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Chatreššar 2009

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Page 1: Chatreššar 2009 - Univerzita Karlovausj.ff.cuni.cz/system/files/chatrssar2009.pdfJan Bičovský Pavel Čech Published by the Charles University in Prague, Faculty of Arts. Printed

Chatreššar 2009

Chatreššar 2009

Chatreššar 2009

copy The editors and contributors

Executive editorsJan BičovskyacutePavel Čech

Published by the Charles University in Prague Faculty of Arts Printed in the Czech Republic by BCS sro Pořiacutečany

The Chatreššar is edited by the Institute of Comparative Linguistics Charles University PragueThe members of the Editorial Board are Jost Gippert (Frankfurt aM) Hans-Christian Luschuumltzky (Vienna) Petr Vavroušek (Prague) Martin Worthington (Cambridge) Andrzej Zaborski (Cracow) and Petr Zemaacutenek (Prague)

More details on the journal including the journals policy information on the submission procedure as well as the purchase possibility can be found at httpenlilffcuniczchatressar

ISSN 1803-005XISBN 978-80-7308-297-0

Contents

International Conference on Morphology and Digitisation

Preface 9

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 11 Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

Sprachliche Morphologie digitalisiert 35 Jost Gippert

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre Verbalstammbildung und das Kausativ 63 Hans Henrich Hock

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 81 Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Geschichte der Morphologie 129 Rosemarie Luumlhr

Ostgermanische Morphologie 147 Magnuacutes Snaeligdal

Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 171 Luděk Vaciacuten

Errata et corrigenda

Errata in Šaacuterka Velhartickaacute Chetitskyacute Chutušiho rituaacutel 180 (Chatreššar 2006)

Acknowledgments

The publication of the Journal has been financially supported by the project MSM 0021620823 ldquoČeskyacute naacuterodniacute korpus a korpusy dalšiacutech jazykůrdquo [The Czech National Corpus and Corpora of Other Languages] of the Ministry of Education of the Czech Republic

International Conference on Morphology and Digitisation

Free University of Berlin7 and 8 July 2007

Preface

International Conference on Morphology and Digitisation

On the 7 and 8 July 2007 an International Conference on Morphology and Digitisation was held at the Free University of Berlin covering several scientific fields in addition to linguistics in which the concept of morphology plays an important role The topics of the papers ranged from basic linguistic subjects to the structure of clouds The interdisciplinary character of the conference together with the innovative combination of morphology and digitisation enabled the participants to launch test baloons without the obligation of submitting articles for publication The result of this liberty was that many of the high fliers disappeared from the screen whilst others kept on mdash and keep on mdash growing and a few participants have finally submitted a printable text Six articles that have been received by Phillip Chilson Jost Gippert Hans Henrich Hock Chung-Shan Kao and Thorwald Poschenrieder Rosemarie Luumlhr and Magnus Snaeligdal are published in the following pages of Chatreššar Our thanks are due to Petr Vavroušek and his team who fostered the publication of the articles in the journal and Thorwald Poschenrieder who co-organized the conference in Berlin

Matthias Fritz Jost Gippert

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie

Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

How does one understand the concept of morphology in the field of meteorology It depends upon whom you ask The Glossary of Meteorology published by the American Meteorological Society (AMS 2000) simply states bdquoA study of the structure form or shape of meteorological phenomena such as clouds or ice crystalsrdquo Here we explore morphology not only in this context but also in the context of the dynamical evolution that brings about these structures How one perceives structure is critically dependent upon the spatial and temporal scales of interest For example it is possible to describe the structures in clouds over 100lsquos of kilometers as seen from satellites or the fractal dimensionality of clouds over scales of 100lsquos of meters or even the distribution of individual cloud particles over scales of 100lsquos of millimeters The same principle holds for atmospheric dynamics Large-scale atmospheric motions eventually release their energy to smaller and smaller scales in a cascade effect until all that remains is the thermal motions of molecules in the form of heat These concepts are discussed while drawing upon several examples taken from actual meteorological phenomena such as fine-scale turbulence the formation of snowflakes atmospheric waves and the atmospheric boundary layer

KurzfassungWie ist der Begriff der bdquoMorphologierdquo im Rahmen der Meteorologie zu verstehen Nun da kommt es darauf an wen man fragt Das bdquoGlossary of Meteorologyrdquo (herausgegeben von der Amerikanischen Meteorologischen Gesellschaft AMS 2000) nennt schlicht folgendes Morphologie ist die Untersuchung des inneren Aufbaus der Anordnung oder der aumluszligeren Gestalt von meteorologischen Erscheinungen wie beispielsweise Wolken oder Eiskristalle In diesem Beitrag soll die Morphologie nicht allein in diesem Zusammenhang erkundet werden als vielmehr auch im Hinblick auf die dynamischen Entwicklungsvorgaumlnge welche zu diesen Erscheinungen fuumlhren Wie man eine Erscheinung wahrnimmt haumlngt entscheidend davon ab welche raumlumlichen und zeitlichen Ausdehnungen betrachtet werden So lassen sich beispielsweise Wolken-Formationen die sich uumlber hunderte von Kilometern erstrecken so beschreiben wie man sie vom Satelliten aus wahrnimmt oder die fraktalen Dimensionen in den Wolken uumlber hunderte von Metern oder gar die Verteilung einzelner Wolkenteilchen im 100-

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson12

Millimeter-Bereich Dasselbe gilt im Grunde fuumlr die Bewegungen in der Atmosphaumlre Die Energie groszligraumlumiger atmosphaumlrischer Bewegungen wird in einer Art Kaskade an nachfolgende Bewegungen von immer kleineren Maszligstaumlben abgegeben bis schlieszliglich alles in die Bewegungsenergie von Molekuumllen in Form von Waumlrme umgewandelt ist Solche Betrachtungen werden in diesem Beitrag vorgestellt dazu werden reichlich Beispielfaumllle beigezogen die von echten Wetter-Phaumlnomenen stammen wie die Turbulenz im kleinen Maszligstab die Formation von Schneeflocken die atmosphaumlrischen Wellen und die atmosphaumlrische Grenzschicht

1 Einfuumlhrung Bevor wir uns dem Thema der Morphologie in der Meteorologie widmen soll uns zuerst ein kurzer geschichtlicher Ruumlckblick uumlber die Verbundenheit des Menschen mit Wetter und Natur darauf vorbereiten Schon seit jeher wohnt dem Menschen ein ungemeines Interesse fuumlr das Wetter und die damit verbundenen Vorgaumlnge inne Das ist natuumlrlich keine Uumlberraschung wenn man bedenkt wie eng sein Uumlberleben und Wohlbefinden an die natuumlrlichen Gegebenheiten wie Hitze und Kaumllte Regen und Duumlrre sowie stuumlrmisches und ruhiges Wetter gebunden sind Gewisse sich wiederholende Vorgaumlnge des Wetters sind sicherlich schon sehr fruumlhzeitig erkannt worden und zwar nicht nur die taumlglichen Zyklen betreffend sondern auch jene die nur nach einem laumlngerem Zeitraum wiederkehren So folgten den kalten und unfruchtbaren Monaten des Winters die warmen und fruchtbaren Zeitraumlume des Fruumlhjahrs In bestimmten Gegenden mit erheblichen jaumlhrlichen Niederschlaumlgen folgte die mit Sehnsucht erwartete Regenzeit den Duumlrreabschnitten Durch das Beobachten und Wahrnehmen dieser Vorgaumlnge wurde es dem Menschen moumlglich sich den Bedingungen des Wetters anzupassen So erkannte er beispielsweise die Notwendigkeit in klimatisch mildere Gegenden zu ziehen oder sich im Lande auf das Kommen des Winters vorzubereiten Wahrscheinlich wurde durch die langjaumlhrig gesammelten Beobachtungen auch eine gewisse Erwartung oder Vorfreude auf das Wiederkehren bestimmter natuumlrlicher Vorgaumlnge erweckt wie zum Beispiel auf das Kommen des Fruumlhlings einer Regenzeit oder den Segen einer fruchtbaren Ernte In vielen Kulturen waren diese Ereignisse mit groszligen Feierlichkeiten verbunden

Nachdem der Mensch die der Natur innewohnenden Vorgaumlnge lange beobachtet hatte richtete er nun sein Interesse darauf die Naturkraumlfte welche solche Schauspiele bereiteten zu verstehen Er fragte sich nach den Hintergruumlnden der rhythmischen Veraumlnderungen in seiner Umgebung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 13

Gewoumlhnlicherweise wurde das Geschehen in der Natur irgendeinem uumlbernatuumlrlichen Wesen zugeschrieben welches auszligerdem meist noch als launenhaft oder sogar rachbegierig wahrgenommen wurde Diese Auffassung war im Einklang mit den unberechenbaren und oft verheerenden Geschehnissen in der Natur Wurden die Goumltter nicht bei guter Laune gehalten dann lieszligen sie ihren Zorn in der Form von schlechtem Wetter oder Naturkatastrophen an den Menschen aus Infolgedessen strebten jene fruumlhgeschichtlichen Voumllker danach mit den Goumlttern in Harmonie und Ausgeglichenheit zu leben So wurden den Goumlttern Gebete und Opfer dargebracht um sie zu besaumlnftigen und bei Laune zu halten Auszligerdem wurden feierliche Rituale durchgefuumlhrt mit dem Ziele guumlnstiges Wetter herbeizufuumlhren

Mit der Zeit verstand man dass viele Vorkommnisse in der Atmosphaumlre von denen man vorher annahm dass sie zufaumlllig waumlren durchaus erklaumlrbar waren So erkannte man die entsprechenden Vorboten fuumlr viele verschiedene Wetterverhaumlltnisse Man koumlnnte eigentlich sagen dass die Wetterkunde nichts weiter ist als eine gruumlndliche Untersuchung von erkennbaren sich wiederholenden Verhaltensmustern und Erscheinungen Der Bauer wie auch der Seemann der den Himmel scharf beobachtete konnte Wetterentwicklungen anhand von Wolkenformationen und Windverhaumlltnissen voraussagen Die erworbene Weisheit wurde an die naumlchste Generation weitergegeben und bildete somit die Grundlage fuumlr eine umfangreiche Geschichte der Wetterfolklore Diese Tradition hat eine lange Liste von Wetterweisheiten hervorgebracht Hier nur einige Beispiele

Bei rotem Mond und hellem Sterne sind Gewitter gar nicht fernebull Abendrot ndash Gutwetterbotrsquo ndash Morgenrot mit Regen drohtbull Hof um den Mond bedeutet Regen Hof um die Sonne groszlige Stuumlrmebull Steigt der Rauch ganz gerade nach oben bleibt das Wetter lange schoumlnbull Geht die Sonne feurig auf folgen Wind und Regen draufbull Je weiszliger die Schaumlfchen am Himmel gehrsquon je laumlnger bleibt das Wetter schoumlnbull

Natuumlrlich sind solche Weisheiten nicht immer oumlrtlich uumlbertragbar Sie entsprechen nicht unbedingt der absoluten Wahrheit sind aber oft eine gute Annaumlherung daran und basieren auszligerdem auf meteorologisch bewiesenen Grundsaumltzen

Manchmal wurden jenen Leuten die die Faumlhigkeit besaszligen Naturgeschehen richtig zu deuten groszlige Bedeutung beigelegt Nehmen wir Aumlgypten als Beispiel Die Zivilisation konnte in dieser Gegend wegen des nahrhaften

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Bodens auf Grund der alljaumlhrlichen Uumlberflutung des Nils gut gedeihen Dieses Geschehen war von solch groszligem Stellenwert dass man es dem Gott Hapi der fuumlr Fruchtbarkeit stand zuschrieb Die Priester dieser Zeit erkannten dass das abendliche Erscheinen des Sterns Sirius mit dem Beginn der Uumlberschwemmung des Nils zusammentraf Sie waren Priester aufgrund der Bedeutsamkeit ihrer Beobachtungen aber heute wuumlrde man sie als Gestirnforscher beschreiben

Obwohl die zuvor erwaumlhnten Bauern Seeleute und Priester in der Lage waren Verhaltensmuster in der Natur zu erkennen und diese meteorologischen Phaumlnomenen zuzuschreiben verstanden sie doch nicht unbedingt die dahinterliegenden Mechanismen und waren sich nicht im Klaren daruumlber inwieweit wirkliche Verbindungen bestanden So deuteten sie also die Ursachen und Wirkungen nicht immer richtig Im Falle der Uumlberschwemmung des Nils war die eigentliche Ursache nicht der Erscheinen des Sirius sondern der Einbruch der Regenzeit im aumlthiopischen Hochland Mit der Zeit hing die Deutung von Verhaltensmustern im Wetter immer weniger vom Zufall ab und es gelang immer mehr die zugrundeliegenden Verhaumlltnisse zu verstehen In diesem Zusammenhang werden wir nun mit der Untersuchung der Morphologie in der Meteorologie beginnen

2 Qualifizierende Wetter-Verhaltensmuster Die griechische Sehensweise Viele Zivilisationen haben erstaunliche Geschichten daruumlber wie sie begannen beobachtete Verhaltensmuster in der Natur zu quantifizieren Allerdings wollen wir hier nur auf eine einzige solche Zivilisation naumlher eingehen naumlmlich die der Griechen Es bietet sich an die Griechen hierfuumlr auszuwaumlhlen zumal sie ja die Grundsteine fuumlr die heutigen westlichen Zivilisationen gelegt haben Die alten Griechen begannen schon im Jahre 800 v Chr die Zusammenhaumlnge innerhalb ihrer eigenen Umgebung sehr genau zu uumlberdenken Man muumlsste allerdings einschraumlnken dass ein systematisches Herangehen an diese Sache erst in der Zeit des Aristoteles (384 ndash 322 v Chr) stattfand Aristoteles ist fuumlr viele bedeutende Erkenntnisse beruumlhmt geworden Fuumlr unsere Eroumlrterung hier ist vor allem sein groszliges Werk die Meteorologica von entscheidender Bedeutung In diesem Werk versuchte er verschiedene atmosphaumlrische Phaumlnomene wie beispielsweise Blitz Wolken Wind Regenboumlgen und auch Meteore zu quantifizieren Aristoteles argumentierte so wie andere Griechen vor ihm dass jegliche Materie aus folgenden vier Grundelementen bestehe Feuer Luft Wasser und Erde Eigentlich glaubte man noch an ein fuumlnftes Element naumlmlich den Aumlther der der Baustoff der himmlischen Materie sei Den Aumlther verstand

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man als ein Medium in dem alles vorhanden sein konnte denn man glaubte nicht daran dass die Natur aus einem Vakuum bestehen koumlnnte

Aristoteles glaubte dass alle meteorologischen Erscheinungen mit den vier Elementen erklaumlrt werden koumlnnten Sein Verstaumlndnis der Meteorologie ging weit uumlber das Wetter hinaus Es schloss alles ein was von oben auf die Erde kam oder uumlber der Erdehingldquo Jedes der vier Elemente wurde mit zwei der folgenden vier Eigenschaften in Verbindung gebracht heiszlig kalt nass und trocken (siehe Abbildung 1 zur Veranschaulichung) Auszligerdem glaubte man dass alle Elemente umwandelbar seien was durch Ablaumlufe der Kondensation und Verduumlnnung bewirkt werde Die Umwandlungen wuumlrden sich an bestimmte Richtlinien halten So wuumlrde sich also verduumlnnte Luft in Feuer umwandeln kondensierte Luft wiederum in Wind Wolken und Wasser Wasser koumlnnte sich dann weiter verfestigen und zu Erde werden Schlieszliglich gebe es eine klare Rangordnung der Elemente die dazu diente alles in Bewegung zu halten Feuer wuumlrde uumlber andere Elemente aufsteigen und Erde wuumlrde hinuntersinken Wasser wuumlrde uumlber Erde aufsteigen aber nicht uumlber Luft die Luft wiederum wuumlrde uumlber Wasser aufsteigen aber nicht uumlber Feuer Aus diesem Grunde wuumlrden sich die Wolken uumlber der Erde bilden und ebenso die Luftblasen im Wasser

Abbildung 1 Wechselbeziehungen zwischen den Elementen der Materie gemaumlszlig Aristoteles

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson16

Aristoteles gemaumlszlig konnte sich die Luft zu Wasser kondensieren und dann als Regen auf die Erde fallen Das gleiche galt fuumlr den Tau der allerdings nicht herunterfallen musste Diese Ansichten erklaumlrten die verschiedenen Phasen von Wasser aber uumlber das Vorkommen von Hagel im Sommer war Aristoteles etwas verbluumlfft Seine Auffassungen waren gewiss sehr erfin-derisch und schoumlpferisch auch wenn sie letztendlich falsch waren Diese Anschauungen herrschten noch 2000 Jahre nach seinem Tod vor und behinderten sogar die Entwicklung der atmosphaumlrischen Wissenschaft Erst durch Galileo Galilei wurden die aristotelischen Ansichten verdraumlngt und durch ein neues Wissenschaftsverstaumlndnis ersetzt

3 Wetterverhaltensmuster uumlber raumlumliche und zeitliche SkalenUm eine vollstaumlndige Einsicht uumlber die Rolle der Morphologie innerhalb von Wettersystemen zu erzielen ist es notwendig zuerst uumlber die unglaublich weitreichenden raumlumlichen und zeitlichen Ausmaszlige nachzudenken Zum Beispiel muss man fuumlr weite raumlumliche und lange zeitliche Skalen atmosphaumlrische Bewegungen ins Auge fassen deren Laumlngen mit dem Durchmesser der Erde vergleichbar sind und deren Zeiten in der Groumlszligenordnung von Tagen stehen Zu den wesentlichen Einfluumlssen in diesem Bereich gehoumlren die Erdumdrehung die ungleichmaumlszligige Erhitzung der Erde und die Verteilung von Landmassen und groszligen orographischen Erscheinungen Im anderen Extrem wenn man sich mit Vorgaumlngen im Millimeterbereich und mit Laufzeiten im Sekundenbereich beschaumlftigt wird es noumltig die molekularen Wechselbeziehungen der einzelnen atmosphaumlrischen Teilchen mit in Erwaumlgung zu ziehen Es gibt nicht nur eine Vielzahl von atmosphaumlrischen Prozessen sondern es muss auch beachtet werden dass diese sich gegenseitig beeinflussen

Anfangs hat es den Anschein dass es fast unmoumlglich sei die Atmosphaumlre in solch einem Ausmaszlig zu eroumlrtern Um Fortschritte im Verstehen der Atmosphaumlre und der dazugehoumlrigen Morphologie zu machen ist es entscheidend den Fragebereich in kleinere uumlberschaubare Untereinheiten zu zerlegen Dann besteht die endguumlltige Herausforderung darin die relative Bedeutung der einzelnen Faktoren die diese Untereinheiten beeinflussen richtig einzuschaumltzen Wenn man beispielsweise versucht die Staumlrke und Lage des Jetstreams in Europa waumlhrend der naumlchsten 24 Stunden vorherzusagen koumlnnte man auch den Einfluss der Getreidefelder in Bayern auf den niedrigen Wind mit einbeziehen aber dies waumlre nur

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ein minimale Beeinflussung Allerdings bietet es sich schon an die Oberflaumlchenerwaumlrmung der gleichen Getreidefelder zu beachten wenn man die allgemeinen Strukturen von konvektiven Wolken wie sie sich im Sommer bilden eroumlrtertBeim Unterteilen der Atmosphaumlre in Untereinheiten fanden es die Meteorologen zweckmaumlszligig mehrere allgemeine raumlumliche Skalen zu definieren Diese sind in Tabelle 1 aufgefuumlhrt Die vier Haupt- gruppierungen sind die planetarische Skala die synoptische Skala die Mesoskala und die Mikroskala aber wie man schon aus der Tabelle ersehen kann koumlnnen auch diese wiederum in weitere Untereinheiten zerlegt werden Um ein besseres Gefuumlhl fuumlr die raumlumlichen und zeitlichen Skalen zu bekommen und einige der damit verbundenen atmosphaumlrischen Erscheinungen zu erklaumlren haben wir Abbildung 2 eingefuumlgt Diese Abbildung wurde von Dr Czeckowsky am Max-Planck-Institut fuumlr Aeronomie (heute Max-Planck-Institut fuumlr Sonnensystemforschung) bereitgestellt Wie wir daraus ersehen koumlnnen haben kleine raumlumliche Erscheinungen entsprechende kurze zeitliche Skalen und umgekehrt Es waumlre nicht sinnvoll allgemeine Gleichungen zu erstellen die man uumlber den ganzen Bereich dieser Skalen verwenden wuumlrde Im Grunde formen jene verschiedenen Arbeitsgebiete die fundamentalen Bausteine der atmosphaumlrischen Analyse und die Grundlage fuumlr die Morphologie in der Meteorologie

Groumlszliger als Skala Name20000 km Planetarische Skala2000 km Synoptische Skala

200 km Meso-α Mesoskala20 km Meso-β Mesoskala

2 km Meso-γ Mesoskala200 m Mikro-α Turbulenz in der Grenzschicht

20 m Mikro-β Turbulenz in der Bodenschicht2 m Mikro-γ Turbulenz im Traumlgheitsbereich

2 mm Mikro-δ Kleinskalige TurbulenzLuftmolekuumlle Molekular Viskoser Dissipations-Teilbereich

Tabelle 1 Die raumlumlichen Groumlszligenordnungen bzw Skalenbereiche zum Beschreiben atmosphaumlrischer Phaumlnomene

