und “no“ zu antworten, sondern in ganzen Sätzen. Das geht ja mal gar nich so schlecht… Nicht, dass sie alles verstand, doch sinngemäß konnte sie nachvollziehen, worum es ging. „Okay, ich muss jetzt los,“ meinte Josi und schickte sich an zu gehen. „Du… Du kommst nicht mit?“ Marie war geschockt und hielt Josie am Arm fest. „Ich kann da nicht allein rein gehen.“ „Klar kannst du.“ „Josi, bitte, ich…“ Die Tür ging auf und vor den beiden stand eine eher kleine Frau, die ihre bereits leicht ergrauten Haare kurz geschnitten trug und mit der Frisur Marie irgendwie an einen Pudel erinnerte. Durch die Gläser ihrer Brille beäugte sie die beiden kritisch und Marie ließ prompt den Arm ihrer Stiefschwester los. Doch dann machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit und in einer energischen Stimme, die eigentlich nicht recht zu dem kleinen, gedrungenen Körper passen wollte, meinte sie freundlich “You must be Mary.“ Marie nickte nur und all der Stolz und die Fröhlichkeit, die sie nur Minuten zuvor empfunden hatte, darüber, dass sie sich mit Josis Freunden hatte richtig unterhalten können, waren wie weggeblasen. Sie brachte nur ein Nicken zustande. Mrs Brooks wandte sich an Josi, dankte ihr, dass sie Marie hergebracht hatte und winkte Marie dann in ihr Zimmer. Marie sah Josi, die sich auf den Weg in ihr Klassenzimmer machte, nur noch einmal bittend an, doch diese schüttelte kaum merklich den Kopf, schenkte ihr aber ein aufmunterndes Lächeln und war dann um die nächste Ecke verschwunden. Marie atmete einmal tief durch und trat dann an Mrs Brooks vorbei in den Raum. Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, der ihr von Mrs Brooks angeboten wurde und versuchte ihre Nervosität zu bekämpfen, was ihr nicht recht gelingen wollte. Mrs Brooks ließ sich hinter ihrem dunklen Holzschreibtisch nieder und nahm sich eine Akte zur Hand, die darauf lag. Während sie diese Mappe studierte, sah Marie sich im Zimmer der Direktorin um. In dem hellen, großen Zimmer standen allerlei Blumen verschiedener Gattungen und Größen. In einer Ecke stand ein kleiner runder Tisch mit zwei Korbsesseln. Die Wände waren bilderlos, doch auf den Regalen und in einer Vitrine neben der Tür standen kleine Rahmen in denen Fotos von Tieren, Schülern, der Schüle und anderen Kindern waren, die keine Uniform trugen. Das sind wohl ihre, mutmaßte Marie. Sie spürte den Blick der älteren Frau auf sich und blickte zu ihrem Gegenüber zurück. Mrs Brook war ihrem Blick gefolgt und meinte: “Eliza, Emily and Dorian.“ Marie nickte und wusste nicht, was sie erwidern sollte. “I understand that you`re nervous, but there`s no need for that.“

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Sie lächelte und Marie war ihr dankbar dafür. Es folgte noch eine Einweisung in den Schulalltag, Fragenklärung – Marie hatte nur eine Handvoll – und dann überreichte Mrs Brooks ihr den Stundenplan und erklärte ihr den Weg zu ihrem Unterrichtsraum. Per Handschlag verabschiedete Mrs Brooks von Marie und wider Erwartung bemerkte Marie, dass ihre Nervosität sich komplett gelegt hatte. Es hatte keine sprachlichen Probleme gegeben. Keine Missverständnisse. Und die is genau genomm eigentlich echt nett. Marie hörte die Tür hinter ihr ins Schloss fallen. Und lächelte. Und sie is die einzige, die nich Mä-u-i sagt. Naja, Ma-rie isses auch nich. Sie versuchte sich an Mrs Brooks Aussprache ihres Namens zu erinnern. Mo-ri. Ja… oder so ähnlich. Aber wenigstens kriegtse das `r´ hin. Sie schaute auf den Zettel, der den Weg zu ihrem Klassenzimmer beschrieb, den Mrs Brooks ihr gegeben hatte. Südflügel. Erdgeschoss. Raum 9. Marie machte sich auf den Weg und wider Erwarten verlief sie sich nicht einmal. Sie hatte gedacht, dass es von jedem Fach ein paar Räum nebeneinander gab, doch als sie an den offenen Türen vorkam, sah sie, dass alles Chemieräume waren und die anderen naturwissenschaftlichen Räume in einem anderen Geschoss liegen mussten. Sie verlangsamte ihren Gang und lunste erst einmal im Vorbeigehen in Raum 9. In kleinen Cliquen standen die Jungen und Mädchen um die Tische herum oder saßen auf ihnen. Es schien eine lockere Stimmung zu herrschen. Man lachte, blätterte in Büchern, schrieb in Hefte oder unterhielt sich einfach nur. Oh man, Marie, mach schon! Das sind auch nur Menschen! Doch sie traute sich nicht und zog noch einmal an dem Raum vorbei. “Mary?“ Marie wandte sich überrascht um. Ein Mädchen stand vor ihr. Sie grinste und strich sich ihre dunkelblonden Haare aus dem Gesicht. Und irgendwie kam sie Marie bekannt vor. „Mein Name ist Eliza.“ Eliza. „Du bist…“ …das Mädchen vom Foto! „Du kannst ja…“ Aber wieso… „Wie? Also…“ Eliza lachte, legte Marie eine Hand auf den Rücken und ging mit ihr so in den Klassenraum. „Mein Pa kommt aus Paderborn. Und ich nehme an, meine Ma hast du schon kennengelernt.“ Gott man, das erklärt ne ganze Menge… Eliza führte Marie zu einem der Doppeltische und sie ließen sich nieder. „Wie kommst du hier zurecht? Hast du alles gut gefunden? Hast du dich schon eingelebt? Wie findest du London so?“ Man, die redet wie n Wasserfall… Und trotzdem war sie Marie sympathisch. „Josi hat mir schon alles gezeigt. Also… Erklärt, gezeigt hat sie es nicht. Von London habe ich noch nicht so wahnsinnig viel gesehen. Nur, als David uns vom Flughafen abgeholt hat und wir nach Hause gefah…“ Es überrumpelte sie und sie verbesserte sich augenblicklich. „…also zu Josi und Irwing gefahren sind.“

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„Und David ist…?“ „Ach, das ist unser… Irwings Chauffeur.“ „Ah. Aber von der Schule hast du noch nichts gesehen?“ „Mhm,“ machte Marie und schüttelte den Kopf. „Dann zeige ich dir nachher alles,“ meinte Eliza und lächelte sie an. „Cool, danke. Das ise…“ Plötzlich herrschte Stille unter den Schülern, die nur durch das Ratschen der Stühle über den Boden unterbrochen wurde, als alle sich erhoben und aus einem Munde “Good morning, Mister Tenner“ von sich gaben. Marie beeilte sich es den anderen gleichzutun und stand ebenfalls auf. Mister Tenner bemerkte die Verzögerung in der Bewegung und seine Augen wanderten zu Marie, die ihn zwar mit festem Blick ansah, doch merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Man, woher sollte ich denn wissen, dass man hier aufsteht? Hä? Doch wider Erwarten sagte er nichts, sondern stellte nur seine Tasche auf seinem Pult ab, gab ein “Morning, class“ von sich, woraufhin sich alle wieder setzten und kramte seine Materialien hervor. Dann erklärte er kurz, dass die heute Stunde mit einem Experiment einherginge, dessen Aufzeichnungen benotet würden. Er kritzelte den Versuchsablauf an die Tafel und sofort stoben die Schüler auseinander, um sich die ganzen Dinge zu besorgen. Marie war erleichtert, dass sie in Eliza bereits eine Partnerin gefunden hatte. Zu zweit machten sie sich dann daran den Versuchsaufbau vorzubereiten – bis zum Ende der Stunde fand Marie nicht heraus, um was es eigentlich ging – und befüllten verschiedene kleine Röhrchen mit verschiedenen Flüssigkeiten. Marie hatte Schwierigkeiten damit und die Hälfte des Zeugs landete auf ihrem Tisch. Eliza lachte kurz und meinte: “Oh boy, you`ve made a mess!“ Nahm sich zwei Tücher, drückte Marie davon eines in die Hand und wischte dann das ganze wieder auf. Glücklicherweise wusste Eliza, worum es bei diesem Versuch ging und protokollierte das ganze, setzte am Ende ihre beiden Namen auf das Blatt, ging nach vorn und gab es dann bei Mister Tenner ab. Es gongte und eine allgemeine Aufbrechens-Hektik erfasste die Schüler. Marie folgte Eliza auf den Gang hinaus und gemeinsam gingen sie zu ihrem Klassenraum. Die Vorstellung, die zu Maries Erleichterung im Chemieunterricht nicht stattgefunden hatte, wurde in der zweiten Stunde (Englisch) – die ebenfalls im Stehen mit einem “Good Morning“-Chor angefangen wurde – von Mrs Ryan vorgenommen. So stand sie da. Vor der ganzen Klasse. Und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie hasste es, wenn alle Augen auf ihr lasteten. Stotternder Weise erzählte sie, wo sie herkam, weshalb sie jetzt dort war. Und auf Mrs Ryans Nachfrage hin auch noch etwas über ihre Hobbies. Sie war heilfroh, als sie endlich wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm. Und als Eliza nach ihrer Hand fasste und ein „das war doch gar nich so schlimm“ flüsterte, rollte Marie nur die Augen. Als nächstes folgten dann noch Erdkunde, Geschichte, Bio und eine Doppelstunde Musik. Marie war überrascht, dass sie, nach dem ersten Schock in Chemie, dass sie keine Ahnung hatte, worum es ging, doch einigermaßen gut mitkam. Sie konnte den Inhalt von Arthur Millers “The Crucible“ nachvollziehen. Die Schichten der Erde kannte sie bereits und somit verstand sie auch in Erdkunde, worum es ging. In Geschichte wurde Königin Elisabeth behandelt und das war wider Erwarten recht interessant. In Biologie ging es um Pflanzen und der Anfang der Musikstunde rief in etwa dasselbe Gefühl in Marie hervor, wie der Anfang der Englischstunde. Wie sie es in allen anderen Stunden getan hatte, erhob sie sich, als die Tür aufging und die ältliche Lehrerin hereinkam.

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Doch niemand tat es ihr gleich. Sie sah sich um. Merkte, wie sie rot anlief. Eliza zupfte an Maries Ärmel und sie ließ sich augenblicklich wieder nieder. „Bei Mrs Kinsley müssen wir das nicht,“ flüsterte Eliza. „Toll, hättest du das nicht eher sagen können?“ Alle Augen hefteten immer noch auf Marie und sie spürte, wie sie immer roter wurde. “Alright, guys. I guess, by now you all know what she looks like.” Und somit wanderten alle Augen wieder zu ihr zurück.

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ie schlug die Augen auf. Und hätte nicht einmal sagen können, was es war, das sie aufgeweckt hatte. Sie gähnte ausgiebig, setzte sich langsam auf und rieb sich über die Augen.

Was zum… Das Zimmer war klein. Es war kaum größer, als das Bett, auf dem sie jetzt saß. Ein Spiegel, vor dem ein Regalbrett angebracht war, auf dem drei entzündete Kerzen standen, hing an der gegenüberliegenden, weißen Wand. Sie erhob sich. Das Mädchen, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war ihr unbekannt. Es hatte langes braunes Haar, grüne Augen und helle Haut, die mit einzelnen Sommersprossen versehen war. Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie hier her gekommen war. Wo bin ich überhaupt? Sie blickte sich um, doch das kleine Zimmer hatte keine Fenster. Stattdessen fiel ihr Blick auf ein helles Kleid, das an einem Haken hinter der Tür hing. Da es so schien, dass es das einzige Kleidungsstück in dem Raum war, zog sie es über. Man, das kratzt… Vorsichtig, fast erwartend, dass sie sich nicht öffnen ließ, drückte sie die Klinke herunter. Doch die Tür ließ sich öffnen und so trat sie auf einen lehren Gang hinaus. Der Gang war breit, mit einer kargen Steinwand auf der einen und kleinen Torbögen auf der anderen Seite. Die Torbögen führten zu einem Innenhof, auf dessen schneebedeckten Gras steinerne Statuen und Bänke platziert waren. Ihre Schritte hallten in dem leeren Gang wieder und sie versuchte leiser aufzutreten. Plötzlich erklangen von hinter ihr Stimmen und sie drehte sich um. Eine Traube Menschen hielt auf sie zu. Einige musterten sie abfällig, andere lächelten ihr zu und wieder andere beachteten sie gar nicht. Sie schnappte Wortfetzen wie „Sommer“, „Schnee“ und „Ednessiv“ auf, konnte mit ihnen aber nichts anfangen. „Linnea!“ Ihr wurde unwohl. Die Leute schienen sie zu kennen, doch sie konnte kein einziges Gesicht einem Namen zuordnen. „Linnea!“ Sie blieb stehen und ließ sie Menschenmenge an ihr vorbeirauschen. Plötzlich griff jemand nach ihrem Arm und sie schreckte zusammen. „Linnea!“ „Wo warst du denn?“ Drei junge Mädchen waren an sie herangetreten – eines blond, eines braunhaarig und das dritte, etwas fülligere schwarzhaarig – und hatten sie zu sich herumgedreht. Ihr fiel auf, dass sie dasselbe helle Kleid trugen wie sie. Die drei mochten nicht älter sein als ihr Spiegelbild. „Wie siehst du überhaupt aus?“ Das blonde Mädchen hatte nach ihren Haaren gefasst. Und jetzt fiel ihr auch erst auf, dass alle anderen Mädchen ihre Haare, ob nun lang oder kurz, zu Zöpfen geflochten hatten. „Du solltest aufpassen, dass die alte Turla dich so nicht erwischt.“ Am liebsten hätte sie sie nachgefragt, wer diese Turla war, wo die drei Mädchen herkamen, wo sie sich überhaupt befanden und weswegen sie dort war. Doch sie wusste nicht recht wie und wo sie anfangen sollte. „Oh verdammt,“ fluchte die Schwarzhaarige leise und hatte etwas hinter des anderen Mädchens Rücken fixiert. „Los, Linnea, mach, dass du…“ „LINNEA!“ Erneut fluchte das Mädchen und murmelte nur noch ein „lass dich nicht unterkriegen, ja“, bevor sie mit den anderen beiden rasch davon ging. Sie setzte den dreien hinterher. „LINNEA!“

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Die Stimme hinter ihr ließ sie augenblicklich erstarren. Langsam drehte sie sich um und sah nun auch, was die anderen drei gesehen hatten. Eine hochgewachsene, dünne Frau mit einem markanten, nicht gerade freundlichen Gesicht. Ihre Haare hatte sie streng zurück gekämmt und ihre spitze Nase zierte eine kleine Brille. Anders als alle anderen auf dem Gang, trug sie kein helles, sondern ein grünes Kleid. Sie kam geradewegs auf das Mädchen zugesteuert und blieb schließlich vor dem ihm stehen. Der Blick, den sie ihr zuwarf, verhieß nichts Gutes. „Beglan Linnea,“ ihre Stimme war hart und eisig, „man hat dich vermisst.“ Sie schien auf eine Antwort zu warten. Linnea… Es rauschte in ihrem Kopf. Linnea… Der Name sollte ihr bekannt vorkommen. Tat er aber nicht. Wer zum Henker ist Linnea? „Du bist der Andacht fern geblieben.“ Welcher Anda… „Unentschuldigt.“ Linnea… „Beglan Linnea,“ kam es mahnend von der Frau vor ihr, „streck die Hand aus.“ Ohne sich wirklich gewahr zu sein, was sie da tat, folgte sie der Aufforderung der älteren Frau. Im nächsten Moment spürte sie einen zwiebelnden Schmerz, als die Frau vor ihr ihr mit einem dünnen, kurzen Stock auf den Handrücken schlug. Sie zog augenblicklich die Hand zurück und schaute irritiert und anklagend zu der Frau empor. „Schau mich nicht so an, Beglan Linnea,“ schalt sie die ältere Frau, „du weißt, wie mit unentschuldigtem Fehlen umgegangen wird.“ Schnell blickte sie zum Boden zurück. Ja, aber wo soll ich n gefehlt habn? Und warum nenn die mich alle Linnea? Beglan Linnea? „Mein liebes Kind,“ die Stimme der Frau war sanfter und doch vorwurfsvoller geworden und sie hatte sich zu ihr herunter gebeugt, „von jedem hätte ich ein solches Verhalten erwartet. Nur nicht von dir.“ Abrupt richtete sich die Alte wieder auf, schob ihre Brille höher und ließ dann mit fester Stimme verlauten: „Und jetzt marsch in deinen Klassenraum.“ Sie schaute die ältere Frau fragend an, doch die starrte nur zurück und wartete darauf, dass sie sich in Bewegung setzte. Aber wohin denn? Wo zum Henker soll ich denn hin? In welchn Klassenraum? „Beglan Linnea,“ kam die mahnende Stimme von über ihr. Schön… Also setzte sie sich in Bewegung. Doch sofort ertönte ihr Name von hinter ihr und sie drehte sich wieder zu der älteren Frau um, ihre Hände in ihr Kleid gekrallt. Die Frau musterte sie kurz und nickte dann in die andere Richtung. Als das Mädchen nicht verstand, räusperte sie sich. Und meinte sie leise: „Da entlang.“ Sie konnte den Blick der Frau noch auf ihr spüren, als sie um die nächste Ecke bog und beinahe mit den drei Mädchen von zuvor zusammengeprallt wäre. „Linnea,“ flüsterten diese fast wie aus einem Munde.

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„Was wollte die alte Turla von dir?“ fragte die Blonde, die etwas größer war, als die anderen beiden. „Hat sie dir was angetan?“ hakte die die Schwarzhaarige nach und hatte besorgt die Hand auf Linneas Arm gelegt. „Mensch, du bist ganz blass,“ kam es von dem dritten Mädchen, der Brünetten, die ein paar Sommersprossen auf dem Gesicht hatte, fiel dem Mädchen, das alle Linnea nannten, auf. Man hatte nach ihren Schultern gegriffen und das blonde Mädchen, das zuvor nach ihren Haaren gefasst hatte, legte ihr vorsichtig die Hand auf die Stirn. „Geht es dir nicht gut?“ fragte die mit den Sommersprossen besorgt. Sie blickte nur verwirrt zwischen den dreien umher und versuchte sich aus den Griffen der Mädchen zu lösen. „Linfar,“ richtete sich das sommersprossige Mädchen an die größere Blonde, die immer noch ihre Hand auf des Mädchens Stirn liegen hatte, „wir sollten sie in den Krankenflügel bringen.“ „Nein,“ schaltete sie sich ein und meinte abwehrend, „nein, ehrlich. Mir geht es gut. Ich…“ „Mach uns doch nichts vor, Linnea,“ erwiderte das dritte, etwas pummelige Mädchen, das sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht fischte und sie besorgt ansah. „Du bist blass wie ein Blatt Papier und du zitterst am ganzen Leibe.“ Schon wieder Linnea… Warum sprechen die mich hier alle mit diesem Namen an? „Das… das ist nur wegen… wegen…“ Mensch, wie hieß die noch mal? „Tru… wegen… Tul…“ „Turla?“ half ihr das brünette Mädchen mit den Sommersprossen auf die Sprünge, das immer noch ihre Schultern festhielt. Nicht nur sie sah nicht sonderlich überzeugt aus. Doch das Mädchen, das sie Linnea nannten, nickte. Mit einem letzten verheißungsvollen und fragenden Blick ließ das andere Mädchen ihre Schultern los und trat einen Schritt zurück. „Du würdest uns doch sagen, wenn was nicht in Ordnung ist mit dir. Oder?“ hakte das blonde Mädchen, das mittlerweile ihre Hand von Linneas Stirn genommen hatte, nach. Sie blickte fest in die braunen, besorgten Augen der größeren Blonden und nickte. „Na komm,“ meinte das schwarzhaarige Mädchen. Und gemeinsam setzten sie ihren Weg zum Klassenzimmer fort. Genau genommen war das Mädchen, das alle Linnea nannten, recht froh darüber, auch wenn sie die forschenden Blicke der anderen nicht recht mochte, nun jemanden gefunden zu haben, der ihr den Weg weisen konnte. Immerhin hab ich keine Ahnung, wo dieser Klassnraum is, zu dem ich soll.

* * * Alle anderen hatten ihre Plätze bereits eingenommen und man wartete nur noch auf die letzten vier Mädchen – das Mädchen, das die anderen Linnea nannten und die drei, die sie mitgenommen hatten zu dem Raum. Ein junger Mann stand an einem Pulk am anderen Ende des Zimmers und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. „Gerade noch rechtzeitig,“ sagte er in einer tieferen Stimme als sie zu seinem jungen Aussehen passen wollte. Er steckte die Taschenuhr, die er in der Hand gehalten hatte, in seine Weste und wartete, bis die vier Mädchen sich niedergelassen hatten. Linnea… Linn… Ich kann mich nicht daran erinnern, so geheißen zu haben!

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Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, überhaupt einen Namen gehabt zu haben. Zum Henker! Wie heiße ich? Wer… „Linnea,“ kam die mahnende tiefe Stimme des jungen Mannes. Das Mädchen schaute auf und merkte, dass sie komplett in Gedanken versunken gewesen war. Ihre Wangen fingen an zu brennen, als sie sich bewusst wurde, dass sämtliche Augen auf ihr lasteten. „Tut mir leid,“ murmelte sie und senkte den Kopf. Doch sofort kamen die Gedanken wieder. Wer bin ich? Und wer is diese Linnea? Und warum… „Beglan Linnea!“ Sie zuckte zusammen und sah auf in das nicht mehr ganz so freundliche Gesicht des jungen Lehrers. „Hättest du wohl die Güte meinem Unterricht zu folgen?“ Sie spürte wieder alle Augen auf ihr. Manche ihrer Mitschüler tuschelten hinter vorgehalten Händen, andere sahen sie nur entsetzt an und wieder andere kicherten leise. Also nickte sie schnell und senkte wieder den Kopf. Man, was is nur los mit mir? Nein! Nich, `was is los mit mir?´ sondern, was zum Henker mache ich hier? Und wo is `hier´ überhaupt? Und… „BEGLAN LINNEA!“ Er stand direkt vor ihr und seine Worte echoten in ihren Ohren. „Ich hätte das von jeder anderen erwartet, nur nicht von dir! Verdammt,“ einige Schüler zogen die Luft scharf ein, als er fluchte – er tat das offensichtlich sonst nicht, „was ist bloß los mit dir?“ Sie merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Jarlath Rirdon.“ Das blonde Mädchen hatte sich erhoben und ihre Hand auf das mit den Tränen kämpfende Mädchen gelegt. „Es… Es geht ihr nicht gut. Bitte, kann ich sie… kann ich sie kurz nach Draußen begleiten?“ „Sicher,“ meinte der junge Mann nach einem Augenblick leise und trat von dem mittlerweile weinenden Mädchen zurück. „Linnea,“ meinte sie leise, „komm. Ich bring dich raus.“

* * * Linfar saß schweigend neben ihr und obwohl das Mädchen, das sie Linnea nannte, die andere kaum kannte, war sie ihr dankbar. Schon allein dafür, dass sie sie vor dem Mann in Schutz genommen hatte. Sie hatte sie auf ihr Zimmer gebracht und nun saßen sie schweigend nebeneinander auf dem Bett. Linfar hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt und strich ihr sachte über den rechten Arm. So saßen sie nun schon eine geraume Weile. Es mochten Stunden gewesen sein. Die Tränen waren versiegt und alles, was sie jetzt noch quälte war die Ungewissheit. Warum kann ich mich an nichts erinnern? Was ist mit mir pa… Von irgendwoher erklang Glockengeläut und das Mädchen neben ihr zuckte zusammen und sah auf.

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„So ein Mist,“ murmelte sie, tat ansonsten aber nichts. Das Läuten hörte nach ein paar weiteren Schlägen wieder auf und es herrschte wieder Stille. Die dann aber keinen Augenblick später davon unterbrochen wurde, dass die Tür schwungvoll aufgemacht wurde. Die ältere hochgewachsene Frau trat in das Zimmer und Linfar war augenblicklich aufgesprungen. „Jarlath Turla, ich…“ „Linfar,“ kam es leise und kalt von der älteren Frau und das Mädchen verstummte, „wie ich es erwartet hatte.“ Der Blick der Frau wanderte zu dem, immer noch auf dem Bett hockenden anderen Mädchen. „Steh auf,“ forderte sie. Das Mädchen erhob sich langsam und ihr schwindelte kurz. „Das ist das zweite Mal heute, dass du der Andacht fern bleibst, Beglan Linnea.“ Sie war dicht an das Mädchen heran getreten und hätte das Mädchen es gekonnt, wäre es vor der anderen Frau zurückgewichen. Doch das Bett verwehrte ihr den Ausweg nach hinten und rechts von ihr war bereits die Wand. „Streck deine Hand aus.“ Ohne es mitbekommen zu haben, hatten sich ihre Hände in den Rock ihres Kleides gekrallt und sie hatte Mühe sie von dort fortzubewegen. Doch augenblicklich schaltete Linfar sich ein. „Jarlath Turla, bitte. Es…“ „Zu dir komme ich gleich, mein Kind,“ meinte die ältere Frau leise und warf ihr einen mahnenden Blick über die Schulter zu. Doch Linfar ließ sich dadurch nicht beirren und trat sogar noch einen Schritt auf die ältere Frau zu. „Bitte. Es geht ihr nicht gut. Das seht Ihr doch.“ „Beglan Linfar,“ die Stimme der Frau war eisig, als sie sich zu dem Mädchen umdrehte, „ich erinnere mich nicht daran, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben.“ „Aber…“ „Wenn es ihr so schlecht geht, weshalb ist sie dann nicht im Krankenflügel?“ „Weil… Sie wollte… Ich habe es versucht, doch…“ „Lüg mich nicht an, Beglan Linfar.“ Das Mädchen schwieg und die ältere Frau wandte sich wieder dem anderen Mädchen, das alle Linnea nannten, zu. „Man erwartet hier Gehorsam. Besonders von einem Mädchen mit dem Hintergrund wie dem deinen, Beglan Linnea.“ Das Mädchen schaute auf. Hintergrund? Versuchte in den Augen der älteren Frau zu lesen. Welchem Hintergrund? Wer bin ich? Doch die dunklen Augen der älteren Frau fokussierten sie so sehr, dass sie es nicht länger als ein paar Sekunden aushielt und den Kopf wieder senkte. Die ältere Frau trat zur Tür zurück. „Lass mir nicht wieder etwas über dich zu Ohren kommen, Linnea. Ich warne dich.“ Ihr Blick wanderte kurz zu Linfar. „Ihr solltet euch beeilen. Die Tanzstunde fängt gleich an.“ Damit verließ sie das Zimmer. Und Linfar ließ die Luft, die sie angehalten hatte, langsam aus ihren Lungen gleiten. „Ich glaube, ich habe noch nie gehört, dass sie jemanden ungeschoren hat davon kommen lassen.“ Das Mädchen wusste nicht, ob Linfar es nur zu sich selbst gesagt hatte oder ob sie darauf etwas entgegnen sollte.

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Ts, wie auch? Ich hab ja keine Ahnung! Und schwieg deshalb. „Jetzt mach schon.“ Linfar hatte das Mädchen am Arm gefasst und war dabei es aus dem Zimmer zu zerren. „Ehe sie es sich anders überlegt und zurück kommt.“

* * * Als Linfar und das Mädchen, das alle Linnea nannten, in dem Tanzsaal – ein großer Raum mit Spiegeln an den Wänden – angekommen waren, waren sie fast die letzten. Nur ein Mädchen mit roten, fettigen Haaren kam noch nach ihnen. Als die beiden jedoch den Raum betraten, heftete sich der Blick des Mannes – die anderen nannten ihn Jarlath Flanagan – der in der Mitte des Raumes stand augenblicklich auf die beiden. Er war nicht gerade groß, hatte kurze, blonde Haare, ein markantes Gesicht und ein dünnes Band um die Stirn gewickelt. Die zwei anderen Mädchen, die mit Linfar zusammen auf das Mädchen, das alle Linnea nannten, getroffen waren, waren bei ihm und nachdem er die beiden Neuankömmlinge kurz, aber eingehend gemustert hatte, wandte er sich wieder an die beiden Mädchen vor ihm. Das Mädchen, das alle Linnea nannten, konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, doch dank der Blicke, die ihr die drei kurz danach zuwarfen, nahm sie an, dass es um sie ging. Ohne, dass der Mann etwas gesagt hatte, hatten ihre Klassenkameraden sich an den Wänden des Raumes verteilt und fingen an sich aufzuwärmen. Linfar schleppte das Mädchen mit zu den anderen beiden jungen Frauen, die sich mittlerweile von dem Lehrer getrennt hatten. „Was ist passiert?“ fragte das brünette, sommersprossige Mädchen. „Die alte Turla kam gerade herein und…“ „Nicht jetzt,“ zischte Linfar und widmete sich ihren Aufwärmübungen. Das Mädchen, das alle Linnea nannten, fand es etwas merkwürdig in den langen Kleidern körperlichen Betätigungen nachzugehen, doch sie versuchte die drei Mädchen, die offensichtlich ihre Freundinnen waren, nachzuahmen. „Mensch, du bist heute aber wirklich nicht du selbst,“ stellte das schwarzhaarige Mädchen nach einiger Zeit fest. Das Mädchen, das alle Linnea nannten, wusste nicht, was sie antworten sollte und lächelte nur verlegen. Das Klatschen des Lehrers rettete sie vor weiteren Kommentaren und Fragen. Die Schülerinnen kamen alle in der Mitte des Raumes zusammen und der Mann erklärte, was er diese Stunde mit ihnen vorhatte. Das Mädchen verstand nichts von all dem und stellte sich, wie sie es erwartet hatte, nicht gerade geschickt an. Sie spürte, wie man sie beobachtete. Doch wenn sie sich umschaute, ruhte kein einziger Blick auf ihr. Der einzige, der nicht schnell wegsah, sobald sie sich umschaute, war der Lehrer. Anfangs hatte er versucht sie mit Sprüchen wie „He, Linnea, ich habe ja gehört, du sollst heute nicht so gut in Form sein, aber das hatte ich nicht erwartet“ aus der Reserve zu locken. Doch als er merkte, dass er sie nur noch mehr verunsicherte, ließ er es bleiben. Als die Stunde endlich vorbei war und alle bereits dabei waren aus dem Raum zu strömen, erklang des Lehrers Stimme hinter ihr. „Linnea! Auf ein Wort!“ Sie nickte Linfar, die stehen geblieben war, zu und drehte sich dann zu ihm um. Alle anderen verließen nach und nach den Raum, so dass schließlich nur noch sie und ihr Lehrer übrig blieben. „Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?“ Er war dabei, seine Sachen zusammen zu räumen und fokussierte sie über die Schulter. Sie schüttelte den Kopf. „Sicher? Denn vorhin waren deine beiden Freundinnen Evaebjudi und Gonijaveil bei mir…“ Ah, die beidn heißn also Evaebjudi und Gonijaveil…

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Er ließ das so in der Luft hängen und wartete darauf, dass sie es fortführte, doch sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach, geschweige denn, was er hören wollte. Also richtete er sich langsam auf und musterte sie erneut. „Komm, setz sich,“ meinte er schließlich freundlich und deutete auf einen Stuhl vor einem der Spiegel. Langsam ging sie darauf zu und ließ sich nieder. Er hockte sich seitlich neben sie und versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. „Linnea, ich frage dich nicht als dein Jarlath.“ Was zum Henker is n Jarlath? „Linnea,“ hakte er leise nach. Linfar benutz das immer… Wahrscheinlich so ne Art Respekts-Wort. „Linnea, Kleines, bitte. Was ist los mit dir?“ Sie schwieg weiterhin. „Ich habe mit dir getanzt, da konntest du kaum laufen,“ fing er an zu erzählen, „doch eben war es, als wüsstest du nicht, wie man einen Fuß vor den anderen setzt.“ Wie meint er das? Er hat mit mir getanzt, als ich kaum laufn konnte? „Linnea. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich.“ Seine Stimme hatte etwas angenommen, das ihr nicht gefiel. Er war wieder der – Wie nennt man das? Jarlath? – geworden. „Es sieht dir nicht ähnlich einfach der Andacht fernzubleiben und deinen Schulstunden nicht nachzugehen.“ Er war aufgestanden, was ihr noch weniger gefiel. Er kam auf sie zu. Wollte nach ihr greifen. Sie sprang auf. Und ihr wurde schwindelig. Überall tanzten schwarze Punkte. Sie versuchte sich an der Lehne des Stuhles festzuhalten. Doch bevor ihre Hand das rettende Holz erreicht hatte, verlor sie das Gleichgewicht. Jarlath Flanagan hatte sie ergriffen, bevor sie seiner Hand gewahr wurde. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt ihren Arm fest und schien der Ansicht zu sein, dass sie, sobald er sie losließ, zu Boden gehen würde. „Linnea, alles in Ordnung?“ Er drückte sie sachte auf den Stuhl nieder. Ihr stiegen Tränen in die Augen. Verdammt, was is bloß los mit mir? Warum passiert das alles? Warum kann ich mich an nichts erinnern? „He,“ meinte er beruhigend und ließ sich vor sie auf die Knie nieder. Er versuchte sie zu umarmen, um sie zu trösten, doch sie schreckte vor der Berührung zurück und er ließ es bleiben. Die ersten Tränen liefen ihr die Wangen entlang und die schwarzen Punkte wollten nicht aufhören zu tanzen. Schlimmer noch, sie nahmen an Anzahl und Größe zu und bald konnte sie gar nichts mehr erkennen.

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arieschatz!“ David hatte Marie, nachdem ihr Unterricht vorbei war, wieder abgeholt. Sie hatte allein in dem großen hinteren Teil des Wagens gesessen, da Josi noch

eine Stunde mehr gehabt hatte als sie. Marie hatte versucht David klarzumachen, dass es ihr nichts ausmachte eine Stunde lang zu warten, so bräuchte er nicht zweimal fahren. Doch er hatte darauf bestanden, sie sofort nach Hause – ins Zuhause-Schloss – zu fahren und anschließend gleich noch einmal loszufahren. Er hatte gemeint, das mache ihm nichts aus und zum wiederholten Male mit der Hand in den Wagen gewunken. Marie war also eingestiegen, nachdem sie sich von Eliza verabschiedet hatte. Sie hatte erst Bedenken gehabt – es war ihr peinlich gewesen von einem Chauffeur mit einem eigenen Auto abgeholt zu werden, doch für Eliza schien das nichts Außergewöhnliches gewesen zu sein. Die gesamte Fahrt lang hatte Marie die belebten Straßen der britischen Stadt angeschaut und war zu der Erkenntnis gekommen, dass sie genau genommen Glück gehabt hatte, dass David sie abgeholt hatte, da sie den Weg zurück allein gar nicht gefunden hätte. Sie hatte auch keine Ahnung, ob überhaupt ein Bus oder ähnliches in die abgelegene Gegend von Irwings Anwesen fuhr. Es hatte nicht lange gedauert, bis David den Wagen vorbei an den beiden Adlerstatuen durch das schwarze gusseiserne Tor lenkte. Wie zuvor, fuhr er durch die kleine Unterführung und kam auf dem großen, runden, mit weißem Kies bedeckten Platz zum Stehen. Marie hatte sich bei ihm bedankt, sich ihre Tasche geschnappt und war durch eines der Tore ins Gebäudeinnere gegangen. Sie hatte die Klinke noch in der Hand, als die Stimme ihrer Mutter ihr entgegen drang. Oh bitte! „Nenn mich nicht immer Ma-rie-SCHATZ!“ „Wie war es?“ Hannah nahm ihre Tochter in den Arm und drückte sie an sich. „Ma! Bitte!“ „Wie war es?“ „Gut.“ „Wie waren deine Klassenkameraden?“ „Nett.“ „Die Lehrer?“ „Auch.“ „Mariescha…“ „MA!“ „Nun erzähl doch mal. Lass mich dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“ Man, die is ja aufgeregter als ich! Sie waren an der Treppe angekommen. „Ma, ich habe zu tun.“ „Na komm, so…“ „Ma, wirklich. Hausaufgaben.“ Marie drehte sich um und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Ihre Mutter blieb am Treppenansatz zurück und Marie war froh darüber. Sie schmiss die Tür hinter sich zu, stellte ihre Tasche neben dem Schreibtisch ab und ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen. Nach einigen Augenblicken raffte sie sich wieder auf, ging an ihren Kleiderschrank, den Marge ihr eingeräumt hatte. Ohne, dass sie nachgefragt hatte und das war ihr peinlich und unangenehm. Sie mochte es nicht, wenn andere in ihren Sachen herumkramten. Marie nahm sich eine Jeans und einen Pullover heraus und zog sich um. Dann hängte sie ihre Schuluniform auf den dafür vorgesehenen Ständer. Sie hörte sie Tür hinter sich schwungvoll aufgehen und wollte gerade herumfahren, um ihrer Mutter irgendetwas an den Kopf zu werfen, als sie erkannte, dass es Josi war, die in der Tür stand.

„M

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„Hey!“ sie grinste. „Na, wie war es?“ „Du hast es gewusst!“ Du blöde Kuh, dachte Marie mit einem Lächeln auf dem Gesicht. „Wieso hast du nichts gesagt, man?“ Josi schloss die Tür und ließ sich, immer noch grinsend, auf Maries Bett fallen. „Du hast zugesehen, wie ich fast geheult habe heute morgen und hast mir trotzdem nichts gesagt!“ „Was meinst du?“ fragte Josi unschuldig und setzte ein unwissendes Gesicht auf. „Das weiß du ganz genau!“ Marie warf sich auf ihre Stiefschwester und lachend lagen die beiden nebeneinander. „Wieso hast du mir nicht erzählt, dass Eliza in meiner Klasse ist?“ „Ach komm, lass mir doch das bisschen Spaß.“ „Spaß? Das nennst du Spaß?“ „Naja,“ Josi zog ihre Mundwinkel kurz nach unten, „jetzt weißt du es ja.“ Marie raffte sich auf. „Na warte, man. Das zahl ich dir heim!“ Und schon hatte sie sich auf Josi gestürzt und angefangen sie durch zu kitzeln. Josi schrie und lachte gleichzeitig. Dann fing auch sie an mächtig auszuteilen und beiden trieb es Tränen in die Augen. Irgendwann ging die Tür auf, was die beiden allerdings nicht sofort registrierten. „HE, IHR BEIDE! WOLLT IHR WOHL…“ Irwing stand in der Tür. Er hatte anscheinend damit gerechnet, dass die beiden sich in den Haaren hatten. Doch als er nun sah, dass beide vor Lachen sich kaum halten konnten, war er sprachlos. „Äh… ja… Weitermachen,“ er lächelte. Kurz bevor er die Tür wieder geschlossen hatte, meinte er noch: „Unter den Füßen hat sie es besonders gern.“ „DAD!“ Und schon ging das Kichern und Gelächter wieder los. „Mary,“ keuchte Josi, „hör auf, bitte.“ „Erst wenn… erst wenn du aufhörst.“ Auch Marie schnappte nach Luft, doch keine der Beiden ließ die Finger von der anderen. Marie hatte bereits Seitenstiche und war sich sicher, dass es Josi da nicht anders ging. Auch ihr Gesicht tat vom vielen Lachen weh und Tränen rannen ihr das Gesicht entlang. Aus dem Augenwinkel vernahm sie etwas rechts über sich aufblitzen und schaute hoch. “Oh shit,“ kam es sofort von Josi, der es wohl ebenfalls nicht entgangen war. Scheiße, man! “Get some water!“ Aber was… Immer noch fluchend war Josi aufgesprungen, hatte das Kopfkissen unter Marie weggezogen und angefangen damit auf den brennenden Stoff des Himmelbettes einzuschlagen. „Josi… was…“ Marie war nur schnell vom Bett gekrabbelt und stand nun bewegungslos auf der anderen Seite. Das Feuer griff schnell um sich und hatte bereits die Längsseite der Stoffbahn erreicht. „WASSER! LOS!“ Es dauerte eine Ewigkeit, bis Marie sich endlich in Bewegung setzte. Doch sobald die Starre erst einmal überwunden war, hastete sie zur Tür hinaus. Hetzte den Flur entlang. Rutschte beinahe auf einem der Läufer aus. Hielt sich gerade noch an einem der Gemälde fest, das krachend zu Boden ging. Jagte um die nächste Ecke.

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Und war im Bad angekommen, wo sie die Schüssel mit Muscheln am Badewannenrand in die Wanne entleerte und sie mit Wasser füllte. Sie flog geradezu zu ihrem Zimmer zurück. Josi hatte das Feuer mittlerweile wieder einigermaßen unter Kontrolle bekommen und Marie löschte die letzten Flammen mit dem Wasser. Dann standen sie da. Beide. Zitternd. Und völlig außer Atem. „Josi?“ Sie musste ihre Stiefschwester zweimal ansprechen, bis sie sie anblickte. Josis Gesicht war verschwitzt und leicht rot. Haarsträhnen klebten ihr auf der Stirn. Sie ließ das Kissen, das sie immer noch in der Hand hielt zu Boden fallen. „Was war das?“ „Wer.“ „Was?“ „Nicht was war das, sondern wer.“ Gott, nein… „Du meinst…“ fragte Marie und merkte, wie ihre Beine unter ihr wegzuklappen drohten. „Natürlich. Wer sonst.“ Auch Josi ließ sich auf das Bett nieder. Aber… „Das… das geht doch gar nicht.“ Wir ham doch nich geträumt, man! „Ich habe doch gesagt… Es fängt wieder an.“ „Aber… Wir… Ich meine…“ „Sie braucht keine Träume. Sie erreicht uns auch so.“

* * * Nachdem die beiden den verbrannten Stoff abgenommen, ausreichend gelüftet und die Schale mit den Muscheln wieder hergerichtet hatten, kam Irwing ihnen auf dem Flur entgegen. „Na?“ fragte er grinsend, „Hat es Spaß gemacht?“ „Mhm,“ nickten beide nur und brachten kein Wort über die Lippen. Er musterte die beiden und strich sich unbewusst eine graue Locke aus dem Gesicht. „Was habt ihr angestellt?“ Seine Stimme klang ruhig, doch fordernd. „Nichts,“ kam es von beiden wie aus einem Munde. Er blickte von Josi zu Marie und dann wieder zurück zu seiner Tochter. „Nichts, Dad. Wirklich nicht.“ „Josi,“ setzte er an. „Irwing,“ unterbrach Marie ihn und er richtete seine Aufmerksamkeit auf sie. „Also… Ich, ähm… Ich dachte… Ich wollte…“ „Wir haben die... äh… die Stoffbahnen von Marys Bett abgenommen,“ sprang Josi ein. „Sie wollte eine andere Farbe.“ Er glaubte ihnen nicht wirklich. „Ja. Genau. Aber beim… äh… beim Abnehmen, da…“ „Da sind sie uns kaputt gegangen.“ „Und ich dachte, dass du sie vielleicht behalten wolltest.“ Irwing sah irritiert auf Marie herab. „Behalten? Nein, wieso sollte ich sie behalten wollen?“

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„Ich weiß nicht,“ sie lachte verlegen. „Ich… äh… dachte nur…“ „Du bist also nicht sauer, weil wir die Dinger abgenommen haben?“ mischte sich Josi ein. „Nein, nein, wieso sollte ich sauer sein? Ist doch dein Zimmer,“ setzte er an Marie gewandt hinzu. „Ehrlich nicht?“ „Sicher.“ „Gut,“ meinte Josi und versuchte ein Lächeln, das ihr nicht ganz glückte. „Also dann…“ „Dann machen wir uns jetzt auf die Suche nach einem neuen Stoff.“ „Ja,“ sagte Irwing und schob seine Brille ein wenig höher, „macht das.“ Damit ging er dann und Marie atmete erleichtert, doch leise aus. „Man, Josi, das war knapp.“ „Ich glaub, er hat es uns nicht so ganz abgekauft, aber…“ „Ach,“ kam es von hinter ihnen und sie drehten sich zu Irwing um, der stehen geblieben war. „Habt ihr eure Hausaufgaben schon gemacht?“ „Ja, Dad,“ rief Josi zu ihm zurück und hob abwinkend die Hand. „Dann ist ja gut,“ kam es noch von Irwing, bevor er auf der Treppe verschwand. Anstatt in Maries Zimmer zurück zu gehen, begaben sie sich in Josis Zimmer und ließen sich dort auf und an dem Schreibtisch nieder. „Gut,“ meinte Marie, als sie sich gesetzt hatte, „und wo kriegen wir jetzt den Stoff her?“ „Ach, lass mal. Wenn du ihn heute und morgen nicht mehr daran erinnerst, hat er es übermorgen vergessen.“ „Mhm,“ machte Marie nur und konnte sich das bei einer Person wie Irwing nicht wirklich vorstellen. Aber er hat gesagt, es is mein Zimmer. Und ich kann damit machn, was ich will…. Gut, dann will ich eben einfach keine Stoffbahn da oben am Bett habn. Punkt. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie feststellte, wie einfach das doch alles zu erklären sein würde. “Oh, bloody hell!“ schrie Josi plötzlich auf und Marie dachte schon, jetzt hätte irgendetwas bei ihr im Zimmer Feuer gefangen. Doch sie sah nichts und Josi war auch nur aufgestanden und hatte sich an den Kopf gefasst. „Was? Was ist los?“ fragte Marie und sah sich immer noch suchend um. „Ich hab die Pferde vergessen.“ „Was?“ meinte Marie irritiert und schaute ihre Stiefschwester entgeistert an. „Die Pferde,“ erzähle Josi, während sie an ihren Schrank ging, sich ihre Jacke schnappte und einen Schal, eine Mütze und Handschuhe heraussuchte. „Ich war dran mit Füttern. Heute morgen.“ „Ach so.“ Josi war schon halb aus dem Zimmer und Marie folgte ihr. „Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du nicht willst. Ich glaube, du hast es nicht so mit Pferden, oder?“ Marie schüttelte den Kopf. „Ne, nicht wirklich. Aber ein bisschen frische Luft kann nicht schaden. Wartest du kurz, dann hole ich meine Sachen.“ Josi nickte nur, meinte „beim Hinterausgang, in zwei Minuten“ und ging den Flur links entlang, während Marie rechts herum lief. Die Beiden trafen sich kurze Zeit später wieder, Marie in ihren Mantel und dicken, dunkelroten Wollschal eingehüllt. Josi war dabei, sich die Handschuhe über zu ziehen und ihr Blick war auf Maries Hände gefallen. „Hast du keine?“ Sie hob die Hand und Marie griff in ihre Tasche, um ihr ihre Handschuhe zu zeigen. Dann folgte sie ihrer Stiefschwester in den Garten – Gartn? Park wohl schon eher. Es schneite und

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war bereits am Dämmern. Na, wenigstens regnet es nich mehr… In den paar Minuten, die die beiden Mädchen zu den Stallungen brauchten, wurden die weißen Flocken immer dicker und dichter. Und obwohl ihr nicht besonders kalt war, war Marie froh in den warmen, beleuchteten Stall eintreten zu können. Sie strich sich die Schneeflocken von der Kleidung und Josi tat es ihr gleich. Doch zog das Mädchen abrupt die Hand von ihrem Ärmel und murmelte etwas, das Marie nicht verstand. Sie schaute zu ihrer Stiefschwester hinüber, die mittlerweile den Handschuh ausgezogen hatte und den Zeigefinger ihrer linken Hand begutachtete. „Was ist?“ Josi sah kurz auf, wandte sich dann aber sofort wieder ihrem Finger zu. „Ich glaube, mich hat was gebissen.“ „Ein Floh wahrscheinlich,“ scherzte Marie, doch Josi ging nicht darauf ein. Stattdessen widmete sie sich ihrem rechten Ärmel. Sie ging unter eine der Lampen und hielt ihn gegen das Licht. Sie musterte ihn eine Weile und Marie trat zu ihr, nicht wissend, was genau sie davon halten sollte. „Josi, was…“ Ihre Stiefschwester hob die linke Hand und Marie schwieg, schaute aber nun genauer auf den Ärmel ihrer Stiefschwester. Josi führte den Arm ein wenig näher zu ihrem Gesicht und fing an, sachte auf eine Schneeflocke zu pusten. „Was machst du denn da?“ fragte Marie leise. Doch im selben Moment entfaltete sich die Flocke. Es sah fast so aus, aus würde ein zusammengeknülltes Bonbonpapier sich entknüllen. Marie erspähte ein filigranes Flügelpaar und einen zierlichen Körper. Sie trat noch näher heran und hielt, genauso wie Josi es tat, den Atem an. Das kleine Wesen auf dem Ärmel ihrer Steifschwester schüttelte sich kurz und strich sich über die Flügel. Es erinnerte Marie irgendwie an eine Katze, die sich wusch. Das Licht der Lampe spiegelte sich auf dem weißlich, gläsernem Wesen wider und ließ es grünlich-blau erscheinen. „Josi?“ hauchte Marie, „Was ist das?“ „Keine Ahnung,“ meinte diese ebenso leise und vorsichtig ohne den Blick von dem Ding auf ihrem Ärmel zu nehmen. Das fragile Wesen ging kurz etwas in die Hocke, fing an mit seinen Flügeln zu schlagen und hob dann ab. Geräuschlos flog es durch den Stall und Marie und Josi verloren es bald aus den Augen, da sie den sich schnell fortbewegenden, fast transparenten Körper im schummrigen Licht kaum erkennen konnten. Marie hörte Josi leise seufzen, als sie sich wagte endlich wieder auszuatmen. „Letztes Mal hat es die nicht gegeben,“ murmelte sie kaum wahrnehmbar. „Du meinst, das war…“ „Natürlich. Was sollte so ein Ding sonst hier machen?“ „Aber es sah überhaupt nicht gefährlich aus, oder so,“ meinte Marie nachdenklich. Sie hatte angenommen, dass, wenn dieses merkwürdige Mädchen aus den Träumen –Träumen? Eben hat ses auch irgendwie geschafft mein Bett in Brand zu steckn und da hab ich nich geträumt! – andere Geschöpfe auf die beiden losgehen lässt. Irgendwelche, die riesig sind. Sie mit nur einem Bissen auffressen könnten. Oder Feuer speien können. Aber nicht so n Mini-Ding, das fast zu klein und zu unscheinbar is, überhaupt gesehn zu werdn. „Es hat mich gebissen,“ erinnerte Josie sie entrüstet. „Mhm,“ machte Marie und griff nach der Hand ihrer Stiefschwester.

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Die Bißstelle auf dem Zeigefinger war leicht rot, wie bei einem Insektenstich, aber noch nicht einmal angeschwollen oder ähnliches. „Ach,“ meinte Marie schließlich, „das ist nur halb so schlimm.“ „Halb so schlimm,“ murmelte Josi und zog ihre Hand zurück. „Halb so schlimm? Wurdest du schon mal von einem… so einer… was-auch-immer gebissen? Hä? Nein! Also sag mir nicht, es ist nur,“ sie äffte Marie nach, „halb so schlimm. Wahrscheinlich fällt mir gleich der Finger ab, oder so!“ Marie war sich im Klaren darüber, dass Josi das alles keineswegs auf die leichte Schulter nahm, doch das einzige, das ihr dazu einfiel, war: Hey, ich hätt gar nich gedacht, dass sies schafft so lange auf deutsch zu fluchn!

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osis Finger war nicht abgefallen. Die winzige Wunde hatte noch nicht einmal richtig zu bluten angefangen. Und Josi schien sie auch schnell wieder vergessen zu haben. Auf jeden Fall sprach sie schon nicht mehr davon, als Marie und sie sich

auf den Rückweg zum Hauptgebäude machten. Es hatte aufgehört zu schneien und die Sonne war mittlerweile schon komplett hinter den hohen Bäumen verschwunden. Die Lampen, die den Weg säumten, warfen ihr gelbes, warmes Licht auf den am Boden liegenden Schnee. Es war angenehm ruhig und nur der Schnee knirschte unter den Schuhen der beiden Mädchen. Plötzlich kreischte ein Tier irgendwo in der Umgebung und beide zuckten zusammen. „Was war das?“ wollte Marie wissen. „Wahrscheinlich nur ein Vogel, oder so,“ meinte Josi und sah sich dennoch ebenso verängstigt um wie Marie. „Komm, lass uns reingehen.“ Die beiden legten einen Zahn zu und waren innerhalb weniger Minuten im schützenden Hausinneren angekommen. „Mary?“ kam Irwings Stimme aus einem der angrenzenden Räume. „Ja?“ Er erschien im Torbogen eines Raumes zu ihrer rechten. „Da seid ihr ja wieder. Jonathan hat dir was mitgebracht.“ Jona… Oh! Super! „Der Computer?“ Irwing nickte nur. „Wo ist er?“ Marie folgte Irwings Blick bis zur Treppe. „Oben? Er ist schon oben?“ Er nickte wieder. „Oh! Danke!“ Sie fiel ihm um den Hals, bevor sie sich auf den Weg machte. Doch wider Erwarten, stand der Computer vor ihrer Tür. Sie verlangsamte die letzten paar Schritte und hörte, dass jemand hinter ihr hergekommen war. Als sie sich umdrehte, stand Irwing vor ihr. „Wir wussten nicht, wohin du ihn haben wolltest…“ Sie öffnete die Tür, trat in ihr Zimmer und sah sich um. Tja, ganz ehrlich? Ich auch nich… „Vielleicht… vielleicht da hin?“ meinte sie und deutete auf ihren Schreibtisch. Irwing lehnte grinsend an der Tür und sie konnte sein Verhalten nicht so recht einordnen. “Irwing,“ erklang plötzlich Jonathans Stimme vom Flur, “I wanted to see her face as well!“ “I haven`t told her yet,” rief Irwing ihm über die Schulter entgegen. „Was hast du mir noch nicht erzählt?“ Das Grinsen auf Irwings Gesicht wurde breiter, doch er sagte nichts. „Irwing?“ Er schwieg beharrlich, während neben ihm in der Tür ein junger, schlaksiger Mann erschien, der lange, fast schwarze Dreads trug. Man, ich hät ja nie gedacht, dass so einer für Irwing arbeitet… „Darf ich vorstellen,“ meinte Irwing, während er mit einer kleinen Handbewegung zu dem jungen Mann neben ihn deutete, „Jonathan. Jonathan, Mary.“ Marie ging auf den jungen Kerl zu und streckte ihm die Hand hin, die er allerdings überhaupt nicht beachtete. Stattdessen schloss er sie gleich komplett in die Arme und klopfte ihr auf den Rücken, bevor er wieder von ihr ließ. „Äh… Schön dich kennenzulernen,“ stammelte Marie. „Schön. Schön,“ wiederholte Jonathan munter und formte seinen Mund um das unbekannte Wort. „Er kann kein deutsch,“ murmelte Irwing.