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson18

Im Folgenden zeigen wir zwei Beispiele in denen ein bestimmtes atmosphaumlrisches Phaumlnomen in der passenden Groumlszligenordnung analysiert wird Erwaumlgen wir zuerst die Entstehung und Ausbreitung eines Systems von Gewittern Gewitter koumlnnen erzeugt werden wenn warme feuchte Luft durch irgendeinen Vorgang nach oben gefuumlhrt wird Dieser Vorgang koumlnnte Oberflaumlchenerwaumlrmung oder die Einfuhr eines kalten dichten Luftstroms sein Wenn die Bedingungen richtig sind dann werden diese aufstroumlmenden Luftmassen durch Auftriebkraumlfte weiter nach oben gezogen Des Weiteren kuumlhlen sich die Luftmassen beim Aufsteigen wesentlich ab was zur Kondensation des verfuumlgbaren Wasserdampfes fuumlhrt Die Abgabe von Waumlrme bei diesem Vorgang erwaumlrmt die Luft noch weiter und foumlrdert die Aufwaumlrtsbewegung der Luftmassen Das Ergebnis ist ein starker Aufwind und eine rasche Kondensierung des Wasserdampfes was wiederum zur Praumlzipitation und zur Trennung elektrischer Ladungen fuumlhrt An der Erdoberflaumlche entsteht durch den Niederschlag ein Gebiet kalter Luftmassen welches aus dem Gewitter herausstroumlmt Wenn die vorherrschenden Bedingungen richtig sind dann kann dieser kalte Luftschub weitere Gewitter hervorrufen Alle soeben beschriebenen dynamischen und thermodynamischen Vorgaumlnge spielen sich innerhalb des Mesoskalenbereichs ab Wenn es jedoch notwendig wird die gesamten meteorologischen Bedingungen die fuumlr ein Gewitter bedeutsam sind zu erwaumlgen dann muumlssen wir auch auf Erscheinungen im synoptischen Skalenbereich zuruumlckgreifen Die zugrundeliegende atmosphaumlrische Physik ist in beiden Faumlllen die gleiche aber die analytischen Werkzeuge sind dem jeweiligen Skalenbereich angepasst Als zweites Beispiel betrachten wir die Staumldte-Meteorologie Man muss vielleicht vorhersehen koumlnnen wie ein Windfeld auf Gebaumlude oder Straszligenschluchten einwirkt aber es ist nicht einfach solche Wechselbeziehungen im Kleinskalenbereich zu ermessen Allerdings koumlnnen die gesamten im Mesoskalenbereich vorhergesagten Windfelder als Eingabe-Parameter fuumlr den erwuumlnschten Mikroskalenbereich verwendet werden Es koumlnnen sozusagen Vorgaumlnge die in verschiedenen Skalenbereichen ablaufen synergistisch uumlber ihre eigenen Grenzen hinaus miteinander verbunden werden

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Abbildung 2 Darstellung von gewoumlhnlichen Phaumlnomenen in der Atmosphaumlre innerhalb uumlblicher zeitlicher und raumlumlicher Skalen

Als ein Beispiel wie eine Kopplung sich uumlber Skalen hinaus in der Atmosphaumlre offenbart betrachten wir nun die Wechselbeziehungen zwischen dynamischen Vorgaumlngen wie sie innerhalb der planetarischen Grenzschicht uumlblich sind Wenn wir von der Grenzschicht sprechen meinen wir jenen Teil der Atmosphaumlre welcher in starker Beziehung zur Erdoberflaumlche steht und von Reibung und Waumlrmeeinwirkungen beeinflusst wird Uumlblicherweise ist die Dicke der Grenzschicht uumlber Land ungefaumlhr 100-200 m waumlhrend des Abends und ungefaumlhr 1-2 km waumlhrend des Tages Diese Werte haumlngen letztendlich von den allgemeinen atmosphaumlrischen Bedingungen und den Oberflaumlchen-Gegebenheiten ab Natuumlrlich ist die Grenzschicht ein houmlchst bedeutender Bereich der Atmosphaumlre wenn man bedenkt dass sie unser Lebensraum ist

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Besonders waumlhrend des Tages sind atmosphaumlrische Luftbewegungen innerhalb der Grenzschicht stark von der Turbulenz beeinflusst Die Turbulenz umfasst die chaotischen stochastischen Bewegungen in Fluumlssigkeiten und steht mit einer schnellen Aumlnderung von Druck Temperatur und Geschwindigkeit in Verbindung Die Geschwindigkeit der Fluumlssigkeit ist zu einem beliebigen Zeitpunkt bestaumlndig unregelmaumlszligigen Schwankungen ausgesetzt Aus diesem Grunde wird die Atmosphaumlre in der Meteorologie als eine Fluumlssigkeit betrachtet Wenn wir die atmosphaumlrische Turbulenz sehen koumlnnten dann wuumlrden wir eine Ansammlung von Wirbeln sehen die innerhalb eines raumlumlichen und zeitlichen Skalenbereichs angesiedelt sind Es waumlre offensichtlich dass diese Wirbel nebeneinander bestehen und bestaumlndig aufeinander einwirken Eine Darstellung dieser Wechselwirkungen von Wirbeln ist in Abbildung 3 zu sehen

Abbildung 3 Veranschaulichung atmosphaumlrischer Turbulenz

Stochastische Systeme wie sie in Turbulenzen vorkommen sind von Natur aus nicht deterministisch aber es koumlnnen trotzdem sinnvolle Parameter errechnet werden Da es unmoumlglich ist die Bewegungsablaumlufe von einzelnen Teilchen in einer Fluumlssigkeit zu berechnen haben sich Wissenschaftler zu einer statistischen Vorgehensweise entschlossen Nehmen wir an wir haben eine bestimmte Menge von Gas in einem festen Behaumllter von gleichbleibendem Volumen eingeschlossen Man hat herausgefunden dass hier die Waumlrmeenergie der gesamten Gasteilchen in einer Beziehung zur Temperatur des Gases steht Deshalb kann man zusammenfassend sagen dass die zufaumllligen Zusammenstoumlszlige der Teilchen mit der Wand des Behaumllters statistisch als Druck quantifiziert werden koumlnnen Tatsaumlchlich ist in diesem Beispiel der Druck einzig von der Temperatur abhaumlngig Die unmoumlgliche

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Aufgabe die Lage und die Geschwindigkeit der Gasteilchen zu verfolgen ist somit auf eine ganz einfache Gleichung zuruumlckgefuumlhrt worden naumlmlich P = ρ R T wobei P der Druck ist ρ die Dichte des Gases und R eine Konstante die sich auf das jeweilige Gas bezieht Wenn man sich diese taumluschend einfache Gleichung ein bisschen genauer ansieht dann laumlsst sich daraus eine reichhaltige Vielfalt statistischer Physik erschlieszligen

Die Auswirkungen der Turbulenz und stochastischer Vorgaumlnge findet man uumlberall in der Natur und sie waren und sind noch immer das Thema langer Reihen von Erkundungen Allerdings ist die Turbulenz trotz dieser Bemuumlhungen eines der am wenigsten verstandenen Gebiete in der klassischen Physik geblieben Warum ist das so Schon 1755 gelang es dem Schweizer Mathematiker Euler ein System von Gleichungen aufzustellen das die Bewegungen von Fluumlssigkeiten beschrieb Er hatte jedoch die Auswirkungen der Viskositaumlt welche ein Maszligstab fuumlr den Widerstand einer Fluumlssigkeit ist nicht miteinbezogen Das mathematische Bezugssystem das heute haumlufig gebraucht wird um zaumlhfluumlssige und waumlrmeleitende Fluumlssigkeiten zu beschreiben nennt man die Navier-Stokes-Gleichungen sie wurden zwischen 1822 und 1845 von dem Franzosen Navier und dem Briten Stokes formuliert Diese Gleichungen sind das Herz und die Seele aller hydrodynamischen Modelle mit denen man newtonsche Fluide wie Wasser Luft oder Oumll beschreibt jedoch werden auch sie der Verflochtenheit der Turbulenz nicht gerecht Ein halbes Jahrhundert nach dem Werk von Navier und Stokes wurden Wissenschaftler wegen des Mangels an neuen Erfolgen in ihrem Verstaumlndnis der Turbulenz wieder entmutigt Waumlhrend einer Ansprache vor der britischen Gemeinschaft fuumlr wissenschaftlichen Fortschritt (British Association for the Advancement of Science) im Jahre 1932 soll der bekannte und geschaumltzte britische Physiker Horace Lamb folgendes gesagt haben bdquoI am an old man now and when I die and go to Heaven there are two matters on which I hope for enlightenment One is quantum electrodynamics and the other is the turbulent motion of fluids And about the former I am really rather optimisticrdquo (Heute bin ich ein alter Mann und wenn ich einst sterbe und in den Himmel komme moumlchte ich dort gerne zwei Fragen beantwortet haben die eine uumlber die Quanten-Elektrodynamik und die andere uumlber die Turbulenz von Fluumlssigkeiten Hinsichtlich der ersten Frage bin ich noch recht optimistisch)

Ein gewisser Erfolg kam endlich als der russische Wissenschaftler Komogrov im Jahre 1950 in der Lage war die Turbulenz teilweise zu charakterisieren Komogrov zufolge kommt der groumlszligte Teil der kinetischen Energie in einem Fluid (wir meinen hier die Atmosphaumlre) in groumlszligeren

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Skalen vor Diese Energie wird dann an kleinere und noch kleinere Skalen weitergegeben Die kinetische Energie wird also von den groumlszligeren Wirbeln an kleinere Wirbel abgegeben und zwar durch eine Reihe von Vorgaumlngen die man als Energiekaskade bezeichnet Die Energie wird bestaumlndig an kleinere Skalen abgegeben bis die turbulenten Wirbel so klein sind dass molekulare diffusive Kraumlfte eine wichtige Rolle spielen und die Energie in Form von Waumlrme abgegeben wird Eine graphische Darstellung des Kaskadenvorgangs ist in Abbildung 4 zu sehen Die y-Achse des Diagramms bezeichnet den Betrag der kinetischen Energie pro Wirbel fuumlr eine bestimmte Groumlszlige Die Wellennummer befindet sich auf der x-Achse Fuumlr unsere gegenwaumlrtige Eroumlrterung kann man sich die Wellennummer k als die inverse charakteristische Groumlszlige der turbulenten Wellen denken und zwar innerhalb der Grenzschicht Dies ist aumlhnlich wie die Beziehung zwischen Zeit und Frequenz Eine Erhoumlhung der Wellenzahl entspricht also einer Abnahme der Groumlszlige Den Bereich der Wellenzahlen (Groumlszligen) fuumlr welche der Kaskadenvorgang stattfindet nennt man Traumlgheitsbereich (inertial subrange) und dieser ist sehr wichtig fuumlr die atmosphaumlrische Dynamik In der atmosphaumlrischen Grenzschicht werden kinetische Energien in der Groumlszligenordnung von 100-200 m angeregt und eine Erwaumlrmung tritt ungefaumlhr dann auf wenn die Wirbel 1 mm groszlig sind Die Energiekaskade beschreibt die Umwandlung von turbulenter kinetischer Energie innerhalb raumlumlicher Skalen die sich um fuumlnf Groumlszligenordnungen bzw Zehnerpotenzen voneinander unterscheiden

Abbildung 4 Darstellung des Energiegehalts turbulenter Stroumlmungen als eine Funktion der Wellenzahl

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 23

4 Fruumlhzeitige Wettervorhersage-ModelleIm Jahre 1904 wies der Norweger Bjerknes darauf hin dass es moumlglich sein sollte quantitative und objektive Wettervorhersagen zu machen die auf der deterministischen Theorie der atmosphaumlrischen Bewegung und den Navier-Stokes Gleichungen basieren Er behauptete also dass es moumlglich sei das Wetter anhand analytischer Modelle vorherzusagen Diese Vorgehensweise gleicht also nicht den Vorhersagen von erfahrenen Leuten die sich auf Wetterkarten beobachtete Daten und den Himmel verlieszligen Die Aussicht auf eine Erstellung von objektiven Wettervorhersagen fuumlhrte den Begriff der Morphologie in ein neues Zeitalter Nun wurde es zum ersten Male sinnvoll nach den zugrunde liegenden Beziehungen zwischen den Verhaltensmustern die man jahrhundertelang beobachtet hatte zu suchen Es ist allerdings fraglich ob Bjerknes eine starke Hoffnung auf das Zustandekommen solcher Vorhersagen hatte Weitere 30 Jahre mussten vergehen bis Konrad Zuse den ersten binaumlren Rechner in Deutschland entwickelte Das erste Geraumlt wurde noch mechanisch betrieben und erst einige Jahre spaumlter wurde daraus der erste elektronische Rechner bzw Computer

Zu Beginn des 20 Jahrhunderts begann Lewis Fry Richardson mit einem Plan fuumlr objektive Wettervorhersagen welche auf den Ergebnissen von Bjerknes beruhten und zwar ohne mechanischen oder elektronischen Rechner Er veroumlffentlichte diese wegweisenden Vorstellungen im Jahre 1922 Weil es zu der Zeit noch keine physikalischen Rechner gab stellte sich Richardson menschliche Rechner vor Nach seinen Berechnungen braumluchte man 64000 Menschen die rund um die Uhr arbeiteten um angemessene Wettervorhersagen zu erstellen Er stellte sich vor dass diese Personen zusammen in einer groszligen Halle arbeiten wuumlrden wobei jeder einzelne eine relativ kleine Aufgabe der Gesamtarbeit uumlbernaumlhme Laumlufer wuumlrden dann die Ergebnisse zwischen den menschlichen Rechnern uumlbermitteln Ein Hauptleiter wuumlrde die einzelnen Vorgaumlnge uumlberwachen und die Arbeitsablaumlufe aufeinander abstimmen Richardson schrieb in dem Buch Weather Prediction by Numerical Processes folgendes (Richardson 2007) bdquoImagine a large hall like a theater except that the circles and galleries go right round through the space usually occupied by the stage The walls of this chamber are painted to form a map of the globe hellip From the floor of the pit a tall pillar rises to half the height of the hall It carries a large pulpit on its top In this sits the man in charge of the whole theatrerdquo (Stellen wir uns eine groszlige Halle vor etwa so wie ein Theater aber die Kreise und Emporen gehen ganz herum auch da wo normalerweise der

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Schauplatz ist Die Waumlnde sind so bemalt wie unsere Weltkugel Vom Boden des Parketts erstreckt sich eine hohe Saumlule bis zur halben Houmlhe der Halle Auf der ist obendrauf eine groszlige Kanzel Hier sitzt der Mann der das ganze Theater leitet) Richardson war sich wohl bewusst dass es zu seiner Zeit fast unmoumlglich gewesen waumlre dieses Vorhaben durchzufuumlhren Im Vorwort zu seinem Buch schrieb er (Richardson 1922) bdquoPerhaps some day in the dim future it will be possible to advance the computations faster than the weather advances and at a cost less than the saving to mankind due to the information gained But that is a dreamrdquo (Vielleicht wird es eines Tages in ferner Zukunft moumlglich sein die Berechnungen schneller zu beschleunigen als die Fortschritte der Wetterforschung und um einen Preis der geringer ist als die Gewinne die die neuen Erkenntnisse fuumlr die Menschheit erbringen Aber das ist ein Traum) Vielleicht war es nur ein Traum aber einer den er ernsthaft in Betracht zog In seinem Buch legte Richardson systematisch die Grundlage fuumlr ein neues Gebiet der Wetterforschung naumlmlich die numerische Wettervorhersage die auch noch heute betrieben wird Lewis Fry Richardson wird von vielen sogar als der Urheber dieses Forschungsgebietes angesehen

Mit der Entwicklung des ENIAC (Elektrischer und Numerischer Integrator und Rechner) im Jahre 1946 durch eine Gruppe von amerikanischen Ingenieuren der Elektrotechnik geleitet von Mauchly und Eckert konnte Richardsons Traum endlich Wurzel fassen und beginnen Wirklichkeit zu werden Mit der Abloumlsung mechanischer Relais und Schalter durch die Vakuumroumlhre wurde der ENIAC tausendmal schneller als die zeitgenoumlssischen Rechner Der ENIAC wurde vom Militaumlr fuumlr die Aufgabe entwickelt aufwendige ballistische Flugbahnen auszurechnen John von Neumann ein Mathematiker an der Universitaumlt Princeton erkannte sofort dass der ENIAC auch fuumlr die Modellierung von Wettervorhersagen gut geeignet sein wuumlrde Er nahm die Hilfe des amerikanischen Meteorologen Jule Charney in Anspruch und die beiden lieferten im Jahre 1950 die erste numerische Wettervorhersage mittels des ENIAC Es dauerte noch ein Jahrzehnt bis die numerischen Modelle fuumlr die Wettervorhersagen besser wurden und in der Lage waren Vorhersagen zu liefern die sich mit den subjektiven Analysen menschlicher Meteorologen messen konnten

Heutzutage sind Computermodelle eine Hauptquelle fuumlr die Meteorologie und die Wettervorhersage Es gibt allerdings noch kein Modell das alle phaumlnomenologischen und morphologischen Skalen der Atmosphaumlre behandeln wuumlrde Deshalb ist der Grundsatz die Umgebung in uumlberschaubare Skalen (wie in Tabelle 1 aufgefuumlhrt) zu unterteilen bestehen geblieben In

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der raumlumlichen Skala von ungefaumlhr 1 mm bis zu hunderten von Metern kann man turbulente Stroumlmungsmuster mit einem groszligen Genauigkeitsgrad mittels direkter numerischer Simulation (DNS) ausrechnen Fuumlr groumlszligere Skalen verwendet man die Groszlig-Wirbel-Simulation (LES = large eddy simulation) Mit dieser Herangehensweise werden alle Vorgaumlnge von kleineren Skalen von mehreren 10 Metern mit Parametern versehen (nicht direkt berechnet) und dafuumlr verwendet fluumlssige Stroumlmungen innerhalb einer Skala von mehreren 10 Kilometern zu untersuchen Zusaumltzlich zur DNS und LES gibt es auch noch mesoskalige Modelle synoptische Modelle erdumfassende Umlauf-Modelle usw Wenn der Bereich in dem ein Modell verwendet wird an Groumlszlige zunimmt dann nimmt auch die Groumlszlige der kleinsten Einheit des Modells zu Deshalb wird es immer wichtiger das gewonnene Wissen uumlber die kleinen Skalen (von Simulationen) zu nuumltzen um Parameter-Systeme fuumlr die Verwendung in Modellen groumlszligerer Skalen zu entwickeln

5 Die Geburt des ChaosIn den spaumlten fuumlnfziger und fruumlhen sechziger Jahren gerade als die elektronische Computertechnologie sich eingebuumlrgert hatte und die Zukunft von numerischen Wettervorhersagen rosig aussah kam es in den Hallen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu einer unerwarteten Wendung Ein Meteorologe mit dem Namen Ed Lorenz entwickelte seine eigenen Modelle fuumlr die Wettervorhersage an einem geraumluschvollen Computer in seiner Amtsstube Weil Lorenz nur eine beschraumlnkte Auswahl von Hilfsmitteln zur Verfuumlgung hatte hielt er sein Modell sehr schlicht Seine simulierte Atmosphaumlre enthielt nur 12 Gleichungen und die Variabeln (Regelgroumlszligen) die errechnet werden konnten waren lediglich einzelne Groumlszligen wie Druck Temperatur und Windvektoren Mit jeder Wiederholung in simulierter Zeit erstellte der Computer eine groszlige Menge von Zahlen die Werte der errechneten Parameter anzeigten Lorenzrsquo Wettersimulationen gaben Aufschluss uumlber gewisse Beziehungen von atmosphaumlrischen Erscheinungen und seine Ergebnisse gaben ihm die noumltigen Einsichten um Verhaltensmuster im Wetter zu suchen

Eines Tages waumlhrend seine Simulationen liefen machte Lorenz eine Entdeckung die spaumlter zu einem voumlllig neuen Zweig der Mathematik fuumlhren sollte An jenem Tage versuchte er eine Simulation zu wiederholen

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die er schon vorher durchgefuumlhrt hatte Jedoch wollte er das Modell mit der neuen Simulation uumlber einen laumlngeren Zeitraum laufen lassen Um den Vorgang zu beschleunigen entschied sich Lorenz fuumlr eine Abkuumlrzung Er initialisierte die neue halbwegs fertig gelaufene Simulation dadurch dass er die ausgedruckten Parameter die also schon erstellt waren eingab Er tippte die Zahlen in sein Programm schaltete den Computer ein und verlieszlig seine Amtsstube um sich eine Tasse Kaffee zu holen Als er eine Stunde spaumlter zuruumlckkam bemerkte er etwas Uumlberraschendes Die Ergebnisse der neuen Simulation waren voumlllig anders als was er zuvor errechnet hatte

Nachdem er sicherstellte hatte dass kein Fehler vorlag kam Lorenz zur Schlussfolgerung dass der Unterschied der Ergebnisse ein Rundungsfehler sein muumlsste der durch das Eintippen der Parameter in der Mitte der Simulation entstanden war So wurde zum Beispiel ein Wert von 05783214 als 0578 ausgedruckt Konnte denn ein Rundungsfehler in den Tausender Dezimalstellen zu solch tiefgreifenden Abweichungen in den simulierten Ergebnissen fuumlhren Dieser Rundungsfehler war doch kleiner als die Fehler in den zahlreichen meteorologischen Beobachtungen die fuumlr das Wettervorhersage-Modell benutzt wurden Es bleib jedoch unuumlbersehbar dass die Ergebnisse der beiden Simulationen enorme Abweichungen zeigten Welche Folgen wuumlrde dies fuumlr die Zukunft der numerischen Wettervorhersagen haben

Als geschickter Mathematiker verstand Lorenz dass diese neue Art der Unvorhersehbarkeit irgendwo in den Zahlen verborgen lag Man nennt diese Erscheinung die bdquoEmpfindlichkeit gegenuumlber den Anfangsbedingungenldquo (sensitive dependance on initial conditions) Das bedeutet dass kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen das langfristige Verhalten eines Verfahrens wesentlich veraumlndern koumlnnen Heute nennt man das den Schmetterlingseffekt da man sich vorstellen kann dass das Schwingen eines Fluumlgels eines Schmetterlings grundsaumltzlich einen tiefgreifenden Einfluss auf das Wetter nehmen kann das zu spaumlterer Zeit beobachtet wird Hieraus entwickelte sich spaumlter die Chaosforschung

Um diese Auswirkung besser zu verstehen versuchte Lorenz seine Vorhersage-Modelle so weit wie moumlglich zu vereinfachen ohne jedoch die empfindsamen Abhaumlngigkeiten der Anfangsbedingungen zu

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 27

vernachlaumlssigen Es gelang ihm die Gleichungen die die Konvektion bestimmen auf drei zu beschraumlnken diese wurden dazu benutzt um Werte von drei verschiedenen physikalischen Parametern vorherzusagen Das erweckt den Anschein dass die endguumlltigen Gleichungen allzu simpel seien aber die Verhaltensmuster die diese vorhersagen sind keineswegs einfach zu verstehen Abbildung 5 zeigt ein Beispiel Die drei vorhergesagten Parameter sind als x y und z gekennzeichnet und in einem dreidimensionalen Raum eingetragen Die Lage des Punktes der von x y und z bestimmt ist bewegt sich in unvorhersehbarer Weise zwischen den Iterationen Allerdings wird die Gesamtheit aller Punkte vom Raum begrenzt und daraus bildet sich ein gewisses Verhaltensmuster Solch ein Verhalten veranschaulicht ein deterministisches Chaos und wird ein seltsamer Attraktor genannt Das besondere Beispiel in Abbildung 5 zeigt den sogenannten Lorenz-Attraktor

Abbildung 5 Der Lorenz Attraktor veranschaulicht die verschiedenen Muster die bei chaotischem Verhalten vorkommen

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Wie wir wissen hat die Entdeckung chaotischer Systeme in der Atmosphaumlre numerische Wettervorhersagen nicht abgeloumlst Wissenschaftler wussten schon Hunderte von Jahren vor der Lorenzschen Chaostheorie von den zufaumllligen Bewegungen der Turbulenz Allerdings hat diese Entdeckung die Hoffnung der Meteorologen auf genaue langfristige Vorhersagen auch groumlszligere Skalen betreffend etwas gedaumlmpft Dennoch koumlnnen wir darauf zaumlhlen dass die heutigen Grenzen der Vorhersagen fuumlr Wetterentwicklungen in der Zukunft weiter hinausgeschoben werden koumlnnen Durch eine Verbesserung der Rechenleistungen fortschrittlicher Computer durch eine feinere Einstellung der Modelle und durch die Entwicklung atmosphaumlrischer Geraumlte die genauere Messungen zulassen wird dies moumlglich sein Man muss sich natuumlrlich bewusst sein dass verstrickte chaotische Geschehen immer die Oberhand haben werden

6 Selbst-Aumlhnlichkeit in der AtmosphaumlreEine weitere fesselnde Erscheinungsform von Chaos in der Natur und in der Atmosphaumlre ist die sogenannte Selbstaumlhnlichkeit Einen Gegenstand oder eine Gestalt nennt man selbst-aumlhnlich wenn ersie aumlhnlich (oder bei mathematisch erzeugten Gegenstaumlnden gleich) erscheint unabhaumlngig davon in welcher Groumlszligenordnung ersie betrachtet wird Ein Beispiel dafuumlr sind die Fensterbilder die das Eis an kalten Wintertagen hinterlaumlsst Die Muster erscheinen aumlhnlich (wenn auch nicht deckungsgleich) wenn man sie mit einem Vergroumlszligerungsglas oder auch mit dem bloszligen Auge ansieht

Selbstaumlhnliche Gegenstaumlnde besitzen in rein rechnerischem Sinne viele fesselnde Eigenschaften Wir sprachen soeben von der Skalen-Invarianz In manchen Faumlllen kann man kaum sagen wo der Beruumlhrungsbereich eines Gebildes beginnt und wo er endet Vielleicht ist eine der sonderbarsten Eigenschaften solcher Gestalten ihre fraktionale Dimensionalitaumlt (weiter unten erklaumlrt) Wegen dieser Eigenschaft nennt man selbst-aumlhnliche Gebilde oft Fraktale Man kann sich daruumlber streiten ob die Selbst-Aumlhnlichkeit der Kern der Morphologie in der Meteorologie ist

Zugleich muss zwischen rein rechnerischen Selbst-Aumlhnlichkeiten und der Annaumlherung von Selbst-Aumlhnlichkeit in der Natur unterschieden werden Offenkundig ist der Begriff der Skalen-Invarianz in der Natur raumlumlich beschraumlnkt Turbulente Stroumlmungen koumlnnen zum Beispiel als selbst-aumlhnlich beschrieben werden wenn man nur die Skalen innerhalb des Traumlgheitsbereichs betrachtet In diesem Fall kann man nicht zwischen groszligen und kleinen Wirbeln unterscheiden ohne eine Art von Bezugs-

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Skala heranzuziehen Weitere klassische Beispiele fuumlr die Selbst-Aumlhnlichkeit beziehen sich auf Wolkenstrukturen Gebilde von Schneeflocken Wechselbeziehungen zwischen der Grenzschicht und der freien Atmosphaumlre (Entrainment) usw In vielen dieser Faumllle koumlnnen durch rein rechnerische Modelle Annaumlherungen an diese Erscheinungen gefunden werden

Wir wollen die Selbst-Aumlhnlichkeit am Beispiel von Schneeflocken die als Fraktale betrachtet werden koumlnnen veranschaulichen Wir beginnen dies damit indem wir ein einziges Streckenstuumlck wie es in der oberen linken Ecke von Abbildung 6 zu sehen ist betrachten Das mittlere Drittel dieser Strecke wird durch zwei Streckenabschnitte (die beide ebenfalls ein Drittel der Gesamtlaumlnge einnehmen) in abgewinkelter Weise entsprechend einem gleichseitigen Dreieck ersetzt Aus einer Strecke sind also vier geworden und so haben wir vier deckungsgleiche Abbildungen Die Groumlszlige dieser neuen Strecken ist zur urspruumlnglichen um den Faktor drei verschieden Man sagt der Vergroumlszligerungsfaktor ist drei Wenn dieser Vorgang wiederholt wird dann werden die daraus entstehenden Gegenstaumlnde zunehmend unuumlberschaubar (siehe Abbildung 6) Es ist offensichtlich dass man wenn wenn man einen beliebigen Teil der ganzen Gestalt vergroumlszligern wuumlrde wieder aumlhnliche Formen (in diesem Fall sogar deckungsgleiche) vorfinden wuumlrde und zwar ungeachtet der jeweiligen Vergroumlszligerung Auszligerdem wird diese Strecke unendlich lang und bleibt nur vom Raum begrenzt Dies ist die sogenannte Koch-Kurve (nach dem schwedischen Mathematiker Koch benannt) und sie gehoumlrt zur Familie der Fraktale Wie gesagt kann man solche Muster an vereisten Fenstern finden Mit dem gleichen Vorgang koumlnnen wir eine vernuumlnftige Darstellung einer Schneeflocke hervorbringen Diesmal benutzen wir aber ein Dreieck anstelle einer Strecke als Ausgangspunkt Nach nur drei Wiederholungen werden die entstehenden Muster den echten Schneeflocken wie sie in Wolken beobachtet werden bereits aumlhnlich Dies ist allerdings nur ein Beispiel fuumlr Veranschaulichungs-Zwecke Mittels Fraktalen koumlnnen weitaus echter aussehende Schneeflocken gebildet werden

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Abbildung 6 Entstehung der Koch-Kurve und der Kochrsquoschen Schneeflocke

Was bedeutet es zu sagen dass selbst-aumlhnliche Gegenstaumlnde eine fraktale Dimension haben Nun wir wissen schon dass ein Punkt nulldimensional ist eine Strecke eindimensional eine Ebene zweidimensional und ein Wuumlrfel dreidimensional aber was bedeutet der Begriff der Dimensionalitaumlt wirklich Einfachheitshalber arbeiten wir in den nachfolgenden Beispielen mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei Das bedeutet eine selbstaumlhnliche Abbildung der naumlchsten Groumlszlige ist um den Faktor zwei verschieden Nehmen wir zwei gleiche Streckenstuumlcke der Laumlnge eins Aneinandergefuumlgt bilden diese ein selbst-aumlhnliches Streckenstuumlck der Laumlnge zwei Mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachtet finden wir also zwei selbst-aumlhnliche Streckenstuumlcke vor Genauso koumlnnen wir ein Quadrat aus vier gleichgroszligen Quadraten bilden Wenn wir das groumlszligere Quadrat mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachten dann sehen wir vier selbst-aumlhnliche Abbildungen (2x2) Schlieszliglich koumlnnen wir diesen Vorgang fuumlr einen Wuumlrfel wiederholen In diesem Fall liefert ein Vergroumlszligerungsfaktor von zwei genau acht (2x2x2) selbst-aumlhnliche Abbildungen Wir bemerken die Entwicklung eines Musters das wir mathematisch auf folgende Weise beschreiben koumlnnen

Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile = (Vergroumlszligerungs-Faktor)D

D steht dabei die Dimension zB ist die Dimension fuumlr einen Wuumlrfel drei Im Fall der Koch-Kurve ist der Vergroumlszligerungsfaktor drei und die Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile vier Aus diesen beiden Groumlszligen koumlnnen wir nun die Dimensionalitaumlt berechnen Aus 3 = 4D folgt D = 1262 Das gilt fuumlr die

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Koch-Kurve und fuumlr die kochsche Schneeflocke Ein sehr bemerkenswertes Ergebnis aber kann man es in der Natur anwenden

Meteorologen beschaumlftigen sich immer haumlufiger mit der Selbst-Aumlhnlichkeit Wenn wir verstehen warum und wie fraktale Muster in der Natur vorkommen dann koumlnnen wir auch die zugrundeliegende Physik und die gegenseitigen Wechselbeziehungen der dazugehoumlrenden Kraumlfte besser verstehen Die fraktale Dimension von Eisteilen koumlnnte eine wichtige Einsicht geben wie diese sich formen und wie sie wachsen vorausgesetzt wir beachten bestimmte Umgebungsbedingungen wie Auszligentemperatur Wasserdampfgehalt fluumlssiger Wassergehalt und turbulente Betriebsamkeit Die sogenannte Kalte-Wolken-Mikrophysik ist oft schwierig zu verstehen aber sie ist besonders wichtig fuumlr Niederschlagsvorhersagen Die gleichen Aussagen gelten fuumlr die Analyse von Wolken welche ebenfalls selbst-aumlhnliche Gebilde sind Bei einem Versuch wurde durch das Auswerten von Lichtbildern erkannt dass die fraktalen Dimensionen von Wolkenquerschnitten dem Wert 43 neigen Wir koumlnnen hier nicht naumlher auf die Gruumlnde eingehen doch folgt weil die Wolken als selbst-aumlhnliche Gebilde angenommen werden koumlnnen fuumlr die fraktale Dimension volumetrischer Wolken D = 43 +1 oder D = 73 Nun fragt man sich ob dies als allgemeiner Parameter gelten kann Die Antwort ist wahrscheinlich nein weil die fraktale Dimension von der Umgebung in der sich die Wolken bilden abhaumlngt und folglich von der Wolkenart

7 ZusammenfassungDie Atmosphaumlre ist fortwaumlhrend in einem Zustand des Uumlbergangs und der Bewegung begriffen da sie nach einem Zustand der Ausgeglichenheit zwischen den einzelnen Kraumlften die auf sie einwirken strebt Ebenso wie fuumlr den vom Schicksal getroffenen Tantalos in der griechischen Mythologie bleibt der Zustand der Ausgewogenheit fuumlr unsere Atmosphaumlre unerreichbar Die kreisende Erde wird ungleichmaumlszligig erhitzt Oberflaumlchengegebenheiten fuumlhren zu Reibungsaumlnderungen das Strahlungsgleichgewicht wird durch die An- oder Abwesenheit von Wolken veraumlndert und die Menschheit erschuumlttert die Ausgeglichenheit der Atmosphaumlre durch Umwelteinfluumlsse Das Ergebnis dieser verschiedenen Einfluumlsse ist ein wundervoll vielschich-tiges dynamisches System das sich uumlber einen weiten Bereich zeitlicher und raumlumlicher Skalen offenbart Die Aussicht darauf unsere Atmosphaumlre gruumlndlich zu verstehen und eine angemessene Wettervorhersage zu machen bleibt dennoch eher duumlster Je mehr man in die Tiefe geht um die verwickelten Wechselbeziehungen des Wettergeschehens zu verstehen

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desto schlechter scheinen die Aussichten auf Erfolg zu sein Die Rettung kommt durch die Verhaltensmuster die hinter dem zugrunde liegenden Chaos zum Vorschein kommen

So wird aus der Kunde vom Wetter die Kunde der statistischen Analyse und der geschickten Erkennung von Verhaltensmustern Auf grundlegender Ebene ist es wichtig die Grenzen der Theorie der Turbulenz weiter zuruumlckzuschieben und ein verlaumlssliches Modell zur Beschreibung atmosphaumlrischer Selbst-Aumlhnlichkeit zu erstellen Fortschritte auf diesem Gebiet sind entscheidend um einen klaren Gesamteindruck der Natur zu erhalten Letztendlich muumlssen wir uns damit abfinden dass immer Luumlcken in unserem Verstaumlndnis der Atmosphaumlre bestehen bleiben werden Ferner schraumlnkt die den atmosphaumlrischen Stroumlmungen innewohnende chaotische Natur unsere Moumlglichkeiten ein deterministisches System mit Gleichungen die das Wetter beschreiben zu schaffen erheblich ein Aus diesem Grunde muumlssen die Meteorologen noch immer auf ihr Gespuumlr vertrauen wenn sie die verfuumlgbaren Beobachtungen zusammen mit den Ergebnissen numerischer Wettervorhersagen auswerten Obwohl wir einsehen muumlssen dass wir nicht immer wissen koumlnnen wie die Atmosphaumlre sich verhaumllt koumlnnen wir das Wetter von morgen oder uumlbermorgen doch schon mit groszliger Wahrscheinlichkeit voraussagen Dies setzt oft ein gruumlndliches Verstehen bestimmter morphologischer Muster und von deren Bezug zum Wetter voraus Am liebsten wuumlrden wir diese Erkenntnisse wissenschaftlich eingliedern und fuumlr objektive Wettervorhersagen verwenden aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das menschliche Mitwirken noch immer eine wichtige Zutat in der Einschaumltzung der Witterung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 33

LiteraturverzeichnisAmerican Meteorological Society (22000) Glossary of Meteorology Todd S Glickman managing editor Boston

Richardson Lewis Fry (1922) Weather Prediction by Numerical Process Cambridge Cambridge University Press

Prof Dr Phillip B Chilson School of Meteorology Christa Chilson Department of Modern Languages Literatures and Linguistics University of Oklahoma Norman OK USA

Sprachliche Morphologie digitalisiert

Jost Gippert (Frankfurt)

The article discusses the question how and to what extent the digitisation of morphological features of natural languages is able to support linguists in both teaching and research Within the scope of applied linguistics it focusses on the impact of digitised morphological data on optical character recognition speech recognition spell and grammar checking machine translation and teaching sce-narios The implementation of digitised means in linguistic research is thema-tised with respect to lexicography and grammar writing as well as diachronic investigations of various kinds The perspectives of applying digitisation to linguistic morphology can be summarised in two theses a) the more linguistic data are provided with a thorough morphological (and beyond that syntacti-cal semantical pragmatical metrical etc) analysis the more reliable the basis for theoretical investigations will be both in synchronical-descriptive and in diachronical-comparative linguistics b) the digital preparation of large data sets is an urgent methodological prerequisite for the verification and falsification of linguistic hypotheses

Fuumlr manch einen Auszligenstehenden hat die Sprachwissenschaft spaumltestens mit dem Strukturalismus eine Ausrichtung angenommen die Goethe und Schiller in ihren Xenien schon lange vorher andeuteten als sie den bdquoSprach-forscherldquo so apostrophierten1

Anatomieren magst du die Sprache doch nur ihr Cadaver Geist und Leben entschluumlpft fluumlchtig dem groben Scalpell

Mit dem Einsatz digitaler Verarbeitungsverfahren duumlrfte sich das Schreckensbild einer immer tiefergehenden bdquoanatomistischenldquo Zerlegung sprachlicher Aumluszligerungen in den Augen vieler eher noch weiter verfestigt haben Im folgenden soll gezeigt werden daszlig eine digital basierte Morphologie natuumlrlicher Sprachen im Gegensatz zur Einschaumltzung unserer Klassiker durchaus nicht mit Geist- und Leblosigkeit einherzugehen braucht sondern

1 Xenie Nr 141 Goethe Werke 1889-1896 I Abtlg Bd V 1 Abtlg 1893 S 225 Schiller Werke 1943ndash Bd I 1943 S 326 Ob das Distichon von Goethe oder Schiller verfaszligt wurde scheint nicht sicher geklaumlrt Corkhill 1991 S 248 schreibt es offensichtlich Goethe zu der damit bdquodie klinisch anmutende fachliche Sprachbetrachtung persiflieren wollteldquo

Jost Gippert36

gerade dazu dienen kann sprachliche Inhalte genauer zu beleuchten und den Umgang mit Sprache in unterschiedlichen Bereichen zu unterstuumltzen

1 Anwendungsbezogene Zielsetzungen digital basierter MorphologieFuumlr eine digital basierte sprachwissenschaftliche Morphologie kommen im wesentlichen fuumlnf anwendungsbezogene Zielsetzungen in Betracht naumlmlich die Unterstuumltzung von Texterkennung (bdquoOCRldquo = bdquoOptical Character Recognitionldquo) Spracherkennung Rechtschreibung (bdquoSpell-checkingldquo) automatische Uumlbersetzung sowie Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht In verschiedenen dieser Anwendungsbereiche wird digitalisierte Morphologie seit laumlngerem bereits mit stetig steigendem Erfolg eingesetzt Einige wenige Grunduumlberlegungen verdienen es dennoch hier kurz abgehandelt zu werden

11 Texterkennung

Digitale Texterkennung dh die retrograde Umwandlung bereits gedruck-ter oder geschriebener Textmaterialien in eine digitale Form zum Zwecke der Weiterverarbeitung setzt typischerweise den folgenden Ablauf voraus Nach dem Einscannen einer Druckseite als Rasterbild muumlssen in diesem zunaumlchst die groben Einheiten des Schriftbilds herausisoliert werden dies geschieht durch die Erfassung von Zonen ohne schwarze Bildpunkte (bdquoPixelldquo) durch die Abstaumlnde zwischen Zeilen Woumlrtern Buchstaben Satzzeichen etc gekennzeichnet sind sowie umgekehrt durch die Erfas-sung zusammenhaumlngender Pixelstrukturen die Buchstaben Satzzeichen etc repraumlsentieren Letztere muumlssen dann mit Mustern verglichen werden um die repraumlsentierten Zeichen im einzelnen zu bestimmen Hierbei ist immer mit einer gewissen Fehlerquote zu rechnen die zB von der druck-technischen Qualitaumlt der Vorlage oder den in ihr benutzten Zeichenformen und -saumltzen abhaumlngt Eine Reduzierung der Fehlerquote die auch heute nach rund 20 Jahren fortschreitender Entwicklung von OCR-Verfahren2

2 Seit 1987 habe ich kontinuierlich kommerzielle OCR-Programme getestet und mit mehr oder weniger groszligem Erfolg sowohl auf lateinschriftliche als auch auf andere Quellen ange-wendet Erwaumlhnen moumlchte ich SPOT 31 (Flagstaff Engineering 1989) ein auf Zeichenfor-men bdquotrainierbaresldquo DOS-basiertes Programm das ich sehr erfolgreich an die georgische Schrift anpassen konnte und dessen Leseergebnisse die Grundlage fuumlr zahlreiche uumlber den TITUS-Server (su Fn 9) verfuumlgbare elektronische Texteditionen darstellen das Kurzweil Scanner-System in den fruumlhen 90er Jahren das Non-Plus-Ultra der PC-basierten OCR mit dem verschiedene lateinschriftlich gedruckte TITUS-Texte eingelesen wurden sowie den Fine Reader (ABBYY) der sich in den letzten Jahren als die leistungsfaumlhigste OCR-Software fuumlr multilinguale Anwendungen herausgestellt hat (derzeit verfuumlgbar in Version

Sprachliche Morphologie digitalisiert 37

noch immer betraumlchtlich sein kann3 setzt verschiedene Arten von Plausi-bilitaumltspruumlfungen voraus bei denen das Leseresultat auf seine sprachliche Korrektheit hin getestet wird Ein typisches Beispiel waumlre die bdquoVerlesungldquo der deutschen Wortform Muumlndern (DatPl) als Mundem sowohl die Igno-rierung des Diakritikums die auf der Diskontinuitaumlt des Buchstabenbildes ltuumlgt beruht als auch die irrige Zusammenlesung der Buchstabenfolge rn als m sind charakteristische Probleme von OCR-Anwendungen Um die gelesene Wortform Mundem nun auf ihre Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen bieten sich zwei Verfahren an Das in kommerziellen OCR-Programmen meist genutzte Verfahren ist rein bdquolexikalischldquo Zum Abgleich wird eine (mehr oder weniger umfangreiche) Wortformenliste der betr Sprache benutzt in der natuumlrlich neben Lemmaformen auch flektierte Formen aller Art enthalten sein muumlssen Die der gelesenen Form am naumlchsten kom-mende wird dann vorschlagsweise eingesetzt im gegebenen Fall duumlrfte dies die Form Munden sein die sich von Mundem nur in einem Buchstaben unterscheidet damit freilich aber noch nicht bdquokorrektldquo ist und somit bereits die Grenzen eines rein lexikalischen Abgleichs aufzeigt Es kommt hinzu daszlig keine Wortformenliste des Deutschen jemals vollstaumlndig sein kann da insbesondere die Moumlglichkeiten der Komposition das deutsche Lexikon unendlich groszlig gestalten

Um eine bessere Lesegenauigkeit zu erzielen ist deshalb ein anderes mehrstufiges Verfahren vonnoumlten das neben einer lexikalischen Daten-basis auch andere Vorinformationen darunter morphologische verar-beiten kann Ein solches Verfahren das ich bdquogemischtldquo nennen wuumlrde muumlszligte neben einem Basislexikon der Wortstaumlmme zunaumlchst die gramma-tischen Regeln der Morphologie dh der Formen- und Wortbildung der betr Sprache beruumlcksichtigen daruumlber hinaus bdquographischeldquo und bdquographo-

9) Die spezifischen Beduumlrfnisse von Sprachwissenschaftlern (va in Bezug auf transkriptive Sonderzeichen) sind allerdings bis heute nirgends zufriedenstellend beruumlcksichtigt 3 Eine Fehlerquote von 2 bedeutet zB zwei Fehler innerhalb von zwei normalen Druckzeilen eines Buches Welche Schwaumlchen oberflaumlchlich angewandte OCR-Verfahren nach wie vor haben und zu welchen Irrtuumlmern sie fuumlhren koumlnnen zeigt deutlich das ehrgeizige Projekt bdquoGoogle Booksldquo (httpbooksgooglecom) Sucht man hier nach SCHLEICHERs Compendium so werden verschiedene Eintraumlge aus Kuhns Zeitschrift fuumlr Vergleichende Sprachwissenschaft ausgegeben in denen das Werk ua als bdquoCompendium tier vergleichenden grammatikldquo und sein Band I als ein bdquoKurzer abrilldquo einer lautlehre der indogermanischen ldquo erscheint entsprechend liefert eine Suche nach bdquoCompendiumldquo und bdquoTierldquo genau den erstgenannten Eintrag zuerst noch vor zoologischen Werken (Stand 2532007 1751h) [Korrekturzusatz Der gleiche Eintrag lautet am 8102009 1319h wie folgt August Schleicher compendium der vergleichenden grammatik der indogermanischen sprachen Bd I Kurzer abrifs einer lautlehrc der Die Ergebnisse der (fortschreitenden) Texterkennung bei Google Books bleiben also unzuverlaumlssig]