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„Oh,“ entwich es Marie und stockender Weise brachte sie ein “nice meeting you“ über die Lippen. Der schlaksige Kerl deutete eine Verbeugung an und grinste Marie keck an. Gott, der kriegt das Lächeln wohl nie von seim Gesicht… „Also, Irwing, was ist denn jetzt?“ „Ach ja.“ Ihr Stiefvater trat an ihr vorbei, bückte sich und zog etwas unter dem Bett hervor. „Jonathan und ich standen vor demselben Problem: Wohin mit dem Ding. Und da kam ihm,“ er deutete auf Jonathan, der mittlerweile auf dem Sekretär Platz genommen hatte, „die Idee… wir könnten dir doch einen Laptop holen.“ „Einen Laptop?“ Oh, cool! „Einen richtigen, echten Laptop? So ohne Kabel und so?“ „Ja,“ grinste Irwing, „so ohne Kabel und so.“ „Oh super!“ rief Marie und umarmte erst ihren Stiefvater und dann Jonathan, der das ganze sichtlich amüsant fand. Irwing hatte das kleine Paket, das er unter dem Bett hervorgezogen hatte, auf das Bett gelegt und Marie machte sich daran, es auszupacken. „Also… Wie ich schon sagte, ich habe von diesen Dingern keine Ahnung. Jonathan wird dir alles erklären.“ Und damit schickte er sich an den Raum zu verlassen. „Was?“ schrie Marie auf und Irwing blieb stehen und wandte sich wieder ihr zu. „Aber was, wenn… wenn ich ihn nicht verstehe oder so was und dann was falsches drücke und alles kaputt mache und… du musst hier bleiben!“ „Och, ich werdet das schon hinbekommen.“ Und damit ging er dann endgültig. Jonathan hatte sich mittlerweile erhoben und war zu Marie herangekommen. Tatendrang spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder und Marie wusste nicht so hundertprozentig, ob Irwing das wirklich so gut durchdacht hatte. Der junge Mann deutete Marie an weiter auszupacken, was sie dann auch zögernd tat, während er sich auf das Bett niederließ. Er fing an auf Marie einzureden, wovon sie allerdings nicht all zu viel verstand. Es ging um Computer oder deren Marken – Brands, wie er sie nannte – so weit konnte sie das noch nachvollziehen. Doch wider Erwarten arbeiteten die beiden recht gut zusammen und selbst, wenn Marie vielleicht auch nur ein Drittel von dem verstand, was Jonathan im Laufe der Zeit von sich gegeben hatte, so war sie am Ende doch im Stande, ihren Laptop zu starten, verschiedene Programme aufzurufen, ins Internet zu gehen und Emails zu schreiben. Genau das, was ich haben wollte, stellte sie zufrieden fest. Sobald das alles erledigt war, verabschiedete Jonathan sich von ihr – wobei er sie wieder in die Arme schloss – das is wohl so seine Masche – und Marie machte es sich auf der Sitzfensterbank bequem. Das erste, das sie tat, war ihren Freundinnen in Deutschland über ihre ersten paar Stunden in ihrer neuen Heimat zu berichten. Über das Haus. Zuhause-Schloss, verbesserte sie sich. Über Irwing. Über Josie Über Hercules und Achilles. Über ihren ersten Schultag. Über ihre Bedenken und Ängste. Über Eliza. Und über ihren eigenen Laptop.

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* * *

Ihr war kalt geworden und unbewusst drehte sie sich auf die Seite und rollte sich zusammen. Als das nicht half, rutschte sie ein Stückchen runter, so dass ihre Schienbeine einen der beiden Hunde berührten. Ein eisiger Windzug streifte ihr Gesicht und sie zog eine Grimasse. Wo zum Teufl kommt der n her? Erneut zog kalte Luft über ihr Gesicht und sie schlug die Augen auf. Karges Mondlicht fiel durch die Fenster. Hinter sich hörte sie etwas flattern und setzte sich auf. Wieso zum Teufl is das auf? Sie war sich ganz sicher, alle Fenster geschlossen zu haben, bevor sie sich hingelegt hatte. Die weißen, fast transparenten langen Gardienen wehten im Wind, der von draußen in das Turmzimmer geweht wurde. Marie war im Begriff sich zu erheben, als sie plötzlich des Mädchens gewahr wurde, das die eine Gardine bis jetzt verdeckt hatte. Oh… nich schon wieder… Das Mädchen mit den braunen Haaren und dem weißen Nachthemd starrte sie nur an und ein fieses Lächeln umspielte seinen Mund. „Was willst du?“ versuchte es Marie. Der leichte Stoff des Nachthemdes flatterte im kühlen Wind, doch es schien dem Mädchen nichts auszumachen. Marie erhob sich nun endgültig. Und fand sich gleich darauf wieder im Bett liegend vor. Das Mädchen stand über ihr. Musterte sie mit seinen grünen Augen. In denen sich ein Licht spiegelte. Ein Licht, dessen Quelle es nicht gab. Es hatte die rechte Hand ausgestreckt. Und obwohl es sie nicht berührte, spürte Marie, wie die Hand sie am Hals gegen die Matratze presste. „Hör auf,“ röchelte sie, doch das Mädchen ließ nicht locker. „Bitte.“ Plötzlich vernahm Marie ein leises Knurren rechts von ihr und sah aus dem Augenwinkel, wie Achilles und Hercules langsam, abgeduckt und mit gefletschten Zähnen auf das Mädchen zugingen. Augenblicklich verschwand der Druck auf ihren Hals und sie konnte sich wieder bewegen. Oh Gott… Das Mädchen war zurückgetreten und stand vor dem Sekretär. Es stand einfach nur da und sah auf die beiden Hunde, die ihr bis weit über die Hüfte reichten, herab. Marie strich sich über den Hals, der immer noch schmerzte und war den beiden riesigen Hunden mehr als dankbar, Partei ergriffen zu haben. Doch allmählich wurde das Knurren leiser und die beiden entspannten sich. Nein, was macht ihr denn da! Augenblicklich haftete der Blick des Mädchens wieder auf ihr. Die beiden großen Hunde hatten sich zur linken und rechten Seite des Mädchens niedergelassen, setzten sich aber in Bewegung, als das Mädchen langsam auf Marie zukam. Marie erhob sich und wich vor dem Trio zurück. Doch bald stieß sie mit dem Rücken gegen die Wand und das Mädchen und die beiden Hunde kamen unbeirrt weiter auf sie zu. Trotz des eisigen Windes, der immer noch durch das offene Fenster in den Raum kam, war Marie nicht kalt. Sie spürte ihn genau genommen gar nicht mehr. Sie versuchte sich in Richtung Tür vorzuarbeiten, prallte aber nach nur wenigen Schritten mit einem kleinen Tisch zusammen, an dem sie vor dem zu Bettgehen noch gelesen hatte. Die Kerze darauf schwankte, fiel um und landete auf dem Feuerzeug, das in Maries Richtung rollte. Sie fing es auf und schleuderte es dem Mädchen entgegen.

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Und war überrascht, als es nicht durch dessen Körper flog, sondern daran abprallte und zu Boden fiel. Die is real, verdammt! Die is real! Das Mädchen mit dem Nachthemd bückte sich, hob das Feuerzeug auf und betrachtete es eingehend. Jetzt oder nie… Marie hastete um den Tisch herum und hatte sie rettende Tür schon fast erreicht, als sie von hinten mit etwas getroffen wurde, das ihr schlagartig die Luft aus den Lungen presste. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, hörte das Mädchen aber unausweichlich auf sich zukommen. Es ging an ihr vorbei, die Augen auf das Feuerzeug in ihrer Hand geheftet, und kam vor Marie zum Stehen. Es hatte die Klappe gefunden. Öffnete sie langsam. Und ließ das Feuerzeug beinahe fallen, als ihm Flammen entgegen sprangen. Es atmete tief durch und öffnete die Klappe erneut, dieses Mal darauf gefasst, was passieren würde. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Oh bitte, nich, ran es Marie nur durch den Kopf, als sie sich ausmalte, was das Mädchen mit dem Feuerzeug anstellen könnte. Augenblicklich hefteten sich die grünen Augen des Mädchens wieder auf Marie. Verdammt, kann die Gedankn lesn? Ja, hörte sie die Stimme des anderen Mädchens in ihrem Kopf. Und ich kann noch viel mehr. Aber sag mir erst mal, was das hier is. Marie versuchte sich zu weigern. An nichts zu denken. Stellte sich einen blauen, weiten Himmel vor. Und sofort pochte ein kaum auszuhaltender Schmerz in ihrem Schädel. Versuchs erst gar nich, hörte sie die mahnende Stimme des Mädchens in ihrem Kopf. Feuerzeug, dachte Marie. Feuerzeug! Mach, dass es aufhört, bitte! Und zu ihrer großen Überraschung verschwanden die Schmerzen genau so schnell, wie sie gekommen waren. Doch anrühren, konnte sie sich immer noch nicht. Feu-er-zeug, hörte sie die Stimme des anderen Mädchens in ihrem Kopf, als es das Wort langsam dachte. Mhm, hörte sie das Mädchen machen und sah es langsam nicken, während es immer und immer wieder die Klappe auf- und zuschnappen ließ. Was macht es? Na, was schon? Und wieder waren sie da. Diese pochenden Schmerzen in ihrem Schädel. Is gut! IS JA GUT, MAN! FEUER! Es macht Feuer! Wie?, wollte das Mädchen wissen. Ich weiß nich. Noch mehr Schmerzen. ÖL! Da is Öl drin. Mehr weiß ich nich! Mhm, war alles, was das Mädchen machte. Doch wenigstens klangen die Schmerzen ab. Wenn auch langsam. Das wird ihm gefalln, hörte sie das andere Mädchen denken, wagte sich aber nicht zu fragen, wer gemeint war. Die starre und verkrampfte Körperhaltung trieb ihr langsam Tränen in die Augen. Wer bist du?, versuchte es Marie und der Blick des anderen Mädchens wanderte wieder zu ihr zurück. Ich glaube kaum, dass du in der Position bist, Fragn zu stelln, stellte es fest, während das Feuer aus dem Feuerzeug in seiner Hand wirre Schatten auf sein Gesicht malte.

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Der Blick des Mädchens fiel auf das feuerspeiende kleine Ding in dessen Hand zurück. Sie schien ganz fasziniert zu sein davon. Bitte, du kannstes behaltn. Aber mach, dass es… Wieder diese pochenden Schmerzen. Und ich glaub auch nich, dass du in der Position bist Forderungn zu stelln! Es fühlte sich an, als würde Maries Schädel gespalten. ES TUT MIR LEID! Es tut mir leid! Aber bitte, mach… Das Mädchen schoss auf sie zu. Legte ihren Zeigefinger zwischen Maries Augenbrauen. Und gleißendes Licht erschien vor Maries Augen. Sie sah es, selbst wenn sie die Augen schloss. Es blendete so sehr, dass es schmerzte. Mit ihm kam ein kreischender Ton. Wie Fingernägel, die über eine Tafel gezogen wurden. Nur hundertmal lauter. Hundertmal schlimmer. Sie versuchte die Hände auf die Ohren zu pressen. Konnte sich aber nicht anrühren. Sie schrie vor Schmerzen auf. Brüllte. Aus Leibeskräften. Hörte irgendwo, ganz weit weg, das Jaulen und Bellen der Hunde. Die Tür wurde aufgestoßen und das Mädchen verschwand. Marie sackte in sich zusammen und fühlte Hände auf ihrem ganzen Körper. Trotz der Schmerzen, die gottseidank langsam abebbten, schlug sie um sich und versuchte die Hände zu vertreiben. „Marieschatz,“ vernahm sie irgendwann Hannahs besorgte Stimme. „Ma,“ schluchzte sie. Und war das erste Mal seit Wochen froh darüber in Hannahs Nähe zu sein. War erleichtert in das Gesicht ihrer Mutter zu blicken. Fühlte sich geborgen, als Hannah sie in ihre Arme schloss. Und weinte wie ein kleines Kind, als Hannah anfing ihr über das Haar zu streichen. „Was ist passiert?“ hörte sie Irwings beunruhigte Stimme. „Ich weiß nicht.“ „Mary,“ versuchte er es und strich seiner Stieftochter sachte über den Rücken. Doch die klammerte sich nur noch mehr an ihre Mutter und machte keinerlei Anstalten sich innerhalb der nächsten Minuten von dieser zu lösen. „Sh, es war nur ein Albtraum, Schätzchen“ versuchte Hannah sie zu beruhigen. „Nur ein Albtraum.“ Und warum tut`s dann noch weh? Und warum pocht mein Schädl dann noch so? Und warum bin ich dann hier und nich in meinem Bett? Ich bin doch keine Schlafwandlerin!

* * * „Mary!“ Sie versuchte an den ganzen Schülern im Gang vorbei zu kommen und steuerte auf Eliza zu, die winkend vor dem Büro ihrer Mutter stand. Sie schloss Marie in die Arme, als diese endlich bei ihr angekommen war.

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„Gott, ist das immer so?“ „Wenn man so spät dran ist, wie du, schon,“ meinte Eliza und grinste. Es war wirklich etwas spät geworden. Nach der verkorksten Nacht, hatte sie Schwierigkeiten gehabt aus den Federn zu kommen. Und dann hatte Marge auch noch darauf bestanden, dass sie wenigstens ihren Orangensaft austrank, bevor sie aus dem Haus ging. Sie hatte gemeint, die Vitamine brauche sie im Winter. Marie hatte sich nur schwer vorstellen können, dass in eingetüteten, erhitzen O-Säften noch Vitamine steckten, die der Körper verwenden könnte. Doch Josi, die bereits in der Tür stand und zur Hektik beisteuerte, hatte sie darüber informiert, dass Marge jeden Morgen frischen Saft presste. Eigenhändig. Und woher kriegt se mittn im Winter frische Orangn? So hatte Marie also zum Glas gegriffen und wollte es gerade an sie Lippen setzen, als Marge sie an der Schulter berührte und auf den Stuhl deutete. “Sit ye down, Miss Mary,“ hatte sie angeordnet. “Aber…” “Nichts gut, wenn vorbei rutscht an Bauch.” So hatte sie also Platz genommen. Hastig das Glas gelehrt. Is das jetz besser? War wieder aufgesprungen. Hatte im Laufen nach ihrer Tasche gegriffen. Und war Josi zum bereits wartenden David gefolgt. „Wo bleibt ihr denn, Mädchens?“ hatte er ihnen entgegen gerufen und auf sein rechtes Handgelenk getippt. „So wir werden kommen in Morgenstau.“ Und wie er es prophezeit hatte, waren sie in den morgendlichen Verkehrsstau Londons geraten und hatten im Endeffekt noch genau drei Minuten, um zu ihren Klassenräumen zu gelangen, was in dem Schülerwirrwarr nicht so leicht war. Mit dem Klingeln zusammen hatten Eliza und Marie den Klassenraum von Mrs Kinsley erreicht, die nur kurz die leicht ergrauten Augenbrauen hob, ihnen einen strafenden Blick zuwarf, aber nichts sagte. „Welch ein Glück, dass wir die erste Stunde bei ihr haben,“ murmelte Marie. Mrs Kinsley begann die Stunde mit einem kleinen Test – zum Grauen aller, außer Marie, der sie sagte, sie brauche ihn nicht mitschreiben. Doch Marie hatte keinerlei Schwierigkeiten Noten aus einem vorgespielten Stück herauszuhören, geschweige denn diese zu lesen, immerhin hatte sie seit einigen Jahren Klavierunterricht. Mrs Kinsley schien äußerst entzückt darüber und tätschelte ihr anerkennend die Schulter. Nachdem der Test, der wie Marie erwartet hatte, für sie nicht sonderlich schwer war, geschrieben war, wollte Mrs Kinsley wissen, ob sie ihnen etwas vorspielen würde. Marie zierte sich erst, doch als Eliza schließlich meinte, dass aus der Klasse so gut wie keiner auch nur das C auf der Tastatur finden würde, stimmte sie dann doch noch zu. Naja, eigentlich auch ganz cool! So n richtiger Flügl. Zuhause in Deutschland in der kleinen Wohnung hatte sie nur an einem Keyboard proben können. Die Möglichkeit an einem richtigen Klavier zu spielen, hatte sie nur bei ihrer Musiklehrerin gehabt. Sie ließ sich auf dem Hocker nieder, klappte die Tastatur auf und strich andächtig mit der Hand darüber. Sie spielte eine Melodie an und war vom Klang geradezu berauscht. Die Akustik in dem kleinen Musikraum war hervorragend. Sie wechselte in ihre Lieblingsmelodie, schloss die Augen und wiegte sich im Takt. Man, wie hab ich das vermisst! Demut, Trauer und Hoffnung wechselten sich immer wieder ab.

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Als sie die letzten Töne hielt, öffnete sie die Augen wieder und war kurz irritiert die ganzen Leute vor sich zu sehen. Sie hatte sie komplett vergessen. Man applaudierte für sie, was ihr die Farbe in die Wangen trieb und schnell den Kopf sinken ließ. Mrs Kinsley wollte wissen, von wem das Stück war, doch Marie hatte weder den Stücknamen, noch den des Komponisten parat und konnte ihr lediglich die Auskunft geben, dass es, so glaubte sie, es sei von einer komponiert worden. Die nächste Stunde verbrachten sie in einem Physiklabor bei einem gewissen Mr Dawns, der Marie in seiner ganzen Art und Weise irgendwie an Mrs Ryan, die Englischlehrerin, erinnerte. Was, nach Elizas Erklärung, daran lag, dass er deren Bruder war. In der dritten Stunde hatten sie frei und Eliza fand endlich die Zeit, ihrer neuen Freundin die Schule zu zeigen. Sie fingen im Untergeschoss an, arbeiteten sich langsam höher und endeten schließlich unter dem Dach. „Das hier,“ meinte Eliza geheimnisvoll, „ist mein Lieblingsplatz.“ Sie zog einen Schlüssel unter der Bluse hervor und streifte das Band, an dem er hing, über den Kopf. „Das hat schon alles so seine Vor- und Nachteile, wenn die eigene Mutter die Rektorin ist,“ grinste sie und schloss eine kleine Tür auf. Dahinter lag eine steile, hölzerne Treppe, die sie emporzusteigen begann. Marie folgte ihr und die beiden gelangten in eine Art kleine Kuppel von dessen Fenstern man – bei klaren Wetter, wie Eliza meinte – ganz London überblicken konnte. Jetzt allerdings waren sie teilweise mit Schnee bedeckt, der das Licht, das durch die Fenster, die so ziemlich die einzige Beleuchtungsquelle zu sein schienen, dämpfte. Auf dem Boden lagen verschieden Kissen und bildeten eine große Sitzfläche, auf der Eliza sich niederließ. Auf zwei kleinen Tischen, die aus dem Kissenmeer ragten, standen eine Handvoll Kerzen und in einem kleinen Regal lagen einige Bücher, die mit Lesezeichen versehen waren. „Hier verbringe ich meine Freistunden,“ erklärte Eliza lächelnd. „Viel besser als die Cafeteria. Viel, viel besser, glaub mir.“ Marie setzte sich und ließ sich rücklings in die Kissen fallen. Oh ja, hier kann man`s aushaltn! „Aber ich befürchte, wir müssen gleich auch schon wieder los. Hast du eine Uhr?“ Marie richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf. Ja… ne Uhr fehlt hier noch. „Oh,“ kam es plötzlich von Josi und sie deutete auf den dicken Deckenbalken, der die Mitte des Raumes markierte. Marie war ihrer Hand gefolgt und ihr Blick landete auf einer, dort hängenden Uhr. Ihr schwindelte leicht. Verdammt! War ich das? Ich will diese Gabe nich! „Mhm,“ machte Eliza neben ihr, „wo kommt die denn her?“ „Das… das war vielleicht… deine Ma,“ schlug sie vor und fand ihre Idee gar nicht so schlecht. Ja, genau. Das war Mrs Brooks! Die kommt nich von mir! „Ich weiß nicht… Ma hat Höhenangst. Die traut sich hier eigentlich nicht hoch.“

* * *

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Zum wiederholten Male irritierte es sie die Abstellkammer zu sehen – den kleinsten Raum des Schlosses, der genau genommen genauso groß, wenn nicht sogar größer war, als ihr ehemaliges Wohnzimmer, was das größte Zimmer in ihrer alten Wohnung gewesen war. „Mary?“ hörte sie Irwings Stimme hinter der Tür. „Ich bin hier!“ rief sie zurück. „Ah,“ meinte er, als er zu ihr in den Raum kam. „Was suchst du?“ „Tee.“ „Tee?“ lachte er. „Schätzchen, den findest du hier nicht.“ Er winkte sie aus dem Raum und sie ging an ihm vorbei. „Der ist viel zu kostbar, um eingekellert zu werden. Außerdem tut ihm die Kälte nicht gut.“ Er brachte sie in die Küche, in der Marge bereits mit einer anderen jungen Frau, die Irwing mit Joanna ansprach, das Essen zubereitete. Er führte Marie zu einem der Schränke und öffnete die Türen. Marie blickte auf fein säuberlich geordnete Teepackungen, Schubladen, die mit gläsernen Fronten versehen war, so dass man die Teekrümel in ihnen sehen konnte, ein großes Glas mit weißen Zuckerwürfeln und direkt daneben eines mit braunen, und noch ein drittes, indem Kandis an Stilen steckte. Jedes Regal war noch mal mit einer eigenen Glasscheibe verkleidet. „Also hier,“ Irwing deutete zum obersten Regal, „findest du roten Tee. Lose, wie auch in Beuteln. Direkt darunter ist der Kräutertee. Und hier,“ er zeigte auf das dritte Regal, „ist schwarzer Tee und daneben dann Rotbusch. Was möchtest du?“ „Äh,“ stammelte Marie und fühlte sich ein wenig erschlagen von der Vielfalt. „Den da, glaube ich.“ „Glaubst du?“ fragte Irwing und sah schmunzelnd auf sie hinab. „Ja. Also. Den möchte ich,“ meinte Marie und deutete auf eine der vielen Schwarztee-Schachteln. „Bedien dich,“ sagte er und trat zurück, so dass Marie an die gläserne Scheibe kam. Sie schob sie zurück und wollte nach der kleinen Teepackung greifen. Doch die kam ihr plötzlich entgegen. Sie hätte nur noch zugreifen müssen. Doch sie war so erschrocken darüber, dass sie instinktiv die Hand zurückzog und die Packung auf dem Boden landete und deren ganzer Inhalt auf dem cremefarben gefliesten Boden verteilt wurde. „Hopla,“ kam es von Irwing. Verdammt, was war das denn? Er trat zu Marie heran und bückte sich, um die vielen einzelnen Beutel aufzuheben. Nur n Versehn, versuchte sie sich zu beruhigen. Nur n Versehn. „Die kannst du jetzt nicht mehr trinken,“ kam es von ihm, als er sich wieder aufrichtete. „Schätzchen, das ist doch nicht schlimm,“ meinte er, als er in ihr kaltweißes Gesicht sah. „Wie du sieht, haben wir noch eine ganze Menge davon. Da kommt es auf so ein paar nicht drauf an.“ Er versuchte sie mit einem Lächeln aufzumuntern. „Mhm,“ war alles, das sie zustande brachte. Er beugte sich zu ihr hinunter, um sie kurz aber eingängig zu mustern. Dann legte er ihr die Hand auf die Stirn, konnte aber anscheinend nichts ungewöhnliches feststellen und führte sie langsam zu einem der Stühle, die um die riesige Arbeitsfläche verteilt standen. „Setz dich,“ meinte er und drückte sie sanft nieder. „Marge.“ Die ältliche Frau kam gleich angewatschelt und strich Marie über das Haar. Man, krieg dich wieder ein! Das hat rein gar nichts bedeutn! Aber bei Josi hat`s auch wieder angefangen, hielt ihr Verstand dagegen.

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Das heißt aber noch lange nich, dass es bei mir auch so sein muss! “Miss Mary,“ hörte sie Marges Stimme neben sich und schaute hoch. „Hier.“ Ihr Blick fiel auf eine Tasse, die die alte Frau vor ihr auf die Arbeitsfläche gestellt hatte. Sie nickte ihr dankend zu und fing an, an dem Band des Teebeutels zu friemeln. „Mary,“ vernahm sie Irwings Stimme, als er sich links neben sie setzte, „trinken, nicht dran rum spielen.“ Sie versuchte ein Lächeln, das ihr nicht ganz gelang. “Dad?“ erklang Josis Stimme plötzlich aus einem der Gänge, die zur Küche führten. “Hannah told me you…“ Sie stockte mitten im Satz, als ihr Blick auf ihre Stiefschwester fiel. Die beiden starrten sich nur an und Marie hatte das Gefühl, dass sie genau verstand, worum es ging. „Ich glaube, ich lasse euch mal allein,“ kam Irwings Stimme plötzlich aus dem Nirgendwo und er erhob sich. Josi nahm den Platz ihres Vaters ein und legte ihre Hand auf Maries Arm. „War es…“ Marie nickte. „Was ist passiert?“ Marie sah sich kurz um und Josi verstand sofort. Die beiden erhoben sich und ließen Marge und Joanna mit der frisch aufgebrühten, doch unangerührten Tasse Tee zurück.

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ie hörte das leise Plätscher von Wasser, als etwas unweit von ihr entfernt ausgewrungen wurde. Einen Augenblick später legte man ihr einen nassen Fetzen Stoff auf die Stirn und rieb vorsichtig damit ihr Gesicht entlang. Sie

versuchte sich wegzudrehen und vernahm ein leises Flüstern rechts von ihr. „Ich glaube, sie erwacht.“ Eine andere Stimme schaltete sich leise ein. „Ich gehe und hol sie.“ Und dann hörte sie, wie die Tür leise geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Zaghaft öffnete sie die Augen. Und schloss die gleich wieder. Weil alles im Zimmer sich drehte. Sie versuchte er erneut. Langsamer. Und es funktionierte. Mehr oder weniger. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch eine Hand legte sich auf ihre Schulter und drückte sie sachte auf die harte Matratze nieder. Sie versuchte die verschwommene Gestalt über ihr zu fokussieren. Eine Frau mittleren Alters hockte neben ihrem Bett und lächelte ihr freundlich zu. „Wie geht es dir, mein Kind?“ Sie hatte einen merkwürdigen weißen Hut auf, mit weiten Ausladungen über den Ohren. Das Mädchen versuchte sich nun noch einmal aufzusetzen und die Frau mit dem merkwürdigen Hut legte ihr etwas widerwillig, doch helfend die Hand auf den Rücken. Die Tür wurde wieder geöffnet und eine Frau, die ebenfalls diesen komischen Hut trug, trat herein. Ihr folgte eine zierliche Frau, die ein dunkles Gewand trug, das mal dunkelrot, mal schwarz schimmerte. Ein Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen, als ihr Blick auf das Mädchen, das alle Linnea nannten, fiel. Dem Mädchen schien es als würde die fragile Gestalt mehr schweben als Gehen. „Linnea.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und doch schien sie das gesamte Krankenzimmer, indem des Mädchens eigenes Zimmer ein Dutzend Mal hätte Platz finden können, auszufüllen. Sie ließ sich auf den Stuhl nieder, auf dem zuvor die Frau mit dem merkwürdigen Hut gesessen hatte und ihre Augen schienen das Mädchen geradezu zu durchleuchten. Was, zum Henker, macht die n da? Obwohl sie sich dem Blick entziehen wollte, konnte sie es nicht. „Verlasst uns,“ sagte die zierliche Frau ohne die Augen von dem Mädchen zu nehmen. „Jarlath Kielin?“ Die kleine Frau nahm endlich den Blick von dem Mädchen und nickte den anderen kurz zu, die daraufhin den Raum verließen. Die Tür war schon lange hinter der letzten Frau ins Schloss gefallen, doch noch immer herrschte Schweigen zwischen dem Mädchen und der älteren Frau. Was erwartet die denn jetz? Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe und ihre Augen fokussierten ihre Hände, die auf der leichten Decke ruhten. Schließlich räusperte die andere Frau sich endlich und das Mädchen schaute auf. „Linnea, du bist noch sehr schwach. Du solltest dich hinlegen und dich ausruhen.“ Schwach? Ts, wovon denn bitte sehr? „Aber…“ Was zum Henker is passiert?

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Ein Blick der Frau genügte und sie schluckte ihre Frage hinunter und rutschte stattdessen unter die leichte Decke. Die andere Frau hatte sich erhoben, zog die Decke bis zu des Mädchens Kinn und ließ sich dann auf der Bettkannte nieder. „Was ist passiert?“ versuchte es das Mädchen es noch einmal. „Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen solltest.“ Die ältere Frau lächelte, doch das Mädchen nahm ihr die Antwort nicht so recht ab. Wenn es gar nich so schlimm is, warum bin ich dann hier? Im Krankenflügel? Und warum will ses mir dann nich sagen? Wenn`s doch gar nich so schlimm is! Und warum, zum Henker, kann ich mich an nichts erinnern? Die Hand der älteren Frau fand ihren Weg bis zu dem Gesicht des Mädchens und sie legte sie ihr sanft auf die Schläfe. „Schließ die Augen,“ meinte sie leise. „Aber…“ „Linnea.“ Widerwillig schloss sie also ihre Augen und spürte, wie die Frau ihre andere Hand auf ihre andere Schläfe legte. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte plötzlich ihren Körper und ihr wurde kurz eiskalt. Doch dann war das Gefühl auch schon wieder verschwunden und die Frau hatte ihre Hände vom Gesicht des Mädchens genommen. „Was war das?“ Die ältere Frau lächelte nur und erhob sich. Sie strich sich ihr dunkelrotes Gewand glatt und ging dann zur Tür. „Wohin geht Ihr?“ Ah… Wie hieß die noch mal? „Jarlath Ki…“ Die Frau sah nur über ihre Schulter zurück zu dem Mädchen. „Ich werde alles Wichtige einleiten und packen lassen und Loklen zu dir schicken.“ Bevor das Mädchen noch etwas sagen konnte, war die zierliche Frau auch schon aus dem Zimmer entschwunden.

* * * Sie waren schon einige Stunden unterwegs und nach wie vor hatte er das Ganze noch nicht so recht verstanden. Ihm war durchaus bewusst gewesen, dass so etwas passieren würde. Hatte gewusst, dass so etwas völlig normal war und zwangsläufig mit Veränderungen einher ging. Er selbst hatte es am eigenen Leibe erfahren. Doch hatte es sich dabei immer um minimale Veränderungen gehandelt. Meistenteils betrafen sie die Person auch nur selbst. Oder aber das direkte Umfeld dieser Person. Aber dieses Mal war es anders gewesen und das machte ihm zu schaffen. Natürlich hatte er etwas anderes erwartet. Etwas, das größere Ausmaßen haben würde. Er hatte mit so ziemlich allem gerechnet. Nur nicht mit etwas so drastischem. Ihm fröstelte und er umfasste die Steine in seiner Manteltasche zum wiederholten Male. Die beiden Pferde, auf denen sie ritten schienen das ganze gleichgültig hinzunehmen. Jedenfalls schien es ihnen, durch die Bewegung, nicht so zu ergehen wie ihm und er zog kurz in Überlegung, ob er vielleicht absteigen und ein Stückchen laufen sollte, um wieder warm zu werden. Doch dann sagte er sich, dass sie so vermutlich nicht schnell genug vorankommen würden und ließ den Gedanken wieder fallen. Stattdessen blickte er zu dem Mädchen neben ihm, das immer noch kein Wort gesprochen hatte. Er war nicht sonderlich besorgt deswegen, man hatte ihm gesagt, sie würde sich so verhalten. Doch es gefiel ihm nicht sonderlich. Er

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hatte sie immer als ein lebenslustiges, schlagfertiges Kind gekannt. Und wie sie sich ihm jetzt präsentierte, passte nicht recht zu ihrem eigentlichen Wesen. Doch Kielin hatte mit ihm geredet und ihm alles erklärt. Er hatte es vermutet. Hatte diesen Augenblick gefürchtet. Nichtsdestotrotz würde er irgendwann kommen, das war ihm klar. Und dennoch fragte er sich, warum es so früh hatte sein müssen. Warum man ihr nicht noch etwas mehr Zeit gelassen hatte. Er war auch mit der Entscheidung Kielins nicht einverstanden gewesen. Das Mädchen war krank und zu schwach, um eine so lange Reise auf sich zu nehmen. Doch sie hatte ihn dazu gedrängt. Hatte gesagt, dass es zügig gehen musste. Dass man sie nicht dort behalten könne. Das sei zu gefährlich. Und trotzdem fand er es unverantwortlich. Zum widerholten Male ertappte er sich dabei, wie er sein Pferd näher zu dem ihren lenkte, um zur Stelle zu sein, falls sie fallen sollte. Er sah ihr ihre Müdigkeit und Erschöpftheit an und warf sich erneut vor, dass er eine zweite Pause hätte einlegen sollen. Doch sie hatten noch eine weite Strecke vor sich und nachdem, was bei der ersten Rast geschehen war, sah er davon ab, eine zweite zu machen. Das Mädchen schreckte auf, als es seinen Fuß an seinem Unterschenkel spürte und trieb ihr Pferd von seinem fort. Was soll das? Warum macht er das immer wieder? Sie warf ihm einen genervten Blick zu und anders als die Male zuvor, setzte er kein Lächeln auf, sondern starrte sie nur mit seinen forschen blauen Augen unentwegt an. Seine schulterlangen, lockigen, roten Haare, die anfangs noch mit einem Lederband im Nacken zusammengehalten worden waren, hatten sich mittlerweile aus dem Band befreit und flatterten nun im kalten Gegenwind. Wohin bringt er mich? Wer is der Kerl überhaupt? So viele Fragen, die sich ihr stellten. Die sie ihn einerseits gern gefragt hätte. Doch andererseits sich nicht wagte zu stellen. Weshalb, wusste sie auch nicht so genau. Ihr Körper tat vom Reiten weh und sie sehnte sich nach einer Pause. Anfangs hatte sie noch versucht das ganze vor ihm zu verbergen, doch das hatte sie nicht lange aufrecht halten können und sie war sich sicher, dass mittlerweile ein einfacher Blick aus dem Augenwinkel genügte, um dem Betrachter klar zu machen, dass es ihr nicht gut ging und die Strapazen der Reise nicht gerade zu ihrer Genesung beitrugen. Was auch immer es is, an dem ich erkrankt bin… Endlich nahm er den Blick von ihr und sah sich kurz suchend um, dann lenkte er sein Pferd vom beschneiten Weg ab und deutete ihr an, es ihm gleich zu tun. Er führte sie durch einen kleinen Wald bis hin zu einer kleinen Lichtung. Dort stieg er ab und sie war froh ebenfalls wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. „Wir übernachten hier,“ hörte sie ihn sagen. Kein Mann von großn Wortn, schwirrte ihr zum widerholten Male durch den Kopf und ein Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. Naja, mit wem soll er sich auch schon groß unterhaln, wenn ich nichts sage? Er war zu ihr und ihrem Pferd herangetreten und nahm ihr die Zügel ab. Fast widerwillig ließ sie es geschehen und er ermahnte sie nur mit einem einzigen Blick. „Denk noch nicht mal darüber nach.“

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Also trat sie zurück und ließ ihn gewähren. Er band die beiden Reittiere an einen der umstehenden Bäume, sammelte ein paar Äste vom Boden und kam zu ihr zurück. Die Hölzer schichtete er auf dem Boden auf, machte eine dezente, unauffällige Handbewegung und sofort loderte ein kleines Feuer auf. Wie zum Henker macht er das? Es war nicht das erste Mal, dass sie sich das fragte. „Setz dich,“ kam es von ihm, während er zurück zu den Pferden ging, um etwas aus den Satteltaschen zu holen, „ruh dich aus.“ Doch sie machte keine Anstalten, sich niederzulassen. Stattdessen wartete sie, bis er ihr den Rücken zugewandt hatte und rannte los. Zurück in die Richtung aus der sie gekommen waren. „LINNEA!“ Dieses Mal merkte er es schneller. Sie war noch keine zehn Schritte weit gekommen, als sie ihn hinter sich rufen hörte. „LINNEA! VERDAMMT!“ Sie hatte den Waldrand fast erreicht, als plötzlich vor ihr eine Wand aus Feuer entstand und sie abrupt zum Stehen brachte. Er und sein verdammtes Feuer! Keinen Augenblick später hatte er sie erreicht. Hatte sie am Arm gepackt. Sie zu sich umgedreht. Und ihr ins Gesicht geschlagen. Die Feuerwand war erloschen, sobald er sie erreicht hatte und ohne ein weiteres Wort führte er sie in die Mitte der Lichtung zurück, wo er sie neben dem kleinen Feuer niederdrückte. Sie ließ es geschehen, starrte ihn aber finster durch die Flammen hindurch an. Doch er fixierte sie nicht minder feindselig. Sie konnte seinem Blick nicht länger standhalten und blickte in eine andere Richtung. So saßen die beiden da. Und schwiegen sich an. Beide den jeweils anderen verfluchend. Und während sie so da saßen, wurde dem Mädchen zum wiederholten Male bewusst, dass etwas anders war, als sonst. Sie hatte zwar keinen Anhaltspunkt, an dem sie dieses sonst und dieses anders hätte abwiegen können, doch war sie sicher, dass etwas nicht so war, wie es hätte sein sollen. Sie starrte auf die Bäume in der näheren Umgebung, nur um ihm nicht ins Gesicht zu blicken. Sie legte den Kopf schief, als sie auf den beschneiten Ästen einen kleinen Vogel sitzen sah, der abwechselnd erst auf das eine, dann auf das andere Bein sprang. Durch seine Bewegungen rieselte Schnee von dem dünnen Ast und legte Blätter frei, die… Blätter? Wieso sind da Blätter dran? Mittn im Winter? Das Räuspern des Mannes riss sie aus ihren Gedanken. „Es tut mir leid,“ meinte er leise, „aber du hättest nicht einfach so davon laufen sollen.“ Sie sah ihn durch die Flammen an. Was erwartet er n jetz von mir? Sein Blick war sanfter geworden. Er schien wirklich hinter seinen Worten zu stehen. Ne Entschuldigung, oder was? Ts, da kann er lange wartn. Doch als er merkte, dass das, worauf er wartete nicht kam, nahm sein Gesichtsausdruck langsam wieder den Zorn an, den er versucht hatte zu unterdrücken. Oh, wie ich mir wünschte, er würde aufhörn mich so anzuglotzn!

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Die Flammen stoben plötzlich auf den Mann ihr gegenüber zu und er konnte nur noch schnell nach hinten springen, um nicht verbrannt zu werden. Das Mädchen zuckte zusammen… Er lachte… …und konnte nicht so recht nachvollziehen, was da gerade vor sich gegangen war. … und dämmte die Flammen mit einer kleinen Handbewegung auf ihre normale Größe zurück. War ich das? Ihr Herz raste. Ihr Atem ging in Schüben. Und trotz der Nähe des Feuers, wurde ihr schlagartig eiskalt. Hab… hab ich das grad gemacht? Er ließ sich wieder auf die Decke nieder, die er auf dem Boden ausgebreitet hatte und beobachtete das zitternde Mädchen. „Das war dein erstes Mal, hm?“ Sie sah ihn durch die Flammen hinweg an. Sein Kopf ruhte auf seinem angewinkelten Knie, während er sie eingehend musterte. „Kielin sagte mir, ich solle vorsichtig sein,“ murmelte er und sie wusste nicht, ob er das zu ihr oder zu sich selbst sagte. „Mit was sollt Ihr vorsichtig sein?“ Er musterte sie weiterhin, ging aber nicht auf ihre Frage ein. Und plötzlich fiel es ihr auf: Er weiß etwas. Irgendetwas. Er weiß, warum das hier alles passiert! „Was wisst Ihr?“ Sie hatte sich aufgesetzt. Sah ihn durch die Flammen hinweg forschend und fragend an. Doch er antwortete nicht. „Sagt schon, bitte. Was wisst Ihr von all dem?“ Er schaute weg und erhob sich langsam. „Nein,“ auch sie stand auf und ging zu ihm, „nein, bitte, sagt mir, was Ihr wisst.“ „Linnea,“ meinte er entschuldigend, „ich kann nicht.“ „Aber Ihr wisst doch was! Sagt es mir! Sagt mir, wohin wir reiten. Was hier passiert. Was mit mir passiert.“ Er hatte sie sachte an den Schultern genommen und sein Blick war fast bedauernd. „Es tut mir leid, aber ich bin nicht in der Position dir das zu sagen.“ „Aber Ihr…“ Sein Griff wurde fester und der Zorn kehrte augenblicklich in sein Gesicht und seine Stimme zurück. „Ich darf es nicht! Verstehst du das denn nicht!“ Aber du weißt es! Verdammt! Du weißt es und willst es mir nicht sagen! Tränen der Aggression stiegen ihr in die Augen. „Aber Ihr wisst doch was!“ „Leg dich hin und schlaf.“ „Sagt mir, wohin Ihr mich bringt.“ „Ich sagte…“ Sie konnte und wollte nicht verstehen, weshalb man ihr nicht sagen wollte, was mit ihr geschah. Obwohl er doch ganz offensichtlich dazu in der Lage wäre.

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„Was ist mit mir? Wer bin ich?“ Er war still geworden und sie hatte für einen winzigen Augenblick die Hoffnung, er würde es ihr erklären. „Meine Aufgabe besteht darin, dich sicher dort abzuliefern.“ Seine Stimme hatte etwas kaltes, das sie so zuvor noch nicht bei ihm gehört hatte. „Und genau das werde ich tun. Nicht mehr und nicht weniger.“ Er wandte sich von ihr ab und sie setzte ihm nach. „Ich habe gesagt, du sollst dich hinlegen,“ meinte er barsch, ohne sich zu ihr umzudrehen. Die Tränen rannen ihr die Wangen entlang, doch so schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben. „Ich bin kein kleines Kind mehr,“ sagte sie, „das man herum kommandieren kann.“ Er drehte sich wieder zu ihr um und seine ganze Körperhaltung hatte etwas außerordentlich genervtes an sich. „Schön. Dann bleib eben wach. Hab ein Auge auf das Feuer. Ich bin gleich zurück.“ Und noch ehe sie etwas von sich geben konnte, war er in dem kleinen Waldstück verschwunden. Na toll. So hatte ich mir das nich vorgestellt! Warum sagt er mir denn nichts? Ich bin mir sicher, dass er was weiß. Sie überlegte, was sie tun könnte. Er schien der einzige zu sein, der wusste, was mit ihr geschehen war und sie musste es aus ihm heraus bekommen. Irgendwie.

* * * Es dauerte nicht lange, bis er zurück kam. Seine Laune schien sich gebessert zu haben, auf jeden Fall wirkte er nicht mehr so angespannt und gereizt. Mit einem lauten Seufzer ließ er sich wieder auf den Boden nieder. Sie wagte es nicht ihn anzuschauen und stocherte stattdessen mit einem angekokelten Stöckchen in der Glut des Feuers. Es verstrich eine halbe Ewigkeit, in der beide nur vor sich hin schwiegen. Schließlich räusperte er sich kaum hörbar. „Weißt du, wer die Keylan sind?“ Sie schaute zu ihm auf und blickte ihn fragend an. Er presste die Lippen aufeinander und nickte kaum merklich mit dem Kopf. „Das ist die bedeutendste und mächtigste Familie des Landes… In allerlei Hinsichten.“ Sie versuchte auf seinem Gesicht zu lesen, verstand aber nicht, was er ihr sagen wollte. „Entschuldigt, was…“ Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. „Hab Geduld. Lass mich das erklären.“ Er wartete kurz, um sicherzustellen, dass sie ihn nicht wieder unterbrechen würde. „Ich glaube, mittlerweile hast du herausgefunden, dass du anders bist… dass du Dinge kannst, die nicht sehr viele andere zustande bringen…“ Das mit dem Feuer? Das war doch nur eine einzige Sache… „Die Angehörigen der Keylan Familie weisen die stärksten Talente auf. Bei ihnen sind sie am meisten ausgebildet.“ Er sah, dass sie ihm nicht folgen konnte. „Stell dir vor, ein normal Sterblicher hätte die Gabe einen Baum wachsen zu lassen. Das aber nur einmal in seinem gesamten Leben. Ein Keylan allerdings könnte einen ganzen Wald wachsen lassen. Wo auch immer. Mitten in der Wüste, wenn es ihm beliebt. Und das nicht nur einmal, sondern so oft er möchte.“

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„Ja, aber was hat das…“ Er hob kurz die Hand und sie verkniff sich den Rest ihrer Frage. … mit mir zu tun? „Die Keylans gehen nur Bündnisse mit minimal Schwächeren ein, da sie den hohen Standard nicht verringern wollen.“ Sie setzte an etwas zu sagen, doch er kam ihr zuvor. „Du, Linnea, bist eine Keylan.“ Ja? Und? „Nicht irgendeine, um genau zu sein. Sondern die Keylan.“ Was zum Henker versucht er mir damit zu sagen? „Du solltest umgebracht werden, weil du zu sehr Keylan bist.“ Umgebracht? Er atmete tief durch, als er merkte, dass sie nicht verstand, was er ihr klarzumachen versuchte. „Deine Eltern, dein Vater und deine Mutter, taten etwas, was sie eigentlich nicht hätten tun dürfen. Sie zeugten dich.“ „Ja, aber was ist denn bitte sehr so falsch daran?“ Ihre Stimme hatte mittlerweile einen hitzigen Unterton, da sie nicht verstand, worauf er hinaus wollte. „Sie waren Geschwister.“ Sie starrte ihn nur an. „Keylan Geschwister.“ Er ließ seine Worte auf sie wirken. Erleichtert, dass sie nun endlich verstanden hatte, was er ihr sagen wollte. Weshalb er sich so schwer tat, es ihr zu vermitteln. „In dir, Linnea,“ seine ausgestreckte Hand deutete auf das Mädchen, „liegt die mächtigste Ednessiv verborgen, die unsere Welt jemals gesehen hat.“ Sie starrte ihn nur an. Edne… was? Legte die Stirn in Falten. Hallo? Zog die Augenbrauen hoch. Bitte, was zum Henker soll ich sein? Schob den Kopf vor. Ich hab keinn Plan, wasde meinst, man!

* * * Er fuhr sich durch die Haare und schüttelte leicht den Kopf. So hatte er sich das alles nicht vorgestellt. Es war ihm im Traum nicht eingefallen, ihr irgendwann einmal erklären zu müssen, was genau sie war. Immerhin waren die im ganzen Land bekannt. Jedes Kind konnte mit dem Begriff etwas anfangen. Erst kamen Mama und Papa und das dritte Wort, das man lernte, war Ednessiv. So war er es gewohnt. Dass nun ausgerechnet die wahrscheinlich mächtigste unter ihnen sich nicht einmal an das Wort erinnern konnte, zog ihm fast den Boden unter den Füßen weg. Er sah wieder zu ihr hinüber. Sie schaute ihn immer noch fast anklagend an. Sie hob die Hände, als ob sie ihn dadurch zum Sprechen bringen könnte. „Schau mich nicht so an,“ bat er sie und sie nahm zwar die Hände herunter, ihre Mine änderte sich aber kaum. „Ein Ednessiv,“ fing er langsam an zu erklären, „ist eine Person, die überirdische Kräfte besitzt. Sie kann gut mit den Elementen umgehen. Je nachdem, mit welchem sie am besten zu recht kommt, kann sie das Wetter entsprechend beeinflussen.

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Regen, Sturm, Wärme… Sie kann Gegenstände bewegen, die aus ihrem Element bestehen. Manche können darüber hinaus auch noch Krankheiten heilen. Oder mit Tieren und Pflanzen kommunizieren.“ „So eine Art Magier?“ Er nickte nur. „Und… Und jede von diesen Edna.. nes…“ „Ednessiv.“ „Ednessiv, die kann mit nur…“ „Es gibt auch männliche Ednessiv,“ unterbrach er sie. „Mhm,“ machte sie und fuhr dann fort. „Also… diese Ednessiv, die arbeiten mit je nur einem Element?“ „Ja,“ meinte er und rieb sich über das Gesicht, „so war es bis jetzt jedenfalls. Manche können auch ein wenig mit anderen Elementen umgehen, aber eigentlich hat jeder ein Hauptelement. Bei den meisten ist das jedenfalls so,“ setzte er murmelnd hinzu. „Aber?“ hakte sie nach. Er schaute sie an, als wäre sie schwer von Begriff. Doch als ihm klar wurde, dass sie wirklich nicht zu verstehen schien, seufzte er laut und wandte sich wieder an sie. „Linnea, du bist anders als alle Ednessiv, die es jemals gegeben hat.“ Ja? Und? Man, spucks aus und spann mich hier nich so aufe Folter! „Die Keylans können seit jeher mit zwei Elementen umgehen. Wer das bei denen nicht auf die Reihe kriegt, wird verstoßen. Du aber wirst…“ „…alle Elemente beherrschen,“ vollendete sie seinen Satz plötzlich und war selbst erschüttert, als sie endlich verstand, was er die ganze Zeit versucht hatte ihr klarzumachen. Er nickte und zuckte gleich darauf mit den Schultern. „Also, je nachdem, ob deine Eltern je zwei verschiedene Elemente beherrschten.“ „Taten sie das?“ „Ich weiß es nicht.“ Er schluckte. „Aber Kielin nimmt es an… und… Kielin hat selten Unrecht.“ Oh verdammt, war alles, was ihr in den Kopf kam. „Äußert sich das immer so? Dass man sein komplettes Gedächtnis verliert?“ wollte sie schließlich wissen. „Naja, wenn der Ednessiv-Teil in einem aktiviert wird, dann passiert immer irgendwas. Die meisten werden schwer krank und wenn sie genesen sind, haben sie diese… Gaben. Aber ich habe von keinem gehört, der sein Gedächtnis verloren hat.“ „Mhm,“ machte sie und schwieg kurz wieder. „Ihr seid auch einer, oder?“ „Einer der Feuer-Eds,“ nickt er. „Das sind die meisten.“ „Wie war das bei Euch?“ „Ich bin vom Blitz getroffen worden.“ Vom Blitz? Man, da bin ich froh, dass ich nur mein verdammtes Gedächtnis verlorn hab! „Tat es weh?“ „Mhm,“ machte er und wiegte den Kopf, „genau genommen war es ganz angenehm diese Naturmacht in sich zu spüren. Auch wenn es meinen Körper fast zerrissen hätte,“ setzte er gleich darauf hinzu. Ha… Angenehm, trotz fast zerrissnem Körper. Der hat echt Probleme, man…

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ie Beiden waren mit den ersten Sonnenstrahlen wieder aufgebrochen. Loklen hatte die Pferde gesattelt, während er Linnea damit beauftragte, die Spuren des Feuers zu beseitigen. Zögernd war sie an die bereits erkaltete Asche

herangetreten. Sie wusste nicht, was das am vorherigen Tag gewesen war. Wie sie die Flammen dazu gebracht hatte auf ihren Begleiter loszugehen. Sie hatte Angst, sie würde sie irgendwie wieder zum Leben erwecken, während sie mit den Füßen direkt auf der Brandstelle stand. Vorsichtig tippte sie mit der ledernden Schuhspitze auf die Asche, doch wider Erwarten geschah nichts. Dann strich sie sie behutsam auseinander, immer darauf bedacht, im nächsten Moment zur Seite zu springen, falls sich die kalte Asche entzünden sollte. „Linnea!“ hatte Loklen gerufen und sie hatte sich zu ihm umgedreht. „Was machst du denn da?“ Er hatte den Kopf geschüttelt, als er zu ihr herangetreten war. „So wird das nie was.“ Er hatte den Wasserschlauch ergriffen, der unweit der Brandstelle auf dem Boden lag. „Hier,“ meinte er und lehrte das Wasser über der Asche aus, „so macht man das.“ Ach? Und das sieht man jetz nich mehr, oder was? hatte sie genervt gedacht. „Hier, halt das.“ Er hatte ihr den Wasserschlauch in die Hand gedrückt und dann eine ausladende Geste über den befeuchteten Boden gemacht. Innerhalb weniger Augenblicke war wieder Gras an der Stelle gewachsen und vom verbrannten Boden war nichts mehr zu sehen gewesen. Und wie bitte schön sollte ich das wissen? Dass man da einfach so mit ner lockren Handbewegung rüber gehn muss und dann wächst da so mir nichts dir nichts das Gras einfach wieder nach. Er hatte einen Narren aus ihr gemacht, was sie zornig werden ließ. Doch hatte sie ihren Kommentar zurückgehalten und stattdessen geschwiegen. Sie wollte es sich mit ihm nicht verscherzen, immer hin hatte er ihr einen kleinen Lichtschein in dem Dunkel gegeben. Und der weiß garantiert noch mehr! Sie erhoffte sich noch mehr Informationen von ihm. Vielleicht kann er mir ja sogar was beibringen. So waren sie also losgeritten. Das kleine Wäldchen hatten sie mittlerweile hinter sich gelassen. Doch war es noch so früh am Morgen, dass die Wärme der Sonne die auf dem Fußboden entlang wabernden Nebelbänke noch nicht aufzulösen vermochte. Obwohl fast nur blassblauer Himmel zu sehen war, roch es nach Schnee und Linnea fror. Sie knotete die Zügel um den Sattelknauf und machte sich daran ihren dicken Mantel bis unter das Kinn zuzuknöpfen. „Is dir kalt?“ „Mhm,“ machte sie, „ein bisschen.“ Loklen nahm die Zügel in die linke Hand und griff mit der rechten in seine Manteltasche. „Hier,“ sagte er und hielt ihr einen handtellergroßen Stein hin. Irritiert griff sie danach und war noch irritierter, als die merkte, dass von dem Stein eine angenehme Wärme ausging. „Habt Dank,“ murmelte sie und ließ den Stein, zusammen mit ihrer Hand, in ihrer Manteltasche verschwinden. Nach nur wenigen Augenblicken verteilte sich die Wärme des Steines in der Manteltasche, wurde vom Stoff aufgesogen und verteilte sich im gesamten Mantel. „Wie… Wie habt Ihr das gemacht?“ „Oh, ich hab gar nichts gemacht,“ meinte er und seine blauen Augen grinsten förmlich. „Das ist ein Kommodus,“ erklärte er ihr dann. „Ein Stein, der die Wärme der Sonne speichert und an Stoffe weitergeben kann.“ Linnea zog den Stein wieder aus der Tasche und wollte ihn Loklen überreichen, doch der schüttelte lächelnd den Kopf. „Du kannst ihn behalten. Ich schenke ihn dir.“

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„Aber dann…“ Er griff in seine linke Manteltasche und brachte grinsend einen weiteren Stein zum Vorschein. „Danke,“ meinte Linnea und steckte den Stein in ihre eigene Tasche zurück. Einen Moment lang ritten sie wieder schweigend nebeneinander her. Doch dann wandte Linnea sich wieder an ihren Begleiter. „Jarlath Lokle…“ „Jarlath?“ fragte er lachend. „Ich bin kein Jarlath.“ „Nicht?“ hakte Linnea irritiert nach, „aber ich dachte…“ „Kielin ist meine Schwester.“ Kielin… Es ratterte in ihrem Kopf. Kielin, Kielin. Wer zum Henker war noch mal Kielin? „Die, die die Schule leitet,“ half er ihr auf die Sprünge. Verdammt, kann er etwa Gedankn lesn? „Manchmal, nicht immer.“ Es war ihr unangenehm. Er schien sowieso schon mehr über sie zu wissen als sie selbst. Dann auch noch die wenigen Gedanken teilen zu müssen, gefiel ihr ganz und gar nicht. „Tut mir leid,“ kam es von ihm, „früher fandst du das immer lustig.“ „Früher?“ Sie hatte sich abrupt aufgesetzt und blickte ihn forschend an. Er ließ den Kopf hängen und fuhr sich seufzend durchs Haar. Laut einatmend richtete er sich wieder auf und wandte sich langsam zu ihr. „Ich,“ fing er stockend an zu erzählen, „habe dich kennengelernt, da gingst du mir nicht ganz bis zur Hüfte. Du hast mir meinen Namen gegeben,“ fügte er lächelnd hinzu. Ich hab… was? Wie solln das gehen? Er is mindestns doppelt so alt wie ich! Er merkte, dass sie ihm nicht folgen konnte. „Vor ungefähr zehn Jahren schaute ich seit längerem wieder mal bei meiner Schwester vorbei. Sie war gerade Leiterin geworden und sie hatte mich eingeladen, um das ein bisschen zu feiern. Bei einer Tasse Tee erzählte sie mir von dir. Von deinem Schicksal. Sie hatte dich und deinen Onkel in der…“ „Mei… Meinen Onkel?“ „Den Tanzbären,“ meinte er und zog seine Augenbrauen hoch. Der Tanz-Jarlath is mein… Sie hörte, wie die Luft aus ihren Lungen wich. „Die Keylans hatten Angst vor dir. Vor dem, was du werden wirst.“ Linnea versuchte das ganze nachzuvollziehen und in ihrem Kopf zu ordnen. Es wollte ihr nicht recht gelingen. „Dein Onkel hatte den Auftrag, dich in die Fintan Schlucht zu werfen, aber er brachte es nicht übers Herz. Seitdem lebt er versteckt. Unter dem Namen Flanagan.“ Mein Onkel hat… …Keylan… Aber ich bin doch… Sie wolltn mich umbringn! …Tanzbär… Es kam ihr so vor, als versuche eine riesige Flutwelle sie von den Füßen zu reißen. Keylan… Nein, das kann nich… …Keylan… Umbringn… Fintan Schlucht… Hinunterwerfn… Verzweifelt versuchte sie sich an irgendetwas festzuklammern. Doch immer wieder brachen die Wassermassen über ihr zusammen.

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Onkel… Flanagan… Umbringen in der Fintan Schlucht… Fintan Schlucht? Wo zum Henker is die überhaupt? Ts, du machst dir Gedanken, wo diese verdammte Schlucht is, während man dir nach deinem Lebn trachtet! „Sollen wir eine Pause machen?“ Nein, nich mehr! Die wissen ja gar nich, dass ich noch am Leben bin! Die… „Linnea?“ Sie spürte seine Hand auf ihrem Arm und brachte nicht mehr als ein Nicken zustande. Er griff nach ihren Zügeln und brachte die beiden Pferde abseits des Weges zum Stehen. Er war abgestiegen, um seinen Braunen herumgekommen und half ihr von ihrem Pferd hinunter. Ihre Knie zitterten, doch sie merkte es kaum. Aber wenn die davon Wind bekomm? Wenn die… Aber wie solln ses denn? Wer solltes ihnen denn erzähln? Aber… „Linnea!“ Loklen hielt sie an den Schultern und schüttelte sie leicht, bis sie ihn fokussierte. Er ließ ihre linke Schulter los und strich sich erleichtert über die Stirn. „Hier,“ meinte er, zog seinen Mantel aus und legte ihn auf die Erde, „setz dich da drauf.“ Er drückte sie sachte nieder, als sie sich nicht rührte. Dann ging er zurück zu seinem Braunen und holte einen der Wasserschläuche aus den Satteltaschen. Er ging zu dem jungen Mädchen zurück und hielt ihr das lederne Ding vor das Gesicht. Da sie keine Anstalten machte, es entgegen zu nehmen, flößte er ihr das Wasser eigenhändig ein. Sie verschluckte sich und musste husten. „Loklen,“ fragte sie schließlich, während sie sich das Wasser vom Kinn strich. „Mhm?“ „Die… die wissen doch nicht, dass…“ „Dass was?“ „Dass ich…“ Er strich sich durchs Haar und ließ sich dann neben ihr auf seinem Mantel nieder. „Ich,“ fing er langsam an, „befürchte doch.“ „Aber…“ fing sie an und sprang auf. Wir müssn weg von hier! Denn wissen se, dass ich… Loklen hatte sich ebenfalls erhoben und hielt Linnea am Arm fest. „Linnea,“ versuchte er sie zu beruhigen, „Linnea!“ und musste sie festhalten und zu sich umdrehen. „Ich glaube nicht, dass sie bis jetzt rausgefunden haben, was genau passiert ist. Aber deine Ohnmacht hat was in…“ „Ohnmacht?“ Er nickte nur schnell. „… die hat irgendwas in Gang gesetzt. Ich weiß nicht genau was. Aber selbst deinen Körper hat sie in Mitleidenschaft gezogen. Ich meine, du hast dein gesamtes Gedächtnis verloren und… Keiner wusste, wie sich das genau äußern würde. Wann es soweit sein würde.“ Verdammt, das is zu viel. Ich will das doch alles gar nich! Warum ich? Loklen merkte, wie ihr die Beine versagten und setzte sie wieder auf die Decke. Sie hatte angefangen zu weinen. „Loklen, warum? Ich will…“ Er verstand die Worte kaum, so sehr weinte sie, und drückte sie nur an sich, um sie zu trösten.

* * *

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Nachdem sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte, waren sie wieder aufgebrochen. Der Himmel hatte sich zugezogen und die Wolken kündeten den bereits erwarteten Schnee an, doch bis jetzt war noch keiner gefallen. Es war windig geworden und Linnea war froh den Stein – Kommudus – in ihrer Manteltasche zu haben, so dass ihr der kalte Wind nicht all zu viel anhaben konnte. „Loklen,“ wandte sie sich nach einiger Zeit an ihren Gefährten. „Ihr meintet… Also vorhin, da…“ Sie wusste nicht recht, wie sie fragen sollte. Es kam ihr immer noch reichlich bizarre vor, dass er seinen Namen von ihr haben sollte. Doch er verstand augenblicklich. „Mein Name?“ Sie nickte und schob sich die Kapuze ihres Mantels wieder zu recht. „Also, als wir uns damals kennengelernt haben… das war, wie gesagt, bei deinem Onkel im Unterrichtsraum…“ Er konnte sich noch genau an die Begegnung erinnern. Er hatte eine Zeit lang vor der Tür, wenn man sie denn so nennen konnte, gewartet. Flanagan hatte damals noch in dem kleinen Saal unterrichtet, der nur durch Torbogen von den umliegenden Fluren abgegrenzt war. Loklen hatte sich an die kahle Steinwand gelehnt und den Tanzlehrer und das kleine Mädchen beobachtet. Sie hatte ihm kaum bis zur Hüfte gereicht und doch wusste sie in ihrem zarten Alter ihren jungen Körper wie jemand von dreifachem Alter zu bewegen. Ihre Bewegungen waren perfekt und harmonierten mit denen ihres Onkels. Ihr haselnussbraunes Haar flog hinter ihr her, als er sie drehte und ihre grünen Augen strahlten förmlich. Beide hatten einen zufriedenen Gesichtsausdruck und immer wieder erklang das glockenhelle Lachen des kleinen Mädchens, wenn er es herumwirbelte. Das ganze wollte nicht recht mit der Auffassung von Tanz übereinstimmen, die Loklen bis zu dem Zeitpunkt gehabt hatte. Er hatte es immer als etwas Kompliziertes angesehen. Etwas, bei dem die Füße nicht so wollten wie man selbst. Etwas, das nicht sonderlich viel Spaß machte. Etwas, bei dem man seinem Partner zu nahe kam. Er mochte menschliche Nähe nicht unbedingt. Folglich war es ihm annähernd unbegreiflich, wie dieses kleine Geschöpf mit einer derartigen Eleganz, Grazie, Geschicklichkeit und Freude zugleich tanzen konnte. Der tanzende Mann war bald auf ihn aufmerksam geworden und der harmonische Tanz hatte ein abruptes Ende gefunden. „Ich grüße Euch,“ hatte er Loklen zugerufen und das kleine Mädchen mit den strahlenden Augen auf den Arm genommen. Loklen war also hinter dem Torbogen, hinter dem er gestanden hatte, hervorgekommen und auf die beiden zugegangen. „Meine Schwester sagte, ich könnte Euch hier treffen. Mein Name ist…“ „Loklen!“ hatte das kleine Mädchen freudig gerufen und die beiden Männer hatten es nur irritiert angeschaut. „Loklen?“ hatte ihr Onkel sie gefragt. „Ja,“ hatte sie ihm mit einem Gesichtsausdruck erklärt, der besagte, dass das doch alles ziemlich offensichtlich sei, „Loklen. Rote Haare. Ich habe noch nie jemanden mit roten Haaren gesehen.“ Sie hatte sich aus den Armen ihres Onkels befreit und war auf den anderen Mann zugelaufen, der sich hingehockt hatte. „Du bist der erste. Ich habe gehört, dass es sowas gibt. Also solche Leute. Mit roten Haaren. Die Wikinger sollen so ausgesehen haben.“ Sie hatte kurz hinter sich gedeutet ohne ihre grünen Augen von dem Mann zu nehmen. „Mein Onkel hat mir das erzählt. Und die mit roten Haaren hießen Loklen. Also musst du auch so heißen. Loklen.“

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Sie hatte nach den roten langen Locken gegriffen und ließ sie behutsam durch ihre winzigen Finger gleiten. Es hatte lächeln müssen und konnte sich nicht vorstellen, dass man solch ein lebensfrohes, heiteres Kind nach dem Leben getrachtet hatte. Es war ihm unverständlich, wie man vor solch einem kleinen, süßen Geschöpf Angst haben könnte. „Gut, wenn du das meinst,“ hatte er gesagt und sie auf den Arm genommen, „dann heiße ich ab jetzt nur noch so. Loklen.“ Sie hatte wieder ihr glockenhelles Lachen von sich gegeben und weiterhin mit seinen Haaren gespielt. „Aber wie heißt Ihr wirklich?“ wollte Linnea wissen. „Loklen.“ „Nein,“ meinte sie und strich sich die ersten Schneeflocken von der Kleidung. „Nein, ich meine wirklich.“ „Das solltest du besser sein lassen.“ „Was?“ Er deutete auf ihre Hand, mit der sie sich immer noch über den Mantel strich. „Verdammt, die weiß echt gar nichts mehr,“ hörte sie ihn murmeln, bevor er ihr erklärte, „sie haben es nicht so gern, wenn man sie zerquetscht. Dann beißen sie.“ Sie musterte ihn kurz, doch er schien wirklich keinen Scherz zu machen und so nahm sie langsam die Hand von ihrem Mantel. „Gut,“ meinte sie immer noch reichlich irritiert, „aber wie ist denn nun Euer Geburtsname?“ „Ich weiß ihn nicht mehr,“ meinte er, zog die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den Schultern. „Wie? Ihr wisst ihn nicht mehr?“ Man kann doch nich so einfach vergessn, wie man heißt! „Das sagt die richtige,“ lächelte er. „Ja, aber das… das ist was ganz andres!“ Er wurde ernst, sobald er merkte, dass sie zornig wurde. „Nein, ehrlich, Linnea. Ich hab zehn Jahre lang mit dem Namen, den du mir geben hast gelebt. Er gefällt mir…“ Als er sah, dass sie das nicht minder stimmte, setzte er hinzu, „es gibt dieses alte Sprichwort: Dein richtiger Name wird dir nicht von deiner Familie gegeben, sondern von Außenstehenden zu einem Zeitpunkt, an dem du es am wenigsten erwartest.“ Er ließ das kurz auf sie wirken. „Ich mochte meinen eigentlichen Namen sowieso nie so wirklich. Ehrlich gesagt war ich ganz froh, dass du mich… wie soll ich sagen… umbenannt hast.“ „Mhm,“ machte sie nur. „Und… Und deine… Eure Familie? Wie nennt die Euch?“ „Ist schon in Ordnung,“ meinte er grinsend. „Ich fand es sowieso merkwürdig von dir so angesprochen zu werden. Ich meine, wir kennen uns jetzt seit einer halben Ewigkeit.“ Zehn Jahre… Naja, vermutlich hat er Recht. Ich hab ihm immerhin seinn Namen gegebn… „Danke,“ murmelte sie. „Loklen,“ gab er von sich und sie konnte ihm nicht folgen. „Was?“ „Loklen. Sie nennen mich Loklen.“ „Echt? Obwohl das doch eigentlich gar nicht dein richtiger Name ist?“ Er zog kurz die Mundwinkel nach unten. „Kielin, hat es gleich aufgeschnappt und alle haben es irgendwie mitgemacht.“ „Ach, sag mal. Kielins Schule. Ist das so eine Schule für Ednessiv?“ Er lachte und sie fand das recht unhöflich. Immerhin war die Frage in ihren Augen berechtigt. „Nein,“ gab er schließlich von sich. „Nein, bloß nicht. Wenn Kielin das gehört hätte.“

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„Ist sie auch…?“ „Was? Oh ja. Sie ist eine der Wasser-Eds.“ Und was, bitte schön, soll dann so komisch daran sein? Hä? „Entschuldigung, Linnea,“ meinte Loklen und versuchte wieder ernst zu werden, was ihm nicht sonderlich gelang. „Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie Kielin, die immer alles nach Vorschrift macht und bloß kein Risiko eingehen will, sich gegen das Konleok stellt und eine Ednessiv-Schule aufmacht.“ Kein Risiko… haha… Dann hätte sie mich ja gar nich aufnehm dürfn! „Mhm, stimmt, so habe ich das noch gar nicht gesehen,“ murmelte er und abrupt endete sein Gelächter. „Gut, aber wieso ist eine Ednessiv-Schule gegen dieses… dieses Konli…?“ „Konleok. Da kommen die mächtigsten Leute dieses Landes zusammen.“ „Schön,“ drängte sie, „und wieso sollten die dagegen sein?“ „Ednessiv sind nicht mehr so gut angesehen, wie sie es einst waren,“ begann er langsam zu erklären. „Die Menschen haben Angst vor uns.“ „Wieso sollten sie Angst vor uns haben? Wir können ihnen doch helfen.“ „Naja… seit dem…“ er suchte nach einem anderen Wort, fand aber keines, „Keylan-Vorfall befürchten sie die Weltübernahme.“ Keylan-Vorfall? „Linnea, denk doch mal nach.“ Was zum Henker soll der Keylan-Vorfa… „Mich? Die meinen… Ich bin der Keylan-Vorfall?“ Er presste nur die Lippen aufeinander und deutete ein Nicken an. „Anderen Angst einzujagen, liegt nicht im Sinne der Ednessiv, geschweige denn eine Weltübernahme. Doch genau das wurde damals gemunkelt. Die Daloki verlangten deinen Tod, damit die Welt in Frieden und ohne Angst leben könnte. Doch das hat dein…“ „Das ist doch Blödsinn! Wieso sollte ich die Weltherrschaft an mich reißen wollen? Und wer zum Henker sind die Daloki?“ „Das sind die Mitglieder des Konleok. Und mit der Weltübernahme warst nicht unbedingt du gemeint.“ „Sondern?“ hakte sie nach, als er nicht weitersprach. „Naja,“ sagte er langsam und atme einmal tief durch, bevor er weitersprach, „dein Großvater Quilienemglen ist bekannt dafür, sehr machtbegierig zu sein. Sogar die Gerüchte damals haben besagt, dass…“ Er stockte und schaute von ihr weg. „Dass er was?“ „Dass… er… seine Kinder… dazu gezwungen hätte…“ „Das ist doch lächerlich!“ „Du kennst ihn nicht, Linnea.“ Dazu schwieg sie. Vorerst. „Konnte man ihm denn nichts nachweisen?“ Er machte einen merkwürdigen Laut, als sei das eine blödsinnige Frage. „Natürlich nicht! Seine beiden Kinder hätten nie gegen ihn ausgesagt. Nicht bei dem Fluch, den er auf sie gelegt hatte, um sie zu all dem zu zwingen.“ „Was ist aus denen… also… aus…“ sie fand die Vorstellung merkwürdig, „meinen Eltern geworden?“ „Man trennte sie, warf deine Mutter in den einen, deinen Vater in den anderen Kerker und bestrafte beide mit ewigem Leben.“ Ewiges Leben?

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Ts, was für ne Strafe… „Naja, wenn man bedenkt, dass sie bis in alle Ewigkeit mit der Gewissheit leben, den jeweils anderen nie wieder sehen zu können und der, der ihnen das angetan hat, wenn wir mal davon ausgehen, dass es wirklich dein Großvater war, frei herumläuft und das Kind, das sie gezeugt haben, durch ihre Schandtat dem Tode geweiht ist, dann, finde ich…“ „Ich bin nicht dem Tode geweiht,“ entgegnete sie ihm heftig. „Nein, natürlich nicht,“ versuchte er zu schlichten. „Aber das weiß ja keiner. Als Flanagan damals den Auftrag bekam, dich in die Fintan Schlucht zu werfen, hat ja niemand damit gerechnet, dass er sich dem widersetzen würde.“ „Wie genau hat er das angestellt? Ich meine, wenn man mich tot sehen wollte, dann ist er ja garantiert nicht alleine dahin gegangen.“ „Nein,“ meinte er matt lächelnd, „natürlich nicht. Sie haben ein ganzes Heer von Daloki mit ihm geschickt. Aber der Abhang, auf dem er stand, um dich hinunter zu werfen, ist abgebrochen und er ist mit dir in die Tiefe gefallen.“ „Man hält ihn für tot?“ Loklen nickte nur. „Wie… wie hat er uns gerettet?“ „Wind,“ sagte er und ein Lächeln glitt über seine Gesichtszüge. „Niemand wusste, dass sein zweites Element die Luft ist.“ „Wieso wusste das keiner? Du hast doch gesagt, jeder Keylan hat zwei Elemente.“ „Flanagan hatte immer vorgegeben nur eines zu beherrschen. Er wurde deswegen sogar zum Doran. Die Daloki…“ Was zum Henker is n Doran? Er unterbrach sich, als er Linneas Gesichtsausdruck sah und ihre mentale Frage in seinem Inneren vernahm. „Ein Doran ist jemand, den man verstoßen hat.“ „Die Gesellschaft hat ihn deswegen verstoßen?“ fragte sie ungläubig. „Nicht die Gesellschaft,“ erklärte er ihr, „die Keylans.“ „Mhm,“ war alles, was sie von sich gab und so fuhr er fort. „Also, die Daloki hatten gedacht, es gäbe niemanden, der tieferen Hass gegen die Keylans hegt, als ein Doran. Deshalb wählte man ihn zu dem Mann, der dich beseitigen sollte.“

* * * „He,“ rief Loklen plötzlich erfreut, „na endlich!“ Linnea folgte seinem Blick und sah rechts von sich eine kleine Stadt. Sie standen auf einem Hügel, der einen guten Überblick über die paar Häuser, aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg, lieferte. Eine Mauer umgab die Kleinstadt und die schneebedeckten Straßen ergaben eine Art Gittermuster. „Ablin,“ meinte Loklen. „Was?“ Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die kleine Stadt und trieb dann seinen Braunen wieder an. Ah… Linnea tat es ihm gleich und presste die Unterschenkel an den warmen Bauch des Pferdes. Sie ritten einen mit Kieseln bedeckten Weg entlang und gelangten so zu einem großen, breiten Stadttor, an dem zwei Wachen aufgestellt waren. Eine kleine Menschentraube hatte sich vor dem Tor versammelt und wartete darauf, in die Stadt eingelassen zu werden. Schon von weitem roch Linnea verschiedenste Gerüche – Gewürze, frischgebackenes Brot, menschliche und tierische Ausdünstungen, faules Wasser und sonstiger Abfall. Loklen ritt an

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den wartenden Menschen vorbei – die sich über das Wetter, die Kälte, die Warterei und Loklen beschwerten – und hielt geradewegs auf einen der Wächter zu. Linnea folgte ihm irritiert. Was macht er denn da? Müssn wir uns nich anstelln - so wie alle andren? Man, wie die uns anguckn… Doch dann fiel ihr Blick auf den Wächter, auf dessen Gesicht sich plötzlich ein Grinsen legte, sobald er Loklen gewahr wurde. „Loklen, alter Knabe, was bringt dich denn hierher?“ Die beiden begrüßten sich per Handschlag, wobei Loklen sich ein wenig hinunter beugen musste. „Ich bin auf der Durchreise.“ „Wohin soll es denn gehen?“ erkundigte sich der Wächter. „Das kann ich dir leider nicht verraten, alter Kumpel,“ meinte Loklen mit einem Grinsen auf dem Gesicht und kratzte sich am Kopf. „Aber wen du da mitbringst, kannst du mir doch sicherlich sagen.“ Der Blick des Wächters war auf Linnea gefallen, die sich plötzlich ein wenig unbehaglich fühlte. „Ah… Das ist Linnea, eine von Kielins Schülerinnen.“ Is er jetzt ganz übergeschnappt? Einfach so meinn Namen preiszugebn? Doch sie brachte, nachdem sie Loklen einen warnenden Blick zugeworfen hatte, ein Lächeln zustande. „Ayden,“ stellte sich der Wächter vor und deutete eine leichte Verbeugung an, „eine Ehre Eure Bekanntschaft zu machen, junges Fräulein.“ „Ach,“ schaltete Loklen sich lachend ein, „lass die Faxen, Ayden. Damit beeindruckst du keinen! Komm,“ wandte er sich dann an Linnea und ritt durch das Tor. Linnea schloss schnell zu ihm auf und trieb ihren fast schwarzen Wallach nahe an das andere Pferd heran. „Bist du jetzt völlig verrückt geworden?“ warf sie ihm flüsternder Weise an den Kopf und er sah sie nur fragend an. „Hier einfach so meinen Namen zu nennen?“ Er gab einen kleinen Lacher von sich und schüttelte dabei den Kopf. „Denkst du wirklich, das sei dein richtiger Name?“ Ihr entglitten sämtliche Gesichtszüge. „Ich glaube, deinen wirklichen, richtigen Geburtsname kennt nur Flanagan.“ Gott, wie blöd!, schalt sie sich selber. „Ja,“ stimmte er ihr zu und trieb seinen Braunen an.

* * * „Sag mal, Loklen, wohin bringst du mich eigentlich?“ Sie waren in einem Gasthaus mit dem Namen Der weiße Hirsch abgestiegen und waren gerade dabei ihre Sachen in dem Zimmer auszupacken, das der Wirt ihnen zugeteilt hatte. Das Beste, hatte er ihnen versichert. Die beiden Pferde hatte ein Stalljunge entgegen genommen und in ein kleineres Gebäude nebenan gebracht. Ein dicklicher Wirt mit weißer, teils befleckter Schürze hatte sie in der Gaststube, die für die frühe Stunde schon reichlich gefüllt war, empfangen. Loklen und er waren sich in die Arme gefallen und dann hatte er ihnen einen Krug mit warmer, frischer Milch spendiert. Er scheint hier wohl öfter zu sein, folgerte Linnea. Erst der… wie hieß er… Ayden. Und jetzt dieser Wirt…

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„Bitte?“ fragte Loklen und hielt in seiner Bewegung ein. „Wohin du mich bringst?“ Er zuckte mit den Schultern, zog die Mundwinkel nach unten und hob die Hände ein wenig. „Keine Ahnung.“ „Was?“ kam es irritiert von ihr und sie hielt in der Bewegung ein. „Du musst doch wissen, wohin wir reiten!“ „Äh… nein…“ meinte er, während er sich am Kopf kratzte, „nicht so wirklich.“ „Aber,“ fing Linnea an und verstummte als er beschwichtigend die Hände hob. „Du, Linnea, bist diejenige, die uns führt.“ Was? Wie soll n das gehn? „Der Ednessiv-Teil in dir wird uns schon dahin bringen, wo du jetzt hin musst.“ „Loklen,“ rief sie entgeistert, „ich habe keine Ahnung, wo ich hin muss! Woher sollte ich das denn…“ „Das habe ich ja auch nicht gesagt,“ beschwichtigte er sie schnell. „Ich meinte den Ednessiv-Teil in dir.“ „Loklen,“ fing sie wieder an und er brachte sie abermals mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Stell dir ein Samenkorn vor, das in die Erde gesät wird. Aus irgendeinem Grund weiß es, in welche Richtung es keimen muss, um die Erdoberfläche zu erreichen. So ähnlich ist das mit deinem Ednessiv-Teil auch. Der wird schon wissen, wohin du gehen musst.“ „Wohin ich gehen muss, um… was zu tun?“ „Ich weiß nicht. Wahrscheinlich um jemanden zu finden, der dich ausbildet, oder so.“ „Jemand, der mich… Wieso machst du das nicht?“ „Ich? … Ich könnte dir nur die minimalsten Dinge beibringen. Du brauchst jemanden, der mehr drauf hat, als ich.“ „Flanagan?“ schlug sie vor, als sei das völlig offensichtlich. „Mhm,“ machte er, als sei ihm das noch gar nicht in den Sinn gekommen und schüttelte dann plötzlich doch wieder den Kopf. „Nein, ich glaube, das ist nicht der richtige, sonst wäre es für uns gar nicht erst möglich gewesen von Kielins Schule fortzukommen.“ „Und… und eine Art Ednessiv-Schule gibt es nicht?“ Er schüttelte den Kopf. „Die meisten Ednessiv werden jetzt von Verwandten unterrichtet oder bringen es sich selbst irgendwie bei. Nur die reicheren unter uns können sich Privatlehrer leisten.“ „Ich kann es mir selbst beibringen?“ „Äh,“ stammelte er, als hätte er gerade etwas von sich gegeben, das er nicht hätte sagen sollen. „Das ist ein bisschen kompliziert,“ fing er an und ließ sich auf sein Bett, neben sein Gepäck nieder. „Also, viele von denen, die das gemacht haben, sind dabei draufgegangen, weil sie die Macht der Elemente überschätzt haben. Ich würde dir also eher davon abraten.“ Die Macht der Elemente überschätzn? „Stell dir vor,“ sagte er, als er ihre Frage vernahm, „du hättest eine gute Beziehung zum Element Wasser. Und hantierst damit in… sagen wir mal, in deiner Küche. Und plötzlich hast du einen ganzen Ozean in dem kleinen Zimmer. Dummerweise hast du es irgendwie geschafft dein Haus mit einem Bann zu belegen, so dass nichts von dem Wasser nach draußen kann,“ er zog die Mundwinkel nach unten, „und somit ertrinkst du qualvoll.“ Dummgelaufn… „Ja,“ stimmte er ihr zu. „Ach, sag mal. Dieses Gedankenlesen, das hat doch aber nichts mit dem Feuer zu tun, oder?“ Er konnte ihr nicht ganz folgen, verneinte dann aber schließlich. „Kielin kann es auch.“

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„Die ist ein Wasser-Ednessiv, oder?“ „Mhm,“ machte er und nickte. „Wieso?“ „Kann das jeder Ednessiv?“ „Nein. Linnea, was…“ „Dann muss es noch etwas geben,“ unterbrach sie ihn. „Bitte?“ Sie fand es ganz angenehm, dass jetzt einmal er es war, der dem Gespräch nicht folgen konnte. So fühlte sie sich, als hätte sie, anders als sonst, ihm jetzt einmal etwas voraus. „Noch ein Element.“ „Sei doch nicht töricht. Es gibt nur vier. Wasser, Erde, Feuer und…“ „… und Wasser,“ sprach sie mit ihm gemeinsam. „Ja, aber wenn ihr beide es könnt, dann kann es nicht… Du beherrscht nicht ganz zufällig noch das Element Wasser, oder?“ „Was? Nein! Gott behüte! Ich hasse es! Ich bin ein Feuer-Ed, was denkst du!“ „Dann muss es noch ein anderes Element geben,“ meinte sie triumphierend. „Eines, das für die Gedanken zuständig ist.“ Er starrte sie mit leicht geöffnetem Mund an. Blinzeln, man, sonst trocknen deine Augn aus…

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CH BIN SO KURZ,“ er hielt ihr Daumen und Zeigefinger direkt vors Gesicht, „SO KURZ DAVOR DURCHZUDREHEN!“ Doch sie blieb völlig ruhig, was ihn noch mehr aus der Fassung brachte.

*

„Oh man,“ flüsterte Evaebjudi, „so aufgebracht habe ich ihn noch nie erlebt.“ „Nicht einmal, als wir damals seine Schuhe im Brunnen versenkt haben,“ pflichten Linfar ihr bei. „Ja, und Gott sei uns gnädig, dass wir es nie werden,“ setzte Gonijaveil hinzu. Die drei standen vor dem Zimmer der Direktorin und lauschten dem Gespräch. Anfangs mussten sie sich noch gegen die Tür lehnen, doch mittlerweile standen sie ein gutes Stück weit davon entfernt und hatten keinerlei Probleme dem Ganzen zu folgen.

* Erst hatte man ihm verschwiegen, dass es Linnea schlecht ging. Er hatte es lediglich von ihren beiden Freundinnen erfahren. Dann hatte man ihn nicht zu ihr durchgelassen – sie benötigte Ruhe, hatte man ihm gesagt. Und dann hatte man sie ohne ein Wort fortgeschafft. Unter der Obhut von diesem… diesem… Ihm fiel kein passendes Wort ein, das Loklen auch nur ansatzweise beschrieb. „Flanagan, das ist kein Grund ausfallend zu werden,“ sagte sie mit ruhiger Stimme. „KEIN GRUND? Ich bin ihr ONKEL, um Himmels Willen! Und du hast es nicht für nötig gehalten, mich darüber zu informieren?“

* „Von was genau reden die denn da?“ wollte Gonijaveil wissen. Die anderen beiden Mädchen hoben nur die Schultern. Keine der drei hatte bis jetzt so hundertprozentig verstanden, worum es ging. Es ging um Linnea, darum, dass sie krank war und dass Jarlath Kielin irgendetwas getan hatte, was Jarlath Flanagan ziemlich wütend gemacht hatte – so viel stand fest. Doch was genau das alles im Einzelnen war, das hatten sie bis jetzt noch nicht heraushören können.

* Er hatte wieder angefangen in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Er wusste sonst nicht wohin mit all seiner Wut. Kielin hatte anfangs noch versucht ihn irgendwie zum Anhalten zu bewegen, doch er hatte jedes Mal ihre Hand abgeschüttelt. Nun stand sie da, in der Mitte ihres kleinen Zimmers und sah ihm dabei zu, wie er sich seinen Groll und seine Frustration abzulaufen versuchte. „Ich bitte dich, was hätte ich denn tun sollen?“ fragte sie ihn. „Sie hier behalten? Warten, bis sie kommen, um sie ihnen auf einem Goldtablett zu servieren?“ Innerlich war sie nicht minder aufgebracht als er, doch sie hatte sich so weit unter Kontrolle, dass lediglich in ihrer Stimme ein scharfer Unterton mitschwang. „Nein, natürlich nicht,“ giftete er sie an und schoss ihr einen zornigen Blick zu, „aber du hättest vielleicht vorher Bescheid geben können, bevor du sie mir entreißt. Ich bin ihr Onkel, verdammt noch mal!“ „Ich weiß, Flanagan, ich weiß. Ich…“

„I

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„Und warum hast du dann nichts gesagt? Sie ist praktisch mein Fleisch und Blut.“ Er war vor ihr zum Stehen gekommen und hätte sie gern an den Schultern gepackt und sie geschüttelt, riss sich aber dennoch so weit zusammen, dass er es nicht tat. „Ich sorge mich genauso um sie wie du,“ versicherte sie ihm. „Du hattest kein Recht das ohne mich zu entscheiden! Quinlavin, Firinja und ich haben das doch nicht alles für umsonst durchgemacht, nur damit du sie jetzt allein durch die Weltgeschichte ziehen lässt!“

* „Wer sind Quinlavin und Firinja?“ „Ist doch völlig egal, man,“ hielt Linfar Gonijaveil vor, „Linnea ist weg.“ „Sh! Jetzt seid doch mal ruhig,“ schaltete sich Evaebjudi flüsternder Weise ein. „Ich verstehe kein Wort!“

* „Ihr hattet das geplant?“ hörten die drei Jarlath Kielin ungläubig fragen. „Natürlich! Was denkst du denn?“ warf er ihr nicht gerade freundlich an den Kopf. „Die beiden wussten, was unser Vater all die Jahre im Schilde geführt hat. Ich war zu jung, um es zu durchschauen, also weihten sie mich ein. Ich habe mitgespielt. Was hätte ich sonst auch tun können?“ „Du hast dich freiwillig zum Doran erklären lassen, weil du wusstest, dass…“ „Ich habe mitgespielt. Ja. All die Jahre. Hab mich verspotten lassen. Von der gesamten Familie. Und genauso wie wir es geplant hatten, wurde ich ausgestoßen und somit zum Doran. Und all das nur, um ihrem Kind zur Hilfe kommen zu können, wenn es so weit sein sollte.“

* „Jarlath Flanagan ist ein Doran?“ flüsterte Gonijaveil ungläubig. „Ist doch völlig egal,“ meinte Linfar. „Viel schlimmer ist, dass Linnea weg ist.“

* Er rieb sich über die kurzen blonden Haare und ließ sich in den Korbsessel fallen, der in der einen Ecke des kleinen Zimmers stand. „Und all das nur, damit du sie jetzt wegschickst.“ Seine Stimme klang belegt und verzweifelt. „Flanagan… Ich… Ich wusste ja nicht, dass…“ Kielin war sichtlich mitgenommen. „Woher auch? Ich habe es dir ja nie erzählt.“ Er lehnte sich vornüber und vergrub den Kopf in den Händen. „Hast du schon von den Daloki gehört?“ wollte er schließlich wissen und hob kaum merklich den Kopf.

*

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„Daloki? Heißt das, dass sie…“ fragte Evaebjudi ungläubig und brachte den Satz nicht zu Ende. „Ja, ich… ich glaube schon,“ meinte Linfar langsam und strich sich eine blonde Strähne, die ihr vor die Augen gefallen war, hinter das Ohr. „Dass sie was?“ hakte Gonijaveil nach, die ihren beiden Freundinnen nicht recht folgen konnte. „Ich glaube,“ klärte Linfar sie auf, „Linnea ist eine Ednessiv.“ „Was?“ „Sh! Nicht so laut!“ „Aber…“ „Sh! Ich sagte nicht so laut!“ „Sonst hören sie uns noch!“

* „Nein,“ meinte Kielin, doch es klang nicht sonderlich erleichtert. „Aber ich denke, sie werden es mittlerweile mitbekommen haben.“ „Wer nicht, bei all dem Schnee da draußen…“ Es herrschte erst einmal Stille zwischen den beiden.

* „Dann war Linnea das?“ wisperte Gonijaveil. „Wahrscheinlich.“ „Das macht auf jeden Fall Sinn. Ich habe gehört, Ednessiv sollen so etwas machen können.“

* „Meinst du, sie haben es schon zurück verfolgen können?“ fragte er schließlich. „Hierher? Ich weiß nicht. Aber früher oder später werden sie hier aufmarschieren.“ „Vielleicht war es ganz gut, dass du sie gleich fortgeschickt hast,“ gestand er ihr schließlich und erhob sich wieder, „dann hat sie wenigstens ein wenig Vorsprung.“ „Wenn sie ihnen nicht direkt in die Arme läuft.“ „Er ist doch bei ihr,“ erinnerte er sie. „Ich dachte, du hältst nicht viel von meinem Bruder?“ hakte sie nach. „Ich… Das, was ich vorhin gesagt habe, habe ich im Ärger gesagt. Entschuldige. Es war nicht so gemeint. Er ist mir immer ein guter Freund gewesen. Und wenn du sie ihm anvertraust, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich deiner Entscheidung anzuschließen. Ich hätte mir lediglich gewünscht, dass du mich darüber unterrichtet hättest.“ Sie nickte leicht mit dem Kopf, was bei ihr einer Entschuldigung sehr nahe kam. „Was gedenkst du jetzt zu tun, Kielin?“ Sie sah ihn fragend an. „Alle hier kennen sie. Wenn die Daloki kommen und nach ihr fragen…“ Sie ließ kurz den Kopf hängen. „Du hast vermutlich Recht,“ stimmte sie ihm zu. „Ich werde alles Nötige vorbereiten.“ Sie atmete hörbar durch und richtete sich wieder zu ihrer vollen Größe auf. „Ich habe diesen Tag gefürchtet, Flanagan. Seit du mit ihr hier aufkreuzt bist.“ Er gab ihr ein müdes Lächeln und fragte dann: „Darf ich mir eines deiner Pferde borgen?“ Sie sah ihn nur verständnislos an. „Denkst du ich will hier tatenlos rumsitzen?“

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*

„Er will ihr hinter her reiten?“ stellte Gonijaveil überrascht fest. „Natürlich will er das,“ schalt Evaebjudi sie, „er ist ihr Onkel.“ „Lass uns mit ihm gehen,“ schlug Linfar vor und so etwas wie Abenteuerlust leuchtete in ihren braunen Augen. „Was?“ fragte Gonijaveil beängstigt. „Wir… wir können doch nicht einfach so…“ „Bin dabei,“ unterbrach Evaebjudi ihre Freundin. „Gut. Nija? Was ist mit dir?“ „Ich… Ich weiß nicht. Ich glaube… Ich glaube nicht, dass wir…“ „Schön, dann machen wir es eben zu zweit.“ „Nein!“ „Sh!“ „Nein, ich lass euch schon nicht allein.“ „Wunderbar. Dann hätten wir das ja geklärt.“

* „Nein, natürlich nicht. Also, ja, selbstverständlich. Ich schlage vor, du nimmst den Rappen, der ist…“ „Den hat sich Loklen schon unter den Nagel gerissen.“ „Nein, er hat doch Zenron,“ wiedersprach sie kopfschüttelend, „den Braunen.“ „Dann hat er ihn für Linnea genommen.“ Sie schüttelte kurz den Kopf und fuhr sich über die Stirn. „Also… Dann schlag ich vor, du nimmst den schlohweißen.“ „Den Tänzer?“ hakte Flanagan verwundert nach. „Ich brauche ihn hier nicht.“ „Aber…“ „Nimm ihn,“ drängte sie. „Kielin, ich…“ „Ich sagte, nimm ihn dir,“ unterbrach sie ihn. „Danke,“ murmelte er und nickte.

* „Und wo bekommen wir die Pferde her?“ wollte Gonijaveil wissen. „Na, aus dem…“ Die Tür wurde plötzlich geöffnet und vor ihnen stand Jarlath Flanagan. Er wirkte kurz etwas irritiert, musterte die drei und begriff dann doch sehr schnell, was Sache war. „Kielin,“ rief er ohne die Augen von den drei Mädchen zu nehmen, „ich glaube, wie haben hier ein kleines Problem!“

* * * Nur die wenigsten kamen im Laufe ihres Aufenthalts auf der ehemaligen Festung in das Zimmer der Rektorin. So auch die drei Mädchen. Es war das erste Mal für alle drei und, obwohl sie den Blick gesenkt hielten, versuchten sie dennoch etwas von dem Raum zu erkennen. Das erste, das ihnen auffiel, war nicht der Aufbau des Zimmers selbst, sondern der Geruch. Überall im Gebäude roch es nach Wachs und Ruß, doch hier erfüllte ein lieblicher

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Duft den Raum. Das Zimmer war kleiner, stellten sie fest, als sie es erwartet hatten. Der Boden war, anders als im übrigen Gebäude, nicht nackter Stein, sondern dunkles Holz. An den hellen Steinwänden hingen farbige Tücher, Federn, Kerzen und ein mit Graphit gezeichnetes Bildnis von Jarlath Kielin und Loklen, was bei allen drei Mädchen ein Stirnrunzeln hervorrief. Nur ein einziges großes Möbelstück – abgesehen von einem Korbsessel in der Ecke zur rechten – befand sich in dem Zimmer: ein Schreibtisch aus Buchenholz, der quer vor die gegenüberliegende Ecke gestellt war, der Stuhl dahinter direkt in der Ecke. Die Oberfläche des Tisches war mit Papieren, Pergamentrollen und Schreibfedern überhäuft. Das geräuschvolle Schließen der Tür hinter ihnen, ließ die Mädchen zusammenzucken und rief ihnen in Erinnerung, weshalb sie dort waren. Jarlath Kielin ging um die drei herum und ein flüchtiger Blick auf ihr Gesicht zeigte, dass sie das Verhalten der drei mehr als missbilligte. Ihren eh schon schmalen Mund hatte sie zu einem dünnen, weißen Strich zusammengepresst. Ihre Nasenflügel bebten mit jedem Atemzug. Ihre im Grunde sehr freundlichen graublauen Augen blitzen unter ihren zusammengezogenen Augenbrauen zornig auf. Und ihr sonst häufig dunkelrot schimmerndes Gewand hatte eine pechschwarze Farbe angenommen. Es verging eine Ewigkeit, in der Jarlath Kielin die drei jungen Mädchen, die sich unter ihrem Blick immer unbehaglicher zu fühlen begannen und immer kleiner wurden, musterte. „Habt ihr mir irgendetwas zu sagen?“ fragte sie schließlich mit einer Stimme, die das Blut in den Adern gefrieren ließ und selbst Flanagan, der sich an den Schreibtisch gelehnt hatte, zog erstaunt die Augenbrauen hoch und fuhr sich anschließend über das Kinn. Gonijaveil wisperte sofort ein „Es tut uns leid“, während Linfar ihre Aufgebrachtheit nur schwer unter Kontrolle bekam und im selben Augenblick ein forderndes „Wo ist Linnea?“ hervorbrachte. Jarlath Kielins wütende Augen fixierten Linfar sofort und sie trat nahe an das Mädchen heran. Für Gonijaveil war es so gut wie nicht nachvollziehbar, wie Linfar sich erdreisten konnte, Jarlath Kielin dermaßen und dann auch noch ohne ihren Titel, anzusprechen und dann auch noch die Unverschämtheit besaß, den Blick aufrecht zu erhalten und nicht vor ihrer obersten Mentorin zurückzuweichen. „Jarlath Kielin,“ versuchte Evaebjudi die angespannte Stimmung zu unterbrechen, „sie ist unsere Freundin. Bitte.“ Die ältere Frau trat endlich von Linfar zurück, die kaum merklich die Luft, die sich angehalten hatte, wieder ausatmete. Wieder verstrichen dutzende Momente, bevor Jarlath Kielin etwas von sich gab. „Es geht ihr gut. Mehr braucht ihr nicht zu wissen.“ „Aber…“ fing Linfar an ihr zu widersprechen. „Ich sagte,“ übertönte ihre Mentorin sie, indem sie die Stimme erhob, „es ist für euch nicht weiter von Belang. Und jetzt raus hier.“ „Jarlath Kielin,“ versuchte es jetzt auch Evaebjudi, während Gonijaveil schon die Klinke in der Hand hielt und froh darüber war, so glimpflich davon gekommen zu sein. „Und gnade euch Gott,“ unterbrach Jarlath Kielin Evaebjudi mit eisiger Stimme, „wenn ihr auch nur ein Wort über die Unterhaltung, die ihr mit angehört habt, oder aber Linnea fallen lasst. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Gonijaveil nickte sofort und öffnete die Tür. Die anderen beiden Mädchen zögerten noch und es brauchte einen erneuten mahnenden Blick Kielins, um auch sie zum Gehen zu bewegen. Die drei hatten die Tür des kleinen Zimmers schon fast verlassen, als Jarlath Kielins hinter ihnen her rief. „Und untersteht euch, es auch nur in Erwägung zu ziehen!“

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* * *

„Da sind wir aber noch mal…“ fing Gonijaveil an, als sich die schwere Holztür hinter ihnen geschlossen hatte. „Diese alte Hexe,“ flüsterte Linfar aufgebracht. „Linfar!“ entfuhr es Gonijaveil entsetzt. „Stimmt doch,“ stimmte Evaebjudi ihrer Freundin zu. „Es geht ihr gut. Von wegen! Wir haben sie ja selbst gesehen!“ „Und wenn alles in Ordnung ist,“ führte Linfar Evaebjudis Gedanken wütend fort, „warum bringt man sie dann weg? Mh?“ „Und wer zum Henker ist ihr Bruder?“ „Ihr Bruder?“ hakte Gonijaveil nach. „Man, hast du denn gar nicht zugehört,“ giftete Linfar sie an. „Der hat sie!“ „Wir sollten uns beeilen,“ drängte Evaebjudi. „Bei den Ställen. In fünf Minuten!“ „Was? … Aber…“ „Willst du jetzt mit, oder nicht?“ kam es von Evaebjudi und Linfar wie aus einem Munde. „Ja, aber…“ „Dann los jetzt!“ Gonijaveil blieb nichts anderes übrig, als sich ihren beiden Freundinnen, die bereits in ein schnelleres Tempo gewechselt hatten, zu folgen. Die drei rannten in das Quartier der Beglan. Stürmten in ihre Zimmer. Rafften alles zusammen, das sie brauchten. Kleidung zum Wechseln. Einen Wasserschlauch. Etwas zu Essen. Und Geld. Stopften es in ihre kleinen Reisetaschen. Und verließen die Zimmer wieder. Fast gleichzeitig kamen sie in den Stallungen an. Und der erste Blick der drei galt dem Tänzer, dem graziösen, großen Schimmel von Jarlath Kielin. „Wunderbar,“ meinte Linfar, schnappte nach Luft und beugte sich kurz vornüber, als sie den Tänzer noch immer in seiner Box stehen sah. Die drei schnappten sich die ausdauerndsten Schulpferde – die kleine, doch schnelle fuchsbraune Tara, den braunen Tintigel, und Gonijaveils Liebling Kalantin – und sattelten sie zügig. Dann banden sie ihr leichtes Gepäck hinter die Sättel und schwangen sich auf die Rücken der drei Pferde. „Los, schnell jetzt,“ drängte Evaebjudi, „bevor er kommt.“ Das Hufgeklapper der drei Pferde hallte auf dem steinernen Boden des Stalles wieder, doch als sie im Freien waren, lenkten die drei Mädchen sie auf den Grasstreifen neben dem Kiesweg und blickten noch einmal zu dem alten Gemäuer, das über den Stallungen emporragte, zurück.

* * * Die zierliche Frau lehnte sich an das alte Holz der Tür, nachdem sie sie hinter Flanagan geschlossen hatte. Sie fragte sich zum widerholten Male, ob sie wirklich das Richtige getan hatte.

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Sie kannte ihren Bruder. Wusste um seine Stärken. War sich sicher, dass sie bei ihm gut aufgehoben war. Und trotzdem vernahm sie am Rande ihres Bewusstseins einen nagenden Zweifel. Doch das Mädchen war bei ihm sicherer als auf der ehemaligen Festung. Sie würden kommen. Bald. Dessen war sie sich sicher. Sie wagte nicht mit Loklen zu kommunizieren. Zu groß war die Wahrscheinlichkeit, dass die Daloki Ednessiv bei sich hatten und somit in der Lage wären die Gedanken aufzufangen. Nicht, dass sie verstanden hätten, worum es ging. Ihre Mitteilungen wussten Loklen und Kielin verschlüsselt zu verschicken. Doch das Risiko, seinen und Linneas Standpunkt zu verraten, war zu groß. Stattdessen tat sie etwas, das sie hätte schon viel früher tun sollen. Sie öffnete sich, wurde Teil des Elementes Wasser und spürte jeden einzelnen Menschen anhand ihrer Körper in der ehemaligen Festung auf. Sie zählte mit, so dass sie jede einzelne Person auch wirklich erreicht hatte – ließ von Flanagan sofort wieder ab, als sie in seinen Geist eindrang – und war etwas verwirrt, als sie am Ende feststellte, dass ihr drei Personen fehlten. Sie ging alles noch einmal durch. Zählte jede und jeden noch ein zweites Mal. Zählte Beglan getrennt von Jarlath. Und trotzdem fehlten ihr am Ende wieder drei Persönlichkeiten. Sie weitete ihre Suche aus und fand die drei Beglan schließlich in den Stallungen. Und schalt sich selbst, nicht jemanden hinter ihnen her geschickt zu haben. Um sicher zu stellen, dass sie auch wirklich auf der Festung blieben. Doch jetzt war es zu spät, sie hatten die Pferde bereits gesattelt und führten sie gerade durch das Tor nach draußen. Sie konnte nur hoffen, dass Flanagan sie aufgabeln und dann verhindern würde, dass er und die Mädchen den Daloki in die Hände fallen würden. Sie wandte sich gedanklich von den mittlerweile vier Leuten ab und konzentrierte sich darauf, die Verbindungen zu allen anderen aufrecht zu erhalten. Sie öffnete die Augen, stellte fest, dass ihr Kleid durch die anhaltende Konzentration und die Anspannung des vor ihr liegenden eine blasse Rotfärbung angenommen hatte und ihr Blick wanderte zu dem Bildnis von ihr und ihrem Bruder. „Ich hoffe, du wirst Recht behalten,“ murmelte sie. „Ich mache das wirklich nicht gern.“ Er hatte gemeint, es sei der einzige Ausweg. Die einzig wahre Lösung zu ihrem Problem. Und sie hatte ihm geglaubt. Trotzdem hasste sie es nach wie vor mit den Gedächtnissen ihres Kollegiums und denen ihr anvertrauten Schülerinnen herumzuhantieren und diese zu manipulieren. Wie zur Beruhigung sog sie den süßen, lieblichen Duft ein, der ihren kleinen Raum ausfüllte und ließ sich auf den Stuhl hinter ihren Schreibtisch nieder. Dort atmete sie noch einmal tief ein, schloss die Augen und radierte Linnea aus dem Gedächtnis der Leute. Und mit ihr gleich auch noch die Erinnerung an Jarlath Flanagan und die drei Mädchen.

* * * „Wohin jetzt?“ fragte Gonijaveil. „In den Wald,“ meinte Linfar und trieb Tara an, die gleich darauf in einen schnellen Galopp verfiel. Die anderen beiden folgten ihr und suchten Schutz im kleinen, doch dichten Hain, der die ehemalige Festung umgab. Es gab nur einen Weg aus und zu dem Gemäuer und Jarlath Flanagan musste früher oder später an ihnen vorbei kommen. So lange mussten sie nur

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versteckt bleiben und hoffen, dass sie niemand entdeckte. Natürlich war es den Schülerinnen erlaubt, das Gelände zu verlassen, um beispielsweise nach Cahal zu gehen und Besorgungen zu machen. Doch drei Junge Mädchen zu Pferd mit Reisegepäck bei sich… Das würde doch einige unangenehme Fragen aufwerfen. „Leise jetzt,“ flüsterte Evaebjudi, als sie den Waldrand fast erreicht hatten und die Pferde zum Stehen brachten. Weiße Dunstwolken stiegen aus den Nüstern der Pferde, während sich deren Flanken schnell auf und ab bewegten. Die drei Mädchen versuchten einerseits ihren Atem, der hastig und schubweise kam, und andererseits die Pferde, die das schnelle Tempo erst richtig geweckt und geradezu angestachelt zu haben schien, wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Was machen wir, wenn er uns nicht mitkommen lässt?“ fragte Gonijaveil schließlich leise. „Der hat gar keine andere Wahl,“ kam es fest entschlossen von Linfar. „Aber was, wenn er…“ „Sh! Seid mal leise, ich glaube, da kommt er!“ Die drei lauschten angespannt und konnten bald wirklich das rhythmische Knirschen des Schnees unter Pferdehufen hören. Es dauerte nicht lange und sie sahen durch die dichten Bäume, wie Jarlath Flanagan den anmutigen Tänzer den breiten Waldweg entlang traben ließ. Das weiße Pferd verschwand fast vor der weißen Schneedecke und nur der dunkelroten Sattel und die dunkelrote Trense hoben seine Form von der Umgebung ab. Ohne ein Wort, doch mit einer Handbewegung, trieb Linfar Tara an und ritt in einiger Entfernung neben ihrem Mentor her. Flanagan schien die Geräusche zwar wahrgenommen zu haben, jedenfalls drehte er den Kopf kurz und sah sich um, konnte sie aber dennoch nicht ausmachen, da die drei Mädchen sich in einer Senke befanden, die er vom Waldweg her nicht einzusehen vermochte. Doch dann ging es für die Mädchen bergauf und der Wald lichtete sich. Flanagan zügelte den Tänzer und brachte ihn abrupt zum Stehen. „UMKEHREN!“ rief er ihnen zornig entgegen und deutete mit ausgestrecktem Arm zurück zur ehemaligen Festung. „SOFORT!“ „Jarlath Flanagan, bitte, wir…“ fing Evaebjudi an, doch Linfar unterbrach sie. „Wir werden uns auf die Suche nach ihr machen,“ gab sie entschlossen von sich. „Egal was Ihr sagt!“ Jarlath Flanagan funkelte sie immer noch nicht minder erbost an, gab aber nichts von sich. „Und entweder suchen wir sie alleine,“ teilte sie ihm mit und setzte ernüchternd hinzu „dann weiß aber niemand, wo wir uns befinden und es kann uns dann auch niemand zur Hilfe eilen, oder aber Ihr lasst uns mit Euch reiten und könnt uns somit beschützen.“ Die beiden starrten sich kurz in die Augen. „Ich sollte dich nach Hause schicken, Beglan Linfar. Dich und deine Freundinnen. Ihr habt gehört, was Kielin gesagt hat.“ „Schön,“ meinte Linfar und hörte sich an wie ein kleines Kind, das seinen Willen nicht durchgesetzt hatte. „Nija! Evaebjudi!“ Sie trieb Tara auf den breiten Waldpfad und setzte ihren Weg fort, allerdings keineswegs in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die beiden Mädchen folgten ihr zögernd und schauten noch einmal zu Jarlath Flanagan zurück, der sie mit seinen Blicken zu töten versuchen schien. Linfar rammte ihre Fersen verärgert in die arme Tara, der nichts anderes übrigblieb, als kurz den Kopf hochzureißen und sich dann doch zu einem langsamen Trab zu steigern. „Oh, verdammt,“ hörte Linfar endlich Jarlath Flanagan hinter sich fluchen. Sie hatte schon fast nicht mehr damit gerechnet, dass er seine Meinung ändern würde. „Wie ich dickköpfige Beglan hasse,“ murmelte er, während er seine Unterschenkel an den Pferdebauch presste, um zu den dreien aufzuschließen.