Jost Gippert38

taktischeldquo Regeln Gehen wir wieder von unserem Beispiel der Wortform Muumlndern aus die sich als Dativ Plural von Mund in drei Morpheme das Lexem Mund das Pluralsuffix er und die Dativendung n zerlegen laumlszligt und gleichzeitig das Phaumlnomen des bdquoUmlautsldquo von u zu uuml aufweist das im morphologischen Sinne als ein Ablautphaumlnomen aufzufassen ist Ein bdquogemischtesldquo Analyseverfahren muumlszligte die eingelesene Form Mundem nun von hinten beginnend schrittweise verkuumlrzen bis eine Uumlbereinstimmung mit einem im Basislexikon enthaltenen Wortstamm gegeben ist dies waumlre der vierbuchstabige Stamm Mund Daraufhin waumlre zu uumlberpruumlfen ob der verbleibende Rest em im Morpheminventar verankert ist ndash dies ist zwar der Fall da die deutsche Nominalflexion ein solches postlexematisches Mor-phem kennt (vgl gutem schoumlnem) es ist jedoch nicht mit dem gefundenen Basisstamm Mund kompatibel da dieser kein Adjektiv darstellt Dasselbe Verfahren muumlszligte dann iterativ weiter durchgefuumlhrt werden (Mun ndashdem etc) kaumlme aber allein noch zu keinem Ergebnis An dieser Stelle nach nega-tivem erstem Durchlauf waumlre das Leseresultat (Mundem) dann auf seine graphische Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen wobei zunaumlchst bdquountypischeldquo Zeichenfolgen zu eruieren waumlren solche sind im gegebenen Beispiel nicht vorhanden laumlgen aber zB in einer Verlesung IVIund vor die aufgrund allgemeinen Vorwissens uumlber Zeichenformen der Lateinschrift und ihre Verteilung in Wortformen unmittelbar plausibel in Mund zu korrigieren waumlre Bei bdquogelesenemldquo Mundem muumlszligten umgekehrt die graphotaktisch unproblematischen aufgrund desselben Vorwissens fuumlr Verlesungen jedoch als besonders anfaumlllig geltenden Buchstaben ltmgt und ltugt versuchsweise durch ihre naumlchstaumlhnlichen bdquoPartnerldquo ltrngt und ltuumlgt ersetzt und die sich so ergebenden Wortformen wieder der iterativen Analyse unterzogen werden Dies wuumlrde bereits fuumlr Mundern die moumlgliche Verknuumlpfung eines Lexems (Mund) mit bdquopassendenldquo Flexionsmorphemen er-n ergeben jedoch noch keine korrekte Wortform da der Plural von Mund eben Umlaut aufweist Erst ein dritter Durchlauf mit der Abaumlnderung von ltugt zu ltuumlgt ergibt dann das richtige Resultat Vorausgesetzt ist dabei daszlig auch die Information uumlber das Umlaut- bzw Ablautverhalten der Staumlmme im lexikalischen und morphologischen Basiswissen verankert sein muszlig

Hinsichtlich der bdquographotaktischenldquo Wissensbasis auf die ein solches Ver-fahren zwingend zuruumlckgreifen muszlig sei noch einmal festgehalten daszlig diese sowohl schriftspezifische dh durch die Aumlhnlichkeiten von Buch-stabenformen gegebene Probleme als auch sprachspezifische Regelun-gen umfassen muszlig die jeweils statistisch erfaszligt werden koumlnnen Zu den ersteren gehoumlren zB in der Lateinschrift neben den bereits behandel-

Sprachliche Morphologie digitalisiert 39

ten Verwechslungspaaren solche bei denen sich Buchstaben und Ziffern gegenuumlberstehen wie zB ltSgt und lt5gt oder ltOgt und lt0gt (null) Eine Plausi-bilitaumltspruumlfung kann in diesen Faumlllen ohne weiteres davon ausgehen daszlig eine lt1gt (eins) die mitten in einem bdquoWortldquo und von sicher gelesenen Klein-buchstaben umrankt zu stehen scheint eher ein kleines ltLgt repraumlsentieren duumlrfte waumlhrend eine Folge von lt7gt und dreimaligem Buchstaben ltOgt eher bdquosiebentausendldquo meinen wird4 Entsprechende Vorhersagen werden fuumlr andere Schriften wie zB die Kyrillische nicht unbedingt zutreffen hier wird zB eher eine Verwechslung der Buchstaben ltлgt (asymp ltlgt) ltпgt (asymp ltpgt) ltнgt (asymp ltngt) und ltиgt (asymp ltigt) untereinander anzunehmen sein

Der sprachspezifische Anteil der Wissensbasis kann zB allgemeine statistische Erkenntnisse uumlber die Verteilung von Graphemen in Wortformen der betr Sprache verwenden danach wuumlrde etwa ein gelesenes ltsehoumlngt im Deutschen ohne weiteres zu schoumln nicht aber zu sehen zu korrigieren nahegelegt da das ltoumlgt aufgrund seiner Seltenheit gewissermaszligen eine lectio difficilior gegenuumlber ltegt darstellt (und schwerlich fuumlr dieses verlesen sein kann) waumlhrend von den beiden Zeichenfolgen ltsehgt und ltschgt die letztere eine klare statistische Praumlponderanz fuumlr sich hat Im gleichen Sinne koumlnnten Regelungen der Groszlig- und Kleinschreibung beruumlcksichtigt werden die ihrerseits mit der morphologischen Bestimmung einhergehen sollten so haumlngt zB bei einer Verlesung von Guumltern als Gutem die Plausibilitaumlt der letzteren Form davon ab ob sie ndash als Adjektiv ndash in einer Umgebung erscheint die einen initialen Groszligbuchstaben erwarten laumlszligt oder nicht

Damit ist bereits angedeutet daszlig eine wirklich zuverlaumlssige Texterken-nung bei der Plausibilitaumltsanalyse noch einen Schritt weiter gehen muszlig naumlmlich bis hin zu einer syntakto-semantischen Uumlberpruumlfung Gutem ist ja eine vollkommen korrekte Wortform des Deutschen kommt allerdings im Vergleich zu Guumltern obwohl ebenfalls ein Dativ mit groszligem ltGgt in nur sehr reduzierten syntaktischen Konstellationen vor naumlmlich entweder satzeinleitend als Adjektiv ohne vorangehenden Artikel (etwa Gutem Brauch folgend schlieszligt sich der Landrat)5 oder als substantiviertes Adjektiv ebenfalls ohne Artikel (etwa bdquoob er nach Gutem oder Boumlsem

4 Erstaunlicherweise werden in den meisten kommerziellen OCR-Programmen nicht einmal derartig banal anmutende Regelungen beruumlcksichtigt Auch lassen sie sich nicht in die von den Programmen verwendete Wissensbasis integrieren da selbst bdquotrainierbareldquo Programme normalerweise nur Zeichenformen zu speichern erlauben nicht jedoch spezi-fische distinktive Merkmale von Zeichen oder graphotaktische Regeln5 S httpwwwodenwaldkreisdeindexpfunktion=presseartikelphpampselected =1ampid=848 (1912007)

Jost Gippert40

jagtldquo)6 Eine Entscheidung zwischen Guumltern und Gutem setzt also eine syntaktische Analyse voraus die zumindest die umgebenden Wortfor-men mit beruumlcksichtigen muszlig hierbei koumlnnen statistische Angaben uumlber sog bdquoKollokationenldquo Entscheidungshilfen bilden7 In anderen Faumlllen wie etwa bei dem ndash graphisch minimalen ndash Unterschied zwischen Tochter und Toumlchter wird nicht einmal durch Informationen aus der syntaktischen Umgebung immer eindeutig geklaumlrt werden koumlnnen ob eine gegebene bdquoLesungldquo richtig ist man vgl zB die Lesungen ltdie juumlngere Tochtergt und ltdie juumlngeren Tochtergt wo die Endungen der attributiven Adjektive im Verbund mit den Artikelformen Eindeutigkeit herstellen waumlhrend in gelesenem ltIch sehe seine Tochtergt (gegenuumlber ltIch sehe seine Toumlchtergt) ohne Kenntnis des Kontextes keine Entscheidung fuumlr die Singular- oder die Pluralform moumlglich ist Wie sehr die morphologische Bestimmung von syn-takto-semantischen Vorgaben abhaumlngen kann zeigt sich nicht zuletzt bei homonymen Wortformen die unterschiedlichen morphologischen Klas-sen zugehoumlren man vgl zB das Verb zugreifen gegenuumlber dem Komposi-tum Zugreifen = Zug + Reifen oder das Partizipialadjektiv vereinzelt gegenuumlber dem Kompositum Vereinzelt = Verein + Zelt

Auch das bdquogemischt-morphologischeldquo Verfahren zur Unterstuumltzung der Texterkennung hat also Grenzen die auch mit groszligen Datenmengen nicht leicht zu uumlberbruumlcken sein werden Hier duumlrften auf laumlngere Sicht Verfahren der statistischen Untermauerung durch Kollokationen eine entscheidende Rolle spielen Morphologisches Wissen bleibt dabei aber mit Sicherheit ein unverzichtbarer Bestandteil

12 Spracherkennung

Der Einsatz morphologischer Verfahren unterliegt bei der Spracherkennung ganz aumlhnlichen Bedingungen wie bei der Texterkennung Auch hier geht es um eine eindeutige Bestimmung sprachlicher Formen bei der digitalen

6 Goethe Werke I Abtlg Bd II 1888 S 246 ndash Theoretisch sollte ein gut fundiertes bdquogemischtesldquo System auch in der Lage sein Druckfehler stillschweigend zu korrigieren dies duumlrfte jedoch immer dann ausgeschlossen sein wenn das verdruckte Wort eine morphologisch bdquokorrekteldquo Form darstellt wie etwa im Falle von fuumlr ltVerballhornungengt verdrucktem ltVerbalhornungengt = VerbalHornungen Hier mag selbst eine kollokationsbasierte semantische Analyse scheitern wenn der Druckfehler in einem sprachwissenschaftlichen Kontext auftritt der ua auch Woumlrter wie Verbalflexion aufweist (so bei Hoffmann Altiranisch S 10 = Aufsaumltze I S 67 Z 6 vu bzw S 16 73 Z 11)7 Vgl hierzu das Projekt bdquoKollokationen im Woumlrterbuchldquo der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften s httpwwwbbawdebbawForschungForschungspro-jektekollokationendeueberblick

Sprachliche Morphologie digitalisiert 41

Erfassung von Aumluszligerungen Ein Unterschied zur Texterkennung besteht nur darin daszlig die graphische Komponente entfaumlllt da die zugrundelie-genden Daten nicht schriftlich dh zeichenkettenbasiert sondern muumlndlich (und als akustisches Signal digitalisiert) vorliegen An die Stelle der bdquographo-taktischenldquo Entscheidungshilfen muumlszligten hier wenn man ein bdquogemischtesldquo Verfahren anstrebt deshalb phonotaktische Statistiken treten Die Not-wendigkeit einer Einbindung morphologischer Analyseverfahren bleibt davon unberuumlhrt

13 Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung

Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Anwendungsbereichen setzt die Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung eine Stufe spaumlter an naumlmlich bei einem schon existierenden digital vorliegenden Text Unabhaumlngig davon ob dieser von Hand eingegeben oder via OCR oder Spracherkennung generiert wurde geht es hier jedoch wieder um genau dieselbe Art von Plausibilitaumltspruumlfung wie sie oben als Bestandteil des Erkennungsprozesses beschrieben wurde Ein klarer Unterschied besteht gegenuumlber der Texterkennung lediglich in der Hinsicht daszlig bei von Hand eingegebenen Texten nicht dieselben bdquographotaktischenldquo Vorgaben gelten da beim bdquoTippenldquo systematisch andere Buchstaben verwechselt werden als beim optischen Einlesen naumlmlich typischerweise die auf der Tastatur benachbarten Zeichen (etwa ltigt und ltogt oder ltbgt und ltvgt) Die Einsetzbarkeit morphologischer Verfahren der og Art ist von diesem Unterschied nicht betroffen und solche Verfahren werden von gaumlngigen Textverarbeitungsprogrammen heute bereits weitgehend wenn auch nicht immer zufriedenstellend ausgenutzt8

14 Automatische Uumlbersetzung

Noch eine Stufe spaumlter setzt der Einsatz digitaler Morphologie bei der automatischen Uumlbersetzung an Anders als bei den Plausibilitaumltspruumlfun-gen zur Etablierung eines bdquokorrektenldquo Texts wird hier ein solcher bereits vorausgesetzt bei der morphologischen Analyse geht es dann statt dessen um die Herstellung der Basis fuumlr eine adaumlquate Uumlbersetzung Es entfallen somit grapho- und phonotaktische Begleitverfahren die Probleme rund um

8 So ergibt zB die Uumlberpruumlfung des fehlerhaften Satzes bdquoDas Wortform sbquoMundemrsquo ist unsinigldquo in MS-Word 2003 lediglich die Zuruumlckweisung von bdquoMundemldquo sowie von bdquounsinigldquo der Artikel das wird nicht als falsch erkannt

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Homonymien etc bleiben jedoch bestehen und auch hier muumlssen syntakto-semantische Verfahren vorrangig einbezogen werden

15 Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht

Daszlig die Morphologie ein unabdingbarer Bestandteil des Fremdsprachen-unterrichtsund mehr noch der sprachwissenschaftlichen Ausbildung ist duumlrfte keinem Zweifel unterliegen Digitale Verfahren koumlnnen hier in zweierlei Weise unterstuumltzend eingesetzt werden naumlmlich bei der Analyse fremdsprachiger Textmaterialien im Hinblick auf gegebene Wortformen und umgekehrt bei der Erzeugung von Wortformen Die hierfuumlr zu schaffenden Datenbasen sind im Prinzip dieselben wie die bereits oben beschriebenen Fuumlr weniger anspruchsvolle Anwendungen wird man zunaumlchst mit einem bdquostatischenldquo rein lexikalischen Verfahren operieren koumlnnen das lediglich eine bestimmte (aber erweiterbare) Menge von manuell vordefinierten Wortformen umfaszligt um eine morphologische Analyse beliebiger Wortformen zu ermoumlglichen wird hingegen wieder ein bdquogemischtesldquo Verfahren eingesetzt werden muumlssen bei dem neben Listen lexematischer und nicht-lexematischer Morpheme auch deren Verknuumlpfungsregeln (gegebenenfalls unter Einschluss von Um- und Ablautsphaumlnomenen) verarbeitet sind Beide Verfahren seien kurz an Implementationsbeispielen aus der TITUS-Textdatenbank9 illustriert

151 TocharischWie auch andere TITUS-Texte sind diejenigen des A-tocharischen Corpus10 mit einer relationalen Datenbank verknuumlpft die die Belegstellen jeder einzelnen Wortform umfaszligt und somit einen unmittelbaren Zugriff auf die Beleglage derselben ermoumlglicht dies geschieht durch einfaches Anklicken der betreffenden Wortform im Text oder durch Eingabe in eine Suchmaske Daruumlber hinaus ist das A-tocharische Corpus bereits mit morphologischen Informationen versehen die die Bestimmung von Verbalformen betreffen Klickt man zB auf die in Abb 1 enthaltene Verbalform kumsentildecauml11 so

9 Die Textdatenbank des TITUS-Projekts (bdquoThesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialienldquo) ist online uumlber httptitusuni-frankfurtdetextetexte2htm verfuumlgbar10 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcstochtochatochahtm11 Da der Unicode-Standard noch nicht alle fuumlr die traditionelle Transkription des Tochar-ischen erforderlichen Zeichen umfaszligt sind die toch Texte in der TITUS-Datenbank vorerst in einer Behelfsumschrift wiedergegeben hier vertritt zB ein Majuskel-ltAumlgt das bdquostummeldquo ltaumlgt neben Virāma im Auslaut

Sprachliche Morphologie digitalisiert 43

erfolgt ein Datenbankaufruf der die Analyse der Form ausgibt (s Abb 2) Die Einbettung der Form in ihren paradigmatischen Zusammenhang (sowie ihr Verhaumlltnis zu den entsprechenden B-tocharischen Formen) kann durch ein weiteres Anklicken der Wurzel (kaumlm) abgerufen werden (s Abb 3) Das dahinter stehende Verfahren ist im Sinne der obigen Definition rein bdquolexikalischldquo da jede Verbalform mit ihrer Bestimmung sowie mit dem Verweis auf das jeweilige Lemma (Wurzel) fuumlr sich bereits in der Datenbank abgelegt ist eine eigentliche morphologische Analyse findet also nicht beim Aufruf statt sondern ist bereits vorher (manuell) in die Datenbank eingeflossen (lediglich gewisse graphische Alternationen werden beim Aufruf automatisch bdquoabgefangenldquo)12 Dieses Verfahren empfiehlt sich bei einer Corpussprache mit begrenztem Wortformenvorrat wie dem Tocharischen durchaus zumal wenn die verbale Formenbildung wie in dieser Sprache in erheblichem Maszlige durch ablautbedingte und andere Stammvariationen gekennzeichnet ist und viele Irregularitaumlten aufweist

152 VedischWaumlhrend die bdquohalbautomatischeldquo Analyse im Falle des Tocharischen noch auf das Verbum beschraumlnkt ist steht fuumlr die vedischen Texte in der TITUS-Kollektion bereits ein weitergehendes morphologisches Retrievalsystem zur Verfuumlgung das zumindest die Wortformen der Rgveda-Samhitā voll-staumlndig erfaszligt Auch diese Datenbank ist bdquolexikalischldquo indem saumlmtliche Wortformen in ihr vorab bestimmt und auf ihr jeweiliges Lemma bezo-gen enthalten sind13 lediglich die durch Sandhi entstehende Variation wird durch einen eigenen Regelmechanismus beim Aufruf abgeglichen Dieser kann wiederum durch einfaches Anklicken einer im Text gegebenen Wort-form erfolgen (vgl Abb 4 mit RV 111andashc) ausgegeben wird dann zunaumlchst eine morphologische Bestimmung mit Bedeutungsangabe wie in Abb 5 fuumlr agnim14 Daruumlber hinaus steht bereits eine lemmabezogene Suchmaschine zur Verfuumlgung die fuumlr ein Lexem wie agni- bdquoFeuerldquo saumlmtliche bezeugten

12 Dies betrifft generell den Wechsel zwischen den sog bdquoFremdzeichenldquo und den eigentli-chen Brāhmī-Akṣaras aber auch zB das oe bdquostummeldquo ltaumlgt im In- und Auslaut13 Grundlage ist die RV-Konkordanz von A Lubotsky Bedeutungsangaben greifen zusaumltzlich auf ein von P Schreiner (Zuumlrich) erarbeitetes Digitalisat des Sanskrit-Woumlrter-buchs von K Mylius (mit Ergaumlnzungen des Autors) zuruumlck Die Programmierarbeit wurde im Rahmen des Projekts bdquoAvesta und Rgveda Elektronische Analyseldquo (AUREA 1995-1998 cf httptitusuni-frankfurtdecurricaureaaureahtm) von R Gehrke erbracht14 Die morphologische Bestimmung ist (auch abgesehen von unklaren Wortformen) noch nicht in allen Einzelfaumlllen endguumlltig verifiziert die Retrievalergebnisse sind deshalb als noch nicht verlaumlszliglich gekennzeichnet

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Formen abzurufen gestattet vgl Abb 6 die den Aufruf des bdquoThesaurus-Sucheldquo ausgehend von der Akkusativ-Form agnim zeigt15 und Abb 7 die das mit der Nominativ-Form agniḥ beginnende Suchresultat darstellt Es versteht sich von selbst daszlig eine Datenbank die allein die in der Rgveda-Samhitā auftretenden Wortformen umfaszligt den kompletten vedischen For-menbestand nicht erschlieszligen kann eine Ausweitung im Sinne eines ge-mischten bdquolexikalisch-morphologischenrdquo Verfahrens ist also unumgaumlnglich wenn man die altindische Uumlberlieferung in groumlszligerem Umfang abdecken will Dies gilt umso mehr als eine Ausdehnung auf das epische buddhis-tische und klassische Sanskrit durch die Moumlglichkeiten der Wortkomposi-tion praktisch wieder lexikalische Unendlichkeit mit sich bringt

153 Alt- und NeugeorgischEin bdquogemischtesldquo lexikalisch-morphologisches Verfahren ist in der TITUS-Datenbank zB fuumlr das umfangreiche altgeorgische Textmaterial implementiert worden und zwar fuumlr dessen nominale Bestandteile Hierzu wurde zunaumlchst der Wortbestand der Sammlungen von I Abuladze Z Sarjveladze und H Faumlhnrich16 als Lemmaliste mit deutschen Uumlbersetzungen digitalisiert dann wurden saumlmtliche in der nominalen Formenbildung auftretenden Morpheme (Suffixe Endungen) mit ihren Kombinationsmoumlglichkeiten in einer eigenen Datentabelle erfaszligt Ruft man diesen Datenverbund nun uumlber das Anklicken einer Form wie ġaġadebisay in Mk 13 innerhalb der altgeorg bdquoProtovulgataldquo ab (s Abb 8)17 so erhaumllt man die korrekte Analyse wie in Abb 9 dargestellt ausgegeben Dabei ist zu beachten daszlig bei der Ruumlckfuumlhrung auf das Lemma ġaġadeba‑y bdquoRufenrdquo zunaumlchst die Nominativ-Endung -y und das stammauslautende -a- dieses Verbalnomens (bdquoMasdarrdquo) durch den Endungskomplex -isay verdraumlngt sind und letzterer seinerseits in drei Morpheme zerfaumlllt naumlmlich die Genetivendung is deren sog bdquoemphatischerdquo Erweiterung a sowie die Nominativendung i die nach a als ltygt = [j] repraumlsentiert ist Daszlig die Genetivendung ihrerseits um eine Nominativendung erweitert ist ist im Altgeorgischen durch die Regeln der sog bdquoSuffixaufnahmerdquo bedingt der Genetiv bdquodes Rufensrdquo ist an der gegebenen Stelle von dem im Nominativ

15 S httptitusfkidg1uni-frankfurtdesearchqueryhtm16 Abulaʒe Masalebi 1973 Sarǯvelaʒe Masalebi 1995 Sardschweladse Faumlhnrich Woumlrter-buch 1999 Zugrunde liegt eine elektronische Fassung des letzteren Woumlrterbuchs das die Materialien der beiden erstgenannten mit umfaszligt fuumlr die Bereitstellung sei H Faumlhnrich und Z Sarǯvelaʒe auch an dieser Stelle herzlich gedankt 17 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcacaucageontcinantcinanhtm

Sprachliche Morphologie digitalisiert 45

erscheinenden qmay bdquodie Stimmerdquo als Attribut abhaumlngig18 und diesem nachgestellt und erfordert deshalb die zusaumltzliche Markierung fuumlr den Kasus seines Bezugsworts Die einzelnen Analyseelemente seien noch einmal zusammengefaszligt

Lemmaform ltġaġadebaygt ġaġadebai bestehend aus Verbal-Wz bull +Praumls-Stammbildungssuffix+Masdar-Suffix+Nom-Endung

zu analysierende Form ltġaġadebisaygt ġaġadebaisai bestehend aus bull Verbal-Wz+Praumls-St+Masdar-S+Gen-E+bdquoemphldquo El+Nom-E