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Ein triumphierendes Lächeln machte sich auf Linfars Gesicht breit, als sie Tara zum Stehen brachte. Doch sie wischte es fort, bevor sie sich zu Jarlath Flanagan umdrehte. Alle drei legten sie eine Unschuldsmaske auf – die Linfar und Evaebjudi allerdings besser gelang als Gonijaveil, die immer noch damit zu kämpfen hatte, dass sie sich Jarlath Kielin, der höchsten Mentorin, widersetzten. „Eine Bedingung,“ rief er ihnen entgegen. „Nur eine Bedingung.“ Er wartete mit dem Weitersprechen, bis er zu ihnen aufgeschlossen hatte. „Ihr tut immer… immer!... das, was ich sage.“ „Was, wenn…“ fing Linfar an. „Und ihr stellt,“ er erhob die Stimme, um sie zu übertönen und wartete kurz, um sicher zu gehen, dass sie ihm Gehör schenkten, „ihr stellt keinerlei Anweisungen in Frage.“ Linfar verzog den Mund. Das gefiel ihr nicht Ganz und gar nicht. Doch Gonijaveil und Evaebjudi hatten bereits genickt und hofften inständig, dass ihre Freundin es ebenfalls tun würde. Und das bitte bald, bevor er es sich anders überlegte. „Lin,“ wandte Evaebjudi sich schließlich leise an sie und sah sie eindringlich an. „Für Linnea,“ versuchte es nun auch Gonijaveil, was Linfar überraschte. Gonijaveil war nie jemand für Abenteuer und Wagnisse gewesen. Beim wöchentlichen Leseabend ging sie stets, bevor die gefährlicheren Geschichten, wie sie sie nannte, an die Reihe kamen. Im Unterricht blaue Tinte, statt der vorgeschriebenen schwarzen zu verwenden, kam für sie einer Schulordnungsbrechung gleich. Dass sie jetzt hier war und nicht vor einem der Kamine saß und las, war wahrscheinlich nur dadurch zu erklären, dass Linnea ihr sehr ans Herz gewachsen und sie wissen wollte, was genau mit ihr geschehen war. Denn trotz ihrer Ängstlichkeit, war Gonijaveil ein wissbegieriger Mensch, der alles für seine Freunde tat. Sogar wenn es sie selbst in Schwierigkeiten brachte. Linfar blickte zu Jarlath Flanagan auf und nickte widerwillig. Der fixierte sie noch kurz, sah aber wohl ein, dass er nicht mehr als ein Nicken von ihr bekommen würde und zog sich seine Mütze, die er gegen die Kälte auf dem Kopf trug, ein wenig tiefer ins Gesicht. Dann trieb er den Tänzer an den drei anderen Pferden vorbei und setzte sich an die Spitze der kleinen Reitertruppe.

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in Grinsen machte sich auf Josis Gesicht breit und Marie starrte sie nur irritiert an. „Was?“ wollte sie wissen. „Josi? Was ist daran so komisch?“ „Ich bin nicht mehr allein,“ meinte diese sichtlich erleichtert und immer noch

grinsend. „Jetzt sind wir schon zu zweit.“ Josi hatte Marie mit in den Garten genommen, wo sie langsam den Weg in Richtung Labyrinth abgeschritten waren, während Marie ihr erzählt hatte, was passiert war. Während des Traumes – falls es einer war – in der Schule, sowie in der Küche. Es machte ihr nach wie vor Angst und sie konnte Josis Reaktion nachvollziehen – wenigstens waren sie jetzt zu zweit. Und somit mit ihrer Angst nicht mehr ganz allein. „Der Schemel damals… wie hast du das gemacht?“ „Ich weiß nicht genau. Ich hab einfach die Hand gehoben und… WOW!“ Wie im Nähzimmer, hatte Josi auch jetzt eine wegwerfende Handbewegung gemacht und prompt war ein heftiger Windhauch durch die Bäume gegangen, in deren Richtung sie die Hand ausgestreckt hatte. Der Schnee, der auf den Ästen gelegen hatte, stob in alle Richtungen auseinander und legte sich auf die Kleidung der beiden Mädchen. Marie hatte schon die Hand gehoben, um ihn von ihrer Kleidung zu streichen, besann sich dann aber doch eines besseren – in Anbetracht der Erinnerung an Josis Begegnung mit dem Schnee-Geschöpf – diesm… diesm… was-auch-immer-es-war – und ließ es bleiben. „Wie machst du das?“ „Ich habe doch gesagt, ich habe keine Ahnung,“ murmelte Josi, immer noch den Baum anstarrend, dessen Äste sie gerade bewegt hatte. Dann wandte sie sich unerwartet an ihre Stiefschwester. „Mach du mal.“ „Einfach so die Hand bewe…“ Marie stockte mitten im Satz, als eine Fuhre Wasser aus dem Nichts auf den Baum zuschoss, auf den sie gezielt hatte. Binnen Sekunden war es zu Eiszapfen erstarrt und hing in Flugrichtung fast waagerecht an den Ästen. „Cool,“ murmelte Marie und trat näher an den Baum heran, um sich ihr Werk – `mein´ Werk? – zu betrachten. Doch dann spürte sie plötzlich Josis Hand auf ihrem Arm, die sie zurückhielt. „Geh da lieber nicht ran. Ich glaube, das ist gefährlich.“ „Das ist doch nur gefrorenes Wasser.“ „Eben,“ meinte Josi und setzte, als sie sah, dass ihre Stiefschwester ihr nicht folgen konnte hinzu: „Die… die Dinger,“ ihr fiel das Wort nicht ein und sie deutete auf die Eiszapfen, „sind gefährliche Waffen.“ Gefährliche Waffn? Josi, ich bitte dich! Marie sah sie nur an, als hätte sie gerade etwas extrem törichtes gesagt und trat unbeirrt weiter an den Baum heran. „Nein, wirklich! Die können Menschen durchbohren!“ Das Sonnenlicht brach sich in den durchsichtigen Eiszapfen, die in allen Regenbogenfarben schillerten, und wurde in hunderten von Farben tausendfach widergespiegelt. Jetzt n Fotoapparat! Dann könnt ich meinn Freundn in Deutschland sagn, die Eiszapfn wachsn hier waagerecht. Mit dem Gedanke stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und sie trat unter den Baum, während sie von hinter sich ein dringliches „Mary“ hörte. Mit einer einfachen Handbewegung hinter ihrem Rücken, machte sie Josi klar, dass nichts dabei wäre, unter den Baum zu treten. „MARY!“ kreischte Josi plötzlich markerschütternd auf und Marie drehte sich schnell wieder zu ihr um. Reichlich blass und mitgenommen blickte sie ihr entgegen. „Wolltest du mich umbringen?“

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Umbringn? Wieso sollt ich se umbringn wolln? Was labert se denn da? „Was? Nein…“ Und dann deutete Josi hinter sich, auf eine schwarze, etwa handtellergroße Stelle im Schnee. Der Schnee war weggeschmolzen und der Boden darunter angesengt. Gott! War ich das? Sie sah ungläubig von der kleinen Brandstelle zu Josi. Und dann wieder zurück zur Brandstelle. Wieso kam jetz Feuer? „Sorry, aber…“ wandte sie sich schließlich an Josi. „Alles okay?“ Und davor Wasser? Und bei Josi Wind? Warum is das immer unterschiedlich? Sie versuchte eine Art System in dem ganzen zu erkennen. Machte eine erneute Handbewegung. Und sprang zurück, als ein kleiner Feuerball auf die Erde vor ihr zuraste. “ARE YOU CRAZY?“ Den Schnee zum Schmelzen brachte. Und das darunterliegende Gras verschmorte. Zwei mal Feuer… An was hab ich gedacht, verdammt? Das hat garantiert irgndwas mit den Gedankn zu tun… „MARY!“ Josi hatte sie gepackt und von der immer noch qualmenden Stelle auf dem Boden weggezogen. „Wieso zweimal Feuer?“ „Was?“ fragte Josi irritiert. „Zweimal Feuer, Josi. Wieso. Vorher war es Wasser. Ein Mal. Und dann…“ „Keine Ahnung,“ unterbrach Josi sie aufgebracht. „Ist doch auch egal! Das sollte überhaupt nicht so sein, verdammt! Wir…“ Sie wurde abrupt von Marie unterbrochen, die sich aus Josis klammerndem Griff gelöst und erneute eine schleudernde Handbewegung in Richtung der Bäume des Labyrinths gemacht hatte. „MARY!!!“ Drei Mal… Der Baum war in Flammen aufgegangen. Die beiden Mädchen konnten die Hitze selbst noch an ihrem Standpunkt, gut ein halbes Dutzend Meter entfernt, spüren und wichen instinktiv davor zurück. Marie wagte keine weiteren Handbewegungen mehr. Doch Josi versuchte es. Wohl in der Hoffnung, dass sie es irgendwie schaffte Wasser zu produzieren und den Baum somit löschen zu können. Doch ihre Handbewegung hatte zur Folge, dass die Flammen nur noch größer wurden und weiter um sich griffen. Gott, verdammt! Was jetzt, man, was jetzt? Die Flammen hatten den Baum rechts daneben erreicht und der schmelzende Schnee, der umliegenden Bäume, fiel tropfenweise von den Ästen. „JOSI! MARY!“ drang Irwings aufgebrachte Stimme plötzlich durch das Knistern des Feuers zu den beiden hindurch.

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Suchend drehten sich die Mädchen um und sahen ihn auf sich zu rennen. „WEG DA! WEG!“ Doch die beiden waren so perplex, dass sie sich nicht zu rühren vermochten. Das Feuer sprühte mittlerweile Funken, die im Flug bis zu den Mädchen kamen und ihnen die Haare und die Kleidung ansengten. Wie in einem Traum sah Marie einen kleinen Funken ein winziges Loch in ihren Ärmel brennen, machte aber keinerlei Anstalten ihn mit ihrer behandschuhten Hand fortzuwischen. „MARY! JOSI!“ rief Irwing nun noch dringlicher. Mhm, lustig, ging es Marie durch den Kopf. Das sieht echt schön aus und is doch voll unangenehm aufer Haut… Sie hörte ein lautes Krachen und blickte zum Baum zurück, von dem ein Ast, immer noch brennend, zu Boden gefallen war. Höher, noch höher, versuchte sie den Flammen zu sagen und nahm es als völlig natürlich hin, dass diese ihrer Aufforderung dann auch wirklich nachkamen und ausufernder gen Himmel leckten. Der unangenehme Geruch, der sich schon vor einigen Momenten in ihrer Nase eingeschlichen hatte, wurde intensiver und sie sah sich um. Ihr Blick fiel auf Josi. Cool, wie die sich kringeln. Lockn würdn dir stehn, man. So richtig winzige. „Josi, deine Haare schmoren,“ meinte Marie wie in Trance und starrte auf die dunkelroten Haare ihrer Stiefschwester, die an einigen Stellen zu qualmen angefangen und sich unter der sengenden Hitze zu kräuseln begonnen hatten. Und auch Josi rührte sich nicht, schaute lediglich dabei zu und meinte nur monoton: „Ja, das stinkt ganz schön.“ Plötzlich griff jemand nach Maries Arm und sie wurde mit einer solchen Wucht nach hinten gerissen, dass sie zu Boden ging. Nein! Nein, lass mich!, schrie sie innerlich. Ich will weiter schaun! Sie richtete sich auf. Wie sich Josis Haare kringeln. Ich will sehn, wie die Flamm, `meine´ Flamm, alles auffressn. Und wollte näher an den mittlerweile lichterloh brennenden Baum herantreten. Meine Flamm, wiederholte sie und fühlte sich unsagbar stolz bei dem Gedanken. „Lass mich,“ machte sie den Jemanden forsch an, der sie am Arm zurückhielt. Doch derjenige ließ nicht locker und zog sie weiter von den Flammen weg. „Nein! Lass mich los!“ schrie Marie und versuchte sich aus dem festen Griff zu lösen. „Mary,“ hörte sie die Stimme Irwings wie von furchtbar weit weg. Als all ihre Zergelei und all ihr Schreien nicht half, schleuderte sie der Person, die sie festhielt mit der Hand etwas entgegen. Ihr war es gleich, ob es Wasser, Feuer oder sonst etwas war. Sie wollte nur weg. Wollte zu ihren Flammen. Doch nichts passierte. Wieso geht das jetz nich mehr? Und das konnte sie nicht verstehen. Mach schon! Irgendwas! Sie schleuderte ihre Hand erneut. Doch wieder geschah nichts und in dem ganzen Hin und Her zwischen ihr und Irwing, nahm er ihre Handbewegungen als Abwehrbewegungen wahr. Stückchen für Stückchen gelang es ihm das sich heftig wehrende, vor Wut weinende und schreiende Mädchen von dem brennenden Baum wegzuzerren. Und dann sah Marie plötzlich

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die Gestalt des braunhaarigen Mädchens inmitten des Flammenmeeres und all ihre Gegenwehr verschwand abrupt. Genau genommen war sie froh darüber, dass man sie bereits so weit von dem Baum, vor dem das Mädchen erschienen war, fortgeschafft hatte. Der Jemand lockerte seinen Griff, als er merkte, dass Marie sich nicht mehr wehrte. „Mary?“ hörte sie Irwings Stimme und seinen rasselnden Atmen hinter ihr. Sie sah über die Schulter zurück zu ihm, nur um schnell wieder zu dem Baum zurückblicken zu können. Doch das Mädchen war verschwunden.

* * * „Wer von euch war es?“ gab Irwing zum wiederholten Male von sich. Maries Blick ruhte nach wie vor auf ihren, im Schoss gefalteten Händen und sie war Josi, die ebenso geknickt neben ihr saß, dankbar dafür, dass sie den Mund gehalten hatte. „Schön,“ meinte er schließlich seufzend, schob mit der Hand ein paar Papiere weg und ließ sich auf seinem Schreibtisch nieder. Die drei befanden sich in seinem Arbeitszimmer, das Marie bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Es war mit hellem Teppich ausgelegt und mit dunklen ebenhölzernen Möbeln ausgestattet. Die beiden Mädchen, die Irwing zuvor unter die Dusche geschickt hatte, saßen auf einem kleinen, hellbezogenem Sofa und hielten die Köpfe gesenkt. Ich hab`s doch nich so gemeint, man, schoss es Marie immer und immer wieder durch den Kopf und sie kämpfte abermals gegen die aufsteigenden Tränen an. Ich hab doch keine Ahnung, was da passiert is! „Dann nehme ich an, ihr wart es gemeinsam.“ Es klang nach einer Frage, doch keines der Mädchen antwortete. „Wie zum Teufel seid ihr nur auf so eine Idee gekommen? Einfach einen Baum in Brand zu stecken?“ Und wieder äußerte sich keine der beiden. „Ich möchte, dass ihr morgen nach der Schule in die Stadt fahrt und dort einen Sprössling kauft. Von eurem eigenen Geld. Ihn werdet ihn hier im Haus aufziehen und ihn im Frühjahr dann nach draußen pflanzen.“ Er musterte beide kurz und setzte dann noch hinzu: „Es wäre schön, wenn ihr wenigsten nicken könntet, um zu bestätigen, dass ihr mich gehört habt.“ Marie tat wie ihr geheißen und vernahm aus dem Augenwinkel, wie Josi es ihr gleichtat. „Gut,“ kam es von Irwing. „Aber denkt noch nicht einmal daran, das Personal zu fragen, ob es die Pflege für euch übernimmt.“ Es herrschte erst einmal wieder unangenehme Stille zwischen den dreien. Gott, man, nie wieder!, schalt sie sich selbst. Nie wieder! Doch dann fragte sie sich: Was nie wieder? Brennende Bäume? Diese komischn Handbewegungn? Das Mädchen? Das Mädchen… Gott, ich versteh das nich! Was will die denn von uns? Warum macht die das? Was ham wir ihr denn getan? Ich will, dass das aufhört! Aufhörn! AUFHÖRN! Ich will das nich mehr! Ich hab`s nie gewollt! Ich… „Joselina,“ unterbrach Irwings Stimme Maries Gedankengang. „Ich möchte, dass du auf dein Zimmer gehst und erst wieder rauskommst, wenn ich dich holen lasse.“ Josi erhob sich augenblicklich und verließ, nach einem kurzen Blick auf Marie, die ihr ängstlich hinterher sah, das Zimmer. Was will er von mir? Ich weiß doch nichts, man! Ich… „Mary,“ kam es freundlich von Irwing und er ließ sich neben das Mädchen auf dem Sofa nieder.

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Er musterte sie eingängig, setzte dabei aber ein leichtes Lächeln auf, was sie nicht im Geringsten zuordnen konnte. „Geht es dir gut, Mary?“ fragte er schließlich und Marie brachte nicht mehr als ein Nicken zustande. „Sicher?“ Er beobachtete sie immer noch und ihr wurde immer unbehaglicher. „Mrs Brooks hat heute angerufen…“ Mrs Brooks? Der Name ratterte in ihrem Gedächtnis, doch sie fand so schnell keine Zuordnung. „… ihre Tochter hatte ihr erzählt, dir wäre es heute Vormittag nicht gut gegangen. Sie sei mit dir in der Kuppel gewesen und…“ Eliza! Gott, `die´ Mrs Brooks, die Rektorin! Verdammt, was hat se ihr erzählt? Und vor allem, was hat se `ihm´ erzählt? „… du seihst plötzlich kreideweis geworden.“ Er machte eine kleine Pause, wartete darauf, dass sie etwas erwidern würde. Doch das tat sie nicht. Also fuhr er fort. „Dann die Sache mit dem Tee vorhin… Du sahst aus, als hättest du einen Geist gesehen,“ seine Stimme lachte, „und jetzt der Baum.“ Dann wurde er wieder ernst. „Mary, Schätzchen, was ist los mit dir?“ Nenn mich nich…, schaltete ihr Verstand sich augenblicklich ein. Doch dann schlug er abrupt einen Hacken zurück zum eigentlichen Thema. N komisches Mädchen im Nachthemd hat`s auf Josi und mich abgesehn! Das is los! Sie macht uns das Lebn zur Hölle! „Mary?“ Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter und brachte schnell ein „nichts“ über die Lippen. „Weißt du, Hannah hat mir erzählt, dass du nicht unbedingt erfreut warst, hierher ziehen zu müssen. Und ich kann das nachvollziehen. Das ist vollkommen verständlich. Aber deswegen musst du nicht gleich meine Bäume in Brand setzen.“ „Ich war es nicht.“ Sie hatte es ausgesprochen, noch ehe sie es gedacht hatte. „Oh Gott,“ murmelte Irwing leise, „ich wusste es. Josi…“ „Nein,“ unterbrach sie ihn, schaute ihn aber nicht an, „die war es auch nicht. Und ich bin gern hier,“ setzte sie schnell noch hinzu. Danke… Aber wenn es weder du noch Josi waren,“ hakte er nach, „wer war es dann, mhm?“ Sie presste kurz die Lippen aufeinander, sagte aber kein weiteres Wort. Sie hörte ihn seufzen und vernahm aus dem Augenwinkel, wie er sich durch seine grauen Locken strich. „Hannah wird davon nicht begeistert sein.“ Hannah? Oh, verdammt. „Bitte… Kann das nicht unter uns bleiben? Dir und mir und Josi?“ Er schaute sie fast mitleidig an und sie versuchte krampfhaft seinem Blick standzuhalten. „Und wie erkläre ich dann den kleinen Baum im meinem Haus,“ wollte er wissen, „und die beiden verkohlten hinten auf der Wiese?“ „Ich… Ich weiß nicht. Vielleicht ein… ein Blitzeinschlag, oder so.“ Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, das dann aber doch ganz schnell wieder verschwand. „Ihr habt euch das eingebrockt,“ meinte er ernst, „also werdet ihr dafür auch gerade stehen.“ Sie ließ den Kopf hängen. „Und jetzt geh bitte auf dein Zimmer.“

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Verdammt. Verdammt. Verdammt! VERDAMMT! Sie schaute nicht noch einmal zu ihm zurück, sondern erhob sich augenblicklich und machte sich auf den Weg zur Tür. „Mary,“ rief er ihr nach und sie drehte sich wieder zu ihm um. „Geh bitte bei Josi vorbei und schick sie zu mir runter.“ Sie nickte nur und verließ dann den Raum.

* * * „MARIESCHATZ!“ Sie hörte Hannahs erregte Stimme schon aus dem Flur und machte sich auf eine saftige Standpauke gefasst, doch als die Tür aufflog und ihre Mutter praktisch in das Turmzimmer geflogen kam, war sie von dessen Verhalten geradezu überwältigt. „Marieschatz! Meine Güte! Geht es dir gut? Ist dir was passiert?“ Hannah war über ihr. Neben ihr. Nahm sie in den Arm. Fasste sie bei den Schultern. Nahm ihren Kopf in ihre Hände. Küsste sie auf das Haar. Und auf die Stirn. Umarmte sie erneut. Drückte sie an sich. Und quasselte nach wie vor auf sie ein. „Ma-ah,“ presste Marie hervor, „es geht mir gut. Wirklich.“ „Bist du dir sicher? Keine Verbrennung? Keine Rauchvergiftung? Hast du Schmerzen, wenn du…“ „Ma,“ unterbrach sie Hannah bereits leicht angenervt, „es ist nichts passiert.“ „Gott! Als Irwing mir sagte, dass… Ich dachte schon… Bist du dir auch wirklich sicher, Schatz? Wir könnten einen Arzt kommen lassen.“ Nein! Gott, bloß keinn Arzt! „Mir geht es gut. Ehrlich.“ Und noch einmal schloss Hannah sie in die Arme. „Ma!“ „Entschuldige,“ kam es von Hannah. „Ich bin nur so froh, dass dir nichts passiert ist!“ Man, mittlerweile wünschte ich mir, mir wär doch was passiert. Dann würde se wenigstns nich so rumquassln und mich andauernd drückn! Hannah strich sich über das Haar und rieb ihre Hände anschließend unbewusst an ihrer Hose ab. Dann ließ sie sich neben Marie auf der Fensterbank nieder. „Wie ist das passiert? Erzähl doch mal.“ „Äh… Ich… Ich weiß nicht,“ stammelte sie. Hannah sah sie auffordernd an. Josi und ich ham n bisschen rumexperimentiert. Mit unsren Fähigkeitn, weißte. Ham Wasser und Luft und Feuer so kreuz und quer durch die Gegend geschleudert. Mit unsren Händn, man. Mit unsren bloßn Händn! „Ich weiß es wirklich nicht mehr,“ log sie und sah ihre Mutter mit großen, unschuldigen Augen an. „Ich kann mich nicht dran erinnern.“

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„Bist du auf den Kopf gefallen?“ kam es sofort besorgt von dieser und sie war aufgestanden und hatte wieder Maries Kopf in ihren Händen, bevor das Mädchen auch nur mit der Wimper zucken konnte. „Nein, Ma! Ich glaube nicht,“ gab Marie von sich, während sie versuchte, sich aus dem Griff ihrer Mutter zu befreien. „Irwing hat mir gesagt, dass du hingefallen bist, als er dich da weggezogen hat.“ „Ja, man, aber nicht auf den Kopf!“ meinte sie erbost. „Mir geht es gut, ehrlich. Ich kann mich nur einfach nicht mehr daran erinnern!“ Nun ließ auch Hannah endlich von ihrer Tochter ab und setzte sich wieder neben sie. Sie musterte Marie eine Zeit lang, in der Marie es vorzog, aus dem Fenster zu starren. Selbst von hier oben konnte sie die verkokelten Bäume ausmachen, aus denen immer noch hellgrauer Qualm aufstieg. Ein Feuerwehrwagen war dort gewesen und hatte das ganze gelöscht. „Marieschatz? Du würdest mir doch sagen, wenn etwas nicht stimmt, oder?“ Marie setzte trotz ihrer Genervtheit ein Lächeln auf, als sie sich zu Hannah umdrehte. „Das weißt du doch, Ma.“ Hannah nickte leicht und warf noch einen kurzen Blick auf die qualmenden, von Ruß geschwärzten Bäume, bevor sie ihre Tochter wieder ins Visier nahm. „Du weißt, dass du mit allem zu mir kommen kannst, Mariescha…“ „Ja, Ma, das weiß ich,“ unterbrach sie ihre Mutter und hatte Schwierigkeiten ihre Stimme freundlich klingen zu lassen. „Sei es etwas schulisches, etwas…“ Hannah wurde durch die sich öffnende Tür unterbrochen und Josi gab auch sofort ein peinlich berührtes “Oh, sorry“ von sich und war dabei die Tür wieder zu schließen. „Josi!“ rief Hannah ihr hinterher und die Tür wurde wieder ein wenig geöffnet. „Komm rein. Ist schon in Ordnung.“ Josi trat also, gefolgt von den beiden Hunden, ein, während Hannah sich mit einer letzten Umarmung und einem Kuss auf Maries Stirn von ihrer Tochter verabschiedete. Kaum war die Tür hinter Hannah ins Schloss gefallen, ließ Marie einen lauten Seufzer erklingen. „Danke, Josi,“ hauchte sie. „War sie sauer?“ hakte das andere Mädchen nach und verzog das Gesicht. „Ne, sie war nur total besorgt. Hat mich praktisch erdrückt mich all ihrer Fürsorge. So, wie sie es immer tut.“ „Gut,“ meinte Josi und ließ sich erleichtert neben Marie in die Kissen auf der Fensterbank fallen. Marie klopfte neben sich und sofort sprang Achilles auf ein freies Kissen, während Hercules es sich auf dem Boden bequem machte. Marie strich kurz über Achilles großen Kopf und blickte dann gedankenverloren aus dem Fenster. „Das haben wir wirklich gut hinbekommen,“ murmelte Josi schließlich. Sie hatte zwar nicht versucht, ihre Stiefschwester aufzuheitern, doch der ängstliche Blick, den Marie ihr zuwarf, gefiel ihr gar nicht. „Was, was hast du?“ „War es das letztes Mal auch so? So, dass du es nicht kontrollieren konntest?“ „Nein,“ schüttelte Josi langsam den Kopf, „aber da war es auch nicht so wie dieses Mal.“ „Wie meinst du das?“ „Letztes Mal konnte ich nur hölzerne Dinge bewegen, die nicht all zu schwer waren und kleine Windhosen entstehen lassen. Es war nicht wie jetzt. Nicht so… nicht so…“ sie suchte nach einem Wort und ließ sie Hand dabei kreisen, die Marie augenblicklich festhielt, „nicht so gigantisch.“ „Hat sie noch was zu dir gesagt?“ wollte Marie wissen, während sie den großen Hund am Ohr kraulte und Josi schüttelte den Kopf.

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„Nur dasselbe, wie jedes Mal. Wir sollen ihn in Ruhe lassen. Wir sollen uns fortscheren,“ sie zuckte die Schultern. „So was eben.“ „Und als sie da in den Flammen stand, hat sie…“ „Du hast sie auch gesehen,“ unterbrach Josie Marie plötzlich. „Ja. Erst ganz am Ende. Sie war plötzlich da und dann war sie wieder verschwunden.“ Die beiden schwiegen wieder und starrten auf die schwarzen Bäume, von denen mittlerweile nur noch dünner weißer Rauch aufstieg, der fast wie leichter Nebel aussah.

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omm schon! Na los! Linnea starrte auf die Wasserschale vor ihr auf dem Tisch. Es war das erste

Mal, dass sie versuchte zwei Elemente zu verbinden. Zur großen Überraschung Loklens, hatte sie keinerlei Schwierigkeiten gehabt, Kerzen einerseits zu entflammen und andererseits ohne ihren Atmen zur Hilfe zu nehmen, wieder aus zu machen. Er hatte ihr erklärt, dass sie eine Verbindung mit dem Element eingehen sollte. Anders, als Loklen es ihr gesagt hatte – sie solle sich vorstellen, sie sei Teil des Elementes – stellte sie sich immer vor, sie hätte vier Dosen vor sich, je eine für jedes Element. Die für Feuer, stellte sie sich hölzern vor, da Loklen ihr erklärt hatte, es ginge eher um die Wandlung, das Entstehen von Neuem, nicht um die Flammen. Holz war für sie dasjenige Material, das Verwandlung am besten repräsentierte. Es wuchs aus einem einzigen Samenkorn, war erst ein filigranes Pflänzchen und konnte mit der Zeit zu einem gigantischen Gewächs werden, das innendrin komplett anders aussah, als außen. Jedes Jahr durchlief ein Baum die Phasen der vier Jahreszeiten und verwandelte sich dementsprechend. Wenn er zu alt oder krank wird, wird er morsch und zerfällt und bietet trotzdem nach wie vor eine Behausung für etliche Tierarten. Neben der hölzernen Dose, befand sich eine perlmuttfarbene, die wie eine Muschel gearbeitet war und im Lichtschein glänzte. Obwohl Linnea noch nie eine wirkliche Muschel zu Gesicht bekommen hatte, hatte sie doch schon Zeichnungen davon gesehen und von den prächtigen Farben gehört, die solche Tiefseemuscheln haben können. Wenn sie diese Dose öffnete, vernahm sie stets das Geräusch von Wellen und eine leichte Gischt schlug ihr entgegen, die ihr Gesicht mit winzigen Wassertröpfen bespritzte und nach Algen und Fisch roch und nach Salz schmeckte. Neben der Dose des Wassers ruhte ein unscheinbarer und doch klobiger Stein, auf den eine goldgelbe Getreideehre gezeichnet war. Es war ein unförmiger grauer Klumpen mit einer rauen Oberfläche. Doch wenn sie ihn ganz dicht an ihr Gesicht heranführte, stieg ihr der Geruch von feuchter Erde nach einem erfrischendem Regenguss im Sommer in die Nase und anfangs konnte sie kaum genug davon bekommen. Als letztes war da noch die filigrane, fast transparente Dose, die in Federform gearbeitet war. Jedes Mal, wenn sie den Deckel dieser Dose öffnete, erklang eine liebliche Melodie, die einem Windspiel glich, das sachte hin und her bewegt wurde. Je mehr sie dieses Element innerhalb einer Sitzung beanspruchte, desto lauter wurden die hellen, klaren Töne, bis sie schließlich in das Rauschen von Blättern übergingen. Es war Linnea dann immer so, als flüstere ihr der Wind, der durch die Bäume strich etwas zu, das sie allerdings nicht verstehen konnte. Um mit den Elementen zu arbeiten, öffnete sie die entsprechende Schachtel und ließ sich von dem Element, das aus ihr emporstieg, einhüllen, bis sie es fühlen, schmecken, riechen und hören konnte. Dann hatte sie das Gefühl, es wäre in sie übergegangen und wäre ein Teil von ihr geworden – anders als bei Loklens Erklärung, in der sie ein Teil des Elementes sein sollte. Sie war der Meinung, so hätte sie Kontrolle über die Elemente und nicht die Elemente über sie. Jedenfalls stellte sie sich das so vor. Sie… Ein Geräusch im Flur, ließ Linnea plötzlich aufschrecken. Loklen? Er hatte ihr verboten, es alleine auszuprobieren. Hatte gesagt, es sei zu gefährlich. Hatte ihr eine Predigt darüber gehalten, was alles passieren könnte, wenn sie es ohne seine Hilfe macht. Hatte ihr einreden wollen, dass er ihr Schutz bieten könne.

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Wozu ihr nur eingefallen war: Und wie zum Henker will er da was ausrichtn? Wenn was schiefgeht? Er is n Feuer-Ed! Was kann er da schon groß gegen n Raum voll Erde machen? Oder n wütenden Sturm im Gasthof? Er hat selbst gesagt, Wasser kann Feuer bekämpfn und Feuer Wasser vernichten – aber nur, wenn`s kraftvoll genug is… Sie hatte ihre Gedanken allerdings für sich behalten – wie ihr das gelungen war, wusste sie nach wie vor nicht. Sie nahm an, mit der ersten Kontaktaufnahme der Ednessiv-Kräfte, hatte dieses andere Element, für das sie noch keinen Namen gefunden hatte, ihre Gedanken für Außenstehende blockiert. Sie horchte angestrengt, doch als sie keine weiteren Geräusche vernahm, richtete sie ihre Konzentration wieder auf die Schale vor sich. Sie hatte vor, Wind zu erzeugen und das Wasser in der Schale zum Rotieren zu bringen. Das Bild hatte sich bereits fest in ihrem Kopf verankert und sie versuchte erneut die Luft-Dose zu öffnen und das Element in sich aufzunehmen. Sie schloss die Augen und sofort waren die vier Dosen wieder da. Wie eine Außenstehende sah sie sich an einem Tisch sitzen und die Dose öffnen. Ein Windhauch, den sie nicht sehen, sondern nur hören und spüren konnte, stieg aus der filigranen Schachtel empor und sie streckte die Hand danach aus. Die leise Melodie des Windspiels kam von überall her, wurde ein wenig intensiver, als sie sachte den Windhauch durchstieß und spürte, wie er von ihr aufgesogen wurde. Sie merkte, wie er auf Widerstand traf – das muss das Wasser sein – und versuchte ihn zu umgehen. Da dieses Element allerdings bereits Linneas gesamten Körper ausfüllte, blieb ihm nichts anderes übrig, als eine Fusion mit ihm einzugehen und so verschmolzen beide Elemente zu einer Masse. Wie Milch in ner Teetasse… Ne, Zucker in ner Teetasse! Milch und Tee sind ja beide flüssig. Zu dem mittlerweile gut zu hörendem Windspiel war plötzlich das Kreischen eines Vogels hinzugekommen und für Sekundenbruchteile sah Linnea das Bild einer weißen Möwe, die über eine grasbewachsene Düne in Richtung Mehr flog. Die Lautstärke nahm zu, doch nicht wie sonst veränderte sie sich in das altbekannte Blätterrauschen. Sie hörte, wie sich Pflanzen im Wind wogen, da war sie sich sicher, doch waren es keine Bäume. Winzige Körner prasselten ihr gegen das Gesicht. Sand! Dann… dann müssn die Geräusche von… von diesn hornartign, grünblaun, trocknen Gräsern gemacht werdn. Die beiden Elemente waren so sehr miteinander verschmolzen, dass Linnea das eine vom anderen nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Doch als sie versuchte die Gardine durch eine leichte Brise in Bewegung zu setzen, funktionierte es. Und auch das Wasser in der Schale ansteigen zu lassen, bereitete ihr keinerlei Probleme. Gut, dann legn wir mal los… Sie benetzte ihre Lippen, schmeckte das Salz, und atmete noch einmal tief durch. Sie konzentrierte sich nicht einen Wasserstrom entstehen zu lassen – das hätte zwar denselben Effekt – kreiselndes Wasser – doch wollte sie, dass es dieses Mal der Wind machte. Sie ließ eine leichte Brise im Zimmer aufkommen und lenkte sie in Richtung der Schale. Die Wasseroberfläche schlug sofort Wellen. Gut. Weiter. Sie ließ die Luft sachte kreisen und genauso, wie sie es erwartet hatte, kreiste das Wasser in der Schale mit ihr. Wunderbar! Was passiert, wenn ich jetzt beide gegennander ausspiele? Sie trennte beide Elemente wieder voneinander und ließ das Wasser aus der Schale langsam emporsteigen. Dann lenkte sie es in Richtung des Windes, den sie gegen das Wasser ansetzte

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und ließ beide Elemente aufeinanderprallen. Sie wurde nassgespritzt und sprang erschrocken zurück. Verdammt, man. Das hätt dir aber auch vorher einfalln könn, Linnea, schalt sie sich selbst und strich sich über das nasse Kleid. Feuer, schoss es ihr durch den Kopf und im nächsten Augenblick hatte sie die hölzerne Dose geöffnet. Wie jedes Mal kroch ein roter Salamander aus der Schachtel, lief auf sie zu und vergrub sich unter ihrer Haut. Anders als sie es erwartet hatte, stieß der Salamander auf keinerlei Widerstand. Stattdessen hörte sie kurz ein lautes Zischen, so als wenn Wasser auf eine Kochstelle tropft. Doch noch bevor sie sich des Geräusches richtig gewahr werden konnte, war es auch schon wieder verschwunden. Dann, allerdings, vernahm sie den Geruch von beißendem Rauch in der Nase und ihre Kehle brannte. Ihr schwindelte leicht, und sie versuchte zu schlucken. Sie zwang die Elemente in ihr auf ein Minimum zurück zu pegeln und ließ die Tischkante, an der sie sich unbewusst festgehalten hatte, wieder los. Gut, sagte sie sich, obwohl ihr immer noch leicht schwindelig war. Sie atmete noch einmal tief durch, schloss die Augen und streckte ihre Hand aus. Dann ließ sie eine kleine Flamme oberhalb ihrer Hand entstehen und hielt sie dicht an ihre Kleidung. Ah… das geht so nicht, stellte sie nach einiger Zeit fest. Wind! Und somit blies eine leichte Brise die Flammen und damit die Wärme in Richtung des Stoffes. Sie ließ die Flammen ein wenig größer werden und genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte, war der Stoff ihres Kleides binnen kürzerer Zeit wieder getrocknet. Schön, und was jetzt? Sie sah die wenigen Wassertropfen, die noch immer über dem Tisch in der Luft hingen und ließ sie mit winzigen Funken des Feuers zusammentreffen, was Zischlaute und manchmal sogar kleine Rauchwölkchen hervorbrachte. Danach brachte sie den Wind mit ins Spiel und scheuchte die Wassertropfen und Funken durch die Gegend, immer darauf bedacht, den Wind nur so stark zu machen, dass er die Funken nicht ausblies. Nachdem sie das Trio ganz gut unter Kontrolle hatte, vergrößerte sie alle Anteile und trennte sie danach, so dass sich jetzt zwei Gruppen von Luft, Feuer und Wasser im Raum befanden. Sie scheuchte die sechs einzelnen Elementteile durch die Gegend und war erstaunt, wie leicht sie jedes einzelne lenken, vergrößern und verkleinern konnte. Sie schaffte es, fünf Hetzjagden gleichzeitig zu kontrollieren – der Versuch mit einer zusätzlichen sechsten hinterließ seine Spuren auf einer der Wände. Linnea pegelte das ganze auf zwei Winde, Feuer und Wasserfuhren hinunter – die anderen drei ließ sie mit den zweien verschmelzen und verkleinerte dann nur noch die Größe der zwei übriggebliebenen – und widmete sich der Wand, um das Brandloch mit einem Bild, das keine zehn Zentimeter daneben hing, zu verdecken. Sie war so konzentriert gewesen, dass sie die Schritte auf der Treppe nicht wahrgenommen hatte und ziemlich perplex war, als Loklen plötzlich in der Tür stand. „WAS ZUM HENKER MACHST DU DENN?“ schrie er sie an, nachdem er sich innerhalb von Sekundenbruchteilen ein Bild davon gemacht hatte, in was er gerade hineingestolpert war. Er knallte die Tür hinter sich zu und hatte Linnea, die die Konzentration über die drei Elemente verloren hatte, am Arm gegriffen. Er duckte sich, als etwas direkt auf ihn zugeschossen kam und eliminierte das Ding, als er sah, dass es ein winziger Feuerball war. Den anderen ließ er kurz größer werden und vernichtete somit die Wasserbälle, doch gegen den Windzug, der nach wie vor durch das Zimmer tobte, konnte er nichts ausrichten. „Loklen, es… es tut mir leid,“ beteuerte Linnea. „MACH, DASS DIESER VERFLUCHTE WIND AUFHÖRT!“ schrie er sie an, während ihm die Haare ins Gesicht geweht wurden.

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Linnea fühlte in sich hinein. Und anders, als sie es erwartet hatte, herrschte dort immer noch eine Fusion der drei Elemente. Sie baute sie schnell ab, alle gemeinsam und ließ sie wieder in den Dosen verschwinden. Und als sie alle wieder fest verschlossen hatte, war auch der Wind verschwunden. Loklen hatte sie an beiden Schultern gepackt und schüttelte sie leicht. „WAS, ZUM HENKER, HAST DU DIR DABEI GEDACHT? HÄ? DAS WAR GEFÄHRLICH!“ Dann zerrte er sie zu einem der Stühle und drückte sie darauf nieder. Er ließ von ihr ab, fing aber an hinter ihr auf und ab zu laufen und brüllte sie weiterhin an. Linnea hatte zu weinen begonnen und strich sich mit der Hand über die Augen und das Gesicht. Warum zum Henker regt er sich so auf?, schoss es ihr durch den Kopf. Es hat doch alles ganz toll funktioniert! Bis er ins Zimmer kam, schaltete sich ihr Verstand in die mentale Unterhaltung ein. Ich hatte alles unter Kontrolle, widersprach sie sich zickig. Ich hab sogar mit DREI Elementn gleichzeitig hantiert! „ICH GLAUBE, ICH BRAUCHE JEMANDEN, DER MIR ZEIGT, WIE MAN MIT DIR RICHTIG KOMMUNIZIERT!“ schrie er sie an und Linnea wagte nicht ihn anzusehen. „DU MACHST EINFACH NICHT, WAS ICH DIR SAGE! ICH ERKLÄRE DIR WAS, DU SAGST, DU HÄTTEST ES VERSTANDEN UND TROTZDEM KOMMT AM ENDE CHAOS RAUS!“ „Loklen, es…“ „DU HÄLTST DEN MUND, WENN ICH MIT DIR SPRECHE!“ herrschte er sie an. Er hatte sich zu ihr umgedreht und starrte sie aus wütenden Augen an. „Denkst du, ich mache das alles nur zum Spaß, oder was? Ich habe dir gesagt, mit den Kräften der Elemente umzugehen, ist nicht ungefährlich! Was ist daran so schwer zu verstehen, hä? Du hast mir sogar versprochen… VERSPROCHEN, dass du die Finger von einer Fusion lässt!“ „Es hat alles hervorragend funktioniert!“ warf sie ihm eingeschnappt an den Kopf. „Das,“ gab er fast flüsternd durch zusammengebissene Zähne von sich und deutete auf die versenkte Wand hinter sich, „nennst du hervorragend funktioniert?“ „Du hast mich aus dem Konzept gebracht,“ log sie. „Vorher hatte ich alles unter Kontrolle.“ Er funkelte sie nur unverwandt zornig an und seine Kiefernmuskeln bewegten sich, so als wolle er etwas sagen, was er dann doch nicht tat. „Wie viele?“ fragte er schließlich immer noch reichlich aufgebracht. „Wie viele was?“ „Elemente,“ gab er gereizt von sich. „Was sonst?“ „Drei.“ Man, er hat`s doch selbst gesehn, als er reingekomm is! Seine Wut verwandelte sich postwendend in Erstaunen und er starrte sie nur verwundert und positiv überrascht an. „Drei?“ fragte er schließlich und ließ sich schwerfällig auf einen der Stühle nieder. „Du… du hast mit…“ er schluckte, „dreien gleichzeitig experimentiert?“ Er sah reichlich mitgenommen aus. Mhm, überlegte sie, vielleicht ging`s alles zu schnell und er hat`s gar nich wahrgenomm. „Ja.“ „Und du… du hattest es unter Kontrolle?“ „Ja, bis du kamst.“ Er fuhr sich durch deine langen roten Locken und schüttelte immer noch etwas perplex den Kopf. „Linnea,“ wandte er sich schließlich wieder an sie und sah sie eindringlich an, „geht es dir gut?“ „Was? Ja.“ „Bist du dir sicher?“ „Ja-ah.“ Er musterte sie nach wie vor.

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„Wieso fragst du?“ Er befeuchtete seine Lippen, bevor er sprach. „Selbst die besten…die… die stärksten deiner Familie, brauchten Jahre, um ihre beiden Elemente miteinander zu verbinden. Du hast gerade einmal vor vier Tagen damit angefangen und… und…“ Er schüttelte erneut den Kopf und strich sich gedankenverloren über den Mund. „Loklen?“ hakte sie vorsichtig nach. „Und was?“. Es gefiel ihr gar nicht, dass er so reagierte. Es machte ihr Angst. Dass er sauer sein würde, wenn er herausfand – dass sie ohne seine Anleitung und seine Aufsicht daran arbeitete – war ihr klar gewesen. Doch ihn jetzt so mitgenommen vor sich zu sehen… Ihn, der so viel wusste. So viel machen konnte. In dessen Hände Jarlath Kielin sie gegeben hatte. Das machte sie fertig. „Loklen?“ versuchte sie es noch einmal vorsichtig. Seine blauen Augen wanderten zu dem jungen Mädchen zurück. „Niemand, Linnea… Niemand hat jemals mit drei Elementen gleichzeitig hantiert.“ „Du… du meinst, es gibt keinen Ednessiv, der jemals…“ „Nein, wie denn auch? Die stärksten unter uns sind die Keylans und die beherrschen zwei. Und… und viele von denen sind schon bei dem bloßen Versuch umgekommen, nur diese beiden in sich aufzunehmen, da sie nicht wussten, was genau sie zu tun hatten. Gott,“ seine Stimme, die zuvor kaum vernehmbar und dünn gewesen war, hatte sich abrupt geändert und eine Sorgenfalte war zwischen seinen Augenbrauen entstanden, „bist du dir sicher, dass es dir gut geht?“ Schön, dass er mir das jetzt erzählt! Dass schon viele beim `bloßn´ Versuch umgekomm sind. Ach, schaltete sich ihr Verstand ein, hätteste irgendwas anders gemacht, wenn des gewusst hättest? Mhm, ne, wahrscheinlich nich, gestand sie sich selbst ein. Eine Berührung an der Schulter riss sie aus ihrem Gedankengang. Loklen war wieder aufgestanden und an sie heran getreten. Seine Hände ruhten auf ihren Schultern und er sah sie besorgt an. „Linnea? Geht es dir gut?“ „Ja,“ versuchte sie seine Hände abzuschütteln, „wenn ich es dir doch sage.“ Er musterte sie noch kurz eingehend, doch als er wirklich nichts Ungewöhnliches an ihr feststellen konnte, ließ er ihre Schultern wieder los, schüttelte den Kopf und murmelte ein „Und das alles in vier Tagen“.

* * * „Du?“ fragte Linnea, während sie mit einer Gabel in ihrem Essen herumstocherte, „wann ziehen wir weiter?“ Sie saßen in der karg beleuchteten Gaststube. Eine Barde klimperte auf einer schlecht gestimmten Harfe herum und sang in schiefer Stimme alberne Lieder dazu. Loklen hatte mehr als nur einmal seinen Blick zu ihm erhoben und ihn genervt anvisiert. Linnea hatte schon darauf gewartet, dass irgendetwas passierte – eine gerissene Saite, Kleider, die Feuer fingen, eine Harfe, die plötzlich auseinanderbrach – doch nichts war geschehen und sie hatte sich gefragt, wie ihr Begleiter, dem das ganze sichtlich auf den Geist ging, sich so sehr unter

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Kontrolle haben konnte, dass dies der Fall war. Von hier und dort schnappte Linnea Gesprächsfetzen auf, die sich allesamt immer wieder um das Wetter drehten, das Verrückt zu spielen schien. Laut den Leuten jedenfalls; Linnea konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Der reichlich beleibte Wirt, Loklen hatte ihn Peredur genannt, hatte ihnen vor einer Zeit einen dicken Kerzenstumpf auf den Tisch gestellt, der zwar seinen Wachs in sämtliche Richtungen verteilte, doch nicht sonderlich viel Licht spendete. Es reichte gerade aus, um die faden, verkochten und mit Salz überhäuften Kartoffeln auf Linneas und Loklens Teller so weit zu beleuchten, dass man die Schemen erkennen konnte. Linnea hatte ihren Begleiter gefragt, weshalb er nichts dagegen tat – gegen das schlechte Essen, den nervenden Barden, das karge Licht. Doch er hatte ihr nur ein „Keylan-Vorfall“ in einer Tonlage an den Kopf geworfen, die aussagte, dass Linnea hätte selbst darauf kommen müssen. Dann hatte er wieder den Barden fixiert und ihn mit Blicken zu töten versucht. Man, is der mies gelaunt! Der Barde muss ihm ja echt ziemlich aufn Sack gehen… Sie hätte ihm das nicht verübelt, wenn dem Musiker etwas zugestoßen wäre und so, wie es aussah, wäre sie garantiert nicht die einzige gewesen. An so ziemlich jedem Tisch saßen Leute, die zwanghaft das Geträller des Barden auszublenden versuchten. Ihre Geduld und Ignorier-Fähigkeit wurde allerdings immer wieder von ihm auf die Probe gestellt – wenn er beispielsweise besonders hoch und schief und leider Gottes äußerst inbrünstig krächzte oder aber wieder einmal eine falsche Saite zupfte, wie er es alle paar Takte tat, die noch weniger in die sowieso schon schiefe Melodie passte. „Das habe ich dir doch alles schon erklärt,“ raunte er, ohne seine Augen von dem Harfenspieler zu nehmen. „Ja,“ nörgelte Linnea, „aber woher weiß ich denn, dass…“ „Du wirst es wissen,“ unterbrach er sie barsch und die Sache war für ihn somit vom Tisch. Sie seufzte laut, stützte ihren Kopf auf ihre Hand und stocherte weiter in den Kartoffeln herum. Die Tür zur Gaststube wurde geöffnet und ein über und über mit Schnee bedeckter Mensch kam herein. Er schüttelte sich, so dass der Schnee in alle Richtungen davonflog – sehr zum Ärgernis der nahe sitzenden Leute, die von den kleinen Schneebiestern gebissen wurden – und hielt dann Ausschau nach irgendjemanden. Loklen hatte endlich den Blick vom Barden genommen und winkte dem Mann zu. „Ayden!“ Dieser sah sich suchend um, bis er den winkenden Loklen sah und kam mit ausgreifenden Schritten auf den Tisch zu. Loklen hatte sich erhoben und die beiden Männer umarmten sich zur Begrüßung. „Linnea,“ gab Ayden von sich, nickte ihr zu und ließ sich auf den dritten und letzten Stuhl an dem kleinen hölzernen, wackligen Tisch nieder. So war das jeden Abend gegangen, seit sie in Ablin eingetroffen waren. Linnea hatte sich mit Loklen zusammen in den reichlich verqualmten Gemeinschaftsraum des Weißen Hirsches begeben. Hatte versalzenes, halbrohes, reichlich verkochtes, lasch gewürztes oder aber verbranntes Essen vorgesetzt bekommen. Hatte die schiefen Gesangeinlagen des unfähigen Barden ertragen müssen. Hatte an ihrem zweiten Abend versucht das Licht der Kerze zu intensivieren. Was in einer zehn minütigen, geflüsterten Standpauke Loklens geendet hatte, die er eigentlich auch nur mit den Worten Seit dem Keylan-Vorfall vermeidet jeder Ednessiv die Handhabung der Elemente in der Öffentlichkeit, um die normal Sterblichen nicht zu verschrecken hätte zusammenfassen können. Hatte ab und an im kargen Licht der Kerze Schach, Karten oder Würfelspiele mit Loklen gespielt.

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Was sehr zu ihrem Frust beigetragen hatte, da er, welches Spiel auch immer es war, gewonnen hatte. War nach dem dritten Abend stets gegangen, wenn Ayden kam, mit dem Loklen sich bis tief in die Nacht hinein unterhielt. Und hatte sich fortwährend gefragt, wann die beiden das kleine Kaff Ablin endlich verlassen würden. Selbst Cahal hat mehr zu bietn! Anfangs war sie noch voller Elan und Neugierde endlich in eine Stadt – und sei sie noch so klein – gekommen zu sein. Doch bald hatte sich herausgestellt, dass es abgesehen von einer Schmiede, einem Schuster, einem Schneider und einem Metzger nichts in der ganzen Stadt gab. Sie hatte keinen Juwelier vorgefunden, bei dem sie die Schmuckstücke hätte bewundern können. Keinen Färber, bei dem sie beim Färben hätte zuschauen können. Noch nicht einmal einen Wochenmarkt gab es, auf dem Obst, Gemüse und Vieh gehandelt wurden. Das Leben in Ablin, stellte Linnea schnell fest, war reichlich langweilig. Anfangs hatte Ayden immer noch Abwechslung in ihren Alltag gebracht, doch die forschenden Blicke, die er ihr zugeworfen und die zig tausend Fragen, die er ihr gestellt hatte, hatten sie nur all zu sehr daran erinnert, dass sie keinerlei Ahnung hatte, wer sie eigentlich war. Sie wusste nicht, wie alt sie war. Wo genau sie herkam. In welchem Jahrgang sie auf Kielins Schule gewesen war, bevor sie mit Loklen aufgebrochen war. Noch nicht einmal die einfachsten Fragen nach ihrer Lieblingsfarbe, ihrem Lieblingstier oder ihrer Lieblingsspeise konnte sie wahrheitsgemäß beantworten. Und somit hatte sie es vorgezogen, die beiden allein im Gemeinschaftraum des Weißen Hirsches reden zu lassen und hatte sich stattdessen jedes Mal auf das Zimmer, das sie mit Loklen gemeinsam bewohnte, zurückgezogen. Vor gut einer Woche – sie hatte gerade frisch gebackenes, kaum verbranntes Brot und ein Stück wirklich guten Käse zu sich genommen und war immer noch davon berauscht, dass sie es keine zwei Stunden zuvor fertig gebracht hatte, einen Miniatur-Baum in ihrem Zimmer keimen, wachsen, ausschlagen, zum Blühen bringen, roden und wieder verschwinden lassen zu konnte – war sie aufgestanden, als Ayden den Gemeinschaftraum des Weißen Hirsches betreten hatte, um nur schnell Reißaus zu nehmen. Loklen hatte ihr nur einen nicht zu deutenden Blick zugeworfen und Ayden, der sie sofort gesehen und auf sie zugekommen war, wollte wissen wohin sie denn wollte. Am liebsten hätte sie ihm Ach, weißte, ich hab grad total gute Laune und wenn `du´ kommst, dann verschwindet se jedes Mal. Also hab ich mir gedacht, ich geh lieber gleich!, doch das hatte sie sich in Anbetracht von Loklens Anwesenheit natürlich nicht zu sagen gewagt. Stattdessen hatte sie ihn nur matt angelächelt, gesagt, sie hätte noch zu tun und war dann schnellen Schrittes auf und davon. Sie war in ihr und Loklens Zimmer gegangen und hatte sich einem der Bücher gewidmet, die Peredur ihr geliehen hatte. Und somit hockte sie auch jetzt auf ihrem Bett und las im Schein einer Feuerkugel, die sehr viel heller war als die spärlich leuchtenden Kerzen im Gemeindezimmer des Weißen Hirsches, eines dieser Bücher. Peredur, der sich anscheinend nicht viel von Büchern machte, hatte ihr eine Handvoll wirklich kostbarer Werke überlassen. Es war eine handgeschriebene Erstausgabe von Bardons Himmelreich dabei, ein Abenteuerroman, der mittlerweile in jeder gutsortierten Bibliothek zu finden war und vermutlich ein Vermögen wert war. Dann war da ein Portfolio von Bardons Gedichten. An einem Buch namens Gartenkräuter und Wie Man Sie Pflegt interessierte sie eigentlich nur der alte, lederne Umschlag und sie hatte es, nachdem

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sie einen flüchtigen Blick auf den Titel geworfen hatte auch nicht mehr zur Hand genommen und auch mit keinem weiteren Blick gewürdigt. Linnea las den obersten Satz der Seite zum dritten Mal und gab schließlich auf, schlug Himmelreiche geräuschvoll zu und legte es beiseite. Sie massierte sich kurz den Nacken und drehte den Kopf, so dass ihre Halswirbel leise knackten. Gott, verdammt, wie zum Henker soll dieses verflixte Zeichn denn bitte sehr aussehn?, fragte sie sich zum wahrscheinlich hundertsten Mal. Loklen hatte ihr keinerlei Aufklärung darüber geben können, ob sie es sehen, hören, oder aber davon träumen würde. Er hatte nur jedes Mal wieder gemeint, sie würde es dann schon wissen. Doch sie hatte es so leid in Ablin festzustecken, weder vor, noch zurück gehen zu können. Vielleicht hab ich`s ja auch schon gesehn!, sagte sie sich zum tausendsten Male. Woher zum Henker soll ich auch wissn, wonach ich Ausschau haltn soll? Vielleicht war`s ja schon da…

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arein! Los!“ Flanagan drängte die jungen Mädchen in einen alten Schuppen. Die Tür war fast zu klein, um auf dem Pferderücken sitzend darunter hindurch zu reiten,

doch sie hatten keine Zeit abzusteigen. Es dauerte einen Augenblick, bis Linfars Augen sich an das schummrige Licht im Inneren der hölzernen Hütte gewöhnt hatte. Es roch nach Heu und Stroh und sie hörte, wie Tara leise schnaubte. „Jarlath Flanagan, warum…“ hörte sie Gonijaveils verängstigte Stimme hinter sich. „Sh!“ kam es von ihrem Mentor, Evaebjudi und Linfar gemeinsam und Gonijaveil fragte nicht weiter. Die vier lauschten angestrengt und die Mädchen versuchten ihre Pferde, die wegen des beengten Raumes nur noch mehr tänzelnden und stets unruhiger wurden, ruhig zu stellen. Der Tänzer stand friedlich und kaum angespannt vor der Tür und zum wiederholten Male fragte Linfar sich, ob es an dem Tier oder aber am Reiter lag. In den vergangenen sechs Tagen war es immer wieder vorgekommen, dass die Pferde der Mädchen vor irgendetwas gescheut hatte – seien es Kojoten des Nachts gewesen oder aber einer Horde Schneebiester – doch der Tänzer war stets ruhig geblieben. Den leicht bebenden Boden nahm Flanagan schon gar nicht mehr war. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis sie auf das Heer stoßen würden. Und obwohl er vorsichtiger geworden war, hatte er sie der Flotte trotzdem weiterhin entgegen geführt. Nun trennte sie nur noch ein Hügel von den Daloki und mittlerweile konnten auch die drei Mädchen das Beben der Erde wahrnehmen. Aus der Ferne, die genau genommen gar nicht so fern klang, wie Linfar es sich gewünscht hätte, drang das rhythmische Pochen von marschierenden Leuten an ihr Ohr. Sie fragte sich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, Schutz in diesem kleinen Schuppen zu suchen. Sie fühlte sich eingesperrt und ausgeliefert – sie würden noch nicht einmal eine Chance zum Fliehen haben, falls die Daloki sie umzingeln sollten. Ihre Angst übertrug sich auf Tara, die zunehmend panischer wurde. Doch dann schoss ihr durch den Kopf, dass die Truppen da draußen hinter Linnea her waren und nicht hinter ihr. Eigentlich brauchte sie sich gar keine Sorgen machen. Was sollten die schon gegen sie haben? Sie wurde nicht gesucht! Und sie war keine Ednessiv! Und plötzlich konnte sie das ganze Versteckspiel nicht mehr nachvollziehen. Warum waren sie nicht einfach am Wegrand stehen geblieben? Was hätten die Daloki schon mit drei Mädchen und einem jungen Mann anfangen sollen? Weshalb hätten sie die kleine Gruppe auch verdächtigen sollen? Doch dann kam ihr das belauschte Gespräch wieder in den Sinn. Wahrscheinlich war Jarlath Flanagan sich nicht sicher, ob man ihn wiedererkennen würde. Er war damals zwar keine zwanzig Jahre alt gewesen und das ganze war vierzehn Jahre her, doch so sehr hatte er sich vermutlich nicht verändert. Sie musterte ihn. Versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Doch er saß ruhig und gelassen auf dem Tänzer. Horchte nur. Kein bisschen Angst war bei ihm zu erkennen. Und das ließ sie hoffen. Wenn er keinen Übergriff befürchtete, dann brauchte sie sich darum auch keine Gedanken zu machen. Sie versuchte tief und regelmäßig zu atmen und merkte, wie sie allmählich ruhiger wurde, was sich unweigerlich auf Tara auswirkte. Das rhythmische Gehen der Daloki war lauter geworden und die Intensivität wuchs mit jedem Atemzug. Sie hatten den Feldweg, der an der Holzhütte, in der die vier sich befanden, bald erreicht und das Dröhnen des kleinen Heeres übertönte alles andere. Selbst das Schnauben der Pferde, die im Angesicht der Lautstärke wieder unruhiger geworden waren. Gonijaveil, sah Linfar, hatte große Probleme damit, Kalantin, der kurz vor einem Panikausbruch stand und

„D

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nur das Weite suchen wollte, unter Kontrolle zu bekommen. Doch dann fiel ihr Blick auf Jarlath Flanagan, der plötzlich seinen Blick auf Kalantin gerichtet hatte – er tat nichts weiter, keine Gesten, keine gesprochenen Worte, er schaute lediglich – und das Pferd wurde augenblicklich ruhiger. Gonijaveil, die einen hochroten Kopf von der Anstrengung, Kalantin unter Kontrolle zu bekommen, hatte, nickte ihrem Mentor dankbar zu. Er erwiderte die Bewegung und wandte sich dann wieder von dem Mädchen und dem Pferd ab. Linfar erinnerte sich daran, dass Jarlath Flanagan schon immer gut mit Tieren gekonnt hatte und schalt sich nicht eher dahinter gekommen zu sein, dass er ein Ednessiv war. Es war so offensichtlich gewesen. Der Lärm des Daloki-Heeres, das keine hundert Meter weiter an ihnen vorbeizog, ebbte langsam ab und nachdem auch das letzte Geräusch verklungen war, führte Jarlath Flanagan die Mädchen mit ihren Pferden wieder ins Freie. „Wir hätten nach Ablin reiten sollen,“ murmelte Evaebjudi, die ihre Angst zwar besser versteckt hatte als Gonijaveil, der es aber nicht anders ergangen war, „dann wären wir denen gar nicht begegnet.“ Jarlath Flanagan warf ihr einen genervten Blick zu. Das hatten sie alles schon einmal gehabt. Und abgesehen davon, hatten sie die kleine Stadt schon lange hinter sich gelassen. „Ich weiß, dass Ihr glaubt, dass sie nicht da sind,“ meinte das Mädchen schnell, „aber Ablin ist die erste Stadt, die…“ „… die auf dem Weg liegt, ja,“ führte er ihren Satz fort. „Allerdings ist sie viel zu klein, um unterzutauchen, falls das Daloki-Heer dort einfällt. Glaubt mir, die beiden sind nicht dort,“ setzte er dann in einem Tonfall hinzu, der keinen Widerspruch duldete. Evaebjudi war immer noch anderer Meinung, hielt aber den Mund und schmollte. Linfar war sich nicht sicher, ob sie wirklich vermutete, dass Linnea und ihr Begleiter – die Mädchen waren immer noch nicht dahinter gekommen, wer Jarlath Kielins Bruder war, da sie das Thema der belauschten Unterredung nicht anschneiden wollten – sich dort aufhielten, oder ob sie lediglich dorthin reiten wollte, da ihr Bruder, ein gewisser Ayden, dort lebte. „Jarlath Flanagan,“ hakte Gonijaveil vorsichtig nach, „wohin, glaubt Ihr, sind sie denn geritten?“ „Marbon,“ kam es von ihm, als sei das selbstverständlich. Doch als er sah, dass die drei ihm nicht folgen konnten, erklärte er: „In Marbon gibt es etliche Ednessiv, da werden sie nicht weiter auffallen. Außerdem kann Linnea dort vielleicht einen Mentor finden.“ Das schien einleuchtend zu sein und selbst Evaebjudi gab sich mit der Erläuterung zufrieden. Ohne ein weiteres Wort, setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung, Flanagan an der Spitze reitend, und nahm ihren Weg wieder auf. „Jarlath Flanagan, wie lange dauert es, bis wir in Marbon sind?“ wollte Linfar wissen. „Drei Tage, in etwa.“ Das Mädchen fluchte innerlich. Noch zwei Nächte unter freiem Himmel! Bei dem Wetter! Sie hatte sich die Reise anders vorgestellt. Nein, genau genommen, hatte sie sich die Reise gar nicht vorgestellt. Gonijaveil, Evaebjudi und sie hatten das ganze einfach Hals über Kopf entschieden und sich nicht ausgemalt, wie so etwas auszusehen hat. Nicht, dass sie ihre Spontan-Entscheidung bereute, sie hatte es lediglich satt bei Minusgraden im Schnee übernachten zu müssen. An und für sich reichten ihr schon die kalten Wintertage, die sie zu Pferd verbrachte. Da konnte sie gut auf die Nächte im Freien verzichten. „Sagt einmal, Jarlath Flanagan,“ wandte Evaebjudi sich nachdenklich an ihren Mentor, „ist Marbon nicht die…“ sie suchte nach dem genauen Begriff, „die schimmernde… nein, die… die glänzende…“ „Die Stadt der Klarheit,“ half er ihr mit einem Lächeln auf die Sprünge. Er sah in Gonijaveils und Linfars ratlose Gesichter und meinte: „Die Häuser sind aus Kommodi gebaut und spiegeln das…“ Er seufzte, als er sah, dass sie ihm nicht folgen konnten. „Ein Stein, der

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Sonnenlicht absorbiert und wieder abgibt… Normalerweise in Form von Wärme, aber in Marbon liefert er Licht. Man sagt, man könne in Marbon nicht lügen, da die Gebäude eine solche Klarheit und Reinheit ausstrahlen.“ „Und dahin, meint Ihr, hat er Linnea gebracht?“ schrie Evaebjudi entsetzt auf. „Zu demjenigen Ort, an dem sie nicht untertauchen kann, weil niemand es fertig bringt die Daloki über ihren Aufenthaltsort zu belügen?“ „Sei ganz unbesorgt,“ sagte er mit einem Grinsen auf dem Gesicht, „Kommodi haben ganz außergewöhnliche Beschützerinstinkte… Solange man reinen Herzens ist und davon gehe ich bei Linnea und Loklen aus.“ „Ja, aber…“ fing Evaebjudi an, doch Linfar unterbrach sie. „LOKLEN? Sagtet Ihr… Loklen?“ Flanagans Augen waren zu Linfar gewandert, doch sein Kopf hatte sich nicht bewegt. „Ja,“ meinte er etwas irritiert. „Wieso?“ Es dauerte eine Weile, bis Linfar alles in ihrem Kopf geordnet hatte. Plötzlich machte das Bild im Zimmer der obersten Mentorin Sinn. „Dann ist… Loklen ist Jarlath Kielins Bruder?“ Flanagan musste Lachen über die erstaunten Gesichter der Mädchen. „Ja, wusstet ihr das denn nicht?“ Die drei konnten eine gewisse Ähnlichkeit feststellen, doch hätten sie nie den flippigen, einzelgängerischen Loklen mit ihrer stets sehr akkuraten, peinlichst genauen und fortwährend adrett gekleideten obersten Mentorin in Verbindung gebracht. Der rothaarige Mann schien sich um Sitten und Manieren einen Dreck zu scheren, kam und ging, wann er wollte und agierte und sprach, wie es ihm gefiel. Flanagan konnte die Reaktion der drei Mädchen bestens nachvollziehen. Vor wenigen Tagen hatte er Loklen noch genauso gesehen, wie alle es taten. Mit seiner abgetragener, oftmals geflickter Kleidung und seinen langen Haaren sah er aus wie ein Streuner. Ein humorvoller, lebensfreudiger Mann. Doch Streuner nach wie vor. Er hatte ihn nie für voll genommen, ihn immer als einen Witzbold angesehen. Doch dann war er zu ihm gekommen. Kurz nachdem er mit Linnea aufgebrochen war. Des Nachts. In einem Traum. Hatte ihm alles erzählt. Er hatte so anders geklungen damals. So ernst. Er hatte gesagt, er würde sie mit seinem Leben beschützen. Und er hatte es ihm geglaubt. Das erste Mal, in all den Jahren, in denen sie sich kannten, hatte er den Bruder Kielins in ihm gesehen. Den Mann der Tat. Nicht der spaßigen Worte. Einen Mann, der für sich und andere Verantwortung übernimmt. Jemanden, der nicht nur so in den Tag hinein lebt. Er war so entschlossen gewesen. So ganz anders, als er ihn jemals zuvor gesehen hatte. Es war, als wäre es ein ganz anderer Loklen gewesen. Ein zweiter, der sich all die Jahre hinter dem Spaßvogel, dem Narren versteckt hatte. Einer, der weiß, um was es geht. Jemand, der weiß, was zu tun ist. Jemand, der weiß, wie gefährlich es dort draußen sein kann.

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Er hätte ihm in dem Moment alles zugetraut. Hätte ihm sein Leben anvertraut. „Jarlath Flanagan?“ Linfars besorgte Stimme riss ihn aus seinem Gedankengang. „Er ist nicht so, wie alle denken,“ sagte er ihr leise. „Er ist ein ganz anderer Mensch.“ „Aber, Jarlath Flanagan,“ mischte Evaebjudi sich ein, „Loklen…“ „Er weiß, was er tut,“ unterbrach er sie energisch. „Linnea ihm anzuvertrauen, war das Geschickteste, das Kielin machen konnte. Niemand… Niemand!... würde auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen, sie in seiner Obhut zu vermuten.“ Plötzlich schloss er die Augen und drehte den Kopf weg. „Was?“ fragten Evaebjudi und Linfar wie aus einem Munde. „Evaebjudi,“ meinte er ernüchternd, „du hattest doch Recht.“ „Bitte?“ meinte das junge Mädchen, da sie ihm nicht folgen konnte. „Gott, wie dämlich!“ schalt er sich selbst. „Jarlath Flanagan?“ hakte nun auch Gonijaveil nach. „Die beiden sind in Ablin.“ „Was? Aber Ihr sagtet doch, dass…“ „Loklen-Logik,“ meinte er, als würde das alles erklären. „Niemand vermutet sie bei ihm. Und niemand vermutet die beiden im kleinsten Kaff Tirnanogs. Oh, verdammt, wie…“ „Dann müssen wir zurück!“ unterbrach Evaebjudi ihren Mentor. „Zurück? Nein. Die beiden werden aufbrechen, sobald das Heer vorbeigezogen ist.“ „Ja, aber woher sollen sie denn wissen, dass es…“ fing Linfar aufgebracht an. „Linnea wird es wissen.“ Er blickte in drei reichlich irritierte Gesichter und kam Linfar zuvor, die gerade den Mund aufmachte, um etwas zu sagen. „Sie wird es wissen. Glaubt mir.“

* * * In den folgenden zweieinhalb Tagen, in denen sie unterwegs gewesen waren, war der Schnee langsam wieder abgetaut und hatte kleine Rinnsale in die Feldwege gemacht, in denen das Wasser in die angrenzenden Grasnarben lief. Es war wieder wärmer geworden – nicht so sommerlich, wie es zuvor gewesen war, doch eine leichte Frühlingsbrise wehte über das weite Land – und wider Erwarten hatten die Bäume, trotz dem fast zwei Wochen andauernden Wintereinbruch, noch nahezu all ihre Blätter behalten. Flanagan hatte die drei Mädchen auf kürzestem Wege Richtung Marbon geführt. Sie hatten die Wiesen- und Feldlandschaft nördlich von Ablin verlassen. Hatten das kleine Gefion Gebirge innerhalb von zwei Tagen in östlicher Richtung durchquert. Waren dank der neuerbauten Perron Brücke, die erst im vergangenen Jahr fertiggestellt worden war, über den Fenris gelangt. Und ritten Marbon somit aus westlicher Richtung entgegen. Flanagan hörte hinter sich einen erstaunten Laut von einem der Mädchen, als sie aus dem Hain kamen, der Marbon mit dem Fluss Fenris verband. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen – genauso hatte er reagiert, als Quinlavin ihn damals vor gut fünfundzwanzig Jahren auf demselben Wege in die Stadt gebracht hatte. Genau wie zu jener Zeit brach sich das Sonnenlicht abertausend Mal in den Kommodi und die an den Hang eines Berges gebaute Stadt schien mit dem Glanz der Sonne wetteifern zu wollen – nur, dass das Licht der Stadt, dank der Kommodi, die gleich einem Prisma fungierten, in allen Farben des Regenbogens schillerte. Es war, trotz der Vielfalt und Intensivität, nicht einmal reizend oder gar unangenehm. Von ihrem Standpunkt aus, konnten die Mädchen die einzelnen Gebäude der Stadt, wegen der Farben, die ihnen entgegen leuchteten, kaum ausmachen. Doch mit jedem

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Meter, den sie näher an Marbon heran ritten, wurden die Konturen deutlicher. Bald hoben sich einzelne Türmchen, Zinnen und Erker ab, auf denen weiße Fahnen angebracht waren, die sachte in der spätnachmittäglichen Brise wehten. Bald konnten sie die einzelnen Bauwerke – privat Häuser verschiedener Größe, Kirchen und städtische Einrichtungen – ausmachen, deren Wände allesamt dieselbe cremefarbene und doch irgendwie durchscheinend anmutende Oberfläche aufwiesen, welche das Licht abzugeben schienen. Nicht, dass man durch die Fassaden der Häuser hätte durchsehen können, dazu war die cremefarbene Färbung zu intensiv. „Es ist besser,“ drehte Flanagan sich zu den Mädchen um, „wenn ihr mich ab jetzt nicht mehr Jarlath nennt.“ „Wieso?“ wollte Gonijaveil wissen. „Na,“ meinte Flanagan, als wäre es ganz offensichtlich, was es für die anderen beiden Mädchen auch zu sein schien – den Blicken nach zu urteilen, die sie ihrer Freundin zuwarfen jedenfalls, „die Daloki werden Kielins Schule bald erreicht haben und dann wird man wissen, dass Linnea fort ist und kurz nach ihr drei weitere Beglan und ein Jarlath aufgebrochen sind. Ich weiß nicht, ob man nach uns suchen wird.“ Er hatte schon vor geraumer Zeit damit aufgehört, die drei mit `Beglan´ anzusprechen und hatte wohl gehofft und erwartet, dass sie die Anredefloskel somit auch fallen lassen würden. Um den Daloki so wenige Anhaltspunkte über ihre Route zu hinterlassen wie möglich, war er, trotz der anfänglichen Kälte nie mit den drei Mädchen in Gasthäuser eingekehrt, hatte nie Halt auf Bauernhöfen gemacht und hatte Dörfer, und waren sie noch so klein, gemieden. Die vier hatten die Zugbrücke passiert und somit die Stadtmauer erreicht und reihten sich in die kurze Schlange ein, die sich vor dem cremeweißen großen Tor gebildet hatte. Doch das Wort von Leuten, die auf der Flucht waren, war hier wohl noch nicht angekommen, und somit winkten die vier Wächter, die links und rechts vom Tor standen, die Leute nach kurzer Kontrolle ihrer Waren – falls sie welche bei sich hatten – ohne zu zögern in die leuchtende Stadt hinein. Flanagan schlug den ersten Weg ein, der rechtsabbog und trieb den Tänzer ohne irgendwelchen Zweifel durch die weiten Straßen, die hier und da mit Pflastersteinen versehen waren. Die Menschen, die die Pferde herankommen hörten, wichen ihnen aus dem Weg, grüßten aber freundlich. Von nahem, fiel Linfar auf, vernahm man das Leuchten der aus Kommodi errichteten Gebäude kaum noch. Man war so eng und auf allen Seiten von ihnen umgeben, dass man es innerhalb von wenigen Augenblicken so sehr verinnerlicht hatte, dass man es nicht einmal mehr bemerkte. Und sie fragte sich, wie es wohl bei Nacht sein würde. „Ihr scheint Euch hier auszukennen, Ja… Flanagan,“ stellte Evaebjudi fest. „Ich bin schon einmal hier gewesen,“ war alles, was er sagte und die Mädchen fragten nicht weiter nach. Linfar widmete sich stattdessen wieder den Gebäuden, an denen sie vorbei ritten. Durch die Fenster sah sie in Räume, die sich nicht sonderlich von denen ihrer Heimatstadt Cahal unterschieden und sie war ein wenig enttäuscht. Sie hatte erwartet, dass die Leute hier in Marbon irgendwie anders sein würden. Doch auch hier gab es hölzerne Einrichtungsstücke. Einige von ihnen farbig bemalt. Andere naturbelassen. Sie sah Regale, die von Büchern nur so überquollen. Kerzen, die auf den Tischen standen. Gebamsel, das als Staubfänger in den Fenstern hing. Musikinstrumente, die nicht anders als bei ihr zu Hause aussahen. Menschen, die ihren Pflichten nachgingen. Lasen. Kochten.

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Heimwerkten. Kinder, die spielten. Sie kamen an einer Gaststätte vorbei, aus dessen Tür und Fenstern es nach frischgebackenem Brot und gut gewürzten Speisen roch. Dann kamen sie durch eine Straße vor deren Hauswänden Obst- und Gemüsestände standen, mit allerlei Früchten und Gewächsen, die Linfar noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Und endlich kam das so lange sehnsüchtig erwartete und bereits vermisste Gefühl in ihr auf, sich positiv fremd zu fühlen. Das Gefühl in etwas neues, nie erlebtes hinein geschritten zu sein. „Linfar!“ vernahm sie die Stimme ihres Mentors und drehte sich um. Die anderen waren in eine Seitengasse abgebogen, während sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen war. Sie wandte Tara um und ritt zu den anderen zurück. „Pass ein bisschen auf, ja“ tadelte Flanagan sie. „Marbon ist eine große Stadt, in der man sich schnell verlaufen kann.“ „Tschuldigung,“ brachte sie heraus und sah sich ein letztes Mal nach den merkwürdigen Früchten um. Flanagan führte die drei durch eine kleine Gasse und steuerte dann auf das scheinbar größte Gebäude der Stadt zu. Es hatte gotische, riesige Fenster, durch die Linfar sehen konnte, dass es ein dreistöckiges Bauwerk war. Im Inneren standen zig Reihen, in denen kleine Dinge lagerten, die Linfar aus der Entfernung nicht richtig erkennen konnte. Überall sah sie kleine, dürre Lebewesen, die nicht unbedingt wie Menschen aussahen, „Jar… Flanagan?“ wandte sie sich an ihren Mentor, „was sind das für… für Dinger da drin?“ Er folgte ihrem Blick und zügelte den Tänzer, so dass die vier vor dem voluminösen Gebäude, neben einer großen Säule, die ein wenig an einen Obelisken erinnerte, zum Stehen kamen. „Das,“ erklärte er, „sind die Akasha-Chroniken. Eine Art Bibliothek. Und die Wesen, die man da sieht, sind Goblins. Sie verwalten, bewachen und sortieren das Ganze, seit das Konleok sie damals aus ihrer Heimat vertrieben hat. Sie sind nicht einmal annähernd so hinterhältig, wie viele Leute meinen, dass sie sind, aber… anlegen sollte man sich mit ihnen trotzdem nicht.“ Es hörte sich an, als spräche er aus Erfahrung. Die Akasha-Chroniken. Es ratterte in Linfars Kopf. Irgendwo hatte sie diesen Begriff schon einmal gehört. Sie konnte sich nur nicht daran erinnern, wo und in welchem Zusammenhang das gewesen war. Flanagan trieb den Tänzer wieder an und die drei Mädchen folgten ihm. Er führte sie von dem großen Platz mit dem Obelisken herunter und bog in die nächste Querstraße links. Vor einem Haus mit einem Schild, das denselben weißen Hintergrund aufwies, wie die Flaggen auf den vielen Türmchen der Gebäude der Stadt und auf dem in verschnörkelter Schrift das Wort Kommodus stand, hielt er an. Ein Junge, der nicht viel älter als die Mädchen sein mochte, trat ihnen aus einer der Türen entgegen. „Willkommen im Kommodus, edler Herr,“ sprach er in einem merkwürdigen Akzent, in dem das `r´ gerollt wurde und deutete eine Verbeugung an. „Euer Gefolge?“ fragte der junge Mann und sein Blick ruhte auf den Mädchen. „Ja,“ meinte Flanagan nur knapp und setzte dann barsch hinzu: „Und jetzt geh deiner Aufgabe nach, Bursche.“ Der Junge konnte seinen Blick nur schwer von den Mädchen nehmen, murmelte aber ein „ja, Herr“, pfiff kurz auf den Fingern und griff nach des Tänzers Zügeln. Zwei weitere Jungen, jünger als der erste, erschienen in der Tür. Auch sie deutete Flanagan gegenüber eine Verbeugung an, gingen dann schnell zu den Pferden der Mädchen hinüber und nahmen ihnen die Zügel ab. Während die drei die Pferde in einen Hinterhof führten, schickte Flanagan sich an, in das Haus zu gehen. „Unser Gepäck,“ meinte Evaebjudi plötzlich und deutete mit der Hand zu den gerade um die Ecke verschwindenden Pferden.

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„Die drei werden es auf unsere Zimmer bringen,“ kam es von Flanagan, während er im Haus verschwand. Die drei Mädchen wechselten noch schnell einen leicht irritierten Blick – Evaebjudi zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern – und folgten ihm dann.

* * * Pryderi, der Wirt des Kommodus und ein Mann von stattlicher Größe, der nicht viel älter war als Flanagan, teilte den vieren zwei Zimmer zu – eines für Flanagan und eines für die drei Mädchen – und brachte sie dann zu einem der Ecktische, an dem sich die vier dankbar niederließen. Danach brachte er ihnen eine Fuhre Getränke, wobei er Flanagan sehr kritisch beäugte. „Verzeiht, junger Herr,“ meinte er schließlich, „aber kennen wir uns?“ Flanagan starrte ihn nur gelassen an und der Wirt räusperte sich verlegen. „Ich dachte nur… Entschuldigt, ich habe mich wohl getäuscht,“ murmelte er schließlich und wandte sich um. „Wie kommt Ihr darauf?“ rief Flanagan ihn zurück. Der Wirt drehte sich langsam wieder um, musterte Flanagan noch einmal kurz und trat dann an den Tisch zurück. „Als ich so alt war wie mein Jüngster,“ er deutete mit einer Kopfbewegung zu den drei Jungs, die die Pferde entgegen genommen und sich mittlerweile hinter der Theke eingefunden hatten, „da kannte ich einen jungen Ednessiv. Einen Keylan. Sein…“ Evaebjudi verschluckte sich an ihrem Getränk und musste husten. Die Augen des Wirts wanderten kurz zu ihr, fokussierten gleich darauf aber wieder Flanagan. „Sein Name war Quilienemglen. Ihr erinnert mich an ihn.“ „Mhm,“ machte Flanagan und nahm einen Schuck aus dem Steingefäß, das vor ihm auf dem Tisch stand. „Entschuldigt, wenn ich Euch belästigt habe,“ meinte der Wirt mit einer leichten Verbeugung und zog von Dannen. „Seid Ihr das?“ fragte Evaebjudi im selben Moment, in dem „Ist das Euer wirklicher Name?“ von Linfar kam. „Mein Name ist Flanagan,“ sagte er bestimmt, während er seinen Becher abstellte. Linfar und Evaebjudi warfen sich einen vielversprechenden Blick zu. Das musste sein richtiger Name sein! Sie hatten es gehört. In der Unterhaltung. Dass Flanagan nicht sein wirklicher Name war. Dass er ein Keylan war. Quilienemglen. Linfar warf einen Blick zu ihrem Mentor. Doch der ließ sich nichts anmerkten. Noch nicht einmal seine Hand hatte gezittert, als er das Steingefäß zum Trinken an die Lippen gesetzt hatte. Und auch jetzt beobachtete er seelenruhig die anderen Gäste des Wirtshauses. Linfar konnte es nur schwer nachvollziehen, wie er dabei so ruhig bleiben konnte. Der Wirt hatte ihn erkannt. Hatte die Scheinidentität, mit der er vierzehn Jahre lang gelebt hatte, in einem einzigen Augenblick durchschaut. Und hier saß er. Hatte sich gemütlich zurückgelehnt. Genoss den festen Boden unter den Füßen. Und freute sich auf das Essen, das ihm gleich vorgesetzt werden würde.

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Linfar beschloss, dass er entweder ein verdammt guter Schauspieler sein musste, oder aber es ihm wirklich keinerlei Angst machte, dass man just seine wahre Identität aufgedeckt hatte. Der älteste Junge kam mit einem Holzbrett, auf dem ein halbes Laib Brot lag, einem Teller mit einem Stück Käse darauf und zwei Messern zu den vieren an den Tisch. Er konzentrierte sich darauf, keines der Mädchen anzusehen, was ihm nicht sonderlich gelang. „Mein Vater sagt, das geht aufs Haus,“ verkündete er und deutete Flanagan gegenüber abermals eine Verbeugung an. „Danke. Sag ihm, das ist äußerst nett von ihm, aber nicht der Rede wert.“ Er stellte das ganze auf den Tisch, strich sich eine Strähne seines langen, gelockten dunkelbraunen Haares hinter das Ohr zurück und erhaschte dabei einen Blick auf Gonijaveil, die ihm ein scheues Lächeln zuwarf, woraufhin er errötete und ganz schnell wieder woanders hinstarrte. Plötzlich schoss Flanagans Hand vor und umklammerte das Handgelenk des Jungen. „Wie heißt du, mein Junge?“ fragte er ruhig, während der Junge sich unter seinem Griff nicht zu regen versuchte. „Tapio, Herr.“ In die Stimme des jungen Mannes klang Angst mit und Linfar bemerkte, wie er hektisch zu atmen begonnen hatte. Sie fragte sich, was, zum Henker, Flanagan da tat. „Tapio?“ sagte Flanagan nachdenklich, dann wandte er sich wieder dem Jungen zu, auf dessen Stirn sich mittlerweile Schweißperlen gebildet hatten. „Wie alt bist du, Tapio?“ „Sechzehn, Herr. Fast,“ setzte er hinzu, als Flanagans griff für eine kurze Zeit etwas fester wurde. „Hat es schon begonnen?“ Nicht nur Gonijaveil hätte gern gefragt, was Flanagan meinte, doch keines der Mädchen traute sich den Mund aufzutun. Alle drei sahen dem Geschehen nur gebannt zu. „Nur… nur ein ganz wenig, Herr.“ Tapio war inzwischen ziemlich unwohl geworden und er hatte angefangen leicht unter dem Griff des Mannes zu zappeln. Er sprach schnell, um die unangenehme Situation möglichst bald hinter sich bringen zu können. „Drück sich klar aus, Junge,“ fuhr Flanagan ihn an und obwohl er es leise gesagt hatte, zuckte Tapio zusammen. „Nur bei… bei kleinen Pflanzen,“ stammelte der Junge und starrte auf die Tischplatte vor ihm. „Setz dich,“ forderte Flanagan ihn überraschender Weise überaus freundlich auf und ließ den Jungen los. Der rieb sich immer noch sichtlich angespannt über das Handgelenk und rührte sich nicht. „Setz dich,“ meinte Flanagan noch einmal, dieses Mal etwas nachdrücklicher. Der Junge ließ sich zögernd auf die Bank neben Gonijaveil nieder, die ein Stückchen zur Seite gerutscht war. Die drei Mädchen sahen verwirrt zwischen ihrem Mentor und dem Jungen hin und her, gaben aber kein Ton von sich. „Wer unterrichtet dich?“ wollte Flanagan wissen. „Keiner. Ich… ich bringe es mir selbst bei,“ flüsterte der Junge und wagte nicht den Blick zu heben. Es herrschte eine unangenehme Stille, die nur davon unterbrochen wurde, dass Flanagan einen weiteren Schluck aus dem steinernen Becher nahm und diesen dann geräuschvoll wieder auf dem Tisch absetzte. „Komm mit,“ kam es schließlich von Flanagan und er erhob sich, „ich schulde deinem Vater noch etwas.“ Der sichtlich eingeschüchterte Junge warf den Mädchen einen hilfesuchenden Blick zu, doch die wussten auch nicht, was geschah.

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„Tapio!“ erklang Flanagans mahnende Stimme. Also erhob sich der Junge und folgte dem Mann aus dem Zimmer. Die Mädchen sahen den beiden nach und kaum waren sie auf der Treppe, die zu den gemieteten Zimmern führte, verschwunden, wandte Linfar sich an ihre beiden Freundinnen. „Was zum Henker war das denn gerade?“ „Ich… Ich glaube,“ meinte Evaebjudi langsam, „er ist ein Ednessiv.“ „Was?“ kam es von verwirrt von Gonijaveil. „Oh, Nija,“ seufzte Evaebjudi, „ein Ednessiv ist ein…“ „Nein,“ unterbrach Gonijaveil ihre Freundin, „ich meine, woher willst du wissen, dass er einer ist?“ „Was sonst sollte er meinen mit es hat mit kleinen Pflanzen angefangen?“ Gonijaveil öffnete den Mund, um etwas zu sagen und schloss ihn dann doch wieder. „Und Flanagan nimmt ihn jetzt unter seine Fittiche, oder was?“ „Ja,“ stimmte Evaebjudi Linfar zu, „ich glaube schon, weil…“ „Aber woher zum Henker kennt Tapios Vater Flanagan?“ „Flanagan kennt sich hier aus,“ meinte Evaebjudi, „er muss schon mal hier gewesen sein. Vielleicht kennen sie sich von damals.“ „Ja, genau,“ spann Linfar das Ganze weiter, „und damals hat er irgendwas für ihn getan und deswegen schuldet er ihm jetzt irgendwas.“ „Wisst ihr was,“ meinte Evaebjudi nach einem Moment des Schweigens, „ich würde zu gern wissen, was die da oben jetzt machen.“ Linfar sah ihre Freundin an und stillschweigend dachten sie dasselbe. „Nein, wir können doch nicht…“ fing Gonijaveil an, als sie durchschaute, was ihre beiden Freundinnen im Schilde führten. Doch die hatten sich bereits erhoben sich und begaben sich in Richtung Treppe. Gonijaveil sah ihnen nach, riss sich noch ein Stückchen vom Brot ab und eilte ihnen dann doch hinterher.

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innea stöhnte kurz auf, als ihr gewahr wurde, dass es nur ein Traum gewesen war. Sie hatte sich in einer wunderschönen Stadt befunden, deren Gebäude geleuchtet hatten. Sie war in einer gigantischen Bibliothek gewesen, in der kleine, runzelige,

hagere Männchen ihr andauernd uralte, vergilbte Pergamentrollen in die Hände gedrückt hatten. Bevor sie eine Schriftrolle auch nur ansatzweise gelesen hatte, hatte sie auch schon die nächste in den Händen gehalten. Doch jedes Mal war sie über einen Namen gestolpert. Quilienemglen. Obwohl sie nur Satzfetzen hatte lesen können, war sie sich ziemlich sicher, dass der Name nie in einem positiven Zusammenhang erwähnt wurde. Doch sie konnte sich, so sehr sie sich auch bemühte, nicht daran erinnern, was dieser Kerl – Vielleicht isses ja gar kein Kerl! Vielleicht isses ja ne Frau! – gemacht hatte. Und dann waren da auch noch diese Mädchen gewesen, die ihr bei all dem geholfen hatten. Gott, verdammt, wie hießn die n noch mal?, versuchte sie sie zu erinnern. Lafni... Lifn... Linfar! Genau! Linfar und… Nija! Und, Gott, wie hieß die dritte noch mal? Irgndwas mit E… El... Ev… Naja, is ja auch egal... Sie reckte sich und gähnte ausgiebig. Ein Blick zum Bett auf der anderen Seite sagte ihr, dass Loklen sich immer noch im Gemeindezimmer aufhielt. Zusamm mit diesm Aydn… Sie konnte nicht einmal genau sagen, was sie an ihm nicht mochte. Vielleicht waren es lediglich diese Fragen, die er ihr andauernd stellte… Sie setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Dann erhob sie sich und trat ans Fenster. Draußen war noch alles dunkel und das Mondlicht tauchte die Schneemasse in ein helles blau. Oh man, ich bin den Schnee so leid! Vielleicht, wenn ich… Sie schloss die Augen. Sah die vier Dosen vor sich. Öffnete die Hölzerne. Und die Filigrane. Und streckte im Kopf ihre Hand danach aus. Der Salamander kam sofort auf sie zu und binnen weniger Augenblicke hatte sie ihn verinnerlicht. Die Melodie des Windspiels erklang in ihren Ohren und als beide Elemente in ihr verschmolzen, stieg das liebliche Windspiel zu einem brausenden Herbstwind an. Linnea öffnete die Augen und lenkte die beiden Elemente nach draußen, ließ einen warmen Luftzug über den Platz vor ihrem Fenster ziehen und augenblicklich schmolz der Schnee. Sie weitete den Windhauch aus, ließ ihn größer und wärmer werden und selbst von ihrem Fenster aus, sah sie die Luft vor Hitze flimmern. Von Schnee war keine Rede mehr. Der war innerhalb von Sekundenbruchteilen zu einem fließenden Gewässer geworden und das Wasser stand gut knöchelhoch in den Straßen. Oh, verdammt!, dachte Linnea nur, das war wohl n bisschen heftig… Doch anstatt die Intensivität zu verringern, vergrößerte sie die Spannweite und deckte somit nicht nur das ganze Dorf Ablin ab, sondern die darum liegenden Felder und Wälder. „Sag mal, spinnst du?“ zischte Loklen plötzlich hinter ihr. Sie hatte ihn nicht einmal hereinkommen hören. „Ich mach, dass Sommer wird,“ erzählte sie ihm begeister, während sie sich zu ihm umdrehte. „Da brauch nur einer ein Streichholz anzuzünden und ganz Ablin fliegt in die Luft!“ Daran hatte ich gar nich gedacht… Sie verringerte die Hitze und die Ausdehnung, bis es nur noch ein leichter Windhauch war. „Wie zum Henker willst du uns eigentlich behilflich sein, wenn du dich und alle in einem Umkreis von zwei Meilen in die Luft jagst?“ fuhr er sie an. Uns?

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„Wieso uns? Ich dachte… Und warum behilflich? Ich dachte, wir fliehen nur vor den Daloki.“ Er rieb sich über die Stirn und ließ sich auf sein Bett nieder. „Loklen!“ drängte sie ihn und sie konnte seine blauen Augen selbst in der Dunkelheit ausmachen, als er wieder zu ihr aufsah. „Natürlich fliehen wir vor den Daloki, Linnea,“ meinte er ein wenig genervt, „aber das tun wir doch nur, um dich zu retten. Damit du alles lernen kannst.“ „Das Ednessiv-Zeugs?“ „Ja! Was denn sonst?“ „Wieso ist es so wichtig, dass ich es lerne? Und warum uns? Wen meinst du denn damit?“ ließ sie sich von ihm nicht irritieren. Er strich sich durchs Haar und atmete hörbar aus. „Loklen, bitte.“ „Die Daloki,“ fing er langsam an, „sind hinter dir her, damit sie dich benutzen können. In diesem Kampf, der kommen wird. Dein Großvater…“ „Aber die nehmen doch an, dass ich tot bin!“ „Ts,“ machte er und schnaubte. „Jetzt nicht mehr!“ Sie verstand nicht. „Linnea, eigentlich sollte da draußen Sommer sein,“ sagte er mit einer Kopfbewegung zum Fenster Was? Sommer? „Der Schnee… das warst du.“ „Aber…“ Mehr konnte sie nicht sagen. Mehr fiel ihr einfach nicht ein. Schwerfällig ließ sie sich auf ihr Bett nieder. „Linnea,“ meinte er eindringlich, „die meisten werden krank, wenn die Kräfte sich freisetzen, oder lassen einen Baum blühen, oder sonst was. Aber keiner hat jemals das Wetter derartig verändert. Nicht bei einer Fläche, die so groß ist.“ „Die… die wissen, dass ich… dass ich noch lebe?“ Er sah sie an, als könne sie eins und eins nicht zusammenrechnen. „Ich denke schon, ja.“ „Und was war das mit meinem Großvater?“ „Na,“ meinte er, schüttelte genervt den Kopf und hob die eine Hand, „der wird es sich mittlerweile auch zusammengereimt haben und wird wahrscheinlich auch schon aufgebrochen sein, um nach dir zu suchen.“ „Und ich darf weder ihm, noch den Daloki in die Hände fallen.“ Er nickte einmal. „Gut,“ sagte sie, als sie meinte, dass sie jetzt alles nachvollzogen hatte, „aber wem soll ich behilflich sein?“ Er musterte sie eine Zeitlang, bevor er ihr antwortete und sie befürchtete schon, er wüsste es nicht. „Du wirst gegen deinen Großvater angehen müssen. Wahrscheinlich zusammen mit deinen Eltern. Du musst sie finden, dich mit ihnen zusammentun und deinen Großvater vernichten.“ Findn? Wieso findn? Ich dachte, die sind eingekerkert worden… „Loklen,“ jammerte sie, „ich versteh das alles nicht.“ Ihre sonst so sorgfältig errichtete Gedanken-Barrikade war durchlässig geworden und er musste ihre Gedanken vernommen haben.

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„Dein Großvater hat es geschafft, deine Mutter zu befreien. Das ganze Konleok war in Aufruhr und dieses Chaos hat dein Vater genutzt, um ebenfalls zu fliehen. Die beiden sind verschwunden. Das Problem bei der ganzen Sache ist, dass…“ Das Problem? Was für n Problem gibt`s n da noch? Sie fühlte sich den Tränen nahe. Als würde sie von all den Ereignissen und Offenbarungen zerdrückt werden. „… das nicht jetzt geschehen ist, sondern in hundertfünfzig Jahren von heute.“ Er las in ihrem Gesicht, dass das alles zu viel für sie war und sie nichts mehr aufnehmen konnte. Doch er musste es ihr beibringen. Irgendwie. Sie war die einzige Hoffnung, die Tirnanog hatte. „Dein Großvater hat es irgendwie fertig gebracht in die Zukunft zu reisen und genau das wirst du auch tun müssen. Erst einmal musst du deine Eltern daran hindern, wieder zusammen zu kommen. Sie würden sonst, da der Fluch immer noch auf ihnen lastet, ein weiteres Kind zeugen. Eines, über das dein Großvater uneingeschränkte Macht haben wird. Und dann wirst du mit ihnen deinen Großvater besiegen müssen.“ „Warum macht das Daloki-Heer das nicht?“ Sie fand die Frage war äußerst berechtigt. „Die haben die beiden doch schon mal eingefangen. Warum muss ich das machen?“ „Deine Eltern sind… in…“ er tat sich sichtlich schwer damit, „… in einer anderen Ebene.“ Einer andren Ebene? Im schwachen Kerzenlicht sah er die Tränen in ihren Augen. Es tat ihm so leid, sie mit all dem belasten zu müssen. Sie kam ihm so klein vor. So zerbrechlich. Ein junges Mädchen, dem man die Rettung der Welt in die Hände gelegt hatte und das man damit komplett und hoffnungslos überfordert hatte. Er hätte ihr so gern geholfen. Doch er wusste nicht wie. „Außer Tirnanog gibt es…“ Tirna… was? „Tirnanog. Das ist der Name unseres Landes,“ meinte er leise. Er stand auf, trat zu ihr und ließ sich langsam vor ihr in die Hocke. Sie spürte seine Hand auf ihrem Haar und im nächsten Moment hatte sie sich an ihn gelehnt und ließ den Tränen der Verzweiflung freien Lauf. Wieso ich? Was soll `ich´ denn schon groß machn könn? Ich will das doch alles gar nich! Ich will, dass es wieder so wird, wie vorher. Wie auch immer dieses `vorher´ war…

* * *

Linnea wischte sich die Tränen vom Gesicht und sah Loklen, der immer noch vor ihr hockte, erwartungsvoll an. „Und was jetzt?“ Ein Lächeln spielte um seinen Mund, als er merkte, dass sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte.

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„Jetzt, jetzt musst du irgendwie lernen ebenfalls diesen Ebenen-Wechsel zu vollziehen und in die Zukunft reisen.“ „Aber reicht es nicht, wenn man meine Eltern einfach irgendwo anders hinbringt, so dass er sie nicht finden kann.“ „Naja, er hat es aber schon gemacht und das hat Auswirkungen auf das Hier und Jetzt.“ Sie verstand nicht. Wie zum Henker soll die Zukunft Auswirkungn auf das Heute ham? „Ich kann es nicht erklären,“ meinte er, erhob sich und ließ sich neben ihr nieder. „Ich fürchte, du musst es einfach so hinnehmen.“ Na toll… „Also… Ich muss so Zeitsprünge machen, meine Eltern auseinander bringen, beziehungsweise zusammen, damit ich mit ihnen gemeinsam arbeiten kann, um meinen Großvater zu besiegen?“ „Ja,“ meinte er und nickte. „Und wie soll ich das machen?“ Er zuckte mit den Schultern. Na toll… „Weiß man, wie er diese Zeitsprünge hingekriegt hat?“ Loklen schüttelte den Kopf. „Lass mich raten. Man hat auch keine Ahnung, wo genau… also in welcher Ebene, meine Eltern jetzt sind.“ „Oh doch,“ meinte er schnell, „jetzt sind sie noch hier, aber…“ „Schön,“ unterbrach sie ihn, „ich meinte dann. Also, dann, wenn ich sie suchen muss.“ Dazu nickte er. „Wo genau sind die beiden jetzt? Also, wo ist der Kerker?“ „Du willst sie besichtigen?“ Er klang sichtlich überrascht. `Besichtign´! Was für n Wort… Wie so ne Attraktion auf m Wochnmarkt. „Dann weiß ich wenigstens, wie sie aussehen.“ „Ich glaub nicht,“ kam es von ihm langsam, „dass dir das was nützen wird.“ „Wieso?“ „Naja, erstens sie sind dann hundertfünfzig Jahre älter. Und zweitens weiß keiner, ob man in einer anderen Ebene genauso aussieht, wie hier.“ Na toll… Sie hatte den Kopf hängen lassen und sah wieder ziemlich verzweifelt aus. „Linnea,“ versuchte er sich aufzumuntern, „du wirst die mächtigste Ednessiv, die es jemals gegeben hat.“ Wirst… Genau. Was hilft mir `jetzt´ ein `wirst´… „Na komm,“ meinte er, „wir sollten die Überschwemmung da draußen beseitigen, ehe das Dorf aufwacht und einen Herzinfarkt bekommt.“ Er lächelte und auch sie musste Grinsen bei dem Gedanken, wie jemand aufsteht, aus dem Fenster sieht und die Straße mit knöchelhohem Wasser geflutet vorfindet. Also erhob sie sich und trat mit Loklen zusammen ans Fenster. „Wie wollen wir vorgehen?“ wandte er sich an sie. „Ich weiß nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht Wind, der pustet es weg. Oder Hitze und die verdunstet es. Oder wir spalten den Erdboden und lassen alles versickern.“

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Er sah sie nur unverwandt an und sie schaute zu ihm empor. „Was?“ „Und du denkst, du hättest keine Ideen…. Also ich find die letzte Variante ganz reizend.“ Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Sie schloss die Augen, stellte fest, dass die Feuer- und die Luft-Dose noch geöffnet waren, schickte die beiden Elemente erst einmal zurück in ihre Gefäße und konzentrierte sich dann auf den unförmigen Stein. Der Duft nach feuchter Erde nach einem Sommerregen stieg ihr in die Nase – neuerdings auch ohne, dass sie den Stein berühren, geschweige denn nahe an ihr Gesicht halten musste – und sie öffnete wieder die Augen. Direkt vor Loklen, auf der anderen Seite der Glasscheibe, tanzte ein kleiner Feuerball und Linnea war kurz irritiert. Er hat doch gesagt… Ach Gott, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und es war ihr etwas peinlich, er is ja nur n Feuer-Ed! Sie hatte jetzt schon so oft und so viel mit allen Elementen gearbeitet, sogar schon dreimal mit allen vieren gemeinsam, dass sie vollkommen vergessen hatte, dass das eigentlich nicht normal war. Es war ihr unangenehm und sie versuchte ihn anzulächeln, was ihr nicht ganz glückte. Doch ihn schien es nicht zu stören. „Na los,“ forderte er sie auf. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die unter Wasser stehenden Gassen der kleinen Stadt und ließ in allen einen etwa handbreiten Riss entstehen – ohne, dass die Erde bebte und die Bewohner etwas davon mitbekamen. Sobald das Wasser abgelaufen war, schickte Loklen seinen mittlerweile ein dutzendfach vergrößerten Feuerball über die Straßen, um auch die letzte Feuchtigkeit verschwinden zu lassen. „So,“ meinte er schließlich und strich sich die Hände ab. „Das haben wir ja gut hingekriegt.“ Dann gähnte er herzhaft und reckte sich. „Entschuldige mich, aber bis zum Sonnenaufgang ist es nicht mehr lange hin und ich habe die Absicht doch noch ein wenig Schlaf in dieser Nacht zubekommen.“ Ohne Linnea eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich um und schlüpfte in voller Montur unter seine Bettdecke – nur seine Schuhe zog er nach einer zweiten Überlegung aus. Linnea starrte noch kurz aus dem Fenster und begab sich dann auch zurück in ihr Bett. Sie starrte die Flamme der Kerze neben ihrem Kopfkissen an und ihre Gedanken wanderten zu dieser merkwürdigen Stadt in ihrem Traum zurück. „Loklen?“ fragte sie vorsichtig in die schummrige Dunkelheit. „Mhm,“ erklang es mürrisch von seinem Bett her. „Gibt es eine Stadt, die leuchtet?“ Sie hörte, wie er sich umdrehte. „Eine Stadt, die leuchtet?“ „Naja, so… wo die Gebäude strahlen?“ Augenblicklich war er wieder hellwach und hatte sich aufgesetzt. „Marbon? Du hast Marbon gesehen? Wann? Wieso hast du denn nichts gesagt? Wir könnten schon längst auf dem Weg sein? Wir…“ „Die Stadt gibt es wirklich?“ Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet. „Natürlich gibt es sie,“ hielt er ihr vor, als wäre das etwas selbstverständliches. Natürlich gibt es sie, äffte sie ihn gedanklich nach. Woher soll ich n das bitte sehr wissn? Hab ich ne Ahnung, was es in Tir… Tra… was-auch-immer alles gibt? Nein! „Entschuldige,“ versuchte er sie zu besänftigen. Er konnte ihre Gedanken plötzlich nicht mehr vernehmen und fragte sich zum widerholten Male, wie sie sie blockierte. Er hatte sie bereits danach gefragt, doch sie hatte ihm gesagt, sie

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hätte keinerlei Ahnung, wie sie es anstellte und er hatte ihr geglaubt. Doch allein von ihrer Körperhaltung her wusste er, dass er wieder einmal ihren wunden Punkt getroffen hatte. „Marbon ist die Stadt der Klarheit.“ Er klärte sie über den Gebrauch von Kommodi auf, darüber, dass er nicht nur Wärme, sondern Licht spenden konnte. „Dann nehme ich an, dass wir dahin müssen,“ meinte sie schließlich. „Nach Marbon.“ „Ja,“ meinte er freudig und war schon dabei, seine Sachen zu packen. „Warst du schon mal da?“ fragte sie und fing ebenfalls an, ihr ganzes Hab und Gut, was nicht sonderlich viel war, einzusammeln. „Mindestens einmal im Jahr. Oh, ich liebe diese Stadt! Würde es nicht so weit von Kielins Schule entfernt liegen, würde ich da wohnen.“ Wenn es nich so weit weg liegn würde… Sie hielt in der Bewegung ein. „Wie weit?“ „Was?“ fragte Loklen abwesend. „Du hast gesagt, wenn es nicht so weit weg liegen würde.“ „Etwa noch vier bis fünf Tage von hier.“ Sie sah dem Ganzen keineswegs mehr freudig entgegen. „Mit dem Pferd?“ „Nein, zu Fuß… Natürlich mit dem Pferd. Ich laufe doch nicht bis nach Marbon!“ Na toll… In den nahezu zwei Wochen, die sie mit Loklen in Ablin verbracht hatte, hatte sie ihre Kräfte wieder sammeln können. Sie fühlte sich nicht mehr krank oder dergleichen. Doch hätte sie sich das Reisen weitaus anders, bequemer vorstellen können, als das Reiten zu Pferd.

* * * Die Sonne ging gerade über den Baumkronen auf, als Loklen und Linnea den Weißen Hirsch verließen. Ihre Laune hatte sich nicht sonderlich verbessert. Naja, etwas Gutes hat`s ja…, gestand sie sich schließlich ein, als sie die Stallungen betraten. Wenigstns komm ich aus diesm Kaff raus! Derselbe Stalljunge, der ihnen die Pferde vor gut zwei Wochen abgenommen hatte, kam ihnen, mit Stroh in den Haaren und reichlich verschlafen, entgegen. Er hatte nur kurz „Wer da?“ gerufen, als er hörte, wie das hölzerne Tor geöffnet wurde und war dann die Leiter vom Heuboden heruntergestiegen. Er gähnte und murmelte ein „Morgen“, während er sich ausgiebig die Augen rieb. „Nun aber ein bisschen hurtig, junger Genosse,“ stachelte Loklen, „wir haben nicht ewig Zeit.“ Der Junge spurte, lief an Linnea und ihrem Begleiter vorbei, brauchte nicht einmal mehr fragen, welche Pferde die ihren waren und hatte den braunen Zenron und den fast pechschwarzen Atritatis binnen wenigen Minuten getrenst und gesattelt. Mit immer noch glasigen Augen stand er schließlich zwischen den beiden Pferden und hielt die Zügel in je einer Hand. „Danke,“ meinte Loklen äußerst freundlich und nahm dem Junge, der ein „bitte“ murmelte, die Zügel ab. Linnea nickte nur, als sie den schwarzen Wallach entgegen nahm und folgte Loklen wieder ins Freie hinaus. Ohne einen Blick zurück schwang er sich in den Sattel und trieb Zenron in die kleine Gasse hinein, die keine Stunde zuvor noch überflutet gewesen war. Linnea stellte fest, dass es merklich wärmer geworden war und es auch nicht mehr nach Schnee roch und konnte ihr Grinsen nicht ganz unterdrücken.