Regel Masdar-Suffix gt Oslash_Gen-Endung | Instr-Endungbull

Daszlig ein entsprechendes Analyseverfahren fuumlr das altgeorg Verbum noch nicht entwickelt wurde liegt an der enormen Formenfuumllle durch die dieses gekennzeichnet ist wobei Praumlfixe Suffixe Infixe und Ablaut involviert sind Auch ein solch komplexes System kann jedoch als Regelapparat pro-grammiert werden wie die von Paul Meurer (Bergen) implementierte Verbalformenanalyse des Neugeorgischen beweist19 Man vgl zB die in Abb 10 wiedergegebene Ausgabeseite die die paradigmatische Einbettung der Wortform daumalavs zeigt Die Form ist in korrekter Weise doppelt erfaszligt naumlmlich a) als Futurform bdquoersiees wird ihnsieessie vor ihmihr verbergenldquo und b) als Perfektform bdquoersiees soll ihnsiees sie (Sachen) verborgen habenldquo Dabei ist zu beruumlcksichtigen daszlig sich die beiden For-men allein dadurch unterscheiden daszlig die Markierung des handelnden Subjekts (Agens) in ersterer in der Endung -s steckt in letzterer jedoch in dem praumlradikalen -u- das in der Futurform ein indirektes (bdquoversionalesldquo) Objekt bdquovor ihmihrihnenldquo bezeichnet

Futur daumalavs bull Praumlv+indObjV3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +Subj3Sg

Perfekt daumalavs bull Praumlv+Subj3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +dirObj3Sg

18 Mit der bdquoStimme des Rufens in der Wuumlsteldquo (statt bdquodes Rufersldquo griech τοῦ βοῶντος) zeigt die altgeorg Bibel an der gegebenen Stelle einem Zitat aus Is 403 im uumlbrigen eine bemerkenswerte Uumlbereinstimmung mit der armen Bibel (jayn barbary wtl bdquoStimme des Sprechensrdquo) die auf eine syrische Vorlage weist 19 Die Analyse beruht auf einer Implementierung der morphologischen Angaben in K Tschenkelis Woumlrterbuch s httpmaximosaksisuibnoAksis-wikiGeorgian _ Gram-mar _ Project

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Es sei noch hinzugefuumlgt daszlig auf der Basis eines derartigen umfassenden morphologischen Formengenerators auch eine tiefgehende syntaktische Analyse programmierbar ist ein Prototyp fuumlr das Georgische ist von Paul Meurer als Finite-State-Anwendung auf der Basis der bdquoLexical-Functional Grammarldquo (LFG)20 entwickelt worden (vgl Abb 11)

2 Linguistische Zielsetzungen digital basierter MorphologieAlle bisher behandelten Anwendungsbeispiele setzen linguistisches Wissen voraus fuumlhren jedoch selbst allenfalls in begrenztem Maszlige zu einer Wei-terentwicklung unseres Wissens uumlber einzelne Sprachen oder menschliche Sprache im allgemeinen Dennoch kann die Digitalisierung morpholo-gischer Strukturen auch ihrerseits in erheblichem Maszlige zu linguistischem Kenntnisgewinn beitragen Die betreffenden Einsatzbereiche seien im fol-genden kurz umrissen

21 Einsatzbereich Lexikographie

Elektronische Textcorpora schaffen eine hervorragende Basis fuumlr lexiko-graphische Untersuchungen aller Art bis hin zur Erstellung vollstaumlndi-ger Konkordanzen Um das Textcorpus einer Sprache mit reichhaltiger Flexionsmorphologie lexikographisch in konsistenter Weise auszuwerten bedarf es einer Lemmatisierung die nur dann automatisch erfolgen kann wenn eine korrekte Bestimmung saumlmtlicher Wortformen gewaumlhrleistet ist21 Hierfuumlr ist es erforderlich Verfahren zu implementieren wie sie oben am Vedischen und weitergehend am Georgischen illustriert wurden

22 Einsatzbereich Grammatikographie

Auf der Basis von Textcorpora kann eine Digititalisierung morpholo-gischer Strukturen praktisch in allen Bereichen zur Unterstuumltzung einer grammatischen Beschreibung der betr Sprache eingesetzt werden Dies betrifft zum einen die Morphologie der Sprache selbst insofern je nach Umfang des Corpus mehr oder weniger erschoumlpfende Aussagen zur Gestal-tung und Distribution von Morphemen moumlglich werden Daruumlber hinaus ist

20 S dazu zB Kroeger Approach 200421 Vgl den 1994 publizierten Wortformenindex zu den Schriften Galens (Gippert Index Galenicus) bei dessen Erarbeitung noch nicht auf eine automatische Lemmatisierung des Altgriechischen zuruumlckgegriffen werden konnte Heute 15 Jahre nach der Erarbeitung dieser Wortformenkonkordanz wuumlrden geeignete Mittel fuumlr eine automatische Lemma-tisierung bereitstehen

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die Syntax betroffen insofern sie (als Morphosyntax) die funktionale Ver-wendung von Morphemen zum Gegenstand hat Auch fuumlr die Phonologie kann digitalisierte Morphologie Erkenntnisse bringen soweit sie zB die lautliche Auspraumlgung von Allomorphen und phonotaktische Phaumlnomene an Morphemgrenzen zu untersuchen erlaubt

Dabei ist es zweckmaumlszligig zwei Verfahren zu unterscheiden Das erste das ich bdquointrinsischldquo nennen wuumlrde basiert wieder auf der digitalen Grundstruktur von Text naumlmlich der bdquoZeichenketteldquo (String) ein darauf aufbauendes Auswertungsverfahren (bdquozeichenkettenbasierte Sucheldquo) wird allerdings nur bei (nahezu) eindeutiger Form dh variantenloser Schreibung und bei (nahezu) eindeutigem klar definierbaren Zeichenkontext zufriedenstellende Ergebnisse zeitigen Dies sei am Beispiel gotischer Passivformen illustriert

221 Gotisches PassivDie (wenigen) synthetischen Passivformen des Gotischen sind bekanntlich durch spezifische Endungen gekennzeichnet naumlmlich im Praumlsens Indikativ -za fuumlr die 2PsSg -da fuumlr die 1 und 3PsSg und -nda fuumlr die Pluralpersonen Will man diese Endungen als solche abfragen so muszlig zunaumlchst sichergestellt werden daszlig sich die Abfrage nur auf wortfinales -za bzw -(n)da bezieht diese Einschraumlnkung kann in der TITUS-Suchmaschine durch die Eingabe eines Sternchens als Stellvertreterzeichen fuumlr eine beliebige Zeichenfolge markiert werden das den Wortkoumlrper repraumlsentiert (bdquoWildcardldquo vgl Abb 12 mit der Eingabe fuumlr die Endung -za in der Form za) Die daraufhin ausgegebene Wortformenliste zeigt auf den ersten Blick (s den Ausschnitt in Abb 13) die Unzulaumlnglichkeit dieses Verfahrens auf denn neben den (zwei) gewuumlnschten Passivformen (haitaza bdquodu wirst genannt (werden)ldquo Lk 17622 und us-maitaza bdquodu wirst abgehauen (werden)ldquo Roumlm 1122) finden sich hier in weitaus groumlszligerer Zahl andere Formen die auf -za auslauten wie zB die Komparative maiza und minniza bdquogroumlszliger mehrldquo und bdquokleiner minderldquo (Mt 1111 uouml) oder die substantivischen Dativformen riqiza bdquoder Finsternisldquo (Mt 1027 uouml) und Moseza bdquo(dem) Moseldquo (2Tim 38) Noch weitaus diffuser ist die Liste die bei der Abfrage nach da ausgegeben wird (s den Ausschnitt in Abb 14) denn hier erscheinen insbesondere Praumlteritalformen auf -da (wie zB gaweihaida bdquoer hat geheiligtldquo Jo 1036) in groszliger Zahl

22 Im intr heiszligen = bdquogenannt werdenldquo (gegenuumlber trans jdn (etw tun) heiszligen) mani-festiert sich im Deutschen offensichtlich noch eine Reminiszenz an die fruumlhere Existenz eines (Medio-)Passivs des gotischen Typs

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222 Annotative VerfahrenAngesichts solcher Ergebnisse ergibt sich die Notwendigkeit ein besser geeignetes Verfahren anzuwenden nahezu von selbst Als ein bdquoextrinsischesldquo Verfahren das bereits weithin genutzt wird bietet sich die durchgehende Annotation von Textdaten an Hierbei werden durch ein sog bdquoTaggingldquo vorzugsweise auf der Basis der sog bdquoExtended Markup Languageldquo (XML) die fuumlr eine gezielte Abfrage erforderlichen Daten (Formenbestimmungen Lemmaangaben) in den Text eingebunden so daszlig sie fuumlr gezielte Abfragen verfuumlgbar sind Der Vorteil eines derartigen Verfahrens besteht in der rel frei definierbaren und anpassungsfaumlhigen Informationsstruktur Das Tagging kann in nahezu beliebiger Weise explizit (dh als lesbarer bdquoKlartextldquo) oder implizit (in Form von Abkuumlrzungen Siglen etc) gehalten werden nur Konsistenz muszlig gewahrt bleiben Abb 15ndash16 zeigen zur Illustration eines maximal expliziten Taggings einen Ausschnitt aus dem Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus23 in verschiedenen Darstellungsformen24 Als Beispiel fuumlr ein besonders wenig explizites Annotationsverfahren kann man denselben Ausschnitt aus der urspruumlnglichen Fassung des Corpus (Abb 17) oder den von Han Steenwijk aufbereiteten Slovenischen (Resischen) Katechismus (Abb 18) vergleichen Eines muszlig natuumlrlich klargestellt werden Wie explizit auch immer das Tagging ist ndash es reflektiert auf jeden Fall bereits vorher akkumuliertes linguistisches Wissen

Inwiefern kann ein annotationsbasiertes Retrieval dann uumlberhaupt selbst zum linguistischen Erkenntnisgewinn beitragen Eine ganz wesentli-che Funktion liegt in der Verifikation und Falsifikation von Hypothesen die das Verfahren erlaubt Dabei geht es insbesondere um eine statistische Untermauerung dh die Frage nach der Stringenz linguistischer Annah-men im Hinblick auf in Corpora enthaltene Daten Warum ein Retrieval auf der Basis von Annotationen dabei einer einfachen Suche nach objekt-sprachlichen Zeichenketten uumlberlegen ist sei wiederum an einem Beispiel illustriert

23 S httpwwwikpuni-bonndedtforschfnhd24 Die Ausgabe von XML-Strukturen haumlngt von dem jeweiligen Verarbeitungspro-gramm ab hier dargestellt sind die frei verfuumlgbaren XML-Editoren von firstobject (httpwwwfirstobjectcomdn _ editorhtm) und XMLFox (httpwwwxmlfoxcomdownloadhtm) Auf der Seite httptitusuni-frankfurtdeldlinkshtm sind online verfuumlgbare XML-Werkzeuge zusammengestellt

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223 Echofragen im KaukasusWer die georgische Sprache erlernt wird sich uumlber kurz oder lang wundern daszlig Echofragen in dieser Sprache in spezifischer Weise ausgepraumlgt sind insofern sie mit den auf sie folgenden Antworten durch die Konjunktion da bdquoundldquo verbunden werden man vgl das folgende Beispiel25

Frage ras aḳetebt axla tkven bdquoWas tut ihr geradeldquo

Echofrage+Antwort čven ras vaḳetebt da meored motibul tivas vparcxavt bdquoWas wir tun sbquoUndrsquo ndash wir rechen die zweite Mahd zusammenldquo

Wollte man derartige Konstellationen nun in einem groumlszligeren Corpus des (gesprochenen) Georgischen abfragen so wuumlrde man mit einer rein zeichenkettenbasierten Suche schwerlich in vertretbarer Zeit zum Erfolg kommen da eine Suche nach selbstaumlndigem da sowohl saumlmtliche Belege fuumlr die Konjunktion (und damit das haumlufigste Wort uumlberhaupt) als auch solche fuumlr das homonyme da bdquoSchwesterldquo (NomSg) erbringen wuumlrde Noch schwieriger wuumlrde sich die entsprechende Suche im Svanischen einer der Schwestersprachen des Georgischen gestalten das einen genau entsprechenden Gebrauch der Konjunktion bdquoundldquo kennt Diese lautet hier normalerweise i wie in der woumlrtlichen Entsprechung des obigen Beispiels

Frage im xašdbad atxe sgaumly Echofrage+Antwort nauml im xwašdbad i mēris xwipcxidIn der Position nach vokalischem Auslaut wird das i nun aber als [j] real-isiert und sofern svanische Texte niedergeschrieben werden als solches an das vorhergehende Wort angehaumlngt so daszlig eine Suche nach (selbstaumlndigem) i diese Faumllle nicht erbringen wuumlrde

Frage si zurāl im xašdba bdquoDu Frau was tust du (gerade)rdquo Echofrage+Antwort im xwašdbay ulyāks xwaumlpšwde bdquoWas ich tue lsquoUndrsquo ndash ich schere ein Schafrdquo

25 Die folgenden Beispiele sind dem im Rahmen des Projekts bdquoEndangered Caucasian Languages in Georgialdquo (s httptitusfkidg1uni-frankfurtdeeclingeclinghtm) gesammelten originalsprachlichen Material entnommen Die Beispiele wurden nicht gezielt eruiert sondern sind jeweils Bestandteil ungesteuerter Konversation

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Noch komplexer ist die Sachlage in einer zweiten ihrerseits nicht ver-wandten Nachbarsprache des Georgischen dem Tsova-Tuschischen oder Batsischen Auch hier koumlnnen moumlglicherweise unter georgischem Einfluszlig Echofragen mit den folgenden Antworten durch bdquoundrdquo verbunden sein die Konjunktion liegt dabei jedoch nicht als eigenstaumlndiges Wort (und somit als eindeutig abgrenzbare Zeichenkette) vor sondern manifestiert sich jeweils unterschiedlich in der Laumlngung des auslautenden Vokals des vorangehenden Wortes der seinerseits in anderen Konstellationen getilgt sein kann man vgl das folgende Beispiel

Frage men yar o psṭuyn bdquoWer war diese Fraurdquo Echofrage+Antwort men yarē xaxabuyren bdquoWer sie war (lsquoUndrsquo) ndash sie war aus Xaxabordquo

Es kommen jedoch auch Echofragen ohne eine derartige Laumlngung vor

Frage qēn nānas vux dīen bdquoWas tat (seine) Mutter dannrdquo Echofrage+Antwort nānas vux dīen ndashnān korlacyīen bdquoWas (seine) Mutter tat (Seine) Mutter wurde verhaftetrdquo

Die sich hieraus unmittelbar ergebende Frage nach der Konsistenz des Gebrauchs kann durch eine Zeichenkettensuche in keiner Weise beant-wortet werden da eben kein zu suchendes Zeichen gegeben ist Man wird also um das Phaumlnomen der Echofragen im Kaukasus im Hinblick auf seine Regelhaftigkeit weiter zu untersuchen nicht umhin koumlnnen eine Anno-tation vorzusehen die nicht nur die morphologischen Elemente sondern sogar syntaktische Einheiten (eben Echofragen als solche) markiert

23 Digitale Morphologie und diachrone Untersuchungen

Einen weiteren Einsatzbereich digitalisierter Morphologie innerhalb der Linguistik stellen diachrone Untersuchungen dar Dabei gilt wieder das Grundprinzip daszlig der Einsatz digitaler Verfahren va zur Verifizierung bzw Falsifizierung von an Einzelfaumlllen erarbeiteten Hypothesen dienen kann Auch dies sei durch ein Anwendungsbeispiel aus dem kaukasischen Raum illustriert

Das Svanische faumlllt unter den kartvelischen oder suumldkaukasischen Sprachen insbesondere dadurch auf daszlig es in mehrere Dialekte mit houmlchst unterschied-licher phonologischer Struktur zerfaumlllt Die historischen Veraumlnderungspro-

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zesse die diese Diversitaumlt herbeigefuumlhrt haben umfassen houmlchst komplexe Umlautungen Assimilationen sowie Syn- und Apokopeerscheinungen So wuumlrde man etwa die Form aumlǯhīdx bdquosie sind uumlber euch gekommenldquo des ober-balischen Dialekts auf eine historisch zugrundeliegende Form adǯihīdex zuruumlckfuumlhren die sich uumlber die folgenden vier chronologisch aufeinander-folgenden an das Altirische erinnernden Schritte veraumlndert haben duumlrfte

Umlautung aumldǯihīdex Apokope (Tilgung des Vokals der Auslautssilbe) aumldǯihīdx Synkope (Tilgung kurzer Vokale in geraden Silben) aumldǯhīdx Clustervereinfachung aumlǯhīdxDabei ist zu bemerken daszlig ein anderer Dialekt der lenṭechische die Syn-kope noch nicht vollzogen hat und in aumllteren svanischen Volksliedtexten sogar noch Formen ohne Apokope begegnen

Die historisch anzusetzende bdquoursvanischeldquo Grundform ist nun zugleich auch diejenige die man bei einer morphologischen Analyse von aumlǯhīdx zugrundelegen muszlig Tatsaumlchlich zerfaumlllt diese Form in insgesamt sechs morphologische Elemente naumlmlich das Praumlverb ad bdquoherldquo das Zeichen eines Objekts der 2 Person verbunden mit dem Zeichen der bdquoobjektiven Versionldquo ǯ+i bdquoin Bezug auf dich euchldquo die Verbalwurzel hīd bdquokommenldquo das Suf-fix des Aorists e sowie das Zeichen fuumlr ein Subjekt der 3 Person Plural x von denen aber eben nicht mehr alle in der heutigen oberbal Form als solche bdquosichtbarldquo sind Schematisch

I II III IV V VIad + ǯ + i + hīd + e + xPraumlv + 2PsObj + ObjV + Wz + AorSuff + 3PlSubjaumlǯhīdx

Wie in diesem Fall ist zu erwarten daszlig eine konsistente morphologische Analyse regelmaumlszligig Formen liefern wird die den mutmaszliglichen historischen (ursvanischen) Ausgangsformen zumindest nahekommen Sie koumlnnen damit als Inputformen fuumlr eine (automatische) Verifizierung der postulierten lautgesetzlichen Entwicklungen vom Ursvanischen zu den einzelnen heutigen Dialekten wie auch fuumlr die postulierten interdialektalen Lautentsprechungen dienen26

26 Vgl bereits Gippert Divergences 2000 mit einigen Fallbeispielen

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3 ResuumlmeeDie Perspektiven die die Anwendung digitaler Morphologie in der Sprach-wissenschaft eroumlffnet lassen sich auf der Grundlage der oben behandelten Fallbeispiele in zwei Thesen zusammenfassen

These I Je mehr sprachliche Daten mit morphologischer (und daruumlber hinaus syntaktischer semantischer pragmatischer metrischer) Analyse digital aufbereitet sind auf desto sichererem Boden steht die Theo-riebildung in synchron-deskriptiver und diachron-vergleichender Linguis-tik

These II Durch die Digitalisierung groszliger Datenmengen wird eine (statistische) Verifizierung bzw Falsifizierung sprachwissenschaftlicher Hypothesen nicht nur moumlglich sondern geradezu als methodisches Postu-lat erzwungen

Durch eine entsprechende Aufbereitung sprachlicher Daten die Voraus-setzungen hierfuumlr zu schaffen sehe ich als eine der vorrangigen Aufgaben der heutigen Linguistik an

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Jost Gippert54

Abbildungen

Abb 1 A-tocharischer Textausschnitt (THT 634r 1-3)

Abb 2 Aufruf der Datenbank

Sprachliche Morphologie digitalisiert 55

Abb 3 Paradigma-Ausgabe

Abb 4 Vedischer Textausschnitt (RV 111a)

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Abb 5 Bestimmung der Form agnim

Abb 6 Aufruf der Thesaurus-Suchmaschine

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Abb 7 Ausgabe der Thesaurus-Suche

Abb 8 Mk 12ndash3 in der altgeorgischen bdquoProtovulgataldquo

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Abb 9 Bestimmung der altgeorg Wortform ġaġadebisay

Abb 10 Verbformengenerator fuumlr das Neugeorgische (Paul Meurer)

Sprachliche Morphologie digitalisiert 59

Abb 11 Georgische Syntaxanalyse (Paul Meurer)

Abb 12 Abfrage der gotischen Endung -za

Jost Gippert60

Abb 13 Ausgabeliste von Wortformen auf -za

Abb 14 Ausgabeliste von Wortformen auf -da

Sprachliche Morphologie digitalisiert 61

Abb 15 Annotation (Tagging) im Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus

Abb 16 Dasselbe in systematischer Darstellung

Jost Gippert62

Abb 17 Dasselbe in nicht explizitem Tagging

Abb 18 Implizites Tagging Slovenischer Katechismus

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre

Verbalstammbildung und das Kausativ

Hans Henrich Hock

Since the time of Whitney (1889) western scholarship generally assumes that lsquosecondaryrsquo verb inflections of Sanskrit such as the causative are based on derived stems which are not available in all tense categories while lsquoprimaryrsquo verbs based on roots are not restricted in this way (with certain idiosyncratic exceptions) This approach contrasts with that of Pāṇini according to which lsquosecondaryrsquo formations are based on derived roots rather than stems and these roots behave just like ordinary roots being inflectable in all tense categories I show that Pāṇinirsquos approach provides a more satisfactory account of the Sanskrit facts even though the notion lsquoderived rootrsquo is unorthodox from the present-day perspective and thus constitutes a certain challenge to modern linguistics In addition my paper demonstrates that in the investigation of Sanskrit grammar the work of the indigenous Indian grammarians must be regarded as earlier scholarship on a par with that of western scholars such as Whitney

0 EinleitungSeit Whitney (1889) wird im Allgemeinen angenommen daszlig im Sanskrit (oder Altindoarischen) ein Unterschied besteht zwischen bdquoprimaumlrerrdquo und bdquosekundaumlrerrdquo Verbalstammbildung Etwas vereinfachend kann der Unterschied so dargestellt werden daszlig Sekundaumlrverben (Kausative Desiderative Intensive und Passive) abgeleitete Verbalstaumlmme und daher nicht in allen Tempuskategorien verwendbar sind waumlhrend Primaumlrverben mit gewissen idiosynkratischen Ausnahmen dieser Beschraumlnkung nicht unterliegen Im Gegensatz dazu analysiert Pāṇinis Generativgrammatik (Pāṇini bdquoGrammatikrdquo) die Sekundaumlrverben als nicht auf abgeleiteten Staumlmmen basiert sondern auf abgeleiteten Wurzeln