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Die werdn sich wundern, dachte Linnea und sie lachte hämisch, doch leise, als sie Loklen in die enge Gasse folgte. Die beiden ritten zum nördlichen Tor von Ablin und passierten den schlafenden und geräuschvoll schnarchenden Wachposten ohne Probleme. Loklen bog rechts auf den Feldweg ab und keine viertel Stunde später hatten sie die Hauptverkehrsstraße zwischen Cahal und dem Gefion Gebirge erreicht. Loklen stoppte kurz und schien sichtlich irritiert zu sein. Linnea, die einem bunten Vogel nachgeschaut hatte, den sie vorher noch nie zu Gesicht bekomme hatte, konnte Atritatis gerade noch zum Stehen bringen. Sie folgte Loklens Blick und wurde dann auch stutzig. Der gesamte Feldweg war von hunderten von menschlichen Füßen und Viehhufen zertreten worden. Der Schnee, der zu der Zeit, zu der die Masse dort vorbeigekommen sein musste, noch gelegen hatte, war kein sonderlich gutes Polster gewesen und somit stand kein Grashalm mehr. Linnea blickte in südliche Richtung nach Cahal. Dann in nördliche. Wo sich die Berge bereits gut gegen den blauen Himmel absetzten. In beide Richtungen verlief eine breite, braun-graue Schneise. „Loklen,“ fragte sie immer noch reichlich irritiert. „Was ist hier passiert?“ „Das ist,“ meinte er und drehte sich zu ihr um, „glaube ich, der Grund, weshalb wir so lange in Ablin ausharren mussten.“ „Ja, aber..“ „Das Heer. Das Daloki-Heer.“ Gott, verdammt! Und das keine viertl Stunde von Ablin entfernt! Er sah, dass Panik in ihr aufstieg. „Die sind nicht mehr hier,“ versuchte er sie zu beruhigen. „Die Spuren sind schon fünf bis sechs Tage alt. Und sie führen auch nur in die Richtung.“ Er deutete nach Süden. Doch das versetzte Linnea nur noch einen weiteren Schlag. Kielins Schule! „Aber das… das führt sie direkt zu…“ …den Mädchen! Zu Flanagan! „Kielin wusste, dass sie früher oder später auftauchen würden. Sie hat für alles vorgesorgt. Glaub mir. Ihr geht es gut.“ „Ja, aber…“ „Und allen anderen auch.“ Er sah sie eindringlich und doch freundlich an. Seine blauen Augen strahlten Zuversicht aus. Zuversicht und Hoffnung. Und doch war sie nicht wirklich davon überzeugt. Gott, dass is ne ganze Streitmacht! Mit Vieh und Fußvolk! Mit Gewehrn und…, ihr Verstand unterbrach den Gedankengang und kam stattdessen mit einer neuen Frage auf. Ham Daloki Gewehre? Verdammt, ich weiß noch nich ma, was für Waffn die ham! Wie genau die gegn mich angehn werdn! „Wie kannst du dir so sicher sein?“ war schließlich alles, was sie fragte. Er legte die Hand aufs Herz und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. „Kielin ist meine Schwester. Ich hätte gemerkt, wenn was schief läuft.“ „Ja, aber…“ „Und außerdem,“ unterbrach er sie und tippte sich an die Schläfe, „würde sie mir was senden. Einen Hilferuf. Eine Botschaft. Oder sonst irgendetwas. Aber das hat sie nicht. Also ist alles in Ordnung.“

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Gott, wie blöd! Gedanken-Unterhaltungn! Natürlich! Das is eigentlich gar nich mal so abwegig. Wozu hat man solche Fähigkeitn sonst… Sie nickte ihm zu, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte und nahm dann endlich den Blick vom zertretenen Weg. Na wenigstns liegt kein Schnee mehr, versuchte sie sich aufzuheitern. Und es is auch nich mehr ganz so kalt! Gott, nich noch so ne Nacht im Schnee und bei der Kälte unter freim Himml! Die einzige Nacht zwischen Ablin und Kielins Schule hatte sie noch gut im Gedächtnis. Sie hatte bitterlich gefroren, trotz des Feuers, das Loklen entfacht hatte. Sie musste schmunzeln, als sie sich daran erinnerte, wie erschrocken sie damals darüber gewesen war, als die Flammen plötzlich nach ihm gegriffen hatten. Mein erstes Mal. Gott, wie lang is das her… Sie war stolz auf all das, was sie in so kurzer Zeit bereits erreicht hatte und Loklens Worte klangen in ihren Ohren. Dass so etwas nicht normal wäre. Dass die Kunst des Ednessiv-Handwerks nicht einfach wäre. Dass man sie nicht innerhalb von wenigen Tagen lernen könne. Dass man nicht mehr als zwei Elemente beherrschen könne. Und dass man die dann auch nicht vermischen könne. Ihr zufriedenes Grinsen wurde breiter. Sie blickte sich um und sah zu den Bergkuppen, die in nicht all zu weiter Ferne zu sehen waren. „Vier bis fünf Tage sagst du?“ Loklen folgte ihrem Blick in Richtung Norden und nickte, ohne, dass sie es sah.

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innea schaute sich um. Versuchte auszumachen, woher es kam. Zügelte Atritatis, bis er schließlich stehen blieb.

Loklen wandte sich im Sattel zu ihr um. „Linnea?“ fragte er und runzelte die Stirn. Doch das junge Mädchen ging nicht auf die Frage ein, sondern horchte weiter. Das kann doch nich wahr sein… Woher zum Henker kommt das? „Linnea?“ Loklen hatte Zenron umkehren lassen und schritt nun auf Linnea zu. Er musterte sie kurz aber eingängig. „Du… du hörst sie?“ kam es fast ungläubig von ihm. Linnea musste schlucken. „Du nicht?“ Loklen schüttelte nur den Kopf und seine rotblonden Locken wippten hin und her. Erst einmal herrschte wieder Stille zwischen den beiden, während Linnea sich wieder der Melodie widmete, die sie umgab. Sie begleitete sie schon eine ganze Weile. Seit wir in den Wald gerittn sind, schoss es dem Mädchen plötzlich durch den Kopf. Mal war die melancholische Tonfolge wie von ganz weit weg gekommen. Dann von ganz nah an ihrem Ohr. Mal war sie für kurze Zeit komplett verschwunden gewesen. Doch hatte das Mädchen sie immer wieder vernommen. „Wie hört sie sich an?“ hakte Loklen schließlich fast flüsternd nach. Linnea schaute zu ihm auf und versank dann wieder in dem Lied, das nur sie hörte. Loklen sah, wie das Mädchen sich sachte in dem Takt wiegte, den nur sie vernahm. „Traurig,“ wisperte sie schließlich, „und ein wenig demütig… Doch zwischendurch ist da immer wieder Hoffnung und etwas… etwas…“ Linnea befeuchtete sich die Lippen, während sie die Augen schloss und noch einmal genau zuhörte. „Sie wird kurz beschwingt. Doch dann… dann fällt sie wieder in diese alte Melancholie zurück.“ Sie hatte die Augen wieder geöffnet und ihr Blick fiel auf ihren Begleiter, der sie mit einem nicht zu deutenden Lächeln betrachtete. „Was? Er schüttelte kaum merklich den Kopf und ein Geräusch wie ein schnaufendes Lachen entrann seiner Kehle. „Loklen?“ „Der klagende Wald.“ „Lok…“ setzte sie genervt an und er unterbrach sie schnell. „Es hieß immer, es gäbe einen kleinen Hain, der vergangene Zeiten beklagte. Ich nehme an, du hast ihn gefunden.“ Sie sah ihn nur verständnislos an. Was für n Unsinn! Bäume die um jemandn trauern… „Es gab eine Zeit, lange bevor die Sache mit deinem Großvater anfing, da war es eine der Aufgaben der Ednessiv sich um die Wälder, Gewässer, Wiesen und Felder zu kümmern. Damals konnte jeder Ed mit Pflanzen kommunizieren, oder jedenfalls empfangen, was ihnen fehlte… Irgendwann hat das aus einem uns unbekannten Grund aufgehört. Doch der Legende nach heißt es, dass es ein klagendes Gewässer, einen klagenden Wald und ein klagendes Gebirge gäbe, die diesen großartigen Zeiten hinterher trauern würden.“

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Linnea merkte, dass er auf eine Reaktion von ihr wartete, doch mehr als ein genervtes „aha“ fiel ihr nicht ein. Loklen stieß die Luft aus seinen Lungen und lehnte sich zu ihr hinüber. „Verstehst du denn nicht, was das bedeutet?“ Meine Güte, der klingt wie n fünfjähriges Kind an seim Geburtstag… Sie hob die Schultern und schaute ihn nur verständnislos und ein wenig genervt an. „Selbst dein Großvater vermochte diesen Wald nicht zu finden.“ „Ja? Und?“ Loklen schüttelte ungläubig und freudig erregt den Kopf. Er lachte, was sie nur noch hitziger werden ließ. „Du hast ihm jetzt noch etwas voraus! Nicht nur, dass du mit allen vier Elementen umgehen kannst und er nur mit zweien… maximal dreien. Du hast den klagenden Wald gefunden!“ Hervorragend… Und dadurch hab ich jetzt ne ganze Armee Klavier spielnder Bäume hinter mir, oder was? Sie konnte seinen Enthusiasmus einfach nicht teilen. „…Klavier spielender Bäume…“ wiederholte er lachend. Wieso zum Henker, konnt er meine Gedankn lesn? „Weil deine Übellaunigkeit die Barriere gebrochen hat,“ erklärte er ihr sachlich. „Oh! Zum Henker!“ „Ah, nicht fluchen,“ ermahnte er sie. „LOKLEN,“ giftete sie ihn an, „ICH HABE NICHT DARUM GEBETEN! ICH WOLLTE DAS ALLES GAR NICHT! ICH WOLLTE KEIN EDNESSIV SEIN! ICH WOLLTE NICHT DIE MACHT ÜBER DIE ELEMENTE HABEN! ICH WILL NICHT GEGEN DIESEN BLÖDEN GROßVATER ANTRETEN MÜSSEN, DEN ICH SOWIESO NICHT KENNE! UND ICH WILL AUCH NICHT DIESES VERDAMMTE LIED VON DEN BÄUMEN HÖREN! UND SELBST WENN! WIE ZUM HENKER SOLLEN MIR MUSIZIERENDE BÄUME IM KAMPF GEGEN MEINEN GROßVATER HELFEN KÖNNEN? HÄ? ICH GLAUBE JA WOHL KAUM, DASS ER SICH DADURCH BESIEGEN LÄSST, DASS ICH MICH DA MIT EINEM ORCHESTER AUS BÄUMEN HINSTELLE! MIT EINER GEIGE AUF MEINER SCHULTER!“ „Nein, natürlich nicht,“ versuchte er sie zu besänftigen. „Wie genau dir das ganze helfen wird, weiß ich auch nicht. Aber…“ Er musste seine Stimme erheben, um über ihren Einwand hinweg zukommen, „… aber es wird doch wohl eine gewisse Bedeutung haben, dass du der einzige Ednessiv bist, der das Lied des klagenden Waldes vernimmt. Man sucht schon seit fast einem Jahrtausend nach ihm und nie… niemals… hat auch nur ein Ednessiv ihn gefunden. Und du spazierst geradewegs in ihn hinein ohne überhaupt von seiner Existenz zu wissen. Das muss dir doch etwas bedeuten!“ Er ließ seine Worte auf das Mädchen wirken und schwieg für einen Augenblick. „Linnea,“ meinte er schließlich leiser, „du bist etwas ganz besonderes… Und selbst, wenn wir jetzt noch nicht wissen, wie genau dieser Hain dir von Hilfe sein kann, sollte es dir doch eine Menge bedeuten, dass du das Lied hörst und dein Großvater nicht. Du hast ihm was voraus. Und wie genau dir das von Nutzen sein wird, wird sich zeigen. Vielleicht nicht jetzt sofort. Vielleicht auch noch nicht heute. Aber irgendwann.“

* * * Linneas Gereiztheit hatte sich im Laufe des Tages wieder etwas gelegt. Und spätestens mit dem ersten Blick auf Marbon war sie wie weggeblasen. Sie war, wie viele andere vor ihr, sprachlos gewesen bei dem Anblick. Sie wusste gar nicht, wo genau sie zu erst hinschauen sollte. Es schien so vieles zu geben, das begutachtetet werden wollte. Und je näher sie der Stadt kamen, desto reizüberfluteter wurde sie. Doch es war ein angenehmes Gefühl. So, als würde ihr Marbon all seine schönen Seiten auf einmal zeigen wollen. Obwohl das orange Leuchten der Gebäude, die das Licht der untergehenden Sonne wiederspiegelten, abnahm je

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näher Loklen und Linnea der Stadt kamen, konnte sich das Mädchen an den Mauern, Erkern, Zinnen, Türmchen und verzierten Wänden und Häuserecken nicht sattsehen. Sie wollte alles in sich aufnehmen, in sich hineinziehen. Immer wieder versuchte sie den Anblick eines kleinen Details in ihr Gedächtnis einzubrennen, um es jeder Zeit wieder abrufen zu können. Ohne wirklich mitzubekommen, was um sie herum geschah, war sie Loklen und Zenron durch das mächtige Tor, vorbei an den vier Wachen, gefolgt. Loklen hatte sie durch viele kleine Gassen geleitet. Vorbei an Markständen, die gerade abgebaut wurden. Vorbei an spielenden Kindern, die von ihren Müttern gerufen wurden. Vorbei an Geschäften, die angesichts der nahenden Nacht abgeschlossen und verriegelt wurden. Die Menschen, an denen sie vorbei gekommen waren, hatten ihr freundlich zugenickt. Hatten sie mit netten Worten gegrüßt. Hm, lustig, wie die das `r´ rollen, schoss es ihr durch den Kopf. Viele von ihnen hatten kurz die Stelle zwischen ihren Augenbrauen mit den Fingern ihrer rechten Hand berührt und dann die Hand wie zum Gruß auf ihr Brustbein gelegt und den Kopf leicht geneigt. „Loklen?“ fragte sie, nachdem sie diese Geste bei gut einem Dutzend Leute gesehen hatte, „wieso machen die das?“ „Das ist die offizielle Begrüßung unter Ednessiv,“ meinte er. Linnea versuchte die Geste zu imitieren, als sie um die nächste Straßenecke bogen und eine ältere Frau mit einem Korb auf dem Rücken dieses Ritual vollzog. Die Alte lächelte gütig und ihr Gesicht schien nur noch aus Falten zu bestehen. Dann zog sie, ohne ein Wort gesagt zu haben, weiter. Ein angenehmes Gefühl machte sich in Linneas Innerem breit und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Als würd ich dazu gehörn… Sie empfand, nach all den Tagen der Ungewissheit und der Frage, wer sie eigentlich war, endlich wieder etwas wie Zugehörigkeit. Die Gewissheit, ihren Platz wiedergefunden zu haben. …wiedergefundn… Genau genomm is das falsch, wiedersprach sie sich. Ich glaub, es is n andrer, als vorher. Immerhin war ich vorher kein Ed. Loklen war plötzlich stehen geblieben und Linnea konnte Atritatis gerade noch zum Stehen bringen. „Loklen? Was…“ Er hob die Hand ohne sich zu ihr umzudrehen, doch sie verstummte. Er sah sich etwas verwirrt um. Blickte erst die Straße links von sich hinab. Dann wandte er sich zur anderen Seite. Linnea beobachtete ihn und fragte sich, was los war. Dann schnaubte er plötzlich, ließ den Kopf hängen und schüttelte seine roten Locken. „Loklen?“ hackte sie vorsichtig nach. Er drehte sich im Sattel zu ihr um und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Dein Onkel… Er ist hier.“ „Flanagan?“ fragte das Mädchen irritiert, während Loklen Zenron in die rechte Gasse trieb. „Auf jeden Fall ist er kurz nach uns aufgebrochen.“ „Er ist… Woher weißt du das?“ Er tippte sich an den Kopf. „Jarlath Kielin?“ Er nickte. Sie merkte, wie Panik in ihr aufstieg. Er hat gesagt, die Daloki könntn… Mein Gott, wenn die…

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„Aber ich dachte…“ „Sie schickte nur: Wo, zum Henker, ist der Tänzer?“ „Der Tänzer?“ „Naja, das kann zweierlei bedeuten. Entweder, sie meinte ihren Schimmel. Oder aber deinen Onkel. Und da ich nicht davon ausgehe, dass sie mir per Gedankenübertragung mitteilt, dass sie ihr Pferd vermisst, nehme ich an, sie meinte deinen Onkel.“ „Ja… und… Und woher weißt du, wo…“ „Es gibt hier in Marbon ein ganz bestimmtes Wirtshaus… Er und dieses Wirtshaus… Die zwei haben eine Vergangenheit.“ Er sah in Linneas verwirrtes Gesicht. „Also, nicht er und dieses Wirtshaus… Der Wirt und er. Die kennen sich schon eine halbe Ewigkeit.“ Zielstrebig steuerte er Zenron in die nächste linke Abzweigung und kam vor einem Haus zum Stehen, das ein Schild über der Tür hängen hatte. Kommodus, las Linnea. Ein kleiner Junge mit dunklem Haar trat aus der Tür. Er war kaum älter als zehn. „Ich begrüße Sie im Kommodus,“ meinte er – ebenfalls in diesem merkwürdigen Akzent, in dem das `r´ gerollt wurde – und unterdrückte ein Gähnen. „Hier,“ kam es von Loklen, nachdem er abgestiegen war und Zenrons Zügel in die kleine Hand des Jungen gedrückt hatte. „Bring unsere Pferde in die Stallungen und richte deinem Vater aus, dass wir umgehend mit Flanagan sprechen müssen.“ Die Augen des Jungen wurden groß und plötzlich war er wieder hellwach. „Flanagan? Ihr kennt Jarlath Flanagan?“ Linnea war nicht minder verwirrt als der Junge und sah zwischen dem Kind und Loklen hin und her. „Ein alter Kumpel. Sag ihm, Loklen ist da.“ Er nickte dem Jungen noch einmal zu und ging dann an Linnea vorbei zur Tür. Er war schon in das Haus eingetreten, als Linnea ihn rufen hörte. „Linnea! Kommst du, oder soll ich dir dein Abendessen nach draußen bringen lassen?“ Sie grinste dem Jungen, der ungläubig und stumm ihren Namen mit seinen Lippen formte, noch einmal zu und setzte dann ihrem Begleiter nach.

* * * „LINNEA!“ Der freudige Aufschrei kam aus drei Mündern gleichzeitig. Und im nächsten Augenblick fand sich das Mädchen auf dem Boden liegend wieder. Mitgerissen von der Wucht dreier Mädchen. Die wie drei Furien auf sie zu gestürzt waren. Die drei lachten und kreischten und konnte ihre Arme nicht oft genug um Linneas Hals schlingen. „Bitte, Mädels, lasst sie leben. Wir brauchen sie noch,“ hörte sie die lachende Stimme von Loklen von irgendwo über ihr. Was zum Henker… Jemand packte sie am Arm und zog sie mit einem Ruck wieder auf die Beine. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr gewahr wurde, dass die Hand, die immer noch ihrem Arm umklammerte, zu Flanagan gehörte, der mit sichtlich erleichtertem Grinsen vor ihr stand. „Linnea, Kleines,“ kam es nur von ihm und im nächsten Augenblick hatte auch er sie in die Arme geschlossen. „Ist ja gut, ist ja gut,“ meinte sie und versuchte sich aus der Umarmung zu lösen.

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Im kargen Licht der Kerzenleuchter machte sie die drei Mädchen aus, die sie derart stürmisch begrüßt hatten, dass sie dabei zu Boden gegangen war. Eine etwas fülligere Schwarzhaarige. Eine Brünette, dessen Gesicht Sommersprossen zierten. Und eine Blondine, die über die anderen beiden hinweg ragte. Linfar, Gonijaveil und Evaebjudi. „Was macht ihr denn hier?“ fragte Loklen und sein Blick lastete schwer auf den drei jungen Frauen. „Ich konnte sie nicht davon abhalten, nach ihrer Freundin zu suchen,“ meinte Flanagan in die entstandene Stille hinein und aus seiner eben aufgesetzten strengen Miene wurde ein Schmunzeln. „Quilienemglen?“ ertönte es von der Gaststube her und Flanagan drehte sich mit einem Seufzer um. Der Name löste eine Schauderwelle aus, die Linnea kalt den Rücken hinunterlief. Sie hatte den Namen schon einmal gehört. Sie konnte sich im Moment nur nicht daran erinnern, in welchem Zusammenhang das gewesen war. Auf jedn Fall, war`s nichts Gutes gewesn… „Tapio,“ schalt er, „wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst mich so nicht nennen!“ Ein Junge in Linneas Alter kam auf die kleine Gruppe zu. „Aber das ist doch dein Name,“ meinte der Junge und legte ein Grinsen auf. Quilienemglen! `Sein´ Name? „Magst du ihn nicht?“ scherzte der Junge. „Tapio!“ Er senkte den Kopf, sodass seine dunklen Locken ihm ins Gesicht fielen. „Ich mag eben den Klang,“ murmelte er und Linnea sah den Schalk in seinen Augen. Vielleicht hab ich mich geirrt, versuchte Linnea sich selbst zu beruhigen. Aber dieser Traum, schaltete sich ihr Verstand wieder ein. Da kam der Name drin vor! Und da war`s in keim gutn Zusammhang! Aber die Mädchen, wiedersprach sie sich selbst, die kam da auch drin vor. Gemeinsam mit dem Nam und die sind meine Freunde! Also kann das ganze ja gar nich so schlecht sein… „Komm her,“ meinte Flanagan und streckte die Hand nach ihm aus. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht schritt der Junge auf die kleine Gruppe im karg beleuchteten Flur zu. Flanagan legte ihm den Arm um die Schultern und verwuschelte ihm das Haar, wogegen der Junge sich heftig wehrte. „He!“ kreischte er, „lass das! Bitte! Ich mache es nie wieder!“ Flanagan hielt ein, hatte den Hals des Jungen aber immer noch fest umschlungen. „Nie wieder?“ „Ja, nie wieder,“ keuchte Tapio. „Mhm,“ machte Flanagan und es verstrichen noch ein paar Sekunden, bevor er den Jungen wieder freigab. Tapio fuhr sich mit den Händen über den Hals und strich seine Haare aus dem Gesicht, dann fiel sein Blick auf Loklen und Linnea. „Wer ist das?“ „Nette Begrüßung, Kleiner,“ kam es von Loklen. „Darf ich vorstellen…“ Seine ausgestreckte Hand deutete auf das Mädchen, „dies ist Flanagans Nichte, Linnea.“ Die Augen des Jungen weiteten sich. Wieso, zum Henker, reagiern die alle so? „Und meine Wenigkeit…“ Loklen deutete eine Verbeugung an, was die drei übrigen Mädchen kichern ließ, „… Loklen.“

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„Genug mit all dem förmlichen Zeugs,“ meinte Flanagan, „hast du nicht noch was zu tun, Tapio?“ „Nein… Meister,“ er gab dem Wort eine eigenartige Betonung und setzte ein Grinsen auf, „der Baum ist fertig.“ Flanagans eine Augenbraue flog in die Höhe und er betrachtete den Jungen für einen Augenblick. „Ein Erd-Ed?“ wollte Loklen wissen. „Mhm,“ nickte Flanagan. „Lass mal sehen, Kleiner,“ meinte Loklen. Und ohne auf eine Einladung zu warten, stolzierte er an dem verblüfften Jungen vorbei in die Gaststube. Flanagan und Tapio folgten ihm nach wenigen Sekunden und zielstrebig gingen die drei in Richtung Treppe.

* * * Es herrschte Stille zwischen den vier Mädchen. Nachdem Tapio mit den beiden Männern verschwunden war, hatten sie sich an einen der Tische begeben, zu dem Pryderi ihnen auch gleich vier Becher Wasser und eine Schale mit Nüssen gebracht hatte. Dann hatten sie geredet. Die Mädchen hatten Linnea mit Fragen bombardiert, doch Linnea hatte ihnen in nichts nachgestanden. Von ihnen hatte sie erfahren, weshalb ihr Onkel plötzlich Quilienemglen genannt wurde und dass er es nicht gut hieß. Weshalb, konnte keine der drei ihr erklären. Sie hatte ihnen von ihrem Traum erzählt. Davon, dass der Name dort schon einmal aufgetaucht war und das in keinem positiven Zusammenhang. Die vier konnten sich das jedoch nicht erklären und taten es als merkwürdigen Zufall ab, der nichts weiter zu bedeuten hatte. Es war ja nur n Traum… Dann hatten sie Linnea von Tapio erzählt. Davon, was es mit ihm auf sich hatte. Einerseits war sie froh zu hören, dass es einen anderen Ednessiv-Neuling in ihrer Umgebung gab, sodass sie nicht der einzige Neubeginner auf dem ganzen Gebiet war. Sie überlegte sogar kurz, ob man Tapio und ihr nicht gemeinsam Unterrichtsstunden geben könnte. Doch damit ging ein ganz anderer Gedanke einher. Warum, zum Henker, hat er Tapio als seinn Schüler ausgewählt und nich mich? Ich meine, immerhin bin ich seine Nichte! Warum bringt er `ihm´ das ganze Zeugs bei und nich mir? Doch bevor Linnea diese Gedanken weiter verfolgen konnte, hatten die drei Mädchen das Thema gewechselt und ihr von den Akasha-Chroniken berichtet. Davon, dass sie seit ihrer Ankunft in Marbon vor einigen Tagen dorthin hatten gehen wollen. Dass Flanagan es ihnen immer wieder untersagt hatte. Er hatte gemeint, sie sollten warten. Auf die Frage, worauf, hatte er gemeint: auf wen. Und nach etlichen langen Stunden des Wartens, war sie dann endlich gekommen. Gonijaveil räusperte sich und fragte dann vorsichtig: „Und du… du kannst das jetzt alles?“ Linnea nickte und starrte auf die Kerze. Sie schloss kurz die Augen und im nächsten Moment verdoppelte sich die Größe der Flamme und sie hörte die drei Mädchen nach Luft schnappen. Als nächstes ließ sie einen Windhauch durch die Gaststube wehen und hörte von rings um sich herum die verwirrten Aufschreie der Gäste. Sie musste grinsen. „Das hat dir alles Loklen beigebracht?“ staunte Evaebjudi. „Nein,“ meinte Linnea kopfschüttelnd, „also ja… Ansatzweise. Er kann ja nur mit Feuer umgehen.“

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Sie sah in die verständnislosen Gesichter der drei Mädchen, seufzte und lehnte sich nach vorn. „Das habe ich euch doch gerade eben alles erklärt. Loklen…“ „Ja, schon klar,“ kam es von Linfar, „entschuldige, aber das ist noch alles ein wenig neu für uns.“ „Ich meine,“ mischte sich jetzt auch wieder Evaebjudi mit ein, „erst die ganze Sache mit Jarlath Kielin und Loklen. Dass die beiden Ednessiv sind…“ „…und dann deine ganze Vergangenheit,“ pflichtete ihr Gonijaveil zu. „Und dann die Sache mit Tapio und Quili… also Flanagan.“ „War er sauer… als der Wirt, wie hieß er noch mal?“ „Pryderi,“ half Linfar Linnea sofort auf die Sprünge. „Als Pryderi seine wahre Identität entlarvt hat?“ „Mhm… nein,“ meinte Evaebjudi langsam, „nicht so wirklich. Es war ihm, glaube ich, nur ein wenig unangenehm.“ „Das sollte es ihm auch sein,“ sagte Gonijaveil, senkte ihre Stimme und lehnte sich noch ein Stückchen weiter über den Tisch vor, während die anderen drei es ihr gleich taten, „immerhin ist das ziemlich gefährlich. Was, wenn die Daloki davon Wind bekommen?“ „Nija,“ versuchte Linnea es vorsichtig - sie hatte das Gefühl, dass diese es nicht gerade gut aufnehmen würde, „also… Loklen meinte, dass… Also, dass die das schon längst wüssten.“ „WAS?“ Gonijaveils Aufschrei ließ die Leute in der näheren Umgebung aufschrecken. Sie drehten sich zu den Mädchen um und straften sie mit ihren Blicken. „Aber woher…“ fing Gonijaveil um einiges leiser wieder an. „Das Wetter,“ wisperte Linnea. „Das warst du?“ flüsterte Linfar ungläubig und Linnea nickte nur. „Mein Großvater weiß es vermutlich auch schon.“ „Du musst fliehen,“ sagte Gonijaveil eindringlich. „Du musst weg von hier.“ „Ach? Und wohin, bitte schön, soll ich?“ „Aber du bist hier nicht sicher,“ versuchte sie es erneut. „Du…“ „Nija,“ schaltete Linfar sich ein, „Loklen hat sich sicherlich etwas dabei gedacht sie hierher zu bringen.“ „Ja, aber…“ murmelte Gonijaveil zur selben Zeit, zu der von Evaebjudi „Loklen? Gedacht?“ kam. „Seht ihr das denn nicht?“ zischte Linfar und nickte in Richtung der Treppe, über die Loklen vor gut einer halben Stunde mit Flanagan und Tapio verschwunden war. „Er ist so ganz anders als vorher.“ „Ja, schon, aber…“ „Flanagan vertraut ihm!“ Daraufhin herrschte wieder einmal Stille. Die scheinn ja viel von meim Onkel zu haltn… Ein Lächeln stahl sich auf Linneas Gesicht. Und das, obwohl wir damals seine Schuhe im Brunn versenkt ham! Bei dem Gedanke entglitten ihr sämtliche Gesichtsmuskeln. „Linnea?“ hörte sie Gonijaveil besorgt fragen. „Ist alles in Ordnung?“ Sie sah zwischen ihren Freundinnen hin und her und es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich endlich wagte, die Frage zu stellen. „Haben wir… Haben wir irgendwann einmal seine Schuhe im Brunnen versenkt?“ Die Mädchen fingen an zu kichern. „Ja, ja das haben wir,“ gluckste Linfar. „Das war ein Spass!“ pflichtete Gonijaveil ihr bei. „Oh verdammt, war der sau…“

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„Wieso?“ unterbrach Evaebjudi Linfar und musterte Linnea eingängig. „I-i-ich glaube,“ stotterte Linnea, „ich… meine Erinnerung kommt zurück!“ „OH, LINNEA!“ Und schon wieder klebten die drei Mädchen an Linnea. Umarmten sie. Freuten sich mit ihr. Während sie sich fast ein wenig zerdrückt fühlte von all dem Mitgefühl. „Was, zum Henker, geht denn hier vor?“ erklang plötzlich die Stimme von Flanagan hinter ihnen. „Sie kann sich erinnern!“ rief Gonijaveil aufgebracht. Dann folgte wildes Chaos und Flanagan konnte kein Wort ausmachen von dem, was die Mädchen von sich gaben. Er hob die Hände, wartete, bis die Mädchen wieder ruhig waren und zog sich dann einen Stuhl von einem der benachbarten Tische heran, um sich darauf an der kurzen Tischseite niederzulassen. „Und du kannst dich wirklich an alles erinnern?“ „Nein, nur an das eine Mal, als wir…“ Linnea verstummte, als ihr gewahr wurde, was sie da gerade von sich geben wollte. Doch ihr Onkel starrte sie nur auffordernd an. „An das eine Mal, als ihr was?“ „Als wir... also, als wir…“ stammelte sie. Sie hatte keine Ahnung, wie er es aufnehmen würde. Ich kann mich wunderbar daran erinnern, wie wir seine teuerstn Schuhe in den Brunn geworfn ham. Wie sauer wir damals warn, dass er… Ja, Gott, dass er was? An den Grund kann ich mich nich mal mehr erinnern und auch nich daran, wie er reagiert hat… Sie schluckte einmal, bevor sie fortfuhr. „… als wir deine Schuhe im Brunnen versenkt haben.“ „Ach, die Geschichte,“ meinte er abwinkend. „Amüsant, dass du dich gerade ausgerechnet daran erinnern kannst.“ Sie versuchte ein Lächeln, das ihr misslang, legte ihre Arme auf den Tisch und setzte ihr Kinn auf ihre Hand. Wieder herrschte Stille zwischen den Mädchen, bis Flanagan sich schließlich zu Wort meldete. „Loklen hat mir so einiges erzählt. Darüber, was du alles gelernt hast. Er meinte, du hättest die Gabe, mit allen vier Elementen umzugehen.“ Stolz und Anerkennung schwang in seiner Stimme mit und Linnea wurde ein wenig größer auf ihrem Teil der Bank und merkte, wie ihr leichte Röte in die Wangen schoss. „Ja, alle vier,“ murmelte sie. „Magst du mir…“ Er machte eine Handbewegung und es dauerte einen Augenblick, bis Linnea verstand, was er wollte. „Oh! Natürlich!“ Sie schloss die Augen und im nächsten Moment hatte Flanagan einen Becher mit Wasser vor sich stehen und auf dem Tisch brannte eine zweite Kerze. „Schön,“ lobte er, „aber vielleicht solltest du es erst einmal mit weniger Element versuchen, so dass du die Augen nicht schließen musst. Das könnte dich später Kopf und Kragen kosten.“ Und das stolze Gefühl, das sich in Linnea breit gemacht hatte, schwand ein wenig dahin. „Ist gut,“ meinte sie nur. „Flanagan?“ fragte Linfar und er wandte sich an das Mädchen. „Können wir jetzt endlich zu den Akasha-Chroniken?“ „Jetzt?“ er klang überrascht. „Meine Liebe, bis ihr da seid, sind die zu.“

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„Ja-ah,“ entgegnete ihm Evaebjudi ein wenig gereizt, „wir meinten ja auch so ganz generell. Nicht heute noch.“ Er rieb sich über die Stirn und schien darüber nachdenken zu müssen, was keines der Mädchen so recht nachvollziehen konnte. „Also schön… Ihr könnt gern morgen losziehen.“ „OH! WUNDERBAR! DANKE, DANKE, DANKE!“ Hätten sie sich getraut, wären sie ihm wahrscheinlich genauso um den Hals gefallen wie Linnea kurze Zeit zuvor, doch sie hielten sich zurück. „Ich denke, ihr solltet dann auch langsam auf euer Zimmer ge…“ „Kann Linnea bei uns schlafen?“ unterbrach Linfar ihren ehemaligen Mentor. Dieser zog die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den Schultern. „Warum nicht.“ Und wieder fing das Gekreische und Gejubel an. Und wieder fuhren die umliegenden Gäste zusammen. Und wieder drehten diese sich verstört zu der kleinen Gruppe um. Die Mädchen hatten sich erhoben, hatten Flanagan flüchtig eine gute Nacht gewünscht und waren im Begriff den Tisch zu verlassen, als Linnea Evaebjudis Hand von ihrem Arm strich und sich zu ihrem Onkel umdrehte. „Flanagan,“ meinte sie und wartete, bis er zu ihr aufschaute. „Ich wollte dir danken.“ „Danken?“ Er sah ein wenig verwirrt aus. „Wofür?“ „Dafür, dass du mich damals nicht umgebracht hast.“ Seine sonst so aufrechte Haltung wurde für einen Sekundenbruchteil zerstört, als seine Schultern nach vorn sackten. „Linnea… Kleines,“ murmelte er, während er sich erhob und sie in die Arme schloss. „Du brauchst mir doch nicht zu danken. Nicht dafür.“

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lau und rund. Schwarz und dreieckig. Oval, sechseckig, quadratisch, trapezmäßig, elliptisch, länglich, gedrungen,

sonnenförmig, gelb, weiß, lila, gepunktet, kariert, gestreift. Marie startete einen neuen Versuch und veränderte die Zeiger und das Ziffernblatt der Uhr an der Säule. Dieses Mal hatte sie sich einen archaischen Typ ausgedacht. Uh! Das is cool! Die würd sich zu Hause gut machn… Sie stand auf und watete durch das Kissenmeer zum Balken, um sich die Uhr näher zu betrachten. Doch auf halbem Wege hörte sie, wie jemand die Treppe zum kuppelartigen Lesezimmer unter dem Dach empor stieg. Oh, verdammt… Gott, wie zum Teufl hat die noch mal ausgesehn? Krampfhaft versuchte Marie sich an die Ausgangs-Uhr zu entsinnen. Rund, dachte sie und prompt nahm die Uhr diese Form an. Und… und kleiner! Auch das ging ohne Probleme. Weiß! Nein… schwarz. Schwarz mit weißn Ziffern. Nein! Weiß! Weiß mit schwarzn Ziffern… Das Innere der Uhr in dem schwarzen Rahmen veränderte sich im Takt von Maries wechselten Gedanken. Ah, Gott, verdammt! Warum kannste dich nich dran erinnern? Sie schlug sich mit der flachen Hand sachte gegen den Kopf. Komm schon! Schwarz oder weiß? Die Schritte wurden immer lauter. Man! Komm schon! KOMM SCHON! Weiß! Und sie schaffte es gerade noch, bevor die Tür aufging und Eliza mit einem Teller Keksen und zwei Bechern heißer Schokolade hereinspazierte. „Hey, super,“ sagte Marie und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Mit einem Seufzer ließ Eliza sich in die Kissen fallen, nachdem sie die beiden Becher und den Teller auf einen der beiden Tische gestellt hatte. „Und das gibt es in der Cafeteria?“ fragte Marie ungläubig, als ihr Blick auf die Kekse fiel. „Ne,“ meinte Eliza lachend und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, „das kommt von meiner Mom.“ Sie griff nach einem der Kekse und hatte bereits ein paar Mal abgebissen, als sie Mitten in der Bewegung einhielt. Marie folgte ihrem Blick und landete prompt auf der Uhr. „Eliza?“ „Mhm?“ machte diese und schaute Marie fragend an. „Oh, nichts. Ich… Ich hätte nur schwören können, dass die ein schwarzes Ziffernblatt hatte.“ „Ach? Echt?“ gab Marie von sich und hoffte inständig, dass sich ihre Stimme nicht so zittrig anhörte, wie sie sich fühlte.

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Doch der verlegene Lacher, der zusätzlich aus ihrer Kehle drang, tat dem ganzen nichts Gutes. Eliza warf ihrer neuen Freundin einen merkwürdigen Blick zu, zuckte dann aber die Schultern, meinte „naja, ist ja auch egal“ und Marie entspannte sich wieder etwas. „Ja… ähm… Erklär mir doch bitte noch mal dieses Physikzeugs,“ versuchte Marie ihre Freundin auf andere Gedanken zu bringen. „Nochmal?“ Das wäre dann das dritte Mal. Nicht, dass Marie es nicht verstanden hätte – beim zweiten Mal jedenfalls – doch im Moment fiel ihr nichts besseres ein. Und so setzte sie ein verlegenes Lächeln auf und Eliza kramte ihr Buch aus ihrer Tasche.

* * * Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf Maries Gesicht, als sie ein paar Schritte zurücktrat und sich ihr Werk ansah. Genauso, wie die in der Schule. Sie hatte die Zeiger ein wenig anders gestaltet und die Uhr aus hellem Holz geformt. „Marieschatz.“ Oh, bitte… Hannah platzte ins Zimmer herein. „Na, wo habt ihr das Bäumchen?“ „In der…“ „Oh, hübsch!“ Ihr Blick war auf die Uhr gefallen und Marie fuhr sich nervös durch das Haar. „Die... die habe ich… auch gleich mit gekauft.“ „Mhm,“ machte Hannah und sah sich weiter um. „Sonst gibt es nichts Neues.“ Hannah war still und Marie wusste auch nicht, was sie sagen sollte. Schließlich ließ Hannah sich auf Maries Bett nieder und klopfte neben sich auf die Decke. Marie ließ sich also nieder. „Und wie läuft es in der Schule?“ „Gut.“ „Hast du schon neue Freunde gefunden?“ „Ich habe doch Josi.“ Marie merkte, wie Hannah ein Grinsen unterdrückte. „Was?“ „Ich kann mich an unsere letzte Unterhaltung in Deutschland erinnern,“ meinte Hannah. „Da sagtest du, du und Josi…“ Marie musste lachen. „Ja, stimmt. Gott, wer hätte das damals gedacht.“ Die beiden Hunde trotteten in das Zimmer und unbewusst klopfte Marie auf die Decke neben sich und Achilles sprang auf das Bett und legte sich neben dem Mädchen ab. Erst, als der große Hund seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt hatte, fiel ihr ein, dass Hannah neben ihr saß. Doch wider Erwarten gab ihre Mutter nichts von sich. „Irwing meinte, du hättest dich mit der Tochter der Rektorin angefreundet…“ „Eliza. Ja.“ Und so erzählte sie ihrer Mutter von ihrer neugewonnen Freundin. Obwohl sie es nicht für möglich gehalten hatte, bedeutete ihr diese Unterhaltung mit ihrer Mutter eine ganze Menge. Sie hätte es zwar nie zugegeben, doch innerlich war sie sehr froh darüber und genoss die Zeit, die sie mit Hannah zusammen verbrachte. Dass Hannah sich dafür interessierte, was in dem Leben ihrer Tochter vor sich ging. Womit sie es zu tun hatte.

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Wie es ihr in der neuen Umgebung erging. Es fühlte sich fast so an wie früher. Wie damals. Als sie in Deutschland zusammen auf Maries Bett gehockt hatten. Und tonnenweise Gummibärchen und Kekse in sich hinein gefuttert hatten, während sie stundenlang geredet hatten. „Ma,“ meinte sie schließlich. „Es tut mir leid.“ Hannah sah sie nur fragend an. „Dass ich so… so blöd drauf war.“ „Schätzchen…“ Hannah hatte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter gelegt und setzte an etwas zu sagen, konnte sich aber wohl nicht entscheiden, was genau sie von sich geben wollte und ließ es schließlich ganz bleiben. Stattdessen schloss sie Marie in die Arme, die es geschehen ließ und zu Hannahs Überraschung die Geste erwiderte.

* * * Ein Klopfen an der Tür ließ Hannah und Marie aufschrecken. „Ja?“ Irwing steckte den Kopf in Maries Turmzimmer. „Ach, hier bist du,“ kam es von ihm, als sein Blick auf Hannah fiel. Dann trat er ganz ein. „Was ist das?“ wollte Marie wissen, als ihr das Kleid gewahr wurde, das Irwing über dem Arm hängen hatte. „Na, dein Abendkleid,“ meinte er, als wäre das selbstverständlich. Oh Gott, das is heute! „Ich dachte, es würde dir gefallen,“ murmelte Irwing, hielt das dunkelrote Kleid hoch und sah über Maries Schulter. Marie folgte seinem Blick und landete auf ihrem Wollschal, der über ihrer Schuluniform lag. „Na los,“ meinte er und hielt ihr das Kleid auffordern hin. „Wie spät ist es?“ erkundigte sich Hannah, während Marie ihrem Stiefvater das Kleid abnahm. „Gleich fünf,“ meinte dieser und es folgte ein Aufschrei von Seiten Hannahs. „WAS! SCHON?“ Und damit stürmte sie aus dem Raum. “Hannah! Sweetheart!“ rief Irwing ihr hinter her, drehte sich noch kurz zu Marie um, meinte „Zieh dich um, ja, Marge kommt gleich, um dir noch ein paar Kleinigkeiten beizubringen“ und verschwand im Flur. Gleich darauf hörte Marie ihn noch einmal nach ihrer Mutter rufen. “Darling, there`s still plenty of time, you know!“ Marie musste sich ein Grinsen verkneifen. Hannah verlor immer halb den Kopf, wenn es um Festlichkeiten ging. Sie wollte, dass alles perfekt ist. Dass sich jeder wohl fühlt. Und doch verbreitete sie Chaos, wo immer sie auch hinkam. Marie atmete noch einmal durch, dann machte sie sich daran, sich umzuziehen. Das Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte, passte wie angegossen, stellte sie fest, als sie sich im Spiegel betrachtete. Josi würd`s wahrscheinlich auch gefalln, schoss es ihr durch den Kopf. Naja, vermutlich wär`s in schwarz für sie besser oder so.

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Und sie fragte sich, was ihre Stiefschwester für den festlichen Akt anziehen würde, was Irwing ihr angedreht hatte. Es klopfte erneut an der Tür und gleich darauf drang Marges Stimme an Maries Gehörgang. „Kann ich rein?“ „Ja!“ Die Tür ging auf und die füllige Frau watschelte ins Zimmer. Ein entzückendes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht beim Anblick des Mädchens. „Oh, du schaust prächtig, Miss Mary,“ meinte sie erfreut, „ganz prächtig! Aber deine Haar. Geht nichts. Geht nichts.“ Ohne auf Maries Einwände einzugehen, widmete sich die beleibte Frau den Haaren des Mädchens und im Handumdrehen hatte Marie eine Hochsteckfrisur. „So und nun wir kommen zum eigentlichen,“ kündigte Marge an und rieb sich die Hände. „Wie du musst machen… äh…“ Sie fuchtelte mit der einen Hand, das passende Wort wollte ihr einfach nicht einfallen. „… wie nach eine Konzert.“ „Oh!“ machte Marie, als sie endlich verstand, was die ältliche Frau wollte und verbeugte sich. „Nein, nein. Nicht das, Miss Mary, nicht das,“ meinte Marge. „Männer machen so. Frauen machen nicht. Frauen machen…“ Sie breitete die Arme kurz aus, neigte den Kopf, stellte das eine Bein hinter das andere und vollzog einen exzellenten Knicks. Ach das Zeugs… Und im nächsten Augenblick hatte Marie es ihr gleichgetan. „Oh, reizend, Miss Mary,“ hörte sie die alte Frau sagen, während sie ihr Beifall klatschte, „ganz reizend!“

* * * Marge hatte Marie mit in den großen Rittersaal genommen, in dem schon gut drei Dutzend Leute warteten. Irwing sah die beiden kommen und winkte Marie zu sich heran. Marge zog von Dannen, nachdem er ihr einmal kurz zugenickt hatte. Es folgte eine Vorstellungsrunde mit dutzenden von Namen von Leuten aus der Politik, der Rechtwissenschaft und sonstigen hoch angesehenen Bereichen, mit denen das Mädchen nichts anfangen konnte. Das ganze fing an mit einem gewissen Mister Stedfort, der ein Arbeitskollege von Irwing war. Als was auch immer er arbeitet… Sie vollzog einen vortrefflichen Knicks – Marge würde begeistert sein – und lächelte freundlich, während Irwing sie als seine Stieftochter Mary vorstellte. Und so ging das ganze dann weiter. Sie knickste. Schüttelte Hände. Lächelte freundlich. Antwortete, wenn man sie etwas fragte. Ertappte sich dabei, wie sie weniger und weniger Irwings `Mary´ in ihren Gedanken zu einem `ma-RIE´ umwandelte. Und war froh, als die Runde endlich beendet war und sie sich ein wenig zurückziehen konnte. Sie ließ ihren Blick über die Menschenmenge wandern, zu der immer noch Leute von draußen stießen. Es waren überwiegend Leute in Hannahs und Irwings Alter, herausgeputzt in Abendgarderobe. Lange Kleider für die Frauen und dunkle Anzüge, Krawatte oder Fliege für die Männer. Überall liefen steife Bedienstete herum, die Getränke und kleine Snacks anboten und weiterzogen, wenn man nichts nahm. Irwing schien das ganze Trara nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil: Er passte gut hier her.

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Mit seinem schwarzen Jackett. Seinem weißen Hemd. Seiner schwarzen Fliege. Seinen zurückgegelten schwarz-grauen Locken. Seiner kleinen, dunkelumrandeten Brille. Seinen, das Licht reflektierenden, Manschettenknöpfen. Und den auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen. Aber Marie fühlte sich unwohl unter all den Menschen. Und Hannah schien das ganze ebenfalls nicht all zu leicht zu fallen. Sie hatte sich bei Irwing eingehakt und lächelte freundlich, sagte aber kaum etwas. Marie konnte das ganze gut nachvollziehen. Sie war nur ein Mädchen und niemand würde es ihr übelnehmen, wenn sie sich von dem ganzen Tohuwabohu zurückziehen würde. Man hatte sie gesehen. Hatte ihr `hello, nice meeting you´ und `how d`you do?´ gesagt. Das war alles, das von ihr erwartet wurde. Doch Hannah war die neue Frau an Irwings Seite und von ihr erwartete man anderes. Sie musste bis zum Schluss durchhalten. Für jeden ein nettes Wort parat haben. Die First Lady im Haus geben. Die Bediensteten unter Kontrolle haben. Auskunft geben können über sich. Ihre Tochter. Ihre Stieftochter. Ihren zukünftigen Ehemann. Sie durfte dem ganzen nicht einfach so den Rücken zukehren und sich verstecken. Und deswegen tat sie Marie leid. „Nein danke,“ murmelte das Mädchen, als Joanna, die junge Küchenaushilfe mit einem Tablett an ihr vorbeikam. Eine Bewegung rechts von ihr zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und sie musste zwei Mal hinschauen, bevor sie sich ganz sicher war. Josi?! Das Mädchen trug einen schwarzen Hosenanzug, einen dicken weißen Schal und hatte Ringe unter den Augen in einem ansonsten blassen Gesicht. Sie spürte Maries Blick auf sich, sah sich kurz um, bis sie sie gefunden hatte, hustete, und verabschiedete sich von dem Herren, mit dem sie gerade gesprochen hatte. „Josi! Man, alles okay?“ erkundigte Marie sich besorgt. „Ts, du musst echt noch eine ganze Menge lernen, Mary,“ gab sie grinsend von sich und wider Erwarten klang ihre Stimme vollkommen normal. „Das… das ist…“ „… nur Show, yep! Denkst du ich will den ganzen Abend mit den Alten hier abhängen?“ „Ja, aber… aber was sagt Irwing dazu?“ „Was soll er schon groß sagen? Er wollte, dass ich hier bin. Also, hier bin ich.“ Marie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch im selben Moment rief Irwing nach ihr und sie blickte sich suchend nach ihm um. „Viel Spaß,“ murmelte Josi, klopfte ihr auf die Schulter, hüstelte noch einmal und machte dann, dass sie fort kam. „Mary, komm doch mal her zu uns!“ rief Irwing und winkte das Mädchen zu sich. „Schau einmal, wer hier ist!“ Er trat beiseite und gab den Blick frei auf ein dunkelblondes Mädchen in blauem Kleid, das hinter ihm stand.

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„ELIZA!“ Und im nächsten Moment hatte sie die Arme um den Hals ihrer Freundin geschlungen. „Was machst du denn hier? Man, wenn ich das gewusst hätte! Ich wusste ja gar, nicht, dass…“ „Freut mich auch, dich wieder zu sehen,“ unterbrach Eliza ihre Freundin und löste sich aus Maries Umarmung. Dann deutete sie hinter sich. „Meine Ma hat mich mitgenommen. Die schwirrt hier auch irgendwo rum.“ „Komm! Komm, ich zeige dir alles!“ meinte Marie und zog Eliza an der Hand aus der Menschenmenge.

* * * „Man, bin ich froh, dass du hier bist. Du ahnst ja nicht…“ setzte Marie an, nachdem sie ihrer Freundin eine Führung durch eine kleinen Teil des Anwesens gegeben hatte und stöhnte auf. „Oh doch, glaub mir. Ich weiß genau, wie das ist. Meine Ma veranstaltet sowas auch einmal im Jahr, um die Sponsoren der Schule bei Laune zu halten.“ „Wieso zum Teufel machen die sowas?“ wollte Marie wissen. „Warum stecken die uns in…“ „… Bonbonfarbene Kleider,“ schlug Josi vor, die sich ebenfalls in den Salon gerettet hatte und sich zu den beiden Mädchen gesellte, „und zeigen uns rum wie das Beste und Neueste, das es auf dem Markt gibt?“ Ein Grinsen flog über ihr Gesicht und sie streckte die Hand nach Eliza aus, die sie ergriff. „Hunger?“ meinte Josi und deutete auf einen Tisch in einer der Buchten, auf dem ein Tablett mit Käsespießen stand. „Oh super,“ kam es von Eliza, „woher hast du das?“ „Aus der Küche stibitzt,“ meinte Josi grinsend. Die drei ließen sich auf einer der rotsamtigen Garnituren in einer der Ausbuchtungen nieder. „Und, wie findest du es hier?“ fragte Josi. „Un…beschreiblich,“ sagte Eliza. „Das ist so ähnlich wie in der Schule. Ich glaube, die ersten paar Tage würde ich erst einmal verloren gehen. Doch mit der Zeit würde es dann gehen.“ Marie musste grinsen und warf einen wissenden Blick zu ihrer Stiefschwester hinüber. „Mein Dad hat ihr eine Art Stadtplan gegeben, damit sie sich zu recht finden konnte.“ „Echt?“ kam es ungläubig von Eliza. „Ja, und eine Touristenführerin hatte ich auch. Doch die hat sich schon auf den ersten Metern ziemlich rar gemacht.“ „Ach komm,“ versuchte Josi sich zu rechtfertigen, „du hättest an meiner Stelle genau dasselbe getan!“ Marie sah Elizas verwirrten Blick und klärte sie auf. „Wir konnten uns noch vor ein paar Wochen gar nicht ausstehen.“ „Echt?“ echote Eliza ihre Frage von vorhin. „Yep,“ kam es von Josi, „das war der reinste Ziegenkrieg.“ „Zicken,“ verbesserte Marie, „Zickenkrieg.“ „Wie auch immer,“ meinte Josi wegwerfend. „Wir konnten uns auf jeden Fall nicht besonders gut leiden.“ „Echt?“ Das is schon das dritte Mal, dass de das fragst, Eliza! „Was ist passiert, dass…“ Sie ruderte mit der rechten Hand, in der sie einen bereits geleerten Käsespieß hielt. „Äh… Also…“ fing Marie an und schaute hilfesuchend zu ihrer Stiefschwester.

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„Wir haben Mist gebaut,“ sprang Josi schnell ein, „und Dad hat es uns gemeinsam wieder sauber machen lassen und seitdem…“ „Aha,“ machte Eliza und nickte. Zwischen den dreien herrschte kurz Stille, doch als Eliza sich vorbeugte, um einen neuen Käsespieß vom Tablett zu nehmen, fiel ihr Blick auf den schwarzen Flügel in der gegenüberliegenden Nische. „Mary,“ meinte sie und deutete mit einem Nicken zum Flügel, „spiel für uns. Bitte.“ Josi sah ihre Stiefschwester überrascht an. „Du spielst Piano?“ „Das wusstest du nicht?“ kam es erstaunt von Eliza. „Wieso hast du es ihr nicht gesagt? Oh, sie spielt wunderbar! Sie…“ „Ist ja gut,“ unterbrach Marie ihre Freundin schnell, da ihr das ganze peinlich war. Sie mochte nicht in den Himmel gelobt werden. So gut bin ich nun auch wieder nich… Sie stand auf und ging zum Flügel, an dem sie sich niederließ. Sie räusperte sich kurz, hob die Abdeckung an und legte mit ihrem Lieblingslied los. Da sie mit dem Rücken zur Eingangstür saß, hatte sie nicht mitbekommen, dass man sie im Laufe des von ihr gespielten Liedes geöffnet hatte und war verblüfft, als eine ganze Woge von Applaus hinter ihr erklang. Oh mein Gott, schoss es ihr verlegen durch den Kopf und sie merkte, wie sie rot wurde. Sie erhob sich schnell und wollte von dem Flügel zurücktreten, doch Irwing hob die Hand und der Applaus verstummte. „Nein, Mary, bitte. Ich wusste ja gar nicht, dass du so hervorragend spielen kannst.“ Er drehte sich zu Hannah um, die halb hinter ihm stand. Sie sah äußerst stolz aus. Ob auf sich oder ihre Tochter, darüber war Marie sich nicht ganz einig. „Bitte,“ forderte Irwing Marie auf und deutete mit der Hand auf den Klavierhocker, „setz dich. Spiel uns noch etwas.“ Marie glättete sich nervös das Kleid und ließ sich wieder nieder. Sie mochte es nicht unbedingt im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Doch sobald sie sich gesetzt hatte, schoss ihr ein neuer Gedanke durch den Kopf. Na toll, jetz bin ich zum Drehleiermann gewordn, der auf Zuruf was spielt… Wie aufm Jahrmarkt! Sie legte die Finger auf die Tastatur und begann eine Melodie von Mozart. Wie Josi es gesagt hat: Das Neuste und Beste aufm Markt! Ich bin zu ner Vorzeigepuppe gewordn! Das ganze machte sie wütend und sie versuchte niemanden der Umherstehenden, die sich mittlerweile um den Flügel versammelt hatten, anzuschauen. Stattdessen richtete sie ihren Blick auf die kleine Blumenvase, die am Ende des Flügels stand. Josi war ihrem Blick gefolgt und Marie merkte, dass nicht nur ihre Aufmerksamkeit auf der gläsernen Vase ruhte und schoss Josi einen vielsagenden Blick zu. Die schüttelte warnend den Kopf. Doch im nächsten Augenblick stiegen bereits die ersten Blasen an der gläsernen Vase empor und keine zehn Sekunden später kochte das Wasser und die Blumen waren hin. Josi riss ihren Blick nur schwerfällig von der sprudelnden Vase los. Doch im nächsten Moment stob ein eisiger Wind durch den Salon, der kleine Schneeflocken mit sich brachte und Marie hatte einen Vorwand mit dem Spielen aufzuhören. Die Leute sahen sich erschrocken um, doch Irwing tat das ganze mit einem verlegenen Lacher ab und schloss das Fenster wieder. Josi hatte Marie derweil am Arm gepackt und schleuste sie aus dem Zimmer in den Flur und von dort aus in den nächsten Raum – einen der lehrstehenden. „Was sollte das denn gerade?“ flüsterte sie, um ihren Standort nicht preiszugeben und ließ eine kleine Leuchtkugel über ihren Köpfen entstehen, die den kleinen, ansonsten dunklen Raum karg ausleuchtete.

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„Ich bin doch nicht seine Marionette, die er je nach Laune spielen lassen kann!“ „Du hättest jemanden verletzen können.“ „Mir egal!“ Es klopfte und bevor eines der beiden Mädchen etwas sagen konnte, war Eliza in das Zimmer gekommen und schloss die Tür leise hinter sich. „Was ist los?“ wollte sie wissen und von Marie und Josi kam gleichzeitig „nichts“. „Ja klar, das sehe ich,“ meinte Eliza und verschränkte die Arme unter der Brust. Marie schoss Josi einen unsicheren Blick zu. Die ließ langsam ihren Arm los und versuchte krampfhaft nicht zu dem Lichtball über ihr zu schauen, der so rein gar nicht wie eine Glühbirne aussah, Wahrheit?, versuchte Marie Josi gedanklich zu fragen und Josi schien verstanden zu haben, denn sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Der Flügel,“ begann Josi langsam und es dauerte einen Moment, bis sie ihren Blick von Marie nahm, „ist… sehr…“ „…alt,“ meinte Marie schnell, „er…“ „Alt?“ hakte Eliza skeptisch nach. „Ich fand, er sah relativ neu aus.“ „Also… alt im Sinne von…“ „Er gehörte Josis Mutter,“ unterbrach Marie ihre Stiefschwester schnell, die die Geschichte aufgriff. „Ja genau! Und ich möchte nicht, dass sonst jemand darauf spielt.“ Eliza nahm ihnen die Geschichte nicht so wirklich ab, das sahen beide, doch sie hakte auch nicht weiter nach. Stattdessen wandte sie sich zur Tür um und öffnete sie. „Schön, dann haben wir das ja geklärt,“ meinte sie und trat auf den Flur hinaus. „Dann schlage ich vor ihr kommt aus diesem… diesem Loch da raus und lasst mich nicht allein mit all den alten Leuten hier.“ Die beiden Mädchen mussten grinsen und die angespannte Atmosphäre löste sich ein wenig auf. „Ja… also, Josi… es… es tut mir leid,“ meinte Marie. Und überließ es ihrer Stiefschwester zu entscheiden, ob das nun dafür galt, dass sie am vermeintlichen Flügel ihrer Mutter gespielt hatte oder aber, ob es rein gar nichts mit der ausgedachten Lügengeschichte zu tun hatte und sich stattdessen auf die gläserne Vase bezog, die sie beinahe in die Luft gejagt hätte.

* * * „Kommst du?“ Josi wartete bereits dick eingemummelt an der Eingangstür. „Ja! Gleich!“ Marie legte den beiden Hunden die Halsbänder um und griff nach den Leinen. „So,“ meinte sie schließlich, als sie an der Tür angekommen war und mit ihrem dunkelroten Schal kämpfte. „Na endlich.“ Die beiden gingen aus dem Haus, während die Hunde an ihnen vorbeijagten. Morgendlicher Nebel waberte über dem Boden und die Sonne war gerade erst aufgegangen. Die beiden Mädchen gingen an dem Springbrunnen vorbei, an dem Fingerdicke Eiszapfen hingen und auf dessen kleiner zugefrorener Wasserfläche man vermutlich hätte Schlittschuh laufen können. Kurz vor den Adlerstatuen drehte sich Marie noch einmal um und ließ ihren Blick über das schneebedeckte Anwesen wandern. „Mary?“ hörte sie Josi fragen.

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„Nichts,“ meinte sie und warf ihrer Stiefschwester ein Lächeln zu. „Ich… Ich kann es nur immer noch nicht so ganz glauben, dass ich wirklich hier wohne. Das ist wie… wie…“ „… im Märchen?“ schlug Josi vor. „Das habe ich am Anfang auch immer gedacht.“ Am Anfang? „Du hast gar nicht immer hier gewohnt?“ „Nein,“ lachte Josi. „Natürlich nicht.“ So `natürlich nich´ is das gar nich… „Ich war noch ziemlich klein, als wir hier her gezogen sind und Marge hatte alle Hände voll zu tun, mich nicht aus den Augen zu verlieren. Ich bin stundenlang auf Erkundungstour gegangen. Und jetzt kenne ich jedes Zimmer, jeden Winkel und jede Nische in diesem Gebäude.“ Sie klang sehr stolz darauf und Marie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Das ist… äh… gut zu wissen,“ sagte Marie schließlich. „Na komm.“ Josi hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und schritt durch das Tor, das hinter den Mädchen und den Hunden von selbst wieder zu schwang. „Wohin gehen wir?“ „Keine Ahnung,“ Josi zuckte mit den Schultern, „einfach nur ein bisschen durch die Gegend.“ Die Sonne wurde von der weißen Schneedecke reflektiert und die knorrigen Äste der kahlen Bäume setzten sich gegen den hellblauen Morgenhimmel ab. Es war ein schöner Wintertag. Kalt. Doch schön. Marie fröstelte. Sie knöpfte ihren Mantel unter dem Kinn zu und zog ihre Mütze ein wenig weiter ins Gesicht. „Ist dir kalt?“ Marie nickte. „Ein bisschen.“ „Ts, ein bisschen,“ äffte Josi sie nach. „Wozu hast du denn deine Fähigkeiten?“ „Josi,“ meinte Marie und blieb stehen, „ich will nicht wieder irgendwelche Bäume in Brand setzen oder Vasen beinahe explodieren lassen.“ „Und die Uhr in deinem Zimmer?“ hakte Josi nach. „Das… Das ist was ganz anderes!“ Josi warf ihr einen vielsagenden Blick zu, der soviel bedeutete wie: Ja klar! „Josi, ich…“ „Angsthase,“ zog sie Marie auf und grinste. „Nein, ich…“ „Du bist ein Angsthase!“ Josie wühlte mit ihrem Fuß im Schnee und bückte sich schließlich, um einen Stein aufzuheben. Sie hielt ihn einen Moment lang in den geschlossenen Händen und überreichte ihn dann Marie. „Hier.“ Marie rührte sich nicht. „Steck ihn in die Tasche.“ Marie griff zögerlich nach dem grauen Stein in Josis ausgesteckter, behandschuhter Hand. Der Stein war wirklich angenehm warm und sie versuchte in Josis Gesicht zu lesen. „Das ist ein Trick, oder?“ „Was? Nein!“ Sie bückte sich und hob einen zweiten Stein vom Wegesrand auf. „Hier,“ sie drückte Marie den zweiten Stein in die Hand. „Versuch du es mal.“ Es brauchte noch einen aufmunternden und auffordernden Blick von Josi, bevor Marie sich dem Stein widmete. Marie konnte nicht einmal genau sagen, was sie tat, doch plötzlich ging

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vom dem Stein in ihrer Hand eine angenehme Wärme aus. Sie steckte den einen Stein, den sie von Josi bekommen hatte, in die eine und den anderen in die andere Tasche. „Es scheint funktioniert zu haben,“ schmunzelte Josi und Marie gab ein knappes „Ja“ von sich, hatte aber ein breites Grinsen auf dem Gesicht. „Soll ich dir auch einen machen?“ gab Marie schließlich von sich und sah ihre Stiefschwester schelmisch an. „Nicht nötig, danke,“ kam es von Josi, die in ihre beiden Manteltaschen fischte und zwei handtellergroße Steine zum Vorschein brachte. Beide sahen anders aus als die, die sie für Marie vom Boden aufgesammelt hatte. Sie waren hell und durchsichtig und von feinen Linien durchzogen. „Woher hast du die?“ wollte Marie wissen. „Keine Ahnung. Die lagen irgendwann in meinem Zimmer. Ich nehme an, Dad hat sie dorthin gelegt.“ „Dein Dad und Steine?“ Josi zuckte nur mit den Schultern. „Wie auch immer. Auf jeden Fall laden die sich wie von alleine auf. Man braucht sie nur in die Sonne zu legen und nach ein paar Stunden…“ Sie ließ das so hängen und stopfte sich die beiden kleinen Steine wieder in die Manteltaschen. Eine Weile trotteten die beiden schweigend nebeneinander her. Marie fröstelte zwar nicht mehr, doch all zu warm war ihr immer noch nicht. Was, wenn ich… Nein, unterbrach sie ihren eigenen Gedankengang, dann setz ich nur wieder Bäume in Brand oder sonstiges! Ja, hörte sie sich zustimmen, aber mit der Uhr hat`s auch funktioniert. Und das mehr als nur ein Mal! Sie hatte nicht wirklich eine Ahnung, was genau sie machen musste. So stellte sie sich einfach vor, wie die Wärme, die von den beiden Steinen ausging, sich ausdehnte. Wie eine Art Wasserstrom durch ihre Finger floss. Langsam ihre Manteltaschen ausfüllte. So, als würde sie Sand in ihre Taschen hineinschütten. „AKILLIES!“ Josis aufgebrachte Stimme riss Marie aus ihren eigenen Gedanken. Irritiert schaute sich das Mädchen um. Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Josi hinter Achilles herlief, dessen großer grauer Körper sich in Windeseile vom Weg entfernte. Oh, verdammt, schoss es Marie nur durch den Kopf und sie setzte Josi und dem Hund hinter. Doch weit kam sie nicht, denn nach nur wenigen Schritten blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie sah, was genau da vor sich ging. Josi war ebenfalls stocksteif stehengeblieben und wandte sich überrascht und entsetzt zu Marie um. “WHAT THE HELL DID YOU DO TO HIM?“ „I-i-ich… gar nichts!“ Marie setzte sich vorsichtig wieder in Bewegung und schritt mit zittrigen Beinen auf Josi und den Hund zu, der Mitten in der Bewegung eingefroren war. Er hing mehr in der Luft, als dass er den Boden berührte. Josie hatte sich mittlerweile auch wieder zu Achilles umgedreht und trat vorsichtig an den Hund heran. Zaghaft streckte sie den Finger nach dem stocksteifen Körper aus. Doch nichts passierte. Sie wandte sich wieder Marie zu, doch mehr als einen vorwurfsvollen und leicht beängstigten Blick, brachte sie nicht zustande. Marie war nun ebenfalls nahe an den Hund herangetreten und konnte Hercules Reaktion nachvollziehen. Der große beige Hund winselte. Trat vorsichtig an den in der Luft hängenden Körper seines Compagnons heran. Beschnüffelte ihn. Stupste ihn an.

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Und sprang schnell ein paar Schritte zurück, als dieser nicht reagierte. Dann fing er an zu knurren. Bellte schließlich. Er sprang um die leblose Gestalt des anderen Tieres herum. Duckte sich vorne immer wieder ab, um ihn zum Spielen zu animieren. Doch nichts geschah. Achilles hing immer noch leblos in der Luft. Sein graues langes Fell war vom Gegenwind zurückgepeitscht worden und auch seine Lefzen waren nach hinten gezerrt. Nur seine linke Vorderpfote berührte die schneebedeckte Erde, alle anderen Beine hatte er weit von sich gestreckt und seine Ohren lagen dicht an seinem Nacken an. „HERKJULIS! JETZT HÖR AUF!“ schrie Josi fast panisch, doch der große Hund ließ sich nicht beruhigen. „MARY! WAS HAST DU…“ hielt Josi ihrer Stiefschwester vor und Marie konnte die Tränen in ihren Augen glitzern sehen. Gott, verdammt! „Josi, ich war das nicht!“ „NATÜRLICH WARST DU DAS!“ hielt Josi dagegen. Wenn ich`s nich war und Josi auch nich, dann… „DU ENTFROSTEST IHN JETZT SOFORT, ODER ICH…“ „JOSI, VERDAMMT NOCH MAL! ICH HABE KEINE AH…“ „KOMM MIR NICHT MIT DU HÄTTEST KEINE AHNUNG! WENN DU ES NICHT GEMACHT HAST, WE…“ Und dann verstummte sie. Sah sich stattdessen panisch nach allen Seiten um. „WO BIST DU?“ schrie sich fast außer sich und Marie sah, wie ihr die Tränen die Wangen hinunter rannen. “KOMM SCHON! ZEIGE DICH!“ „Josi, bitte…“ versuchte Marie ihre Stiefschwester zu beruhigen und wollte ihr die Hand auf die Schulter legen. Doch Josi wehrte sich heftig und erst jetzt bemerkte Marie, dass Josi nicht mehr nur entsetzt und verängstigt war. Ganz im Gegenteil. Sie war stocksauer . Und fast außer sich. Oh man, ich hoffe wirklich sehr für dich, dass de dich nich zeigst! Josi wird dich sonst komplett ausnander nehm!

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eine Schreibutensilien erlaubt.“ Linnea beäugte die kleine hagere Gestalt mit der hässlichen langen Nase einen Augenblick lang, bevor sie ihren ledernen Beutel mit der Schreibfeder, die sie

aus Loklens Reisetasche genommen hatte, in die dürren Finger des Wesens gab. Und wie zum Henker soll ich mir jetz bitte schön Notizn machen? „Du hast Schreibzeugs mitgenommen?“ hakte Linfar ungläubig nach und die anderen beiden Mädchen kicherten. Ja, man, was dagegn? „Wieso nicht?“ „Das sind die Akasha-Chroniken!“ kam es von Evaebjudi, als würde das alles erklären. „Erzählt mir nicht, ihr wusstet von den Akasha-Chroniken, bevor ihr hier angekommen seid!“ Es klang arg entzürnt, doch Linnea sah nicht ein, ihren Kommentar durch eine Entschuldigung abzumildern. Immerhin hat Flanagan gesagt, die drei ham auch nichts davon gewußt! Gonijaveil räusperte sich und Linnea heftete ihre Augen auf das Gesicht des sowieso schon verunsicherten Mädchens. „Also… wir…“ Das pummelige Mädchen holte einmal tief Luft und sprach dann sehr schnell: „Wir haben auch nur alles durch Erzählungen erfahren.“ „Flanagan meinte, man braucht so was,“ Linfar nickte zu dem Goblin zurück, der Linnea ihren Beutel abgenommen hatte, „hier nicht. Er sagte, hier laufe das anders.“ „So?“ hakte Linnea gereizt nach. Die drei Mädchen schwiegen und wirkten äußerst erleichtert, als eine zweite dieser knorrigen Kreaturen mit der grau-grünen ledrigen Haut auf die kleine Mädchengruppe zukam und sie vor weiteren Erklärungsversuchen rettete. Ohne ein Wort drückte das kleine Wesen, das Linnea gerade einmal bis zur Hüfte reichte, jedem der Mädchen eine ältliche Schriftrolle in die Hand, die es aus einem hölzernen Regal nahm, von dem aus eine ganze Reihe Kerzen leuchteten – die einzigen Lichtquellen in der hohen Empfangsalle der Akascha-Chroniken. Obwohl es draußen hell und der Tag noch jung war, herrschte in dem schmalen Foyer eine fast nächtliche Atmosphäre. Es war äußerst still dort und die verzerrten Schatten der Mädchen tanzen grotesk an den hohen kahlen Steinwänden. Die nackten Füße des Empfangs-Goblins, der Linneas Beutel – der folgendes beinhaltete: Loklens kostbare Schreibfeder, ein kleines Tintenfaß, das Flanagan ihr geschenkt hatte und eine Pergamentrolle, die sie sich gerade noch vom Wirt hatte geben lassen, bevor sie das Kommodus verlassen hatte – zu einem kleinen hölzernen, von Jahren, Kälte und Nässe bereits verformten Tisch trug, hallten in der Halle wider. Ein Geräusch wie ein krächzendes Räuspern drang an Linneas Ohren und sie widmete sich wieder dem Wesen vor sich. Es trat einen Schritt zurück, als es wieder die volle Aufmerksamkeit der Mädchen hatte. Und musterte die vier. Bis seine forschenden Kulleraugen schließlich nur noch Linnea fixierten. Was zum Henker will es denn? „Sieht aus, als warte es auf irgendetwas,“ flüsterte Gonijaveil und Linnea spürte, trotz der auf ihr lastenden Augen, eine kleine Prise Genugtuung, als sie merkte, dass die anderen drei Mädchen auch keinerlei Ahnung hatten, was das kleine Ding vor ihnen erwartete. Evaebjudi fischte einige kleine Münzen aus ihrem Geldbeutel, der von einem Gürtel um ihre Hüfte hing. Doch der Goblin machte keinerlei Anstalten die Münzen entgegenzunehmen, die ihm das Mädchen mit ausgestreckter Hand hinhielt. Stattdessen glotzte es nur unentwegt Linnea an. „Beglan,“ stieß das Wesen schließlich abwertend aus und zog sich kopfschüttelnd zurück.

„K

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Es ging wieder zu dem Regal, aus dem es die vier Schriftrollen für die Mädchen genommen hatte und wollte gerade eine Rolle für eine alte Frau aus einem der Fächer nehmen, als es in der Bewegung innehielt. Die Alte deutete ein Nicken an, das die Kreatur erwiderte. Das is die Frau von Gestern, fuhr es Linnea durch den Kopf, als sie die Alte von der Strasse wiedererkannte. Die Greisin griff zu einer kleinen Tasche an ihrem Beutel und übergab dem Goblin etwas, das aussah wie braunes gekräuseltes Zeugs. Tabak… Wieso zum Henker gibt sie ihm Tabak? Und wieso kriegt sie keine Papierrolle? Die Alte nickte dem Goblin noch einmal zu, der den Kopf dankbar neigte und einen Schritt zurücktrat, um die Greisin vorbei zu lassen. Dann stopfte er den Tabak in seine Hosentasche. Die Alte ging an den Mädchen vorbei, berührte kurz den Punkt zwischen ihren Augen und vollzog den Ednessiv-Gruß, den Linnea hastig wiederholte. Dann zog sie gütig lächeln weiter ihres Weges. „Was zum Henker war das?“ wollte Evaebjudi wissen. „Tabak, glaub ich,“ meinte Linnea, während sie der alten Frau immer noch hinterher schaute. „Nein, doch nicht das! Ich meine dieses….“ Sie fasste sich an die Stirn. „Ach das,“ sagte Linnea fast wegwerfend, „das ist der Ednessiv-Gruß!“ „Die haben einen eigenen Gruß?“ hakte Gonijaveil ungläubig nach. „Ja, haben wir,“ meinte Linnea kurzangebunden, wobei sie eine besondere Betonung auf das Wörtchen `wir´ legte. Dann setzte sie der Alten nach, die noch nicht weit gekommen war. „Entschuldigung,“ gab sie vorsichtig von sich und wartete, bis die Greisin sich zu ihr umgedreht hatte. „Aber was habt Ihr dem Goblin eben gegeben?“ „Tabak, Kindchen,“ gab die Alte bereitwillig Auskunft. Doch als das nicht die erwartete Reaktion hervorrief, setzte sie ein Lächeln auf, das wie zuvor auf der Strasse ihr Gesicht in Tausende von kleinen Feldern unterteilte und griff nach Linneas Hand, um sie zu tätscheln. Das Mädchen war zwar irritiert, wehrte sich aber auch nicht. Sie konnte nicht genau sagen weshalb, doch irgendwie mochte sie dieses kleine hutzlige Weibchen, das durch den gekrümmten Rücken nicht einmal ganz bis zu ihren Schultern reichte. „Die Goblins machen das nicht umsonst, Kindchen,“ erklärte die Alte. „Sie erwarten etwas als Gegenleistung.“ „Gegenleistung? Wofür?“ Die Alte schüttelte den Kopf und ein paar graue Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, was sie aber nicht zu stören schien. „Goblins sind Arbeitswesen. Früher haben sie Untertage gearbeitet, doch dann hat das Konleok es ihnen verboten und sie aus den Mienen vertrieben. Einige von ihnen haben sich der Chroniken angenommen. Sie kümmern sich um die alten Schriften. Reparieren, was zu reparieren ist. Bringen alles auf den neuesten Stand. Und sie verlangen nichts dafür, außer ein wenig Anerkennung ihrer früheren Schutzherren.“ Die Alte schaute auf in Linneas Gesicht und wartete auf eine Reaktion des Mädchens. „Wer waren ihre Schutzherren?“ „Na, wir,“ meinte die Alte, so als sei Linnea schwer von Begriff. „Wir? Ihr… Ihr meint die Ednessiv?“ Die Alte nickte. „Aber Evaebjudi hat ihm doch Münzen angeboten!“

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„Geld,“ meinte die Alte kopfschüttelnd und lachend, „ist für die Goblins nicht von Bedeutung. Milch, Käse, Wein, Tabak, Weizen. Das sind Güter, mit denen sie etwas anfangen können.“ Sie tätschelte noch einmal Linneas Hand und lächelte zu dem jungen Mädchen empor. „Du solltest sie öffnen,“ meinte sie noch schmunzelnd, bevor sie ihres Weges ging und deutete mit einer zarten, leicht zittrigen und von Furchen und Altersflecken übersäten Hand auf die Pergamentrolle, die Linnea immer noch in der Hand hielt.

* * * „Was hat sie gesagt?“ hörte Linnea Linfars Stimme, als die drei Mädchen zu ihr kamen. „Sie meinte, ich soll sie öffnen.“ Linnea nahm den Blick vom gebeugten Rücken der alten Frau, die langsam durch zwei riesige antike Flügeltüren verschwand, die sich vor ihr geöffnet hatten und schaute auf die Schriftrolle in ihrer Hand. Langsam knüpfte sie das ledernde Band auf, das das Pergament zusammengerollt hielt und rollte es aus. >Willkommen in den Akasha-Chroniken,< stand in großen Lettern oben auf dem vergilbten Pergament und mittig des Blattes las Linnea >Name:< und >Alter:<. Und woher zum Henker, soll ich jetz bitte schön ne verflixte Feder bekomm? Wieso zum Henker, soll man erst alles abgebn, wenn man`s dann… „Was für eine Ausdrucksweise,“ las Linnea flüsternder Weise, als die Worte in schwarzer geschwungener Schrift auf ihrem Pergament erschienen. Irritiert schaute Linnea auf in die Gesichter ihrer Freundinnen, die nicht minder verwirrt dreinblickten. „Na-me. Lin-fa…“ setzte Linfar langsam und überdeutlich an und stutzte, als etwas auf ihrem Pergament erschien. „Was?“ wollte Evaebjudi wissen und lehnte sich zu ihrer Freundin hinüber. „Du brauchst nicht zu schreien,“ las sie vor, „ich bin nicht taub.“ Die Mädchen tauschten verwirrte Blicke aus und widmeten sich dann doch wieder den Pergamentrollen in ihren Händen. >Name<, las Linnea in Gedanken und beantwortete das ganze mit >Linnea Keylan<. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, erschien er auch schon fein säuberlich auf dem Papier. Sie atmete kurz durch und las dann weiter. >Alter. Vierzehn.< Sie musste grinsen, als sie die Worte auf dem Papier sah. Doch dann erschien ein neues Wort und ihr Grinsen erlosch augenblicklich. >Fast<. Woher zum Henker… >Du solltest wirklich an deiner Aussprache arbeiten<, las sie. >Ein so altes Geschöpf wie mich, kann man nicht belügen.< Schön. Tut mit leid. >Das sollte es auch.< „Gut,“ hörte sie Gonijaveil wispern. „Und was jetzt?“ „Na,“ meinte Linfar abenteuerlustig, „jetzt geht es auf in die Chroniken!“ Das Mädchen setzte sich ohne zu zögern in Bewegung und steuerte auf die gewaltige Flügeltür zu, durch die die Greisin keine Minute zuvor verschwunden war. Die anderen drei folgten ihr langsam und die Tore öffneten sich gemächlich ohne dabei ein Geräusch von sich zu geben und gaben den Blick frei auf die dahinterliegenden Akasha-Chroniken.

* * *

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„Das ist alles?“ kam es ein wenig enttäuscht von Evaebjudi, nachdem die Mädchen sich umgesehen hatten. Der Raum war zwar groß und links und rechts von einem breiten Mittelgang standen wuchtige Regale, von denen manche mit Schriftrollen nur so überquollen. Doch man hatte den Mädchen gesagt, dass in den Akasha-Chroniken das Wissen der ganzen Welt lagern sollte und somit hatten sie sich das ganze anders vorgestellt. Als eine Art gigantische Bibliothek. Mit Bücherregalen, die bis an die Decken reichten. Ein Repertoire, das auf mindestens zehn Etagen gelagert wurde. Mit riesigen Schildern, auf denen man lesen konnte, wo was zu finden sei. Doch das hier war ganz anders. Kleiner. Unscheinbarer. Überschaubar. Es erinnerte Linnea fast ein wenig an die Bibliothek in Kielins Schule. Ha! Noch ne Erinnrung mehr! Ein großer Raum, der mit Regalen, Tischen, Stühlen und Leselampen ausgestattet war. Nur, dass es hier eben Schriftrolln statt Bücher sind… „Also, ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass hier alles, wirklich alles gelagert sein soll,“ meinte Linfar. Die vier Mädchen gingen zu einem der Tische und ließen sich dort nieder. Viel zu besichtigen gab es eh nicht. „Gut,“ sagte Gonijaveil, als sie sich gesetzt hatte, „und wie funktioniert das jetzt?“ Evaebjudi lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und zuckte mit den Schultern. Sie war immer noch sichtlich enttäuscht. Linfars Miene und Haltung ließ auf nichts anderes schließen. Linnea konnte die Reaktionen ihrer Freundinnen zwar nachvollziehen, doch das ganze machte sie nicht derart niedergeschlagen, dass sie nur mit einem langen Gesicht auf einem der Stühle hocken wollte. Sie hatte einen Grund gehabt, weswegen sie in die Chroniken gekommen war und sie würde nicht eher wieder zum Kommodus zurückkehren, bis sie Antworten gefunden hatte. So schaute sie sich um und entdeckte keine zwanzig Meter entfernt einen dieser Goblins. Sie stand auf und trat auf das Wesen zu. Es schien älter zu sein als die beiden in der Empfangshalle. Auf jeden Fall hatte es einen weißen Flaum auf dem ansonsten kahlen Kopf und seine Haut war mehr grau als grün. „Entschuldigung, Goblin.“ Das Ding blickte zu ihr auf und seine wässrig blauen Augen schauten gar nicht freundlich. „Was willst du?“ knurrte es griesgrämig. „Ich…“ fing Linnea an und meinte dann doch ganz schnell: „Ach, nichts.“ Sie war im Begriff sich umzudrehen, als das knorrige, dürre Ding meinte: „Man stört keinen Goblin, ohne einen triftigen Grund zu haben. Also. Was willst du?“ „Ahnenforschung. Ich… Ich würde gern etwas über meine Familie herausfinden.“ Die Kreatur musterte sie kurz, bevor sie sich dann mit einem abfällig gemurmelten „Menschen“ umdrehte und los stolzierte. Was zum Henker war das denn eben? „Kommst du jetzt oder was?“ zeterte das Wesen ohne sich umzudrehen. Linnea setzte dem Goblin nach, der angefangen hatte vor sich hin zu murmeln und zu wettern. Er führte sie auf den breiten Gang und wackelte auf seinen kurzen Beinen an etlichen Regalen vorbei. „Wohin bringst du mich?“ hakte Linnea irgendwann nach.

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„Na, zur Ahnenforschung,“ sagte das Wesen ohne sich zu Linnea umzudrehen und setzte dann nochmals ein verächtliches „Menschen“ hinzu. „Wie heißt du?“ hakte Linnea vorsichtig und freundlich nach. „Goblin,“ raunte das Wesen. „Nein, ich meine deinen Namen.“ „Namen,“ kam es wegwerfend von der hageren Kreatur vor ihr, „so was kann auch nur einem Menschen einfallen.“ „Was hast du gegen Menschen?“ „Die machen immer alles kompliziert. Haben tausend Begriffe für ein und dasselbe Ding.“ Der alte Goblin schaute über die Schulter zu Linnea zurück, so als wolle er sie auffordern zu widersprechen. Doch das Mädchen schwieg. „Bei denen ist ein Mensch nicht nur ein Mensch,“ erklärte es meckernder Weise. „Nein! Erst ist es ein Embryo. Dann ein Säugling. Sohn. Tochter. Baby. Kleinkind. Kind. Junge. Mädchen. Heranwachsender. Frau. Mann. Ehemann. Ehefrau. Mutter. Vater. Schwiegermutter. Schwiegervater. Großmutter. Großvater. Ich könnte ewig so weitermachen,“ keifte es und tippte Linnea mit einem knorrigen Finger gegen den Arm. „Und trotzdem ist und bleibt es doch immer ein Mensch!“ Linnea öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor sie auch nur etwas über die Lippen gebracht hatte, hatte sich der Goblin auch schon wieder von ihr abgewandt und deutete auf das Regal zu seiner linken. „Hier.“ Er pochte mit der Hand gegen eines der Abteilungen im Regal. „Ahnenforschung.“ Linnea sah in das Abteil, in dem etwa ein Dutzend Pergamentrollen lagen. „Das ist alles?“ fragte sie ungläubig. „Alles was in diesem einen Fach liegt?“ „Nein, das ganze Regal!“ zeterte der Goblin sarkastisch. „Natürlich nur das, was in dem Fach da liegt!“ Dann drehte das Wesen sich um und marschierte mit einem abwertendem „Beglan“ davon. Beglan, Beglan, Beglan. Immer dieses Beglan! Ich sollte echt ma nachschlagn, was das heißt! Plötzlich hörte sie ein merkwürdiges Glucksen von hinter sich und fuhr herum. Vor ihr stand ein Goblin, der ganz anders aussah, als die paar, die sie bis jetzt gesehen hatte. Dieser hier hatte sehr glatte, auffallend helle Haut und war nicht ganz so groß, wie die anderen. Seine ganzen Züge waren feiner als die der übrigen Goblins und alles an dem Wesen schien kleiner zu sein. Die Nase war winzig. Man könnte sie glatt als Stupsnäschen bezeichnen. Es hatte eine viel zu große baumwollene Mädchenhaube auf dem Schädel, in die es zwei Löcher für seine Ohren geschnitten hatte, die Linnea irgendwie an die eines ganz jungen Hundes erinnerten. Die Spitzen waren herunter geklappt und das rechte Ohr wollte nicht ganz so gerade stehen, wie das linke und fiel immer wieder zur Seite um. Zwei riesige ovale hellgrüne Augen schauten unter dem Rand der Haube zu Linnea empor. Das kleine dürre Wesen hielt sich die kleine katzenartige Schnauze zu, aus der das Glucksen zu kommen schien. „Entschuldige,“ keuchte es und Linnea wusste nicht so ganz wofür es sich entschuldigte. Dafür, dass es dieses Glucksen verursachte, mit dem Linnea nichts anfangen konnte. Oder aber dafür, dass es sie aufgeschreckt hatte. „Ist schon in Ordnung,“ meinte das Mädchen ein wenig irritiert. „Oh, nichts ist in Ordnung,“ gab das kleine Ding ernst von sich. „Der ist zwar immer so,“ meinte es und sah sich zu dem alten Goblin um, der gerade in einer der vielen Regalreihen verschwand, „aber das ist noch lange kein Grund, so mit unseren Besuchern umzugehen! Oh, nein! Besonders nicht, wenn es Schutzherren… also Herrinnen sind.“

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„Nein, wirklich,“ versicherte Linnea, „das macht mir nichts aus.“ Das kleine Wesen, das Linnea für ein äußerst junges Weibchen dieser Gattung hielt, trat nahe an das Mädchen heran und flüsterte: „Ich habe ihn Griesgram genannt.“ Und schon setzte dieses Glucksen wieder ein. Sie lacht, schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Das muss n Kichern sein… „Oh, wenn er das wüsste!“ Die kleine Kreatur wurde von einem erneuten Lachanfall geschüttelt. „Er würde mich… würde mich zu Tode steinigen,“ meinte das junge Wesen, während es sich die Tränen aus den Augen wischte und nach Luft japste. „Und dann würde er mich enterben! Griesgram!“ Und wieder grölte es – sie – los. Schlug sich auf die mageren Schenkel. Und krümmte sich vor Lachen. „Weißt du,“ meinte es schließlich und hielt sich an Linneas Arm fest, „ich halte wirklich viel von den Menschen. Diese Namensgebungssache… Die finde ich hervorragend. Ich will nicht nur einfach Goblin sein. Ich bin viel mehr. Ich bin anders als alle anderen. Jeder ist anders als alle anderen. Ich finde, alles sollte einen Namen haben. Ach, wieso nur einen! Zwei! Drei!“ Du laberst wie n Wasserfall, man! Das kleine Wesen sprang um Linnea herum. Fasste sie mal hier am Arm. Mal dort an der Hüfte. Dort am Bein. Mal am Ellbogen. „Eine Blume heißt nicht einfach nur Blume bei euch Menschen! Oh, nein! Sie hat viele Namen. Nehmen wir die Rose zum Beispiel! Die heißt bei euch Menschen nicht einfach nur Blume-mit-den-roten-süßlich-duftenden-Blättern-und-den-Dornen-dran. Oh, nein, die heißt Rose! Königin der Blumen! Das ist doch viel passender und einfacher als Blume-mit-den-roten-süßlich-duf…“ „Ich glaube, ich habe verstanden, was du meinst,“ unterbrach Linnea das Geschöpf. „Ehrlich? Na, hervorragend! Dann können wir…“ „Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen,“ unterbrach das Mädchen den jungen weiblichen Goblin abermals, „aber wir können gar nichts, weil ich hier bin, um etwas herauszufinden.“ „Oh, ja, sicher!“ Das Wesen war ganz Feuer und Flamme. „Was versuchst du denn herauszufinden?“ Linnea öffnete den Mund, doch die Kreatur kam ihr zuvor. „Oh, ich sehe! Wir sind bei dem Buchstaben A. Abkürzungen, Anarchie oder Architektur! Ach ne, das ist erst dahinten.“ „Ahnenforschung,“ gab Linnea schnell von sich. „Schön! Sehr schön! So was habt nur ihr Menschen! Wir Goblins haben so etwas nicht. Das ist wirklich schade, weißt du, weil…“ „Ja, also,“ unterbrach Linnea das Wesen schnell, „wie funktioniert das ganze?“ „Was?“ Die Frage überrumpelte das Wesen so sehr, dass es still war und Linnea aus großen hellgrünen Augen anstarrte. „Na, dieses… ganze…“ Das Mädchen wedelte hilflos mit der Pergamentrolle in seiner Hand. „Ach, wie die Akasha-Chroniken funktionieren? Das ist ganz einfach! Also zu jedem Thema gibt es ein Fach. Manchmal zwei. Da liegen so gut ein Dutzend Pergamentrollen drin.

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Manchmal mehr. Man geht als zu dem entsprechendem Fach und nimmt eine Rolle raus. Die gibt einem dann alles preis, was man über das Thema wissen will. Ist man fertig, legt man sie zurück. So geht nie eine verloren.“ „Man nimmt sich einfach eine dieser Rollen?“ wiederholte Linnea ungläubig, „und da steht dann alles drin, was man lesen möchte?“ Das junge Wesen nickte eifrig. „Und das, was einem wichtig vorkommt, erscheint dann automatisch auf dieser Rolle,“ es tippte auf die Papierrolle in Linneas Hand. „Die kannst du dann mit nach Hause nehmen. Die speichert alles, was du hier jemals nachschlägst.“ Ah… Deswegn hat diese Greisin am Eingang wohl auch keine bekomm. Die kommt hier wohl öfters her und hat schon eine… Die kleine Gestalt hatte an Linnea vorbei in das Fach gegriffen, unter dem auf einem kleinen Schild Ahnenforschung stand. Es entrollte das Pergament und wandte sich dann wieder dem Mädchen zu. „Was genau willst du wissen?“ „Etwas über die Keylans.“ Die kleine Kreatur ließ die Pergamentrolle langsam sinken und musterte Linnea eingängig. „Die Keylans?“ hakte es nach. Linnea nickte nur und konnte mit der Reaktion des Wesens nicht so recht etwas anfangen. „Ganz sicher?“ „Ja. Was ist denn…“ „Dann bist du hier falsch,“ kam es von dem jungen Goblin und es rollte das Papier wieder zusammen und schob die Rolle in das Fach zurück. „Komm mit.“ Die kleine Kreatur brachte Linnea zu einem anderen Regal und zog, ohne auf das Mädchen zu warten, eine Pergamentrolle aus einem Fach mit der Überschrift Ednessiv – Familie Keylan. Wir ham n eignes Fach, stellte Linnea irritiert fest. Ohne das Papier auseinander gerollt zu haben, hielt der Goblin dem Mädchen die Rolle hin. Linnea griff zögerlich danach und fing an, das Pergament zu entrollen. Noch während sie dabei war den Bogen zu glätten, erschienen schwarze Schriftzeichen und erste Sätze darauf. Doch im nächsten Augenblick verwandelten sich diese in grüne Lettern und Linien und Linnea hielt inne. „Grün,“ hauchte der kleine Goblin links von ihr und Linnea schaute zu ihm hinab. „Was hat das zu bedeuten?“ Aus vor Überraschung groß aufgerissenen Augen schaute das Wesen sie an. „Du gehörst dazu,“ meinte es ehrfürchtig. „Du bist eine Keylan.“ „Ja,“ gab Linnea irritiert von sich. „Was ist so eigenartig daran?“ „Es gibt keine so junge Keylan wie dich,“ fing der Goblin langsam an. „Außer…“ Und die Augen der kleinen Kreatur wurden noch großer. „Du bist die Namenlose,“ hauchte das kleine Wesen fassungslos. Die Namenlose? „Bitte?“ fragte Linnea nach, die dem ganzen nicht folgen konnte. Die Augen des kleinen Wesens wanderten zum Pergament in Linneas Hand und das Mädchen sah gerade noch, wie die Buchstaben sich neu formierten. >Die letzte Namenlose<, las Linnea, >war die Tochter von Quinlavin und seiner Schwester Firinja Keylan, welche durch einen Fluch seitens ihres Vaters Quilienemglen…< Linnea spürte, wie ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, als ihre Augen über besagten Namen huschten. >…Keylan zum Inzest getrieben wurden. Es heißt, dass, hätte ihr eigener Onkel – der Doran Quilienemglen,…< Es gibt zwei!

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Und da war er wieder da, der Boden unter ihren Füßen. Zwei Quilienemglens! Er muss nach seim Vater benannt wordn sein… >… der bei der Durchführung ebenfalls ums Leben kam – sie nicht in die Fintan Schlucht geworfen, wäre sie nicht nur die nächste Namenlose, sondern wahrscheinlich auch der mächtigste Ednessiv aller Zeiten geworden. Eine reinblütige Keylan-Ednessiv, die vermutlich über alle vier Elemente hätte herrschen können.< In eim Punkt ham se Recht, schoss es Linnea in den Kopf. Alle vier Elemente… Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Oh, Flanagan… Wenn die wüsstn! „Oh, ich verstehe das nicht,“ hörte Linnea den jungen Goblin neben sich sagen und schaute hinab. Das kleine Ding kratzte sich am Kopf und schien äußerst verwirrt. „Das darf eigentlich gar nicht sein. Ich meine, niemand ist dazu in der Lage. Auf jeden Fall sollte es niemand sein. Keiner hat das bis jetzt hingekriegt. Wo kämen wir denn hin, wenn…“ „Was hat bis jetzt keiner hinbekommen?“ hakte Linnea vorsichtig nach. Die kleine Kreatur entriss Linnea den Pergamentbogen und wedelte damit herum. „Das hier,“ meinte die Kreatur, als würde das alles erklären. „Was…“ „Niemand,“ erklärte es Linnea, „niemand sollte dazu in der Lage sein, etwas über sich selbst in den Chroniken zu lesen.“ „Ja, aber wieso denn nicht?“ meinte das Mädchen, das die Aufgebrachtheit des Geschöpfes nicht im Geringsten nachvollziehen konnte. „Na, denk doch mal nach!“ warf der Goblin ihr an den Kopf. „Wozu lohnt es sich denn noch zu leben, wenn man alles nachlesen kann? Oh, verflixt, das ist doch das oberstes Gebot! Wenn man die Aktivitäten jedes einzelnen Tages vorher irgendwo nachschlagen und sein Ende irgendwo nachlesen könnte, dann kann man auch gleich Schluss machen! Was hätte das Leben denn für einen dann noch im Petto?“ „Nicht so wahnsinnig viel,“ stimmte Linnea dem kleinen Wesen zu. „Eben! Wieso also…“ „Aber hier steht doch rein gar nichts über mich drin!“ unterbrach sie den Goblin und nahm die Pergamentrolle wieder an sich. „Laut diesem Ding hier lebe ich gar nicht mehr!“ „Du bist es also,“ keuchte der junge Goblin und ließ sich mit dem Rücken an eines der Regale gelehnt zu Boden sinken. „Die Namenlose…“ „Bist du wahnsinnig?“ erklang plötzlich Flanagans aufgebrachte Stimme von hinter Linnea und sie drehte sich zu ihm um. Wo zum Henker kommt der n jetz her? „Der Doran Quilienemglen,“ japste das dürre Wesen, das mittlerweile mit weit von sich gestreckten Gliedern auf dem Boden lag. Ohne lange zu überlegen, ergriff er den jungen Goblin an einem seiner dürren Arme. Hob ihn vom Boden auf. Griff mit der freien Hand nach Linneas rechtem Arm. Und brachte so Goblin und Mädchen aus den Chroniken.

* * * „HE! IHR KÖNNT DIE NICHT EINFACH SO MITNEHMEN!“ brüllte einer der Goblins in der Empfangshalle hinter dem Dreiergespann her.

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Meint er jetz den Goblin oder die Pergamentrolle? Doch Flanagan ließ sich davon nicht beirren und überquerte den großen Platz mit dem Obelisken darauf innerhalb von wenigen Schritten. Linnea hatte Mühe mit ihm mitzuhalten. „Flanagan!“ quängelte Linnea und versuchte sich aus dem eisernen Griff ihres Onkels zu befreien. „Was soll denn das?“ Er ging nicht darauf ein, sondern zerrte das Mädchen nur resolut weiter. „FLA-NA-GAN!“ Als das nichts half, rief sie: „QUILIENEMGLEN!“ Flanagan blieb schlagartig stehen und Linnea fuhr herum, als er sie zu sich umdrehte. „Nenn mich… nie wieder… Quilienemglen,“ herrschte er sie durch zusammengebissene Zähne an. Somit herrschte erst einmal Stille zwischen den dreien, die nur durch Flanagans und Linneas Schritte auf dem Boden und das Röcheln des Goblins unterbrochen wurde. Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie den Kommodus erreicht und Flanagan brachte die beiden zu einem Zimmer, von dem Linnea ausging, dass es seines war. Auf dem Weg dorthin, kamen sie durch einen Flur, in dem Flanagan ein lautes „Loklen“ von sich gab. Dieser kam dann auch durch die Tür, als Flanagan Linnea endlich losließ und den Goblin unsanft zu Boden fallen ließ. „Was sollte das denn?“ hakte Linnea nach, während sie sich den schmerzenden Arm rieb und erst einmal ein paar Schritte Abstand nahm. „Flanagan?“ hakte auch Loklen nach. Doch der starrte seine Nichte nur finster an und wartete darauf, dass sie etwas von sich gab. „Ich habe nichts falsch gemacht,“ meinte Linnea und ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren überraschend fest. „Nein, natürlich nicht,“ kam es höhnisch von Flanagan, der angefangen hatte zügig im Zimmer auf und ab zu gehen. „Sie hat sich selbst gesucht!“ meinte er dann aufgebracht zu Loklen. „DU HAST WAS?“ Warum zum Henker schreit er n jetz so? Von draußen vor der Tür hörte man Getrappel und keinen Augenblick später wurde die Tür aufgestoßen und Linfar, Evaebjudi und Gonijaveil stürmten herein. Alle drei setzten an etwas zu sagen, doch Loklen kam ihnen zuvor. „RAUS HIER!“ „Aber wir…“ setzte Evaebjudi an. „SOFORT!“ Während Gonijaveil und Evaebjudi sich postwendend zurückzuziehen begannen, kreuzte Linfar nur die Arme unter der Brust und starrte Loklen auffordernd an. „Wir werden es so oder so erfahren. Entweder jetzt sofort von euch oder aber später von Linnea.“ Es herrschte kurz Stille. Dann kam ein alles andere als freundliches „schön“ von Flanagan und er deutete zu dem Bett, auf dem Linnea sich mittlerweile niedergelassen hatte. Gonijaveil griff im Vorbeigehen den immer noch am Boden kauernden und endlos vor sich hin faselnden Goblin auf und trug ihn zum Bett hinüber, wo sie ihn auf ihren Schoß setzte. „Oh, wenn ich schon in dieser äußerst prekären Lage stecke, dann möchte ich doch wenigsten in der unmittelbaren Nähe der Namenlosen sein,“ murmelte das kleine Wesen und krabbelte über die Beine der anderen Mädchen hinweg, bis es bei Linnea angekommen war. „Was zum Henker sollte das?“ wandte Flanagan sich an Linnea. „Ich habe Ahnenforschung betrieben,“ gab das Mädchen mit einem Ticken Aggressivität in der Stimme von sich. „Was ist so falsch daran?“

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„Alles,“ schimpfte Loklen. Alles? Verflucht, woher, zum Henker, soll ich n erfahrn, wer ich bin und wohin ich gehöre, wenn`s mir keiner sagt? „Ich will wissen, wer ich bin!“ meinte Linnea aufgebracht und erhob sich, wobei der Goblin gerade noch von Evaebjudi aufgefangen wurde, bevor er zu Boden ging. „ICH WILL WISSEN, WAS ES MIT DEN KEYLANS AUF SICH HAT! WIE ICH MEINEN GROßVATER BESIEGEN KANN! UND SO LANGE KEINER VON EUCH MIR DARAUF EINE ANTWORT GEBEN KANN – UND IHR HABT SELBST GESAGT, DASS IHR KEINE HABT! BEIDE! – SOLANGE MUSS ICH MICH WOHL SELBST DARUM KÜMMERN! DAS HABE ICH VERSUCHT! ALSO KOMMT MIR JETZT NICHT DAMIT, DASS DAS FALSCH SEI! IHR HABT SELBST GESAGT, ICH MUSS DAS SELBST RAUSKRIEGEN, WIE ICH DAS MACHEN MUSS! ALSO RÜGT MICH JETZT NICHT DAFÜR, DASS ICH NACH EINER LÖSUNG GESUCHT HABE!“ „Aber doch nicht so offensichtlich, Kind,“ kam es von Loklen – um einiges milder, wohlbemerkt – und er ließ sich auf den einzigen Stuhl im Raum nieder. „Ach, und wie dann?“ gab Linnea immer noch reichlich hitzig von sich. „Linnea, Kleines, hör zu,“ wandte Flanagan sich an seine Nichte, die alle Hände voll damit zu tun hatte, ihren Zorn zu bändigen, „es war nicht gerade schlau von dir in die Akasha-Chroniken hinein zu marschieren und nach deinen Wurzeln zu fahnden. Was, wenn…“ „Ich glaube nicht,“ mischte sich Linfar plötzlich ein, „dass sie die einzige ist, die in Zeiten wie diesen nach dem Keylan-Vorfall fragt.“ „Nein,“ kam es von Loklen, „aber sie ist die einzige, bei der die Schrift grün wird.“ Es herrschte Stille. Die Mädchen schienen zu wissen, was das zu bedeuten hatte. „Wer hat dich dabei gesehen?“ hakte Flanagan nach. „Nur dieser Goblin hier,“ meinte Linnea und zeigte auf die junge Kreatur, dessen Ohren mittlerweile zwar komplett hingen, doch leicht nervös zuckten. „Ich mache alles, was Ihr verlangt,“ quickte das junge Wesen, während es sich vor Flanagan auf den Boden warf, „aber bitte, bitte werft mich nicht Eurem Vater zum Fraße vor.“ Flanagan musste trotz der misslichen Lage lachen. „Meinem Vater? Mit dem habe ich abgeschlossen, als ich so alt war wie Linnea jetzt.“ Er reichte dem kleinen Wesen eine Hand, die es zögerlich ergriff, und zog es wieder auf die Beine. „Und Ednessiv essen keine Goblins, glaub mir. Selbst nicht ein solcher wie mein Vater.“ „Aber der Goblin kann nicht zurück,“ kam es von Loklen. „Nein, wahrhaftig nicht,“ stimmte Flanagan ihm zu. „Er weiß zu viel. Du wirst von jetzt an für uns arbeiten.“ Wider Erwarten blickte die kleine Kreatur freudig zu Flanagan empor. „Dann braucht er einen Namen,“ meinte Linnea schnell. „Einen Namen?“ fuhr der Goblin überrascht zu dem Mädchen herum. „So einen… richtigen… Namen?“ Linnea nickte und das kleine Wesen wirkte überglücklich und Freudentränen rannen ihm aus den hellgrünen großen Augen. „Maleya,“ kam es nach einiger Überlegung von Loklen. „Das heißt junges Mädchen. … Du bist doch noch jung, oder? Und… und weiblich?“

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innea,“ erklang Flanagans Stimme hinter dem Mädchen, als es gerade die Tür hinter sich schließen wollte. „Mh?“ machte sie und drehte sich zu ihrem Onkel um.

Er war an die kleine Kommode getreten, die neben dem Fenster stand und war im Begriff eine der Schubladen zu öffnen. „Da gibt es noch etwas, das… das ich dir geben möchte.“ Linnea warf ihren Freundinnen, die bereits im Flur warteten, einen schnellen Blick zu und meinte, dass sie schon vorgehen sollten, sie käme bald nach. Dann trat sie wieder in das Zimmer ein und ließ sich auf das Bett nieder. Flanagan schloss die Schublade wieder und hatte seine Hand um etwas geballt. Er kam auf Linnea zu und kniete sich vor ihr auf den Boden. „Das hier,“ meinte er leise, „haben deine Eltern gemeinsam für dich angefertigt, bevor sie…“ Er hatte ihre Hand genommen und legte das Etwas, der er in seiner gehalten hatte, behutsam auf die Handfläche des Mädchens. Es war ein silberner Ring. Hauchfein gearbeitet. Winzige Blätter umgaben seine Fassung. Von meinn Eltern, schoss es ihr überwältigt durch den Kopf. Für mich! „Sie haben sämtliche Schutzformeln hineingearbeitet, die ihnen zu der damaligen Zeit bekannt gewesen waren. Er soll…“ Flanagan musste sie räuspern und sprach dann leise weiter. „Er soll dich vor deinem Großvater beschützen.“ Ihr Onkel deutete auf den kleinen roten Stein in der Mitte. „Der ist in Form eines Holunderblattes geschliffen.“ Holunder? Er spürte den fragenden Blick des Mädchens auf sich. „Das ist ein Schutzbaum,“ erklärte er, „und die Farbe Rot schirmt noch zusätzlich alles Negative ab.“ „Wie bist du daran gekommen?“ hörte sie sich flüstern. „Sie haben ihn mir gegeben,“ meinte er. „Und ich sollte ihn dann dir übergeben, sobald du über alles Bescheid weißt.“ Sie steckte sich den Ring an die rechte Hand und ihr war, als würde eine Art Ballon um sie herum entstehen. „Ah,“ kam es freudig überrascht von Flanagan und er erhob sich, um einen Schritt zurückzutreten, „du spürst es.“ Linnea nickte und sah zu ihm auf. „Danke,“ murmelte sie und stand auf, um ihn zu umarmen.

* * * „Was wollte er?“ fragte Evaebjudi, nachdem Linnea sich zu ihren Freundinnen an den Tisch gesetzt hatte. Linnea präsentierte stolz ihren Ring und erklärte ihren Gefährtinnen, was es damit auf sich hatte. Maleya, die das ganze mit steif stehenden Ohren und weit geöffneten Augen verfolgte, lehnte sich weit über den Tisch hinüber, um einen besonders guten Blick auf das Schmuckstück werfen zu können. „Ein Schutzring,“ quiekte sie entzückt, „gefertigt von zweien der mächtigsten Eds, die es da draußen gibt! Also, dich ausgenommen, Namenlose“ fügte sie schnell hinzu, als sie Linneas Blick auf sich spürte. „Bitte, Leya, auch ich habe einen Namen, ja!“

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„Oh ja, natürlich! Entschuldigung. Es ist nur… Weißt du, dass die neue Namenlose hier so in Fleisch und Blut vor mir sitzt, das ist… Ich meine, wer hätte gedacht, dass…“ „Leya, du plapperst schon wieder,“ unterbrach Linfar das kleine Wesen, das sofort den Mund schloss. Doch nur, um ihn dann gleich wieder zu öffnen. „Oh, und wieso hast du jetzt eigentlich einen Namen? Ich meine, du bist die Namenlose! Da sollte man eigentlich seinen Geburtsnamen ablegen und…“ „Das ist nicht mein Geburtsname. Flanagan hat mich so genannt,“ erklärte Linnea schnell. „Damals, als wir zu Kielin gekommen sind.“ „Der Doran, ja,“ meinte Maleya wie zu sich selbst und nickte mit dem Kopf. „Was zum Henker macht das denn hier?“ wollte Tapio wissen und ließ sich neben Gonijaveil nieder, die ihm Platz machte. Oh, was will der denn jetz hier? „Das das ist eine die und sie gehört jetzt zu uns,“ erklärte Evaebjudi und Tapio schoss Linnea, die er als Anführerin der Vierergruppe eingestuft hatte, einen fragenden Blick zu. „Ihr Name ist Maleya,“ sagte Linnea. „Die haben Namen?“ kam es überrascht von dem Jungen. „Nein, eigentlich nicht,“ schaltete Linfar sich wieder ein, „aber diese hier schon.“ „Ich bin die aller erste!“ gab der junge Goblin stolz von sich. „Gut… Was war das mit der Namenlosen,“ wechselte er schnell das Thema und Linnea rollte mit den Augen. Oh, wie oft denn noch? Tapio schob sein Kinn vor, als ihm niemand antwortete. Frag doch Flanagan! Vielleicht erklärt der`s dir… Linnea überließ es Gonijaveil Tapio aufzuklären. „Und das steht in den Chroniken?“ hakte Tapio skeptisch nach, als alles erzählt war. „Ja,“ kam es kurz und stolz von Maleya, „alles. Haargenau.“ Doch dann ließ sie den Kopf und die hellgrünen Ohren hängen und Linnea sah, wie sie schwer schluckte. „Leya?“ fragte sie vorsichtig nach und legte dem kleinen Wesen die Hand auf die Schulter. Der Goblin schaute schwerfällig und langsam wieder zu dem Mädchen hoch und etwas milchiges war in ihre Augen getreten. Sie weint… weiße Tränen… Das Wesen öffnete die katzenartige Schnauze, brachte aber kein Wort heraus. „Was ist denn los?“ wollte Tapio wissen, währenddessen die Mädchen sich wissende Blicke zuwarfen. Gonijaveil klärte Tapio flüsternder Weise darüber auf, weshalb Maleya so niedergeschlagen war und die restlichen Mädchen versuchten derweil den Goblin wieder aufzumuntern. „Oh, was für eine Stimmung,“ kam es gekünstelt ernst von Malachi – Tapios jüngerem Bruder, der bei Linneas Ankunft Atritatis und Zenron entgegen genommen hatte – als er an den Tisch trat. „Ihr Jungs habt echt keine Ahnung von Mitgefühl,“ warf Evaebjudi Malachi an den Kopf, schnappte sich Maleya und verließ zusammen mit Linnea und Linfar den Tisch. „Was…“ hörten sie Malachi noch verwirrt murmeln, doch dann waren sie außer Hörweite.