In diesem Aufsatz versuche ich darzustellen daszlig Pāṇinis Ansatz fuumlr die synchronen Tatsachen eleganter aufkommt und bessere Verallgemeinerungen macht obwohl er mdash und das muszlig zugegeben werden mdash aus heutiger Sicht bdquounorthodoxrdquo anmutet und daher eine gewisse Herausforderung fuumlr die moderne Morphologie darstellt In diesem Zusammenhang ist das Kausativ von besonderer Bedeutung da es den besten Beweis zu liefern scheint fuumlr

Hans Henrich Hock64

die Ansicht daszlig Sekundaumlrkonjugationen sich von der Primaumlrkonjugation grundlegend unterscheiden Mein Aufsatz zielt daher im allgemeinen nur das Kausativ an1

Zusaumltzlich zu der Verteidigung von Pāṇinis Ansatz sollten meine Ausfuumlhrun-gen klar stellen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker keineswegs vernachlaumlssigt werden duumlrfen sondern genauso wie die Arbeiten von Gelehrten wie Whitney als fruumlhere Forschungsansaumltze beruumlcksichtigt wer-den muumlssen

1 Die traditionelle westliche Standard-AnsichtWie bekannt hat das Sanskrit eine Reihe von bdquosekundaumlrenrdquo Verbal- formationen naumlmlich Kausativ Desiderativ und Intensiv zu denen haumlufig auch das Passiv gefuumlgt wird (s aber weiter unten) Vergleiche die Uumlbersicht der von der Wurzel bhr- abgeleiteten Praumlsensflexionen in [1]

[1] a bdquoPrimaumlr-Flexionrdquo bhaacuter-a-ti und biacute-bhar-ti2 traumlgtrsquo b Kausativ bhār-aacutey-a-ti laumlszligt tragenrsquo c Desiderativ buacute-bhūr-ṣa-ti will tragen ist dabei zu tragenrsquo d Intensiv bhaacuteri-bhr-ati sie tragen immer wiederrsquo e Passiv bhri-yaacute-te wird getragenrsquo

Seit Whitney (1889) wird das Verhaumlltnis zwischendiesen Formatio-nen allgemein dahingehend erklaumlrt daszlig die in [1a] Primaumlrverben und die in [1b-e] Sekundaumlrverben seien und daszlig diese Sekundaumlrverben auf einem abgeleiteten Verbalstamm basieren siehe [2]

[2] bdquoSecondary conjugations are those in which a whole system of forms like that already described as made from the simple root [dh die bdquoPrimaumlrformationenrdquo] is made with greater or less com-pleteness from a derivative conjugation-stem and is also usually connected with a certain definite modification of the original radi-cal sensersquo (Whitney 1889 S 360-361)

1 Damit die Darstellung nicht all zu spezialisiert und kompliziert wird beschraumlnke ich mich im allgemeinen auf die Finitformen des Verbums die wichtigste Nicht-Finitform ist das ta-Partizip manchmal auch faumllschlich als Passiv-Partizip des Perfekts bezeichnet (bei Intransitiven ist es aktiv und im fruumlhen Sanskrit hat es eher Gemeinsamkeiten mit dem Aorist)2 Im Unterschied zu den meisten anderen Verbalwurzeln hat bhr- zwei verschiedene bdquoprimaumlrerdquo Praumlsensbildungen

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 65

Whitneys Ansicht wird weitgehend geteilt Zum Beispiel behandeln ThumbHauschild (1959 S 330-357) Mayrhofer (1978 S 93-95) und Renou (1984 S 463-490) alle unter [1b-e] angefuumlhrten Formationen zusammen aber getrennt von der Primaumlrflexion wobei ThumbHauschild und Mayrhofer explizit den Terminus bdquoabgeleitete Konjugationenrdquo verwenden

Eine Variante findet sich bei Macdonell (1916 S 195-207 vs 178-180) Sten-zler (1970 S 52-54 vs 51) und Gonda (1966 S 73-74 vs 72-73) die das Pas-siv separat behandeln (Die Einstellung von Morgenroth (1973 S 158-168) ist in dieser Beziehung ambig)

Waumlhrend in den meisten Faumlllen die Behandlung der Verben in [1b-e] (oder [1b-d]) als Sekundaumlrkonjugationen ohne weitere Diskussion als selbstver-staumlndlich angesehen wird stellt Morgenroth (1973 S 185) bei der Bespre-chung des Kausativs ausdruumlcklich fest daszlig diese Formation bdquozu den sekundaumlren Verben [gehoumlrt] dh zu Verben deren Staumlmme von Verbal-wurzeln abgeleitet sind und eine spezielle Bedeutung habenrsquo

Bevor wir uns weiteren Folgen der westlichen Standard-Ansicht zuwenden ist es vielleicht angebracht kurz die Variante zu besprechen die das Passiv separat behandelt Explizite Ausfuumlhrungen fehlen in den zitierten Veroumlffentlichungen aber es lassen sich wenigstens zwei solcher Begruumlndungen anfuumlhren Die erste hat mit der Tatsache zu tun daszlig das Passiv im Unterschied zu den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo morphologisch auf das Praumlsenssystem und die dritte Person Singular Aktiv des Aorists beschraumlnkt ist auszligerhalb dieser Formationen kann das Passiv nur durch das Medium dargestellt werden das aber auch andere Funktionen erfuumlllt In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert daszlig sich dieses Argument auch bei Whitney findet der sich aber dann doch entscheidet das Passiv bei den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo einzuordnen

[3] bdquoThe passive is classed here as a secondary conjugation because of its analogy with the others in respect to specific value and free-dom of formation although it does not like them make its forms outside the present system from its present-stemrsquo (Whitney 1889 S 361)

Eine weitere Begruumlndung waumlre die folgende Die einheimische indische Grammatik erlaubt Desiderative und Kausative von Intensiven [4a] Kau-sative von Desiderativen [4b] und Desiderative von Kausativen [4c] und die meisten dieser Formation sind auch in Texten bezeugt Kausative von Desiderativen und Desiderative von Kausativen relativ haumlufig die anderen

Hans Henrich Hock66

Formation eher selten3 Zu jeder dieser Formationen kann im Prinzip auch ein Passiv gebildet werden [4arsquo-4crsquo] aber vom Passiv koumlnnen keine anderen bdquoSekundaumlrformationenrdquo abgeleitet werden

[4] a Wurzel vid- wissenrsquo Intensiv ve-vid- Desid des Int ve-vid-i-ṣa-ti Kaus des Int ve-vid-aya-ti b Wurzel āp- erreichenrsquo Desiderativ īp-sa-ti Kaus des Des īp-s-aya-ti c Wurzel pā- trinkenrsquo Kausativ pāy-aya-ti Des des Kaus pi-pāy-ayi-ṣa-ti arsquo Pass des Int ve-vid-ya-te brsquo Pass des Desid īp-s-ya-te crsquo Pass des Kaus pāy-ya-teDiese Verhaumlltnisse sprechen daher fuumlr eine Trennung des Passivs von den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo

2 Empirische Begruumlndung der traditionellen westlichen Standard-AnsichtDie Begruumlndungen fuumlr die separate Einstufung der bdquoSekundaumlrformationenrdquo in der traditionellen westlichen Sanskrit-Grammatik sind eher duumlrftig Wie schon vorher angedeutet ist ein Hauptargument daszlig diese Verbfor-mationen eine spezielle semantische Bedeutung haben die sich von der (unmarkierten) Bedeutung der bdquoPrimaumlrverbenrdquo unterscheidet Wie schon gesehen wuumlrden auf Grund dieses Arguments das Passiv und die anderen bdquoSekundaumlrverbenrdquo zusammen gegliedert obwohl das Passiv in der Deriva-tion ein ganz anderes Verhalten zeigt

Das einzige weitere haumlufiger angebrachte Argument ist historischer Art Es beruht auf der Ansicht daszlig die sogenannten Sekundaumlrverben urspruumlnglich auf das Praumlsenssystem (Praumlsens Imperfekt und vom Praumlsens abgeleitete Partizipen) beschraumlnkt waren und erst sekundaumlr auf andere Tempussysteme ausgedehnt wurden Siehe z B das folgende Zitat von Whitney

3 Beispiele von Whitney 1889 S 372 377 386

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 67

[5] bdquoIn these [secondary or derivative conjugations] a conjugation stem instead of the simple root underlies the whole system of inflection Yet there is clearly to be seen in them the character of a present-system expanded into a more or less complete conjuga-tion and the passive is so purely a present-system that it will be described in the chapter to that part of the inflection of the verbrsquo (Whitney 1889 S 203-204)

Indirekt wird diese Ansicht unterstuumltzt durch das besondere Verhaumlltnis des dem Kausativ zugehoumlrigen reduplizierten Aorists der dem Anschein nach nicht vom Kausativstamm gebildet wird sondern suppletiv direkt von der Wurzel Siehe zB das Verhaumlltnis zwischen [6a-d] und [6e]

[6] a Praumlsens bhārayati b Futur bhārayiṣyati c Passiv bhāryate d ta-Partizip bhārita- e Perfekt bhārayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist abībharat (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Vergleiche in dieser Hinsicht die Ausfuumlhrungen von Whitney und Macdonell wobei die letztere durch ihre historische Begruumlndung besonders auffaumlllt

[7] bdquoThe aorist of the causative conjugation is the reduplicated which in general has nothing to do with the causative stem but is made directly from the rootrsquo (Whitney 1889 S 383)

[8] bdquoThough (with a few slight exceptions) unconnected in form with the causative it has come to be connected with the causative in sense helliprsquo (Macdonell 1916 S 173)

Ein weiteres historisches Argument wird von ThumbHauschild angedeutet naumlmlich daszlig das periphrastisch gebildete Perfekt [6e] erst sekundaumlr dem Kausativsystem zugefuumlgt ist

[9] bdquohellip und somit ist das periphrastische Perfekt nur das Ergebnis einer sprachlichen Auslese welche es ermoumlglichte zu abgeleiteten Verben (wie den Causativstaumlmmen) hellip ein besonderes Perfekt zu bildenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 295)

Ein aumlhnlicher Vorschlag findet sich wiederum bei ThumbHauschild in Bezug auf das Passiv [6c] das zwar dieselbe Wurzelform wie die anderen

Hans Henrich Hock68

nicht-aoristischen Formen hat bei dem aber das normale Suffix -aya- fehlt4

[10] bdquoDaszlig es sich auch hier hellip um junge Neubildungen handelt ergibt sich schon aus der Chronologie dieser Formen sie beginnen erst in den Brāhmaṇas gelegentlich aufzutretenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 344)

3 Probleme des traditionellen westlichen AnsatzesObwohl die historischen Erklaumlrungen fuumlr die verschiedenen Formen im groszligen Ganzen stimmen sind solche historischen Begruumlndungen synchron belanglos Die synchrone Grammatik sollte nur fuumlr die synchronen Tatsachen- verhaumlltnisse aufkommen

Sehen wir uns also kurz an was der traditionelle westliche Ansatz uumlber diese Verhaumlltnisse auszusagen hat und welche Probleme sich dabei herausstellen

Um die Futurformen [6b] und aumlhnliche Formationen wie den Infinitiv zu erklaumlren wird allgemein angenommen daszlig das -a- des Praumlsenssuffixes -aya- abgeworfen wird und zwischen das -ay- und das Futursuffix der sogenannte Bindevokal (bdquounion vowelrdquo) eingeschoben wird der sich fakul-tativ oder obligat in vielen anderen Formen findet

Wie schon oben angedeutet nimmt man fuumlr das Passiv [6c] an daszlig das ganze Praumlsenssuffix abgeworfen wird so daszlig das Passivsuffix direkt an die Kausativwurzel angefuumlgt wird Die Analyse ist aumlhnlich fuumlr das ta-Partizip [6d] nur daszlig hier der Bindevokal vor das ta-Suffix eingeschoben wird

Die Tatsache daszlig das Perfekt periphrastisch gebildet wird mit dem urspruumlnglichen Akkusativ Singular eines vom Praumlsensstamm abgeleiteten deverbalen Nomens plus Auxiliar [6e] wird in manchen Veroumlffentlichungen (zB Whitney und ThumbHauschild) verglichen mit aumlhnlichen aber etwas selteneren Formationen die direkt von der Wurzel gebildet werden wie zB die in [11] angefuumlhrten

[11] vid- wissenrsquo (Praumls vetti5) Perf vidāṁ cakāra īkṣ- schauenrsquo (Praumls īkṣate) Perf īkṣāṁ cakre

4 Fuumlr das ta-Partizip [6d] siehe Sektion 35 Neben dem unreduplizierten Perfekt veda das wie vetti Praumlsensfunktion hat

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 69

Die Formation die die groumlszligten Schwierigkeiten verursacht ist der redu-plizierte Aorist [6f] Waumlhrend beim Passiv und ta-Partizip die Gestalt der Wurzel die gleiche ist wie im Praumlsensstamm (zB bhār- wie in bhārayati) scheint die Wurzelform des reduplizierten Aorists (abībharat mit Voll-stufe bhar) voumlllig verschieden zu sein von der Wurzel des Praumlsensstamms (bhārayati mit Dehnstufe bhār) Das Verhaumlltnis scheint also suppletiv zu sein und die synchrone Analyse scheint daher mit der historischen Inter-pretation uumlbereinzustimmen

Dieser Anschein aber truumlgt Wie aus Daten wie denen in [12] erhellt sind gewisse Wurzelveraumlnderungen des Praumlsensstammes6 nicht nur in den For-men zu finden die allgemein als vom Praumlsensstamm abgeleitet angesehen werden [12a-e] sondern auch im reduplizierten Aorist [12f]

[12] a Praumlsens sthā-p-aya-ti (Wurzel sthā ῾stehenrsquo) b Futur sthā-p-ayi-ṣya-ti c Passiv sthā-p-ya-te d ta-Partizip sthā-p-i-ta e Perfekt sthā-p-ayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist a-ti-ṣṭhi-p-a-t (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Die allgemeine Antwort auf dieses Problem liegt in der Annahme daszlig diese Form des Aorists synchron anomal und irgendwie aus dem Praumlsens-stamm uumlbertragen ist siehe zB [13] (Aumlhnliches bei Gonda 1966 S 65 und Stenzler 1970 S 47)

[13] bdquoIn a few cases where the root has assumed a peculiar form before the causative sign mdash as by the addition of a p or ṣ hellip mdash the redu-plicated aorist is made from this form instead of the simple root thus atiṣṭhipam from sthāp (stem sthāpaya) for sthā hellip the only other example from the older language is bībhiṣa from bhīṣ for bhīrdquo (Whitney 1889 S 384)

Die Folgen dieser Anschauung sind am deutlichsten in der Organisation von Whitneyrsquos (1885) zu erkennen wo bdquoregelmaumlszligigerdquo Formen wie [6f] als normale Aoristformen angefuumlhrt werden waumlhrend Formen wie [12f] unter dem Kausativeintrag erscheinen7 Siehe [14a] vs [14b] wo die relevan-ten Aoristformen durch (von mir zugefuumlgten) Fettdruck gekennzeichnet sind

6 Die meisten dieser Veraumlnderungen haben die Wurzelerweiterung -p- aber es gibt auch andere (zB -ṣ- fuumlr die Wurzel bhī fuumlrchtenrsquo)7 Siehe Whitney 1885 svv

Hans Henrich Hock70

[14] a Formen der Wurzel bhr tragenrsquo Pres [3] biacutebharti biacutebhrati hellip mdash [1] hellip bhaacuterati ndashte hellip mdash [2] bharti hellip Perf babhāra hellip Aor 1 bhartaacutem hellip mdash 3 bībharas hellip mdash 4 abhārṣīt hellip Fut 1 bhariṣyaacuteti hellip mdash 2 bhartā hellip hellip Sec Conj hellip Caus bhārayati

b Formen der Wurzel sthā stehenrsquo Pres [1] tiacuteṣṭhati hellip Perf tasthāuacute hellip Aor 1 aacutesthāt hellip mdash [4] [sthāsīṣṭa] hellip Fut 1 sthāsyaacuteti hellip mdash 2 sthātā hellip hellip Sec Conj hellip Caus sthāpayati hellip (aacutetisthipat etc VB hellip sthāpyate hellip -sthāpayiṣyati B)

Nur bei ThumbHauschild und Macdonell finden sich etwas bessere Beschrei-bungen siehe [15] Dabei wird aber vernachlaumlssigt daszlig die dem -p- vorangehende Wurzelform eben nicht mit der des Praumlsensstamms uumlbereinstimmt Auszligerdem werden die Konsequenzen der Annahme daszlig der Aorist den Praumlsensstamm oder einen Teil des Praumlsenssuffixes enthaumllt nicht durchgesprochen

[15] a bdquohellip der reduplizierte Aorist von p-Causativa hellip wird nicht von der Wurzel sondern von dem Causativstamm gebildetrsquo (ThumbHauschild 1959 S 343)

b bdquoThe initial of the suffix is retained from the causative stems jntildeā-paya hellip thus a-ji-jntildeip-at helliprsquo (Macdonell 1916 S 175)

Als Fazit laumlszligt sich also sagen daszlig der traditionelle westliche Ansatz zwar irgendwie fuumlr die synchronen Tatsachen aufkommt aber keine konse-

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 71

quenten grammatischen Verallgemeinerungen liefert die es ermoumlglichen koumlnnten die Aoristformen mit Wurzelerweiterung (Typus [12f]) zu erklaumlren

4 Der juumlngste westliche Versuch (Stump 2005)Obwohl der kuumlrzlich erschienene Aufsatz von Stump (Delineating 2005) als Hauptthema die theoretische Frage hat ob das Kausativsuffix -aya- Flexionsklasse oder Derivation markiert bespricht er auch noch einmal eingehend die verschiedenen Formationen des Kausativs und bietet zudem eine Alternativanalyse von -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassen-marker -a- an

Wie im tradionellen westlichen Ansatz sieht Stump den reduplizierten Aorist als suppletiv an Zusaumltzlich interpretiert er das Fehlen des Kausativ- suffixes -aya- im Passiv und im ta-Partizip als Anzeichen dafuumlr daszlig die-ses Suffix nur Flexionsklasse markiert (fuumlr die Formationen in denen es erscheint) und nicht der Ableitung dient Wie die meisten traditionellen westlichen Forscher behandelt er in diesem Verfahren die bdquoroot modifica-tionsrdquo (Dehnstufe der Wurzel und Wurzelerweiterung -p-) als im Effekt nebensaumlchlich Soweit der Hauptteil seines Artikels der sich also nicht wesentlich von dem traditionellen westlichen Ansatz unterscheidet

In einer Art Anhang aber erwaumlgt Stump eine Alternativloumlsung die wenig-stens das Potential zu einem neuen Ansatz hat Dies ist der Vorschlag daszlig -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassenmarker -a- analysiert wer-den kann Der Vorteil dieses Ansatzes ist daszlig die Futurform des Typus bhārayiṣyati [6b] leichter erklaumlrt werden kann naumlmlich als Kausativ-stamm bhār-ay- plus Futursuffix -syaṣya- (mit vorhergehendem Binde-vokal) Zusaumltzlich kann nun das ta-Partizip des Typus bhārita- [6d] vom Stamm bhār-ay- abgeleitet werden unter der Annahme daszlig das dem -ta- vorausgehende -i- die Nullstufe des Suffixes -ay- darstellt da Nullstufe vor dem ta-Suffix vorherrscht

Man koumlnnte sogar einen Schritt weitergehen und das Passiv bhār-ya-te [6c] vom Stamm bhār-ay-ableiten unter der Annahme daszlig auch hier das Kau-sativsuffix -ay- in der Nullstufe -i- erscheint da auch vor dem Passivsuffix Nullstufe vorherrscht Der Schwund dieses -i- koumlnnte dann erklaumlrt werden

Hans Henrich Hock72

als Parallelerscheinung zum Schwund des -i- der sogenannten seṭ-Wurzeln das auch im Passiv schwindet aber nicht im ta-Partizip8 siehe [16]

[16] Kausativ mit Suffix in Nullstufe seṭ-Wurzel Grundform bhār-i- pat-i-fliegen fallenrsquo ta-Partizip bhār-i-ta- pat-i-ta- Passiv bhār-ya-te pat-ya-teVom theoretischen Standpunkt ist aber Stumps Alternativloumlsung schwierig da er annimmt daszlig sowohl das Suffix -ay- als auch das fol-gende -a- Flexionsklassenmarker sind Eine solche Serialisierung von zwei Flexionsklassenmarkern scheint ziemlich ungewoumlhnlich und sollte durch eingehendere Argumente begruumlndet werden

Letzten Endes leidet Stumps Analyse also unter denselben Schwierigkeiten wie der traditionelle westliche Ansatz vor allem dadurch daszlig die im Aorist erscheinende Wurzelerweiterung -p- nicht motiviert ist

5 Die bdquoWurzelrdquo-Analyse von Pāṇini9

In manchen Gesichtspunkten beruumlhrt sich Pāṇinis Grammatik mit der Alternativloumlsung Stumps in anderen mit dem traditionellen westlichen Ansatz aber in Bezug auf die theoretische Perspektive ist sie grundver-schieden dadurch daszlig sie statt eines Kausativstamms eine abgeleitete Kausativwurzel postuliert

Pāṇinis Grammatik ist generativ und operiert mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen die oft grammatische Marker enthalten die nur dazu dienen gewisse Regeln in Kraft zu setzen oder zu steuern (wie zB Regeln uumlber Ablaut) die fuumlr viele phonetische Prozesse unsichtbar sind und die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Um das Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten zu erleichtern gebe ich im Folgenden statt Pāṇinis Sūtras (dh Regeln) Zusammenfassungen der durch diese Sūtras gemachten Verallgemeinerungen mit Hinweis auf Buch Kapitel und Sūtra

Pāṇini fuumlhrt verschiedene abgeleitete Verbalformationen in 315-3131 ein Diese schlieszligen das Desiderativ (315-7) Intensiv (3122-24) und fuumlr uns wichtig das Kausativ (3126) ein Das letztere wird eingefuumlhrt unter der

8 In Wurzeln mit Resonant vor dem seṭ -i finden sich im ta-Partizip kompliziertere Alternationen 9 Mit gewissen Veraumlnderungen findet sich Pāṇinis Ansatz in den meisten modernen indischen Grammatiken des Sanskrit wie zB Kale 1894

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 73

Bedingung daszlig ein bdquoVerursacherrdquo des Kausativs (hetu) vorliegt und die Formation enthaumllt einen Pratyaya (asymp Suffix10) ṇic wobei ṇ und c gram-matische Marker sind Der Pratyaya ist daher nur i das auf Grund des Ablautsystems mit e vorvokalisch ay alterniert11

Die Sūtras die diese Formationen einfuumlhren werden direkt gefolgt durch 3132 wonach all diese Formationen Wurzeln (dhātus) sind