* * * Evaebjudi brachte Maleya auf das Zimmer der Mädchen, wo die vier sich auf den Betten niederließen. Evaebjudi konnte nicht nachvollziehen, wie man so etwas simples wie Maleyas

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Situation nicht nachvollziehen konnte. Für sie war es völlig offensichtlich, dass das kleine Wesen seiner Arbeit in den Chroniken nachtrauerte, der es jetzt – dank seinem `Zusammenstoß´ mit Linnea – nicht mehr nachgehen konnte. Es wäre zu gefährlich, den Goblin wieder in die Chroniken zu schicken. Nur all zu schnell hätte Maleya sich verplappert – Goblins waren bekannt dafür redselig zu sein und dieses Exemplar hatte offensichtlich reichlich von der Gabe abbekommen – und preisgegeben, dass Linnea dasjenige Mädchen war, nachdem man suchte. Natürlich war es nicht ungefährlich, den Goblin hier zu behalten, doch so konnte man wenigstens ein Auge auf das Wesen werfen. Maleya war vermutlich bereits in der Zeit geboren, in der die Goblins sich der Chroniken angenommen hatten und hatte in ihrem Leben noch nie etwas anderes gemacht, als sich um die Aufzeichnungen dort zu kümmern. Was genau sie jetzt erwartete, konnte ihr niemand so genau sagen. Dass sie das ganze mitnahm, war nur all zu nachvollziehbar. Abgesehen davon, machte Evaebjudi ihrem ehemaligen Mentor Vorwürfe, dass er die Mädchen nicht vorgewarnt hatte. Ihrer Meinung nach, war es seine Aufgabe gewesen, Linnea davon zu unterrichten, dass es nicht angebracht war, ihren Namen dort preiszugeben. Wie genau sie diese Schriftrollen überlistet hätte, das wusste Evaebjudi auch nicht. Flanagan, da war sie sich aber sicher, hätte Linnea vorher sagen sollen, wie gefährlich das ganze sein würde. „Und was… jetzt?“ fragte Maleya, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. „Was habt ihr herausgefunden?“ wollte Linnea, die ihren Arm um die schmalen Schultern von Maleya gelegt hatte, wissen. „Nicht so wirklich viel,“ gestand Linfar. Die Tür knarrte und Gonijaveil trat ein. „Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen,“ kam es von Evaebjudi und Gonijaveil schoss die Röte in die Wangen. „Ich habe nur Malachi aufgeklärt,“ meinte diese. „Und Tapio noch einen Abschiedskuss gegeben,“ setzte Linfar grinsend hinzu. Den dreien war nicht entgangen, wie Gonijaveil den Jungen ansah. Sie versuchte es zu unterbinden, sobald sie merkte, dass eine der dreien in der Nähe war. Doch es gelang ihr nicht besonders gut. Linnea freute sich einerseits für ihre Freundin, doch andererseits fragte sie sich am laufenden Band, warum es ausgerechnet der von ihr verabscheute Tapio hatte sein müssen. „Also,“ räusperte sich das dunkelhaarige Mädchen, „was habe ich verpasst?“ „Noch nichts,“ antwortete ihr Linnea und grinste. „Ich habe nur gefragt, was ihr herausgefunden habt.“ „Ja...“ „Äh…“ Wie jetzt? Linnea schaute zwischen ihren Freundinnen hin und her, doch jede einzelne wich ihrem Blick aus. Gonijaveil betrachtete ihre im Schoss gefalteten Hände. Linfar schien auf einmal Maleya wahnsinnig interessant zu finden. Und Evaebjudi kratzte sich am Haaransatz und schaute aus dem Fenster, vor dem sich die Dämmerung langsam legte. Oh, schon so dunkel, schoss es Linnea erstaunt durch den Kopf. Wir müssn Stundn in den Chronikn verbracht ham! „Habt ihr überhaupt nachgeforscht?“ Die drei hatten versprochen ihr zu helfen. Hatten gesagt, sie würden nach dem fünften, zusätzlichen Element suchen. Nach Ednessiv, die damit umzugehen wussten. „Oh doch,“ versicherte Evaebjudi, „natürlich!“

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„Es ist nur…“ fing Gonijaveil an. „Es gibt nichts,“ sagte Linfar ernst. „Wie? Es gibt nichts?“ „Es gibt nichts,“ wiederholte Linfar. „Es gibt vier Elemente, Linnea. Nur vier! Was anderes steht nirgends geschrieben.“ Das darf doch nich wahr sein! „Aber irgendwo muss doch etwas stehen!“ Linfar schüttelte nur den Kopf. „So wie es aussieht, bist du die einzige Ednessiv, die…“ Linnea seufzte und ließ die Schultern hängen. Sie hatte sich viel von den Chroniken versprochen. Antworten. Oder zumindest Hinweise, wo sie weitersuchen konnte. „Na,“ kam es plötzlich von Maleya, „das hätte ich euch auch vorher sagen können. Das fünfte Element heißt auch nicht das fünfte Element,“ meinte sie dann geheimnisvoll und starrte Linnea aus großen Augen an. „Sondern?“ „Saiwalo,“ flüsterte das kleine Wesen. „Bitte?“ hakte Linnea im selben Moment nach, in dem Evaebjudi meinte: „Habe ich noch nie was von gehört“. „Das heißt so viel wie Geist. Also nicht Gespenst, oder so. Sondern das, was man hier hat,“ sie tippte sich an den Kopf. Linnea wechselte einen schnellen Blick mit ihren Freundinnen aus. Geistiges Wissn? Das soll der Schlüssl zu allm sein? „Saiwalo? Bist du dir sicher?“ „Aber natürlich,“ meinte Maleya mit Nachdruck und schaute Linnea an, als habe sie sie gerade gefragt, ob sie denn nun wirklich ein Goblin sei. „Die Namenlose,“ kam es dann kopfschüttelnd von dem Goblin, „und ich muss ihr erklären, was Saiwalo ist…“ Linnea fuhr sich durch das Haar und zog die Schriftrolle von unter ihrem Gürtel heraus. Sie entrollte das Pergament, um zu sehen, was es notiert hatte und war überrascht, als sie in einem kleinen eingerahmten Kästchen oben rechts >Beglan: Schülerin, junges Mädchen< las. Wieso… Sie schaute zurück zu Maleya, die ihren Blick zu deuten wusste. „Das Pergament notiert sich alles, was durch deinen Kopf geht. Oder zumindest das, was es für wichtig hält. Und all das, was es selbstständig beantworten kann, beantwortet es von selbst. Wenn du also was wissen willst, was das Pergament eh schon weiß, dann…“ „Ich glaube, ich habe verstanden, was du meinst,“ unterbrach Linnea das Wesen schnell. „Und wie kommt man daran, an dieses Saiwalo?“ fragte Evaebjudi. „Keine Ahnung,“ meinte Maleya und zuckte mit den dürren Schultern, „bis jetzt habe ich noch niemanden kennengelernt, der damit gearbeitet hat.“ Hervorragend… „He! Linnea! Wo willst du denn hin?“ Das Mädchen war aufgestanden und bereits halb aus der Tür, als ihre Freundinnen ihr nachsetzten. „Na, zu den Chroniken! Wohin denn sonst?“ „Aber du kannst doch nicht…“ setzte Gonijaveil an, doch Linnea war bereits die Treppe hinunter gelaufen und ignorierte die Rufe ihrer Freundin. „LINNEA!“

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Das war Loklens Stimme. Doch das Mädchen hielt in ihrer Bewegung nicht ein, sondern rief ihm nur ein „KEINE ZEIT!“ zu und war dann auch schon aus dem Wirtshaus gelaufen.

* * * „Bist du wahnsinnig?“ hakte Loklen nach, als er sie kurz hinter dem Eingang zu den Chroniken eingeholt hatte. Er hielt sie am Arm fest, ließ sie aber wieder los, als sie anfing sich zu wehren. „Ich betreibe Forschung,“ meinte sie sachlich, doch leicht aggressiv, „genau das, was ihr wolltet!“ „Nach all dem, was gerade passiert ist?“ warf er ihr leise an den Kopf. „Wer soll es denn sonst machen, hm?“ Er war still und Linnea wandte sich mit einem triumphierenden Lächeln von ihm ab. Sie schritt durch das große Tor und konnte die Blicke der beiden Goblins in der Eingangshalle – es waren andere als am Morgen – auf ihrem Rücken spüren. Angesichts der Szene, sie sich ihnen bot, wagten sie es nicht, einen der beiden anzusprechen. Linnea hörte, wie Loklen ihr folgte. Doch er machte keinerlei Anstalten sie zurückzuhalten. Sie warf einen Blick auf das Pergament in ihren Händen und stellte im Gehen ihre Frage. Wo finde ich etwas über das Saiwalo? >Ich freue mich, dich erneut in den Akasha-Chroniken willkom…< Saiwalo! Wo? >Schon gut, schon gut! Zu deiner Linken. Ungefähr… jetzt!< Das Mädchen bog in den karg beleuchteten Gang ein und seine Augen wanderten über die kleinen Schildchen, die sie angesichts der einsetzenden Dunkelheit nur mit Mühe entziffern konnte. Hinter sich hörte sie immer noch Loklens Schritte, die leise auf dem Boden wiederhallten. Ah! Saiwalo! Sie zog eine der drei Papierrollen aus dem Regal – das scheinn ja nich grad viele zu lesn – und entrollte sie. >Saiwalo. Auch Saiwlo. Geist. Seele. Vom urgermanisches Wort `See´, da man annimmt, dass vor der Geburt und nach dem Tode alle Seelen in einem großen Gewässer vereinigt sind.< Sie wandte das Pergament um. Wie? Ein enttäuschter Lacher entrann ihrer Kehle. Das is alles? Doch auch dort stand nichts. „Linnea?“ Sie zuckte kurz zusammen, als sie sich Loklens Anwesenheit wieder bewusst wurde und drehte sich dann zu ihm um. Sie setzte an etwas zu sagen, fand aber keine Worte und wedelte stattdessen kurz hilflos mit dem Papier. Loklen nahm es ihr ab und seine Augen schwebten über die paar Worte, die darauf standen. „Mhm,“ machte er schließlich und gab ihr das Pergament zurück, „nicht gerade aussagekräftig.“ „Nein,“ stimmte sie ihm zu, rollte das Pergament zusammen und legte es in das Fach zurück, „nicht so wirklich.“ Doch als sie dann wieder zu ihm aufschaute, schoss ihr folgendes durch den Kopf: Er kann`s! Er hat irgndwie n Weg gefundn, in die Gedank andrer einzudringn! „Wie machst du das?“ Linnea war davon überzeugt, dass das Gedankenlesen irgendwie mit dem Geist und der Seele der Menschen zusammenhing.

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Loklen sah verwirrt aus. „Was?“ wollte er wissen. „Na, das Gedankenlesen!“ Er zuckte mit den Schultern. „Linnea, das habe ich dir doch alles schon gesagt. Ich weiß es nicht genau. Ich höre es einfach in meinem Schädel.“ „Aber du musst doch eine Art Tor oder so etwas öffnen.“ „Linnea,“ meinte er ruhig und niedergedrückt, „ich weiß es nicht. Manchmal vernehm ich das, was andere denken und manchmal eben nicht. Und dass ich es nicht beeinflussen kann, sollte gerade dir mehr als klar sein.“ Sie runzelte die Stirn. „Du bist diejenige, die ihre Gedanken gegen mich abschirmen kann. Das heißt, du hast es in der Hand, wann ich sie wahrnehmen kann und wann nicht.“ So hatte sie es noch gar nicht gesehen. Doch es schien Sinn zu machen. Sie ging an Loklen vorbei, in den breiten Gang zurück und vernahm aus dem Augenwinkel, wie er es ihr gleichtat. „Hörst du sie sonst immer? Die ganze Zeit?“ Er nickte nur. Das is ja schrecklich! „Schrecklich?“ Linnea schaute über die Schulter zu ihm auf. Sie hatte nicht mitbekommen, dass sie ihre Gedankenbarrikade hatte fallen lassen. „Ja, also… Ich meine, wenn du die ganze Zeit hunderte von Gedanken in deinem Kopf hast, die aber alle nicht deine sind, dann ist das doch das reinste Chaos!“ Er lächelte und schüttelte sachte den Kopf. „Man gewöhnt sich daran. Das ist wie in einer großen Menschenmasse. Irgendwie gelingt es einem, die unwichtigen Satzfetzen, die man dort so hört, nur unterbewusst wahrzunehmen und nur das wichtige herauszufiltern.“ Sie gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, wanderten den breiten Gang entlang und passierten so die große Flügeltür. „Linnea,“ meinte Loklen eindringlich und hielt sie an der Schulter fest, als sie das Foyer der Chroniken verlassen hatten. Das Mädchen blieb stehen und sah in die forschenden blauen Augen ihres Gegenübers auf. „Ganz ehrlich… Aber ich glaube nicht, dass die Gabe des Gedankenlesens ein Aspekt des fünften Elementes ist.“ „Aber…“ setzte Linnea an, um ihm zu widersprechen. „Es gibt eine Menge Eds, die dazu fähig sind, Gedanken wahrnehmen zu können. Doch keiner von ihnen beherrscht das fünfte Element.“ „Vielleicht tun sie es doch und sie wissen es nur nicht,“ hielt Linnea dagegen. „Linnea,“ sagte er, schüttelte den Kopf und lachte kurz auf, „du hast es doch selbst gehört. Linfar, Evaebjudi und Gonijaveil haben den ganzen Tag damit verbracht nach Zusammenhängen zu suchen und kein einziger ist ihnen begegnet.“ „Sie haben vermutlich nur nicht gründlich genug danach gesucht.“ „Ich bitte dich! Das hier,“ er deutete mit der Hand hinter sich, „sind die Akasha-Chroniken! Sie enthüllen einem alles, das man wissen will.“ „Wahrscheinlich haben sie die falschen Fragen gestellt.“ Loklen nahm seine Hand von Linneas Schulter, streckte den Rücken durch und stemmte die Hände in die Hüfte. Die Sturheit des Mädchens brachte ihn langsam aus der Fassung. „Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Gabe und dem Element! Glaub mir! Sonst stünde es dort geschrieben!“

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„Es hat wohl nur noch keiner untersucht!“ Loklen seufzte laut und wandte sich kurz von Linnea ab. „Was?“ meinte sie genervt. „DU WILLST ES NICHT VERSTEHEN, ODER?“ kam es unfreundlich und aufbrausend von ihm, als er wieder zu ihr herumfuhr. „DU DENKST DOCH NICHT IM ERNST, DASS DU DIE ERSTE BIST, DIE MEINT, DASS DAS ZUSAMMENHÄNGT? VOR DIR, LANGE VOR DEINER… ACH, LANGE BEVOR ÜBERHAUPT DER ERSTE DEINER FAMILIE GEBOREN WAR, HAT MAN SICH SCHON DEN KOPF DARÜBER ZERBROCHEN. UND MAN HAT BIS HEUTE KEINEN ZUSAMMENHANG FESTSTELLEN KÖNNEN. UND, GLAUBE MIR, DU WIRST ES AUCH NICHT KÖNNEN. WEIL ES DA KEINEN GIBT!“ „ICH BIN BESSER ALS ALLE ANDEREN,“ warf sie ihm an den Kopf, „DAS HAST DU SELBST GESAGT! ICH KANN VIEL MEHR ALS DIE! UND ES GIBT DA EINEN ZUSAMMENHANG!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte in Richtung Kommodus zurück. „OH-HO!“ hörte sie Loklen hinter sich, als er sich ebenfalls in Bewegung setzte, „STEIGT UNS JETZT DER RUHM ETWAS ZU KOPF, ODER WIE?“ „RUHM?,“ sie lachte neckisch auf. „EHRGEIZ, LOKLEN! EHRGEIZ! AN DEN KLAGENDEN WALD HABEN AUCH ALLE GEGLAUBT, OBWOHL IHN KEINER VON DENEN JE GEFUNDEN HAT! UND DARAN, DASS MAN MIT ALLEN VIER ELEMENTEN GLEICHZEITIG UMGEHEN KANN, DARAN HAT JEDER GEZWEIFELT! UND TROTZDEM KANN ICH ES!“ Ha! Jetz biste sprachlos, he? Erhobenen Hauptes schritt sie an Malachi vorbei, der vor der Tür des Kommodus auf Kundschaft wartete. Der Junge sah den beiden nur mit geöffnetem Mund und großen Augen hinterher und versuchte sich einen Reim auf das ganze zu bilden. Linnea stürmte durch die Gaststube des kleinen Wirtshauses, nahm die Treppe in drei Sätzen und kam Türen knallend in dem Zimmer an, das die Mädchen sich teilten. Die drei waren, zusammen mit dem Goblin, noch immer in dem Raum und erschraken kurz, als Linnea derart herein geplatzt kam. „Warte, kein Wort,“ meinte Linnea leise, als Linfar den Mund öffnete, um zu fragen, was, um Himmels Willen, vorgefallen war. Linnea stand da. Starr vor Anspannung. Und hatte die Augen geschlossen. Sie konnte die irritierten Blicke ihrer Freundinnen auf sich spüren, regte sich aber vorerst nicht. Schließlich hörte sie, wie eine der Mädchen sich räusperte. „Linnea?“ Das war Gonijaveils zögerliche Stimme. „Was machst du da?“ „Ich habe es gerade geschafft, dass Loklen sprachlos war und diesen Moment und dieses Gefühl will ich mir in mein Hirn einbrennen.“ Evaebjudi wartete mit ihrer Frage, bis Linnea die Augen wieder geöffnet hatte. „Was ist passiert?“ Linnea erzählte kurz, was vorgefallen war und konnte anhand der Blicke ihrer Freundinnen erkennen, dass sie nicht sonderlich mit ihrer Meinung übereinstimmten, sondern eher auf Loklens Seite waren. Maleya ging noch einen Schritt weiter. „Also, ich habe schon mein ganzes Leben lang in den Chroniken gearbeitet und... Ich… Ich weiß ja, dass du die Namenlose bist und diese ganzen vielen tollen Fähigkeiten und so haben sollst… Aber… ich glaube nicht so wirklich, dass die Namenlose dazu fähig ist, etwas zu finden, was in der gesamten Geschichte der Ednessiv nicht gefunden werden konnte.“ „Klagender Wald,“ schmiss Linnea dem Goblin als Stichwort an den Kopf. „Das… das ist was anderes.“ „Was anderes?“

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„Als die Pflanzen sich damals verabschiedet haben, haben sie das angekündigt,“ kam es leise von Maleya. „Also, die Existenz vom klagenden Wald.“ Linnea seufzte und ließ sich schwerfällig auf ihre Matratze sinken. „Und was jetzt?“ hakte Gonijaveil vorsichtig nach. Doch bevor eines der Mädchen, oder der Goblin, etwas sagen konnte, unterbrach ein Klopfen an der Tür die Stille. „Ja,“ kam es von Linfar und Loklen steckte den Kopf in das Zimmer. „Flanagan möchte dich sprechen.“ Linnea sah ihren Gefährten – der immer noch sichtlich schlechte Laune hatte – ein wenig verwirrt an, doch der meinte nur: „In den Stallungen.“

* * * Ich werd mich nich entschuldign!, sprach sie sich zum wiederholten Male ein. Ich hab nichts falsch gemacht. Soll er sich doch entschuldign! Ein ungutes Gefühl hatte sich in ihrer Magengegend breit gemacht und es wuchs mit jedem Schritt, den sie in Richtung Stallungen hinter sich brachte. Und wenn schon! Das is was zwischn Loklen und mir! Da hat er sich überhaupt nich einzumischn! Doch so sehr sie sich das auch einredete, dieses Gefühl wollte nicht kleiner werden. Dementsprechend trat sie also zögerlich an die verschlossene Tür heran, legte den Riegel um und schob die hölzerne Pforte zur Seite. Flanagan erhob sich von dem Strohballen, auf dem er gesessen und gewartet hatte. Er rieb sich kurz über seine dunkle Hose, um sich das Stroh, das an ihr hängengeblieben war, zu entfernen und beäugte seine Nichte dann eingehend. Linnea hatte alle Hände voll damit zu tun seinem Blick standzuhalten. Doch schließlich atmete er hörbar aus und ließ den Kopf ein wenig hängen. „Ich denke, ich bin dir eine Erklärung schuldig,“ kam es leise von ihm. Oh ja, ganz recht! Und nich nur eine! Doch alles, was aus ihrer Kehle kam, war ein Räuspern und ein „mhm“. „Komm,“ meinte er und ging zu einer der leerstehenden Pferdeboxen. Linnea sah ihrem Onkel irritiert hinterher und konnte mit seinem Verhalten nicht so recht etwas anfangen. Er hatte ihr eine Erklärung versprochen. Und dementsprechend erwartete sie Worte. Ein Gespräch. Doch keine Aufforderung ihm in eine leere, mit Stroh ausgelegte Box zu folgen. Flanagan war mittlerweile dabei, das Stroh am Boden beiseite zu schieben, als Linnea sich endlich bequemte von der Stelle zu bewegen. „Was machst du denn da?“ wollte sie wissen. Doch die Worte hatten ihren Mund kaum verlassen, da legte Flanagan unter der Strohschicht eine Falltür frei. Was zum Henker… Er zog an einem kurzen Strick und zerrte die hölzerne Tür zur Seite. Dann richtete er sich wieder auf und griff nach einer der Fackeln, die an den vielen Balken der Stallungen hingen. Mit einem auffordernden Kopfnicken zu seiner Nichte, wandte er sich wieder der freiliegenden Luke zu und stieg in die Finsternis hinab. Linnea trat zögerlich an das dunkle Loch im Boden heran, welches Flanagan mittlerweile vollständig geschluckt hatte. Sie sah

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karg beleuchtete, in die Erde geschlagene Stufen, die in eine Art Tunnel hinab führten, dessen Wände durch das flackernde Licht von Flanagans Fackel orange angestrahlt wurden. „Was ist das?“ fragte Linnea als sie bei ihrem Onkel angekommen war. „Salzstein,“ kam es von diesem. „Nein, ich meine… ich meine,“ sie sah sich um und deutete flüchtig in den finster vor ihr liegenden Gang, „das hier.“ „Marbons Schattenseite.“ Marbons Schattenseite? Flanagan sah den irritierten und verwirrten Blick auf Linneas Gesicht. „Die ganze Welt besteht aus Gegensätzen,“ erklärte er. „Tag und Nacht, Mann und Frau, Oben und Unten, Feuer und Was…“ „Flanagan?“ unterbrach sie ihn. „Es bedarf eines funktionierenden Gleichgewichts zwischen all dem und da Marbon die Stadt der Klarheit ist, braucht sie auch einen Teil der Zwielichtigkeit. Etwas, von dem nicht jeder weiß. Etwas, das Vermutungen, Gerüchte, Mythen mit sich bringt.“ Linnea wartete darauf, dass er weitersprach. Doch er schwieg. Unterirdische Gänge? „Wie zum Henker sollen unterirdische Gänge eine Art Legende in die Welt setzen?“ „Unterirdische Gänge?“ Es klang wie eine Beleidigung. „Linnea, meine Liebe, das sind keine bloßen unterirdischen Gänge. Dies,“ er versuchte einen weiteren Abschnitt des Tunnels mit seiner Fackel zu beleuchten, „sind die Katakomben Marbons. Die geheimen Wege der Ednessiv.“ Er hielt das Feuer der Fackel nah an seinen Mund heran und blies sachte in die Flamme. Sie gewann an Größe und breitete sich langsam in den vor Flanagan liegenden Gang aus. Er holte noch einmal tief Luft, warf sich die Enden des um seinen Kopf gebunden Bandes, die ihm über die rechte Schulter gefallen waren, wieder auf seinen Rücken zurück und widmete sich dann noch ein letztes Mal den Flammen. Das Feuer dehnte sich ein wenig weiter aus. Leckte an den steinernen Wänden. Und erlosch augenblicklich. Stattdessen lief eine Art Schauer über die irdenen Wände, als sie die Wärme, das Licht und die Energie der Flammen in sich aufnahmen. Linnea wurde für den Bruchteil einer Sekunde stark geblendet, als die Wände gleißendes Licht von sich gaben, doch dann war das Spektakel vorbei. Das Mädchen öffnete zaghaft die Augen, die es geschlossen hatte und war von einem warmen, orangen, pulsierenden Licht umgeben. Ihr Blick fiel auf Flanagan, der ein Lächeln auf dem Gesicht trug. „Das ist kein bloßer Salzstein, oder?“ vergewisserte sie sich. „Mhm,“ schüttelte er den Kopf. „Der ist mit Kommodus versetzt. Eine andere Art als die da draußen. Oder die in deiner Tasche,“ setzte er schnell hinzu, als er sah, dass Linnea im Begriff war, den Mund zu öffnen. „So, und jetzt komm.“ Er hatte sich schon in Bewegung gesetzt – die abgebrannte Fackel, die er nun nicht mehr benötigte, hatte er an die Wand gelehnt – und Linnea schloss die wenigen Meter, die er bereits gegangen war, schnell zu ihm auf.

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leni drehte sich im Sattel um und zügelte ihr Pferd, bis ihre beiden kleinen Schwestern Coralie und Talita auf ihren beiden Ponys sie eingeholt hatten. Die Tiere verhielten sich seit kurzen seltsam. Sie tänzelten, spielten nervös mit den

Ohren und selbst im Sattel konnte Eleni spüren, wie angespannt das Pferd unter ihr war. Auf ihr lastete die Verantwortung für ihre Zwillingsschwestern, die sie zu Anbeginn der Reise auf sich genommen hatte und das Verhalten der Reittiere machte den Kloß in ihrer Magengegend keineswegs kleiner. Sie selbst hatte Jarlath Kielins Schule gerade erst im vergangenen Frühling erfolgreich abgeschlossen und ihre Eltern hielten es für ratsam, ihr diese Aufgabe, ihre beiden jüngsten Schwestern sicher zu ihrer alten Erziehungsstätte zu geleiten, zu geben. Das hatte zwar zur Folge, dass sie das kleine Dorf, in das sie gerade erst gezogen war und als dessen Heilerin sie ausgebildet worden war, schon wieder verlassen hatte. Andererseits jedoch würde sie ihren neuen Mitbewohnern, ihren „Unterstehenden“ wie ihre Mutter sie zu nennen pflegte, beweisen können, dass sie einer Aufgabe gewachsen war – drei allein reisende weibliche Wesen trifft man in Tirnanog schließlich nicht all zu oft an. „OH, ELENI,“ rief Talita ihr entzückt entgegen und deutete zu den Bäumen zu ihrer linken, „SCHAU MAL DORT! DIE GÄNSE!“ „Komisch,“ kommentierte Coralie das ganze, als Eleni ihren Blick suchend über die Baumgipfel schweben ließ, „warum gackern die denn so?“ Von weitem hörte Eleni Hundegebell und aus dem Wald, der zwar direkt vor ihnen aber noch gut eine halbe Stunde entfernt lag, stieg eine so große Traube Vögel auf, dass die drei Reiterinnen die dunkle Wolke klar gegen den hellblauen Himmel erkennen konnten.

* Kielin hatte sich unbewusst die Hand unter die Brust gelegt und starrte besorgt, doch in Gedanken verloren, aus dem Fenster. Das Daloki-Heer hatte die alte Festung, so wie sie es erwartet hatte, gestern erreicht und komplett auf den Kopf gestellt. Die Daloki hatten die Türen eingerannt. Die Zimmer der Beglan durchsucht. Sämtliche Unterlagen und Aufzeichnungen über die Beglan an sich gerissen. Keinen Unterschied zwischen Beglan und Jarlath gemacht. Und beide Gruppen gleichermaßen bedroht. Doch dank Kielins frühzeitigem Handeln – der Vernichtung von Linneas Unterlagen und der Löschung ihrer Person aus den Gedächtnissen aller in der Festung Anwesender – hatte das Heer nichts über das Mädchen finden können. Das, allerdings, hatte zur Folge gehabt, dass die Daloki außer sich geraten waren und angefangen hatten, die Festung in Brandt zu stecken. Nur dem schnellen Handeln Jarlath Rirdons – ein Wasser-Ed, der seine Ednessiv-Identität bis jetzt nur Jarlath Kielin gegenüber preisgegeben hatte – war es zu verdanken, dass die Schule noch stand. Seine sonst so akkuraten Besitztümer waren nach dem Unterfangen allerdings teilweise verschmort, von Wasser durchtränkt, zerfetzt und komplett verschmutzt gewesen. Er hatte, zusammen mit den Beglan, die er zu der Zeit in seinem Klassenraum unterrichtet hatte, Kübel voll Wasser zur Bekämpfung der Feuerherde herbei geschafft und die Flammen zusätzlich auch noch mit Kleidungsstücken zu ersticken versucht. Da das Feuer in einem anderen Flügel des Gebäudes ausgebrochen war, hatte Kielin es in ihrem Teil der Festung erst nicht mitbekommen. Als sie dann schließlich den Rauch hatte aufsteigen sehen und das panische Rufen ihrer Angestellten und der ihr anvertrauten Beglan gehört hatte, ließ sie einerseits eine riesige Fuhre Regenwasser auf das Gebäude niederprasseln und schickte andererseits eimerweise Wasserbälle durch die Flure des alten Gemäuers. Somit wurden die Flammen von außen und innen des Gebäudes gelöscht. Und nun zeugten lediglich ein paar verrußte Wände von dem

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Vorkommen des Vortages. Im gesamten Anwesen hatte sich die Spannung wieder gelegt und lediglich die Frage, weshalb die Daloki die Schule `überfallen´ hatten, war geblieben. Niemand konnte es sich erklären, denn niemand konnte mit dem Namen Anlien Keylan etwas anfangen. Und abgesehen davon, konnte sich auch niemand daran erinnern, dass kürzlich jemand die Festung verlassen hätte. Das Daloki-Heer war dann wieder in nördliche Richtung davon gezogen. Kielin hatte gehofft, sie würden weiter in den Süden ziehen, war Norden doch die Richtung, aus der sie gekommen waren. Doch der Daloki-Anführer hatte gemeint, so hatte sie ihn reden gehört, das Mädchen sei wahrscheinlich auf dem Weg nach Marbon. Schließlich ist dies die Stadt der Ednessiv. Sie musste ihnen wohl durch die Lappen gegangen sein. Doch nicht nur deswegen machte sie sich Sorgen. Sie hatte gerade per Brieftaube ein Schreiben einer ehemaligen Schülerin erhalten, die sich sicherlich noch all zu gut an Linnea erinnern konnte – selbst wenn man sie ihr unter ihrem eigentlichen Geburts-Namen beschrieb. Immerhin war sie es gewesen, die das Mädchen und ihre Freundinnen damals bei Jarlath Flanagan angeschwärzt hatte, als die vier seine Schuhe im Brunnen versenkt hatten. Und diese besagte ehemalige Beglan befand sich wahrscheinlich bereits auf dem Weg zu ihrer Schule. Kielin hatte sie schon zu erreichen versucht, doch ihren Geist konnte sie über eine solche Strecke nicht schicken. Und somit steuerte die junge Frau geradewegs auf das Heer der Daloki zu. Und wenn sie ihm in die Hände fallen sollte, war nicht nur die gesamte Aktion mit der Ausradierung umsonst gewesen. Wenn die Daloki wüssten, dass Anlien Keylan unter dem Alias Linnea auf der alten Festung gewesen war, dann musste Kielin sie folglich kennen und man würde die Antwort zu der Frage des Aufenthaltsortes des Mädchens schon irgendwie aus der zierlichen Frau herausbekommen.

* Das kleine Pony, auf dem Coralie ritt, scheute kurz, als vor ihm plötzlich ein Eichelhäher aus den am Wegesrand wachsenden Bäumen schoss. Das kleine Mädchen kreischte kurz auf, hielt sich aber dennoch im Sattel. Es war schon der dritte Vogel dieser Art gewesen, der, ohne, dass er die drei Reiter durch einen lauten Schrei angekündigt hatte, aus dem Gebüsch geflogen kam. Eleni schien es fast, als begleiteten die ansonsten lauten Vögel sie und ihre Schwestern. So, als seien sie ihr Schutzgeleit. „Eichelhäher kündigen doch sonst immer durch lautes Rufen an, wenn jemand oder etwas ihr Revier betritt,“ kam es von Talita. „Warum sagen diese hier dann nichts?“ „Ich weiß es nicht,“ gab Eleni zu und spürte, wie der unangenehme Kloß in ihrem Inneren noch großer wurde. Eben gerade noch hatten ihre beiden kleinen Schwestern sich an den großen Vögeln erfreut, die hier und dort wie aus dem Nichts am Himmel erschienen waren – eine Begebenheit, die an und für sich auch schon sonderbar war: Wann sieht man schon mal eine Handvoll Bussarde, Schwäne und Reiher innerhalb von nur wenigen hundert Metern? Jetzt aber machte es den beiden Kindern langsam Angst und die gutgemeinten Worte, die Eleni über die Lippen brachte, beruhigten die Beiden auch nicht mehr. „Warum benehmen sich die ganzen Tiere so komisch?“ wollte Talita schließlich wissen. „Ich weiß es nicht,“ wiederholte Eleni gereizt. Sie sollte Zuversicht ausstrahlen. Und Hoffnung. Gerade in Begleitung von zwei so kleinen Kindern. Und dass sie ausgerechnet das nicht auf die Reihe bekam, machte ihr zu schaffen. Sie konnte für all das einfach keine Erklärung finden. „Erst Schnee mitten im Sommer,“ murmelte die junge Frau, „und jetzt das hier.“

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* Kielins Kleid hatte ein blasses Rosa angenommen. Selbst der sonst so mutbringende Duft ihres kleinen Raumes konnte sie nicht mehr beruhigen. Nicht nur sie selbst befand sich nun in Gefahr. Sondern mit ihr auch die gesamten Beglan und Jarlaths. Ihr wurde kurz ganz anders, als ihr das gewahr wurde. Die Daloki würden sich für das, was geschehen war, rächen und es dieses Mal sicherlich nicht nur bei einer bloßen Inbrandsteckung der alten Festung belassen. Sie fragte sich zum wiederholten Male, ob Loklens Idee mit der Ausradierung wirklich so gut gewesen war. Ihre Augen wanderten zu der Zeichnung von ihr und ihrem Bruder. „Und was jetzt?“ wisperte sie und wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Loklen hatte immer eine Lösung parat. Ausgefallen und meistenteils nicht im Mindesten das, was einem selbst vorschweben würde. Doch irgendetwas würde ihm immer einfallen. Sie fühlte sich so hilflos. Fast überfordert. So viele Menschenleben, die in ihren Händen lagen. Kielin schickte ihren Geist ein weiteres Mal auf die Suche nach Eleni. Doch die junge Frau war immer noch zu weit fort, als dass sie sie hätte erreichen können.

* Das Hundebellen erklang erneut, viel näher dieses Mal, und ging dann schnell in ein Jaulen über. Wieder stob eine Scharr Vögel aus dem Hain vor den drei Reiterinnen und die Pferde wurden noch nervöser. Eleni meinte ein rhythmisches Pochen ausmachen zu können, konnte das Geräusch aber keinerlei ihr bekannten Gegebenheiten zuordnen. „Eleni,“ kam es gleich darauf ängstlich verwirrt von Coralie, „was ist das?“ „Was denn?“ hakte die junge Frau nach und hoffte inständig, dass das Mädchen nicht das taktmäßige Geräusch meinte, das an ihre Ohren drang. „Dieses… dieses… leise, schnelle Donnern?“ „Das… äh...“ Elenis Gehirn arbeitete auf Hochtouren, doch ihr wollte einfach keine passende Ausrede einfallen. „… das ist ein… ein Umzug,“ meinte sie dann schnell. „Hier?“ hakte Talita ungläubig nach. „Mitten in der…“ Talita kreischte auf, als ihr Pony plötzlich vor irgendetwas, das aus dem Feld rechts von ihr über den Weg schoss, scheute. Sie verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Boden. Das Pony nahm Reißaus und verschwand hinter der Baumwand zu der linken der Reiterinnen. „Talita! Mein Gott! Hast du dir etwas getan?“ Eleni brachte ihr Pferd zum Stehen und schwang sich vom Sattel. Das kleine Mädchen lag weinend am Boden, stand aber gleich wieder auf und ließ sich von ihrer Schwester in die Arme nehmen. „Talita? Ist alles…“ Eleni stockte mitten im Satz, als ihr das Vibrieren des Bodens unter ihren Füßen gewahr wurde. „Eleni, warum wackelt der Boden so komisch?“ wollte Coralie wissen, die nun ebenfalls von ihrem Pony gestiegen war. Der Blick der jungen Frau streifte den vor ihr liegenden Hain, aus dem das rhythmische Dröhnen kam und ihr wurde kurz ganz anders. Kein Dorf, noch nicht einmal das größte, das sie kannte, konnte eine derartig große Menschenmenge aufbringen, um einen solchen Umzug zu organisieren, bei dem der Boden unter den Füßen derart erbeben würde. Und das auch

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noch in einer Entfernung, in der man die daran teilnehmenden Leute noch nicht einmal im Blickfeld hatte. „Eleni, was ist d…?“ setzte Talita mit tränenerstickter Stimme an. In dem Moment wurden die ersten Reihen des Daloki-Heeres, das aus dem vor den Reiterinnen liegenden Waldes kam, sichtbar und das kleine Mädchen verstummte. Es verstrich eine Ewigkeiten von Augenblicken, in der die drei einfach nur dastanden und sich nicht regen konnten. Zu überwältigend war der Anblick der Streitmacht. Doch dann erwachte Eleni wieder aus ihrer Starre. Schnappte sich Talita. Schrie Coralie an, dass sie wieder aufsteigen sollte. Setzte Talita vor ihren eigenen Sattel. Und schwang sich dann selber auf ihr Pferd. Es benötigte keinerlei weiterer Worte, um ihrer kleinen Schwester klarzumachen, was zu tun war. Und auch ihr eigenes Pferd setzte sich ohne ihre Hilfe in Bewegung. Vor Eleni heulte Talita laut auf, doch ihr Schrei wurde vom Gegenwind davongetragen, als das Pferd in einen unbändigen Galopp fiel.

* Kielin versuchte ihre bleichen Hände, die sie unbewusst in ihr Kleid gekrallt hatte, wieder zu entspannen. Doch sobald sie von dem Stoff abließ, setzte das Zittern wieder ein. Ein Zeichen ihrer Angst. Und das war im Moment das Letzte, das sie sich vor Augen führen wollte. Also strich sie sich den Stoff ihres Kleides glatt und presste die Handflächen dann gegen ihren Bauch. Sollte sie die alte Festung räumen lassen? Würden alle ihrer Aufforderung Folge leisten? Immerhin waren die Daloki doch davongezogen. Welche Gefahr sollte es nun noch geben? Sollte sie allen die Wahrheit über den Grund des `Überfalls´ nennen? Dann wüssten aber hunderte von Menschen über Linnea Bescheid und das konnte sie nicht verantworten. „Je weniger davon wissen, desto besser,“ flüsterte sie wie zu sich selbst.

* Trotz des Windes in ihren Ohren, hörte Eleni die Rufe der Daloki hinter sich. Sie hatten die drei Reiterinnen gesehen und einfach so davon zu preschen, war wohl das falscheste, das sie hatten tun können. Natürlich war es ungewöhnlich der Streitmacht zu begegnen – seit Jahren schon nicht mehr hatte man sie mit eigenen Augen im Lande gesehen. Seit dem Keylan-Vorfall damals, schoss es Eleni durch den Kopf. Doch das war keine Begründung dafür, dass drei Reiter derart Reißaus vor dem Heer nahmen. Ihre übereilte Reaktion hatte wahrscheinlich erst die Aufmerksamkeit der Daloki auf sie gezogen. Doch was hätte sie denn tun sollen? Am Wegrand warten, bis das Heer an ihnen vorbeigezogen war? Zusammen mit ihren kleinen Zwillingsschwestern? Ein Daloki-Herr war kein Anblick, dem ein so kleines Mädchen ausgesetzt sein sollte. Eleni hatte lediglich versucht, ihre beiden kleinen Schwestern vor dem Zusammentreffen mit der Streitmacht zu schützen. Die beiden sollten nicht wissen, dass etwas nicht stimmte in Tirnanog. Und Eleni wäre froh darüber gewesen, wenn sie es ebenfalls nicht gewusst hätte.

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Doch Schnee mitten im Sommer und dieses große Aufgebot an Daloki sprachen für sich. Ein überaus mächtiger Ednessiv hatte seine Kräfte freigesetzt und man suchte nach ihm. Elenis panische Flucht muss auf die Daloki so gewirkt haben, als wisse sie etwas. Als würde sie vor ihnen etwas geheim halten wollen. Wieder ertönten die Rufe hinter ihr. Viel näher dieses Mal. Eleni warf einen verängstigten Blick über die Schulter und sah, dass eine Scharr Daloki-Reiter die Verfolgung aufgenommen hatte. Sie trieb ihr Pferd noch weiter an Zog an dem kleinen Pony ihrer Schwester vorbei. Coralie weinte und schrie. Sie hatte Panik. Wollte nicht alleingelassen werden. Doch die Furcht, die sich in ihrem Inneren ausgebreitet hatte, hatte Eleni komplett unter Kontrolle und sie ließ ihre kleine Schwester samt ihrem Pony immer weiter hinter sich. Talita lehnte sich zur Seite, um besser an Eleni vorbeisehen zu können. Dann schrie sie auf ihre ältere Schwester ein. Sie sollte anhalten. Sollte auf Coralie warten. Doch Eleni trieb ihr Pferd weiter an. Talita griff in die Zügel und versuchte krampfhaft das große Pferd zum Anhalten zu bewegen. Doch auch das Tier hatte zu große Angst vor den nahenden Daloki und so sehr das kleine Mädchen auch zog, es machte keinerlei Unterschied. Ein Kreischen hinter ihr sagte Eleni, dass die Daloki Coralie erreicht und zum Stehen gebracht hatten. Sie warf einen Blick hinter sich und sah, dass das kleine Pony ihrer Schwester reiterlos hinter ihnen her preschte. Das hilflose Mädchen zappelte in den Armen eines Daloks und wehrte sich aus Leibeskräften. Doch dann erschlaffte es plötzlich und der Dalok legte Coralies leblosen Körper über den Pferdehals vor sich.

* * * Talita hatte nichts mehr von sich gegeben. Sie saß leise weinend vor Eleni auf dem Pferd und es war, als würde sie kein Wort von dem, was Eleni ihr zur Beruhigung und Erklärung gesagt hatte, in sich aufnehmen. Die Daloki hatten von den beiden abgelassen, sobald sie Coralie in ihre Gewalt gebracht hatten. Eleni wusste nicht, was sie mit ihr anstellen würden. Dazu kannte sie die Vorgehensweise der Daloki zu wenig. Dass ihre jüngste Schwester immer noch am Leben war, daran zweifelte die junge Frau nicht. Sie war ohnmächtig geworden. Das redete sie sich immer wieder ein. Sie hätten sie nicht töten können, sonst hätten sie ja jetzt nichts mehr in der Hand. Irgendwann hatte Eleni aufgehört, ihrer Schwester gut zuzusprechen. Sie wusste, dass sie nicht sonderlich überzeugend klang. Die junge Frau verfluchte ihre panische Reaktion zum hundertsten Male und fragte sich erneut, wie, um Himmels Willen, sie das ganze ihren Eltern beibringen sollte. Es war ein Unfall, versuchte sie sich einzureden. Ein blöder Zuf… `Eleni?´ Die junge Frau horchte auf und sah um. `Eleni?´ Doch beim zweiten Mal wurde ihr gewahr, dass die ihr bekannte, besorgte Stimme nicht von außerhalb kam. `Jarlath Kielin?´ `Oh endlich!,´ kam es erleichtert von ihrer ehemaligen Mentorin. `Die Daloki sind…´

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`Ich weiß,´ unterbrach sie sie. `Sie haben Coralie.´ Erst einmal herrschte Stille. `Ist Talita wohlauf?´ `Ja.´ `Und du? Ist dir etwas zugestoßen?´ `Nein.´ Wieder herrschte kurze Stille. `Ich werde Jarlath Rirdon schicken. Er soll euch entgegen reiten.´ `Nicht nötig,´ versicherte die junge Frau. `Wir sind gleich da.´ Kielin löste die Verbindung und ließ sich schwerfällig auf dem Stuhl hinter ihrem Schreibtisch nieder. Eleni war davon gekommen. Sie hatte ihnen nichts über Linnea sagen können. Es tat ihr nur um das kleine Mädchen leid. Das hatte sie nicht beabsichtigt. Genau genommen hatte sie nichts von all dem beabsichtigt. Hätte sie damals gewusst, dass Linneas Kräfte sich derartig gigantisch und für ganz Tirnanog sichtbar, freisetzten würden, dann hätte sie damals vielleicht anders gehandelt. Doch was nutzte es, sich über bereits getroffene und unwiderruflich gefällte Entscheidungen Gedanken zu machen? Sie konnte nur hoffen, dass Eleni ihrer jüngsten Schwester nie etwas von Linnea erzählt hatte.

* Eleni bog um die letzte Wendung im Weg, ritt aus dem Wald und zügelte ihr Pferd, als ihr Blick auf die alte Festung fiel. Aus dem Nichts tauchte plötzlich Kielin vor ihr auf. „Was ist passiert?“ wollte die junge Frau wissen. „Die Daloki.“ „Hier? In Cahal?“ Die zierliche Frau ging nicht weiter auf die Fragen ihres Gegenübers ein, sondern winkte einer jungen Beglan zu, die auf die dreier Gruppe zutrat. „Nimm dich des Pferdes an.“ „Ja, Jarlath Kielin,“ kam es von dem jungen Mädchen und sie nickte kurz mit dem Kopf, bevor sie nach den Zügeln des Tieres griff. Sie wartete noch kurz, bis das kleine Mädchen und die Frau abgestiegen waren und führte das Pferd dann in die Stallungen. „Kommt,“ forderte Kielin die beiden auf und ging in Richtung des alten, mächtigen Tores. Talita stand nur da und rührte sich nicht. Sie starrte auf einen Punkt auf den Boden und schien doch irgendwie nirgends genau hinzuschauen. „Talita?“ sprach Eleni ihre Schwester an, doch das Mädchen rührte sich nicht. So legte sie ihr die Hand auf den Rücken und schob sie in die ehemalige Festung hinein. Kielin führte die beiden durch die noch teils verrußten Flure und nahm sie mit in ihre Gemächer. Der fragende Blick der jungen Frau lastete schwer auf ihr, als sie sich hinter ihrem Schreibtisch niedergelassen hatte. Mit einer kleinen Handbewegung ließ sie zwei Stühle vor dem Tisch entstehen und bedeutete Eleni und Talita sich zu setzen. Sie brauchte nicht mehr zu fragen, was genau geschehen war. Die Bilder, die sie im Kopf der jungen Frau gesehen hatte, genügten ihr als Auskunft. Abgesehen davon, wollte sie es den beiden nicht schwerer machen, als es ohnehin schon für sie war. Sie hätte ihr Wissen gern vor Eleni geheim gehalten. Doch wusste sie, dass sie der jungen Frau eine Erklärung schuldig war. Wären die drei bereits in ihrer Reichweite gewesen, so hätte sie sie vor dem Daloki-Heer warnen können. Sie hätten

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einen anderen Weg nehmen können. Oder aber wenigstens anhalten und das Heer vorbeiziehen lassen können. Abgesehen davon, hätte sie die Möglichkeit gehabt, Linnea aus Elenis Gedächtnis zu tilgen. Doch zu all dem war es nun zu spät. Die zierliche Frau räusperte sich und rieb sich über ihre graublauen Augen, bevor sie zu sprechen anfing. „Eleni… Ich denke, du solltest erfahren, was genau das alles zu bedeuten hat.“ Die junge Frau schwieg, schaute aber erwartungsvoll zu ihrem Gegenüber. „Kannst du dich an ein Mädchen namens Linnea erinnern?“ „Gewiss.“ „Ihr eigentlicher Name lautet Anlien Keylan.“ „Anlien Key… Aber dann ist sie…“ Kielin konnte es förmlich rattern sehen in dem Kopf der jungen Frau. „… der wahrscheinlich mächtigste Ednessiv von ganz Tirnanog, ja.“ „Dann… dann sind die Daloki hinter ihr her.“ Kielin nickte nur. „Aber warum haben die dann… als… was wollten die von uns?“ „Eine junge Frau, die allein mit zwei kleinen Mädchen unterwegs ist, kann nur einen Bestimmungsort haben.“ „Cahal,“ wisperte Eleni. „Sie wussten, dass ich Eure Einrichtung kenne.“ „Das nehme ich an, ja.“ „Aber wieso haben sie denn dann nicht hier …“ Die junge Frau stockte kurz, als ihr gewahr wurde, was es zu bedeuten hatte, dass die Daloki die Informationen, die sie bezüglich der Keylan-Erbin haben wollten, nicht in Cahal bekommen hatten. „Ihr habt sie aus den Gedächtnissen der Menschen hier gelöscht?“ fragte sie ungläubig. „Mir blieb keine andere Wahl,“ erklärte Kielin ruhig. „Meine kleine Schwester ist nur in die Hände der Daloki gefallen,“ kam es aufgebracht und wütend von Eleni, „weil Ihr nicht den Mut hattet, denen gegenüber zu treten?“ „Mit Mut hat das ganze nichts zu tun, Eleni.“ „Ach nein? Weshalb habt Ihr es dann gemacht?“ „Um Linnea zu schützen.“ Eleni war aufgestanden und fuchtelte wild mit den Händen. „DIESES… DIESES GÖR SCHÜTZT IHR UND MEINE SCHWESTER IST EUCH EGAL?“ „Dass deiner Schwester so etwas zustößt, habe ich keineswegs beabsichtigt, Eleni,“ kam es ruhig und sachlich von Kielin. „Warum habt Ihr uns nicht benachrichtigt? Warum…“ „Weil es schon zu spät war,“ unterbrach Kielin die junge Frau. „Ich habe dein Schreiben erst erhalten, als die Daloki bereits aufgebrochen waren. „GEDANKLICH! IHR HÄTTET UNS GEDANKLICH BESCHEID GEBEN KÖNNEN!“ „Das habe ich doch versucht, Eleni, ihr ward einfach noch zu weit fort!“ Langsam wurde auch Kielin aufgebracht. Die junge Frau schien einfach nicht zu verstehen, dass `ihr´ Schicksal zweitrangig war. Was ausschlaggebend und von Bedeutung war, war das Leben Linneas. „DANN HÄTTET IHR ES ÜBER EINEN ANDEREN WEG VERSU…“ „Setz dich und hör bitte mit dem Schreien auf.“ Die leise Stimme Kielins schien auf einmal den Raum auszufüllen und selbst Talita hob kurz den Kopf. Eleni starrte ihre ehemalige Mentorin noch kurz finster an, ließ sich dann aber doch nieder. „Schön,“ murmelte Kielin und atmete hörbar durch die Nase aus. „Was du zu vergessen pflegst, ist, dass Linnea eine Kreuzung aus zwei reinen, unterschiedlichen Keylans ist.“ „Und das bedeutet was?“

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Eleni war zwar aufgebracht, doch Kielin hatte die junge Frau eigentlich so schlau in Erinnerung, dass sie auf die Antwort hätte selbst kommen müssen. „Wenn ihr Großvater wirklich recht behalten sollte, dann müsste Linnea ein Saiwalo-Ednessiv und damit der mächtigste Ed ganz Tirnanogs sein.“ „Ja. Und?“ „Sie… ist die neue Namenlose.“ „Ihr Großvater ist der Namenlose von Tirnanog,“ kam es wegwerfend von Eleni. „Wie sollte es zwei geben?“ „Der jeweils mächtigste Ednessiv wird automatisch zum neuen Namenlosen. Und Linnea ist um Längen mächtiger als ihr Großvater. Und wer, frage ich dich, ist seit dem Keylan-Vorfall noch zu ihrem Großvater gegangen und hat bei ihm um Rat gefragt, mh?“ Es herrschte Stille zwischen den beiden Frauen, bis das Quietschen des Stuhles, auf dem Eleni sich aufrichtete, sie unterbrach. „Und all das,“ kam es kalt von der jungen Frau, „soll eine Erklärung und Entschädigung dafür sein, weshalb meine kleine Schwester jetzt in den Fängen der Daloki ist?“ „Ja, aber sieht du denn nicht, was das bedeutet?“ „Nein. Bedauere.“ „Linnea ist in unseren Händen. Sobald sie vollständig geschult ist, können wir gegen Quilienemglen Keylan vorgehen.“ „Das Leben meiner Schwester ist Euch also gleichgültig?“ „Was sollen ihr die Daloki denn schon groß antun, Eleni? Wenn sie merken, dass sie ihnen nichts über Linnea sagen kann, werden sie sie wieder frei lassen.“ Eleni fuhr sich aufgelöst durch das Haar. „Sie ist ein Träumer, Jarlath Kielin. Ein Träumer! Ihre Iriden beginnen bereits sich zu verändern!“ „Nein,“ kam es hilflos und ungläubig von der alten Frau, die auf ihrem Stuhl zusammengesunken war.