Schlieszliglich fuumlhrt 7336 die Erweiterung -p- nach gewissen Wurzeln ein Wichtig ist dabei daszlig die Erweiterung zwischen die Wurzel und den Kausativ- Pratyaya i eingefuumlgt wird so daszlig der ganze dabei entstehende Komplex (zB sthā-p-i) nach 3132 als Wurzel gilt

Dieser Ansatz ist aus mehrerer Hinsicht nuumltzlich Erstens erklaumlrt er daszlig zB Desiderative von Kausativen gebildet werden koumlnnen genau wie von bdquoPrimaumlrwurzelnrdquo (s [4] oben) Zweitens wird dadurch daszlig das Praumlsenssuffix des Passivs in anderem Zusammenhang eingefuumlhrt wird (3167) die Tat-sache erklaumlrt daszlig Desiderative Kausative usw nicht vom Passiv abgeleitet werden koumlnnen Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste erlaubt es die Formation von reduplizierten Aoristen mit Wurzelerweiterung (-p- usw) zu erklaumlren wie weiter unter dargestellt werden soll

Dem Pratyaya des Kausativs folgt im aktiven Praumlsenssystem das bdquoDefaultrdquo-Suffix śap (Implikation von Sūtra 3168) wobei ś und p wiederum gram-matische Marker sind und das p auf Grund anderer Sūtras den Pratyaya i zu ay verstaumlrkt12 Dadurch kommt das -ay-a- des Praumlsenssystems zustande Die Tatsache aber daszlig das abschlieszligende -a- Praumlsenssuffix ist erklaumlrt dann seine Abwesenheit in auszligerpraumlsentischen Formationen wie dem Futur (zB bhāray-iṣya-ti)13 Interessanterweise macht Pāṇini nicht von der Moumlglichkeit Gebrauch das Fehlen des Pratyaya i im Passiv (zB bhār-ya-te) durch Vergleich mit

10 Im Folgenden wird das Sanskrit-Wort Pratyaya gebraucht um einer Fehlinterpreta-tion als Suffix im westlichen Sinne vorzubeugen11 Da fuumlr gegenwaumlrtige Zwecke nur die vorvokalische Variante von Belang ist wird in den folgenden Ausfuumlhrungen nur diese genannt12 In Pāṇinis Grammatik gilt im allgemeinen die Nullstufe (wie zB i) als Grundform und Vollstufe (zB eay) und Dehnstufe (zB aiāy) werden als bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo abge-leitet Zum leichteren Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten gebrauche ich den Terminus bdquoVer-staumlrkungrdquo fuumlr die fuumlr uns wichtige Guṇierung und bdquoNicht-Verstaumlrkungrdquo fuumlr den Gebrauch der Grundform13 Das periphrastische Perfekt wird erklaumlrt nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Eine Endung -ām wird an die Kausativwurzel mit vollstufigem Pratyaya (ay) angefuumlgt und darauf folgt dann die angemessene Perfektform der Wurzel kr tun machenrsquo

Hans Henrich Hock74

dem Fehlen des i in seṭ-Wurzeln (zB pat-ya-te s [16] oben) zu erklaumlren Statt dessen fuumlhrt er ein besonderes Sūtra ein (6451) wonach das i des Kausativs vor dem Passiv-Suffix -ya- getilgt wird wie auch vor anderen zT nominalen Suffixen einschlieszliglich des Aorist-Suffixes caṅ (s unten) Der Grund dafuumlr ist wohl die Tatsache daszlig Pāṇini die seṭ-Wurzeln nicht als besondere Klasse anerkennt sondern das bei ihnen regelmaumlszligig vor Konsonanten (auszliger y) vorkommende -i nicht von dem oft nur fakultativen i unterscheidet welches nachkonsonantisch vor fast allen konsonantisch anlautenden Suffixen eingeschoben werden kann wie zB in rakṣ-i-tum Infinitiv der Wurzel rakṣ- behuumlten kontrollierenrsquo14 (Dieser i-Einschub der Bindevokal der westlichen Tradition ist unter anderem fuumlr das -i- des Futurs bhāray-i-ṣya-ti und aumlhnlicher Formen verantwortlich) Fuumlr Pāṇini ist daher bei Formen wie pat-ya-te kein Grund zur Annahme einer i-Tilgung diese ist nur noumltig fuumlr das Kausativ Andererseits ist aber bei Pāṇini das Prinzip der Tilgung von Suffixen und anderen Element so fest verankert daszlig die i-Tilgung im Passiv des Kausativs (und aumlhnlichen Formen) keineswegs ad hoc ist Eine Uumlbersicht der relevanten Regel- anwendungen findet sich in [17] weiter unten

Auch im Falle des ta-Partizips nimmt Pāṇini nicht die Gelegenheit wahr das -i- in Formen wie bhār-i-ta- als das nicht verstaumlrkte -i- des Kausativ-Pratyayas zu interpretiern Statt dessen operiert er mit der Annahme eines i-Einschubs nach der Kausativ-Wurzel und vor der Endung -ta- Vor diesem i erleidet dann das Kausativ-i- dieselbe Art von Tilgung (in diesem Fall nach 6452) wie vor dem Passiv-Suffix -ya- Der Grund hierfuumlr mag zum Teil der sein daszlig auf diese Weise die Formation des ta-Partizips vom Kausativ parallel ist zu der entsprechenden Formation des Desiderativs und anderer abgeleiteter Wurzeln bei denen ebenfalls ein i vor dem ta-Suffix eingeschoben wird (Siehe die Illustration der Regelan-wendungen in [17] unten)

Zum Teil aber mag der Grund auch darin liegen daszlig die Annahme eines regelmaumlszligigen i-Einschubs vor mit t anlautenden Suffixen es ermoumlglicht fuumlr die Form des Absolutivs (oder Konverbs) des Kausativs aufzukommen wie zB bhāray-i-tvā getragen habend nach dem Tragenrsquo Das Schwierige an dieser Form ist daszlig das Suffix -tvā normalerweise die unverstaumlrkte Form der vorhergehenden Wurzel verlangt (wie z B in i-tvā gegangen seiend nach dem Gehenrsquo von der Wurzel i-) Das verstaumlrkte -ay- von bhāray-i-tvā verlangt daher nach einer besonderen Erklaumlrung Diese liegt bei Pāṇini in der Annahme daszlig eine Form mit -i-Einschub zu Grunde liegt (also

14 Die zustaumlndigen Sūtras sind 7235-100 mit 724-34

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 75

bhāri-i-tvā) und daszlig in dieser Konfiguration der normale Effekt des -tvā aufgehoben ist (1218) bhāri-i-tvā erleidet daher Verstaumlrkung des Kausativ-Pratyayas i zu -ay- wodurch bhāray-i-tvā zu Stande kommt Siehe die Zusammenfassung in [17]

[17] ta-Partizip Passiv Absolutiv bhāri-ta- bhāri-ya-te bhāri-tvā i-Einschub bhāri-i-ta- bhāri-i-tvā Verstaumlrkung bhāray-i-tvā i-Tilgung bhār-i-ta- bhār-ya-teAuf jeden Fall sollte bemerkt werden daszlig bei Pāṇini die Aumlhnlichkeit zwischen dem i-Pratyaya das Kausativs und dem -i- des ta-Partizips nur zufaumlllig ist

Bis zu diesem Punkt leistet Pāṇinis Grammatik ungefaumlhr dasselbe wie der traditionelle westliche Ansatz und vor allem wie Stumps Alternativloumlsung auszliger natuumlrlich der Tatsache daszlig er mit Wurzeln statt Staumlmmen arbeitet

Wenn wir uns der Erklaumlrung des reduplizierenden Aorists zuwenden koumlnnen wir sehen daszlig sich Pāṇinis Grammatik von westlichen Ansaumltzen grundlegend unterscheidet und daszlig die bdquoWurzeltheorierdquo erklaumlren kann was die bdquoStammtheorierdquo nicht erklaumlrt

Der Flexionsmarker des reduplizierten Aorists caṅ wobei c und ṅ gramma-tische Marker sind wird in 3148 nach dem Kausativ-Pratyaya und gewissen primaumlren Wurzeln eingefuumlhrt Die diesem Flexionsmarker vorausgehende Wurzel wird nach 6111 redupliziert und der Vokal der Reduplikations-silbe wird unter gewissen Umstaumlnden gelaumlngt (7493-94) Fuumlr uns wichtig ist was mit der zwischen Reduplikationssilbe und Flexionsmarker -a-15 stehenden Kausativwurzel geschieht

Erstens verliert die Wurzel ihr -i- nach 6451 derselben Regel die das i vor dem Passiv-Suffix -ya- tilgt (s oben) Zweitens wird ein Wurzelvokal gekuumlrzt dem nur ein Konsonant folgt (741) Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste lehrt das Sūtra 745 daszlig das ā der Wurzel sthā- unter denselben Umstaumlnden dh wenn nur ein Konsonant folgt durch i ersetzt wird Diese Regel kann aber nur dann zur Anwendung kommen wenn die Wurzel die Erweiterung -p- enthaumllt da nur unter diesen Umstaumlnden dem ā der Wurzel noch ein Konsonant folgt (Siehe die Darstellung in [18])

15 Das heiszligt caṅ ohne die grammatischen Marker c und ṅ

Hans Henrich Hock76

[18] Wurzel Wurzel ohne p-Erweiterung mit p-Erweiterung (bhr) (sthā) Aorist Einsatzform16 bhāri-a- sthāpi-a-i-Tilgung bhār-a- sthāp-a-Reduplikation bi-bhār-a- ti-ṣṭhāp-a-Wurzelschwaumlchung bi-bhar-a- ti-ṣṭhip-a-Oberflaumlchenform17 a-bī-bhar-a-t a-ti-ṣṭhip-a-t

Wir koumlnnen daher folgern daszlig im Gegensatz zu westlichen Ansaumltzen Pāṇinis Grammatik eine elegante und system-konsequente Erklaumlrung fuumlr das Vorkommen der kausativen Wurzelerweiterung p im reduplizierten Aorist bietet und daszlig in dieser Beziehung die bdquoWurzeltheorierdquo produktiv ist

6 Zusammenfassung und ImplikationenWie wir gesehen haben liefert Pāṇinis bdquoWurzeltheorierdquo eine methodische Erklaumlrung des kausativen Aorists die traditionellen westlichen bdquoStammtheorierdquo-Ansaumltzen bisher nicht gelungen ist Gleichzeitig aber muszlig betont werden daszlig die Annahme von abgeleiteten bdquoWurzelnrdquo aus der Perspektive der westlichen grammatischen Tradition(en) aumluszligerst ungewoumlhn- lich ist Es fragt sich daher ob und wie weit sich die Einsichten von Pāṇinis Ansatz in einer bdquoStammtheorierdquo replizieren lassen Ich uumlberlasse etwaige Antworten auf diese Frage anderen Forschern und wende mich nur kurz einigen weiteren Implikationen zu

Erstens erhebt sich die Frage inwieweit sich Pāṇinis Ansatz veraumlndern lieszlige so daszlig zB die Aumlhnlichkeit zwischen dem -i- des ta-Partizips und dem -iay- des Kausativs nicht zufaumlllig sondern signifikant waumlre Da Pāṇinis Grammatik im wahrsten Sinne des Ausdrucks ein Gebilde ist in dem bdquotout se tientrdquo wuumlrde ein Versuch die Erklaumlrung des ta-Partizips zu aumlndern dazu fuumlhren daszlig die gesamte Struktur der Grammatik uumlberdacht und umgeaumlndert werden muumlszligte Ein solches Unterfangen waumlre fuumlr normale Sterbliche unerreichbar

16 Zur Vereinfachung der Darstellung wird hier angenommen daszlig gewisse andere Regeln (wie die Tilgung der grammatischen Marker) schon eingetreten sind17 Dritte Person mit Anwendung weiterer Regeln

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 77

Zweitens wirft Pāṇinis Ansatz die Frage auf inwieweit die weit verbreitete Ansicht aufrecht zu erhalten ist daszlig Primaumlr- und Sekundaumlrflexion sich grundlegend unterscheiden In dieser Hinsicht ist beachtenswert daszlig selbst Whitney sich in dieser Hinsicht nicht so ganz sicher war wie das Zitat in [19] erhellt

[19] bdquohellip Nor is there any distinct division-line to be drawn between tense-systems and derivative conjugations the latter are present-systems which have been expanded into conjugations by the addi-tion of other tenses and of participles infinitives and so on hellip rsquo (Whitney 1889 S 361)

Schlieszliglich hoffe ich daszlig meine Ausfuumlhrungen zu der Einsicht verhelfen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker unter allen Umstaumlnden beruumlcksichtigt und als fruumlhere Forschung betrachtet werden muumlssen genau so wie die Arbeiten von Forschern wie Whitney oder Stump In allen Faumlllen haben wir natuumlrlich nicht nur das Recht sondern die Aufgabe fruumlhere Ansichten kritisch zu betrachten und mdash hoffentlich mdash mit neuen besseren Loumlsungen aufzuwarten Aber eine Vernachlaumlssigung der indischen grammatischen Tradition sollte im Grunde genommen nicht mehr zu rechtfertigen sein

In diesem Zusammenhang waumlre es natuumlrlich fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der indischen grammatischen Tradition hilfreich wenn Werke wie Pāṇinis Grammatik digital in einem geeigneten Format zur Verfuumlgung stuumlnden Zwar gibt es schon mindestens zwei digitale Ver-sionen dieser Grammatik die uumlber GRETIL (Goumlttingen Register of Elec-tronic Texts in Indian Languages httpwwwsubuni-goettingende ebene _ 1fiindologretilhtm) abgerufen werden koumlnnen Wie aber schon angedeutet arbeitet Pāṇini mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen und noch abstrakteren grammatischen Markern die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Dazu kommt daszlig die verschiedenen Regeln (oder Sūtras) thematisch ein-geordnet sind und nicht in der Anordnung in der sie bei bestimmten Formen zur Anwendung kommen Selbst wenn wir die vielen in den obigen Ausfuumlhrungen nicht weiter besprochenen Regeln vernach- laumlssigen (wie zB die fuumlr bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo [s Fn 12]) ist es leicht ersichtlich daszlig die Regeln fuumlr die Bildung der verschiedenen Kausativ-formen weit uumlber Pāṇinis Grammatik verstreut sind So findet sich die Einfuumlhrung des Kausativ-Pratyayas in 3126 und die Definition der resultierenden Formation als Wurzel in 3132 Die Wurzelerweiterung

Hans Henrich Hock78

-p- wird durch 7336 eingefuumlhrt Das auf Wurzel samt Erweiterung folgende Praumlsenssuffix wird auf Grund von 3168 angefuumlgt das Aorist-Suffix nach 3148 die Formation des Perfekts nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Die Reduplikation des Aorists wird durch 6111 festgelegt und weitere Konsequenzen werden in 7493-94 und 741745 behandelt Das -i- der Kausativwurzel wird nach 6452 vor gewissen Suffixen getilgt Und so weiter

Selbst wenn Pāṇinis Grammatik mit guten Indices versehen ist wuumlrde es Nicht-Experten auf diesem Gebiet schwer fallen all diese verschiedenen Regeln ausfindig zu machen und auf die richtige Art und Weise fuumlr die Derivation zusammenzubringen Traditionell ausgebildete Experten vollziehen diese Aufgaben im Kopfe sie haben den ganzen Text nicht nur auswendig gelernt sondern ihn auf solche Weise gespeichert daszlig sie gezielte Suchen durchfuumlhren und die Resultate wiederum im Gedaumlchtnis zusammen- bringen koumlnnen Wie mein Freund und Kollege Madhav Deshpande (Uni-versity of Michigan) berichtet wird dies dadurch ermoumlglicht daszlig das Auswendiglernen der Grammatik in taumlglichen Portionen von je 20 Sūtras stattfindet und die dadurch entstehende Division des Texts in kleinere Subdomaumlnen zur Suche verwendet werden kann Wenn man zB nach einem gewissen Sūtra in sagen wir Buch 3 Kapitel 2 sucht (welches 188 Sūtras enthaumllt) und weiszlig daszlig dieses ungefaumlhr im dritten Viertel zu finden waumlre braucht man nicht muumlhselig die Sūtras vom Anfang des Kapitels durchzusuchen sondern kann sofort auf die Zwanziger-Gruppe in der Naumlhe von Sūtra 140 peilen und diese durchsuchen Falls diese Suche nicht das Richtige erreichte peilt man die unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Zwanziger-Gruppen an Auf diese Weise bei der man die im Gedaumlchtnis gespeicherte Information wie eine Computerdatei behandelt kommt man schnell zum Erfolg

Fuumlr die von uns die einem solchen Auswendiglernen und einer solchen Text- manipulierung nicht gewachsen sind bestuumlnde die beste Annaumlherung an die traditionelle Arbeitsweise in einer relationalen Datei die bei jedem Sūtra Links zu den verschiedenen anderen Regeln bietet die bei der Ableitung anzubringen sind Soweit mir bekannt ist hat der amerikanische For-scher George Cardona 1990-1994 mit seinem damaligen Studenten Peter M Scharf an einem Projekt mit diesem Ziel gearbeitet und der letztere hat als Nachfolgeprojekt eine relationale Datei herausgebracht (Scharf 2001) die uumlber httpsanskritlibraryorg abgerufen werden kann Eine Antwort auf die Frage wie weit diese Datei fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 79

indischen grammatischen Tradition hilfreich sein kann steht meines Wis-sens noch aus

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Hans Henrich Hock University of Illinois at Urbana-Champaign hhhockuiucedu

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Keeping with the Chinese linguistic tradition Chinese writing characters are categorized into six groups by their composition or their development Whereas picto grams and ideograms contribute merely to a small portion of the entire character inventory ideophonograms comprise the substantially large majority of Chinese characters The change in character constitution should shed light on how the Chinese characters pursuing the principle of writing economy have been evolving into a morphosyllabic writing system which bears to a cer-tain extent on the morphosyntactic features of the Chinese language Further-more the gradual remodelling of character forms also exerts influences on the characteristics of Chinese characters The present paper notably outlines the gra pho (no)tactics of character constituents as well as the phonetic connections be tween ideophonograms and their phonetic constituents

0 EinleitungZiel des vorliegenden Aufsatzes ist es einen Uumlberblick uumlber die wichtigsten Zuuml ge der chinesischen Schrift aus dem Blickwinkel der Zeichenbildungs-Mor phologie und -Morphotaktik zu geben Sein Wert duumlrfte weniger in neu en Erkenntnissen bezuumlglich Einzelfragen liegen sondern eher darin dass versucht ist die herkoumlmmliche chinesische Auf fassung von dem Gegen stand aus zeichenmorphologischer Sicht zu vermitteln und dabei gleich zeitig eine feingliedrige Terminologie zu bieten Grundsaumltzlich ist an gestrebt einen moumlglichst repraumlsentativen Querschnitt darzustellen durch den das Wesenhafte im Vordergrund Stehende gut herauskommt

周禮八歲入小學保氏教國子先以六書一曰指事指事者視而可識察而見意上下是也二曰象形象形者畫成其物隨體詰詘日月是也三曰形聲形聲者以事為名取譬相成江河是也四曰會意會意比類合誼以見指撝武信是也五曰轉注轉注者建類一首同意相受考老是也六曰假借假借者本無其事依聲託事令長是也

Dieses Zitat ist ein Auszug aus dem Vorwort zum ersten chinesischen Woumlrterbuch herausgegeben vom Gelehrten Shen Xu im Jahre 100 n Chr Mit diesen Worten erklaumlrt er wie chinesische Schriftzeichen nach ihrer Kom positions methode in sechs Kategorien eingestuft werden sollen

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder82

Im chinesischen Text stellt die eigenstaumlndige SchreibDruck- und Wahr neh-mungs einheit ein Quadrat dar Unabhaumlngig von Anzahl und Anordnung der das Einzelschriftzeichen bildenden Bestandteile und Strichzuumlge wird grund saumltzlich angestrebt bei jedem Einzelschriftzeichen die Form eines an naumlherungs weise quadratischen Rechtecks einzuhalten Dieses Feld nun ist nicht immer voll und gleichmaumlszligig mit Schrift-Elementen ausgefuumlllt doch der Platz bleibt an unbeschriebenen Stellen leer sodass man sich ein un sicht bares Quadratfeld um das Geschriebene herum zu mindest denken kann Beispielsweise ist das Feld des Quadratzeichens 冊 cegrave Band (eines Buches) weitgehend ausgefuumlllt Spaumlrlicher hingegen ist zB die Ausfuumlllung des Zeichenfeldes der Quadratzeichen 一 yī eins und 止 zhǐ bis Ein Quadratzeichen entspricht im gesprochenen Chinesischen der Sprech-sprache also genau einer Silbe Chinesische bdquoWoumlrterldquo (zu bdquoWortldquo siehe weiter unten) bestehen heutzutage haumlufig aus mehreren Silben und werden dann mit einer der Silbenzahl entsprechenden Anzahl Quadratzeichen geschrieben

Die Wurzel morph (gewonnen aus griechisch μορφή bdquoGestaltldquo) ist in der sprach wissenschaftlichen Terminologie von der bdquoGestaltldquo an sich abstrahiert und auf einen gewissen Aspekt der Wort-bdquoGestaltldquo von Sprache uumlbertragen wor den namentlich auf den Bereich von Stamm- und Formenbildung Dar-auf hat man mit der Zeit eine terminologische Sippe aufgebaut Morphem Mor pho logie Morphotaktik usw Diese terminologische Sippe wenden wir im vorliegenden Aufsatz nun wieder auf eine konkrete bdquoGestaltldquo an und zwar auf die Bestandteile der chinesischen Quadratzeichen Im Ge gen satz zu Alphabetsprachen in denen die (ein Morphem bildenden) Buch staben-ketten weitgehend nur eins zu eins den Lautwert abbilden (ein Morphem ent spricht ausdrucksseitig also einer Buchstaben=Laut-Kette) sind die chi ne sischen Strichzugkomplexe wenn sie auch rein schriftgestalterisch ab strakt wirken viel bildlicher und stellen in sich aufteilbare bdquoGestaltldquo-Groumlszligen dar - viel mehr als Buchstaben(ketten) es tun Diese graphischen Kom plexe aus denen chinesische Quadratzeichen aufgebaut sind sind es die wir in diesem Beitrag als unsere bdquoMorphemeldquo ansehen Zur Unterscheidung von sprachlichen bdquoMorphemenldquo im herkoumlmmlichen Sinne nennen wir sie Zeichen morpheme

Ein Zeichenmorphem kann frei oder gebunden sein Ein freies Zeichen-morphem erscheint als eigenstaumlndiges Quadratzeichen das (zumindest) einen festgelegten Lautwert hat Dementgegen dient ein gebundenes Zei-chen morphem ausschlieszliglich als Bestandteil zum Komponieren von Qua-drat zeichen fuumlr ein Zeichenmorphem das heute nur gebunden und nie mals (mehr) frei als Quadratzeichen vorkommt wird im Woumlrterbuch um es sprech-

83Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

sprach lich benennen zu koumlnnen ein behelfsmaumlszligiges Lautbild angegeben das aber ggf von Woumlrterbuch zu Woumlrterbuch variiert Ein Quadratzeichen birgt ein oder mehrere Zeichenmorpheme Ein Zeichenmorphem das einen Kom plex bildet kann immer wieder als Komplex in eine houmlherrangige Qua drat zeichen-Komposition eingebaut werden und zaumlhlt darin als ein ein ziger Bestandteil

Allomorphe sind gemeinhin ausdruckssprachliche Auspraumlgungen eines Morphems In der chinesischen Schrift finden wir auch wenn wir Duktus-Erschei nungen (wie relative Strichdicke oder Zierabschluumlsse an den Strich-Enden) ver nachlaumlssigen und uns auf die Skelettform eines Quadratzeichens (also die allernoumltigsten Strichzuumlge welche die typische Form eines Morphems erken nen lassen) beschraumlnken drei voneinander abgrenzbare Gruppen von Allomorphen eines Zeichenmorphems vor

Ein Vollallomorph ist die unverschlankte Auspraumlgung eines Zeichen-mor phems Bei einem freien Zeichenmorphem tritt sein Vollallomorph in der Regel in Form eines eigenstaumlndigen Quadratzeichens auf zB bei 火 huǒ Feuer In der Komposition mit anderen Zeichenmorphemen bil den Vollallomorphe zwei Arten von Tochter-Allomorphen aus naumlmlich Schrumpf allomorphe und Allomorphkuumlrzel

Schrumpfallomorphe Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Schrumpfallomorph ist die entweder lediglich in der Laumln ge gestauchte oder nur in der Breite gestauchte oder aber ver haumllt nis gerecht ver kleinerte Auspraumlgung eines Vollallo morphs Die Groumlszligen veraumlnde rungen wer den vorgenommen damit das Zeichen morphem zusaumltzlich zu einem oder mehreren ande ren Zeichen morphemen im Quadratfeld Platz finde Vom Voll allomorph 火 huǒ Feu er etwa gibt es ein waagerecht gestauch tes Schrumpfallomorph wel ches im Quadratzeichen 燒 shāo brenn- auf der lin ken Seite unter ge bracht ist Die Form eines Schrumpfallomorphs weicht selten von der seines Voll allomorphs ab houmlchstens wird ein Strich der zB im Vollallomorph waage recht ist im Schrumpfallomorph leicht gekippt Des weiteren be schraumlnkt sich ein Schrumpfallomorph meistens nicht auf eine feste Stel lung in Quadratzeichen das heiszligt es kann an mehreren Posi-tionen im Qua dratfeld auftreten und ist damit mehr-Stellungs-faumlhig

Allomorphkuumlrzel Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Allomorphkuumlrzel stellt eine Auspraumlgung mit veraumlnderter Skelett form dar die aus einem Vollallomorph vereinfacht ist um im Zeichen morpho-tagma eines Quadratzeichens leichter Platz zu finden und besser ver bindbar zu sein So wird zB das aus dem Vollallomorph 火 huǒ Feu er auf vier

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder84

hintereinander folgende kleine Striche zusammengestutzte Allo morph-kuumlrzel unten in das Quadratzeichen 焦 jiāo verbrannt eingebaut Die Form eines Allomorphkuumlrzels weicht immer vom Vollallomorph ab die Gestalt vereinfachung darf nicht nur aus einer (ggf unproportionalen) Ver-kleine rung bestehen sondern mindestens ein Strich im Vollallomorph muss merklich anders gestaltet sein (etwa erscheint er schraumlg statt zuvor waagerecht oder aber er wird ganz weggelassen) Nicht zuletzt erscheint das Allomorphkuumlrzel eines Zeichenmorphems in der Regel immer an ein und derselben Position innerhalb des Schreibquadrates ist damit stellungsstarr

Bei nur-gebunden vorkommenden Zeichenmorphemen ist es nicht sinnvoll zwischen den einzelnen Allomorphgattungen zu unterscheiden

Bestimmte Zeichenmorpheme stufen wir als Grundmorpheme ein Ein Grund morphem ist synchron betrachtet die kleinste Einheit bei der Qua-drat zeichenbildung der im zeichenmorphotaktischen Zusammenhang eine Geltung zugemessen werden kann Ein Grundmorphem laumlsst sich mit hin nicht in kleinere zeichenmorphemische Elemente zerlegen ohne dass es seinen Status verloumlre Aufgebaut ist der Strichzugkomplex des Grund mor-phems aus einem oder einigen (wenigen) Strichen allerdings ist nicht jeder be liebige Strich als Grundmorphem zu werten Im Rahmen der vor liegenden Ana lyse stellt ein (nicht als Grundmorphem zu wertender) Strich (zug) einen Schrift zug dar den wir nicht hinsichtlich seiner Geltung als Grundmorphem defi nieren eine unklassifizierte Verbindung aus Strichzuumlgen nennen wir ent-spre chend Strich(zug)komplex Ein Zeichenmorphem als Bestandteil von Quadratzeichen kann aus einem oder mehreren Grundmorphemen be stehen

Zu beachten sind Abweichungen von Quadratzeichenformen in manchen Rech ner schriften Zum Beispiel birgt das Quadratzeichen 臭 chograveu stin-kend zwei Bestandteile einen oberen und einen unteren Der untere Be stand teil soll ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems 犬 quǎn Hund sein Allerdings fehlt der rechts oben vorhandene Strich die ses Zeichenmorphembestandteils auf faumllligerweise in manchen typo gra-phi schen Auspraumlgungen des Quadratzeichens 臭 chograveu stinkend Damit unter scheidet sich dieser untere Bestandteil nicht mehr vom Schrumpf allo-morph des Quadratzeichens 大 dagrave groszlig Zeichenmorphemisch hat solch eine Abweichung indes nichts zu besagenEine Kultursprache lebt von der Ungebrochenheit ihrer Uumlberlieferung ndash auch ihrer schriftlichen Fixierung Saumlmtliche Quadratzeichen die wir im Text dieses Aufsatzes behandeln weisen die Form der sog bdquoLangzeichenldquo auf Sog bdquoKurzzeichenldquo wie sie ab dem Jahre 1956 bei der amtlichen Schrift-

85Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichenreform in China entstanden sind bzw festgelegt wurden werden im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht beruumlcksichtigt Die hier zur Ver anschaulichung verwendeten Quadratzeichen-Formen sind dem-nach allesamt unvereinfachte Langzeichen Der sprachwissenschaftliche Grund fuumlr diese Handhabung ist folgender Viele zeichenetymologische Zu sammen haumlnge sind in Kurzzeichen verunklaumlrt worden In einer Ab hand-lung wie der vorliegenden welche sich auch mit der geschichtlichen Ent-wick lung von Zeichen und ihrer Morphologie befasst ist es tunlicher ein ein deutigeres System in welchem mehr nuumltzliche Unterscheidungen be wahrt sind als Grundlage zu verwenden

Aus chinesischer Sicht ist ein bdquoWortldquo ein Lautbild (eine Silbe oder ein seman-tisch stark lexikalisiertes Silbensyntagma) welchem als kleinster selbstaumln di-ger Sprach einheit inhaltsseitig ein semantischer oder grammatischer Be griff fest zugeordnet ist Im Unterschied zu synthetischeren Sprachen hat das Chine sische allenfalls Ansaumltze zur Affigierung Beispielsweise fungiert die zwei te Silbe toacuteu Kopf des bdquoWortesldquo shiacute + tou Stein als Suffix zu dem eigen staumlndigen bdquoWortldquo shiacute Stein wobei die Suffixsilbe oft mit Neben ton statt mit dem Hauptton (zu den Toumlnen siehe unten) ausgesprochen wird

Das was der deutschen Wortbildung durch Ableitung und Komposition ent spricht erscheint im Chinesischen weitgehend in die Syntax aus gela gert (bdquoSyn tax-Woumlrterldquo) und kann somit eher mit deutschen Syntagmen ver gli-chen werden Beispiel Obwohl das bdquoWortldquo (die Silbe) 男 naacuten eigen staumln-dig fuumlr Mann stehen kann wird es gewoumlhnlich mit einem zu saumltzlichen bdquoKom positions gliedldquo 人 reacuten Mensch versehen das dergestalt zu sam men-gesetzte bdquoWortldquo (Silbensyntagma) 男人 bedeutet ebenfalls nur Mann wird in vielen Faumlllen aber als deutlicher und passender empfunden Die se Er schei-nung ist im Chinesischen uumlberaus haumlufig In viel ge ringe rem Um fange machen von solchen Ver deutlichungs verfahren auch Spra chen mit aus-gepraumlgter Wort bildung Gebrauch islaumlnd karl maethur (woumlrt lich bdquoMann-Menschldquo d i bdquoMannldquo) neben einfach karl bdquoMannldquo aleinn ne ben einn (bei de bdquoalleinldquo) nord dt Bauch nabel statt Nabel suumlddt Ge baumlud lich keit neben Gebaumlude dt Schwieger mutter statt einfach Schwie ger so dann neben dann got thornata bdquodasldquo ver deutlicht aus thornat mit tels deik tischer Par tikel -a nord bair daringodǝ (woumlrt lich bdquoda-daldquo d i bdquodaldquo) ne ben ein fach daringo bdquodaldquo Fer-ner gibt es im Chine sischen reine Funk tions woumlrter die keine lexi ka lische Bedeu tung tragen und nur gram ma ti sche Aufgaben er fuumlllen Ein gutes Bei spiel hierfuumlr ist die nur-neben to ni ge Fragepartikel 嗎 ma Wenn diese Par tikel am Ende eines Indi ka tiv satzes steht macht sie aus ihm eine Janein-Entscheidungsfra ge

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder86

Als Laut-Umschrift der Schriftzeichen wird im vorliegenden Aufsatz Pin-yin (auch Hanyu-Pinyin genannt) anstatt des IPA (International Pho netic Alpha bet d i das Weltlautschrift-Alphabet der Association pho neacute tique inter nationale) benutzt Das Pinyin-System ist eine amtliche Um setzung der Mandarin-Aussprache in Lateinschrift Obschon Pinyin die Zeichen-phonetik nicht ganz getreu wiedergibt verweist es gewissermaszligen auf die laut lichen Aumlhnlichkeiten Im Pinyin-System werden die vier chinesischen Haupt toumlne folgender maszligen bezeichnet (hier am Beispiel des Vokals a) ā Hochton aacute Steigton ǎ Tiefton agrave Fallton der Nebenton bleibt tran -skrip torisch unmarkiert a

Bei der Behandlung der chinesischen Schrift haben wir es immer auch mit Jahr tausenden schriftlicher Uumlberlieferung zu tun geschriebenes Chine-sisch hat ein starkes Eigenleben entwickelt teilweise losgekoppelt vom ge sprochenen Die Systeme von Sprech- und Schrift-Chinesisch und ihre Inter aktion sind geschichtlich gewachsen sie sind wie alles Mensch-liche unter schiedlich konsistent und damit synchron auch unter schied-lich durch sichtig Beispielsweise lassen sich ehemals eher ab bildungs haft ge meinte Aussagen nur grobmaschig klassifizieren wenn wir ein in duk tiv er worbenes theoretisches Raster uumlber den Ist-Zustand legen wir koumlnnen dann nur versuchen die Zahl der bdquoAusreiszligerldquo niedrig und damit die Ein schlaumlgigkeit der Regeln hoch zu halten Wo unsere Betrachtung die hi storische Tiefe behandelt verwenden wir bei Bedarf folgende Sym bole um zu kennzeichnen ob und wie eine bestimmte Groumlszlige in der heu tigen Spra che verwendet wird das Symbol Dagger bezieht sich auf eine Groumlszlige die heute auszliger Gebrauch ist und dagger auf eine welche heute veraltet ist Die Sym bole stehen hochgestellt unmittelbar vor der Groumlszlige auf die sie sich be ziehen

Im Abschnitt uumlber die Zeichenkategorisierung wird der Anteil einer Qua-dratzeichen-Kategorie am Gesamtinventar der Quadratzeichen durch Prozentzahlen angegeben Wuumlrde man die Anteile nach der Vorkommens-haumlufigkeit in Texten rechnen (das heiszligt bei 100 gedruckten Zeichen entfallen soundsoviel Prozent auf diese Kategorie) so saumlhen die Zahlen anders aus

Im Folgenden wird der Aufbau chinesischer Schriftzeichen vorgestellt und zwar ausgehend von den in China traditionell geltenden sechs Kategorien (Ab schnitt 1) Waumlhrend Piktogramme und Ideogramme lediglich einen klei nen Teil des gesamten Quadratzeichen-Inventars ausmachen stellen Ideo phono gramme die groszlige Mehrheit Ideophonogramme verkoumlrpern die we sent lichen zeichenmorphologischen Merkmale chinesischer Quadrat-zei chen aus diesem Grunde betrachten wir ihre Besonderheiten etwa die Laut-Bestandteil-Entsprechung ausfuumlhrlicher (Abschnitt 4) Der Wandel

87Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

der Quadratzeichenbildung (Abschnitt 2) soll einen Einblick vermitteln wie sich die chinesische Schrift im Laufe der Zeit nach dem Prinzip der Schrift-oumlko nomie immer mehr zu einem morphosyllabischen System entwickelt das wiederum mit den morphosyntaktischen Merkmalen der chinesischen Spra che in Wechselwirkung steht Die allmaumlhliche Wandelung der Zeichen-formen uumlbt ebenfalls Einfluss auf die Charakteristika chinesischer Schrift-zeichen aus (Abschnitt 3) Schlieszliglich streifen wir noch die Kombinatorik von Zeichenmorphemen in Quadratzeichen (Abschnitt 5) die Mehr-Zeichen-Komposita sowie einige Eigenschaften des morphologischen Auf-baus chinesischer Texte (Abschnitt 6)

1 Die traditionellen Kategorien In der chinesischen Uumlberlieferung werden die Schriftzeichen nach den Qua drat zeichen-Bildungsarten in folgende sechs Kategorien eingeteilt (in Klam mern stehen Bezeichnungsalternativen)

(1) 象形 = Piktogramme (Bildzeichen)

(2) 指事 = Einfache Ideogramme (Hinweis-Zeichen Indikatoren)

(3) 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

(4) 形聲 = Ideophonogramme (pikto-phonetische Zeichen Determinativ-Lautelement-Zeichen Form-Laut-Zeichen)

(5) 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen (Ableitungszeichen synonyme Zeichen Wandelzeichen)

(6) 假借 = Lautentlehnungszeichen (Leihzeichen Homonyme)

Unsicherheit herrscht bei den Sprachforschern daruumlber ob die Kategorie bdquoana logisch derivierte Quadratzeichenldquo uumlberhaupt bestehe In der folgenden nauml heren Schilderung der traditionellen Kategorien sei sie daher uumlbergangen

11 象形 = Piktogramme

Piktogramme stammen aus urtuumlmlich-einfachen Schriftzeichen die da durch zu stande gekommen sind dass man die aumluszligere Form von in der Wirk lich-keit vor handenen Objekten nachbildete Piktogramme bestehen aus nur ei nem einzigen Grundmorphem und gehoumlren zu der aumlltesten Schicht der (Qua drat-)Zeichen Ihr Anteil an allen Quadratzeichen macht zwischen 2 und 4 aus

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder88

(7) 日 rigrave Sonne urspruumlnglich ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte ndash als Abbild der Sonne

(8) 月 yuegrave Mond urspruumlnglich Abbild eines Halbmondes

(9) 耳 ěr Ohr urspruumlnglich ohraumlhnlich gezeichnet

An den angefuumlhrten Beispielen wird schon deutlich dass diese Piktogramme heut zutage als bdquonaturalistischeldquo Bilder keinen groszligen Aussagewert mehr be sitzen im Piktogramm (7) 日 rigrave Sonne zB laumlsst sich auch bei gutem Wil len keine abgebildete Sonne mehr erkennen Die urspruumlnglichen (Vor gaumlnger-)Formen solcher Quadratzeichen hatten hingegen diesen Er kennungs wert haumlufig noch er ist im Laufe der Zeit durch die verschiedenen Standardisierungen der Zeichenschreibung verunklaumlrt worden

12 指事 = Einfache Ideogramme

Mit einfachen Ideogrammen sind solche Quadratzeichen gemeint die nicht leicht zu malende Dinge oder Sachverhalte symbolisieren Ihr Anteil am Qua drat zeichen-Inventar belaumluft sich auf 05 bis 1

(10) 上 shagraveng oben Urspruumlnglich war dieses Ideogramm recht durch-sichtig aus zwei waagerechten Strichen gestaltet wobei der untere Strich die Bezugsgrundlage bildet und der obere kuumlrzere aumlhnlich einem Zeige pfeil den Hinweis gibt worauf es ankommt auf bdquoobenldquo naumlm lich Der senkrechte Strich ist spaumlter hinzugefuumlgt worden

(11) 下 xiagrave unten nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie (10) Hier ist der Hinweisstrich nur etwas gekippt

(12) 本 běn Wurzel nimmt als Bezugsgrundlage das Allomorph des vor handenen Piktogramms 木 mugrave das urspruumlnglich einen DaggerBaum ab bil dete und heute fuumlr Holz steht Der kleine horizontale Strich unten weist auf diejenige Stelle des Baums hin an welcher sich die Wurzel befindet

(13) 末 mograve Ende urspruumlnglich ein Abbild fuumlr DaggerWipfel Dieses einfache Ideo gramm wurde nach dem gleichen Prinzip gebildet wie das einfache Ideo gramm (12) 本 běn Wurzel nur dass der Hinweisstrich oben steht wo der Baum zu Ende ist

Die einfachen Ideogramme bestanden urspruumlnglich aus zwei Bestand teilen der Bezugsgrundlage und dem Hinweis Waumlhrend der Bezugs grundlage-Bestand teil ein vorhandenes Zeichenmorphem warist bestandbesteht der Hinweis-Bestandteil meist aus einem kleinen Strich der nur gebunden vor-

89Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

kommt Bei manchen einfachen Ideogrammen wie (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave unten sind die zwei Bestandteile (zum Teil durch Umge-stal tung) dermaszligen zu einer Einheit zusammengeschmolzen dass das ganze Quadratzeichen heute eher als ein unauftrennbares Grund mor phem wahr genommen wird Unterstuumltzt wird diese Wahrnehmung dadurch dass wenn man aus den Quadratzeichen (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave un ten den Hinweisstrich tilgt und nur den uumlbrigbleibenden Strich zug-komplex betrachtet dieser heutzutage anderweitig nicht mehr als Zei chen-morphem vorkommt ndash weder frei noch gebunden die ehemalige Ab trenn-moumlglich keit ist synchron mithin verdunkelt

Demgegenuumlber ist der Bezugsgrundlage-Bestandteil bei anderen einfachen Ideo grammen leichter als abtrennbar zu erkennen weil er auch in der Gegen-wart immer noch anderweitig als eigenes Zeichenmorphem er scheint Bei-spiels weise wird der Bezugsgrundlage-Bestandteil in (12) 本 běn Wurzel und (13) 末 mograve Ende naumlmlich das Allomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum auch im gegenwaumlrtigen Gebrauch als freies Zeichen morphem fuumlr Holz verwendet So kann der Kenner des Systems auch synchron der lei einfache Ideogramme in zwei Zeichenmorpheme zer legen den Bezugs-grund lage-Bestandteil (ein frei vorkommendes Zeichen morphem 木 mugrave DaggerBaum in Form seines gebundenen Allomorphs) und den Hinweis-Be-stand teil (den Hinweisstrich als ein nur-gebundenes Grund morphem)

13 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

Durch (gestalterisch aufeinander abgestimmte) Zusammenfuumlgung zweier oder mehrerer bereits vorhandener Zeichenmorpheme zu einem neuen Qua drat zeichen wird ein Ideogramm mit neuer Bedeutung erzeugt Die zu sammen gesetzten Ideogramme bestehen also saumlmtlich aus mehr als nur einem Grundmorphem Jedes Zeichenmorphem als Bestandteil hat seine ei gene Bedeutung (oder hatte sie zumindest zum Zeitpunkt der Zeichen bil-dung) der neue Sinn der sich durch ihre Verbindung ergibt steht in einem Zu sammen hang mit diesen Einzelbedeutungen Bildeweise und Herleitung sind fuumlr heutige Chinesen allerdings nur noch bedingt durchsichtig

In Sprachen mit ausgepraumlgter Wortbildung koumlnnte man diese Zei chen art mit den Wortbilde-Verfahren Komposition oder ggf Ableitung ver glei chen es las sen sich auch bei den Bezuumlgen der Einzelglieder unter ein an der ver-gleich bare Ein teilungen vornehmen Iterativkomposita Deter mi na tiv kom-posita usw Die Angaben zum Anteil zusammengesetzter Ideo gram me am Qua drat zeichen-Gesamtbestand schwanken zwischen 3 und 12

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(14) 牧 mugrave Hirte zeigt links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 牛 niuacute Rind und rechts das Schrumpfallomorph des nur gebunden vor kom menden Grundmorphems 攵 pū Hand mit Stock dh bdquoein Mensch der Rinder beaufsichtigtldquo

(15) 信 xigraven glaub- weist links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 人 reacuten Mensch auf und rechts das Schrumpfallomorph des Ideophonogramms 言 yaacuten Wort dh bdquoein Mensch der sein Wort haumlltldquo

Mit der Bildeweise von (14) und (15) vergleichen lassen sich im Deutschen Kompositionen wie Stein+bruch oder Riesen+schlange im Franzoumlsischen cure-dents (woumlrt lich bdquoPutz-[die]-Zaumlhneldquo d i bdquoZahnstocherldquo) aller dings sind im Deutschen und Franzoumlsischen die Bestandteile viel staumlrker hinsichtlich des Phaumlnomens bdquoWort artldquo ausgerichtet als im Chinesischen

(16) 武 wǔ Militaumlr besteht unten links aus einem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 止 zhǐ das urspruumlnglich fuumlr DaggerFuszligabdruck stand und heute fuumlr aufhoumlr- steht und rechts aus einem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 戈 gē Hellebarde dh bdquoein durch einen Fuszligabdruck sym bolisierter Soldat der mit einer Waffe dastehtldquo

In der Bildlichkeit vergleichbar mit (16) waumlren im Deutschen etwa Bildun-gen wie Waffen+bruder oder Feuer+wehr Bei einer spaumlteren Normierung der Qua drat zeichenform des zusammengesetzten Ideogramms 武 wǔ Mili taumlr wur de der untere von rechts oben nach links unten gezogene Di agonal strich des vom Piktogramm 戈 gē Hellebarde abgeleiteten Al lo morph kuumlr zels aus gekoppelt und als kuumlrzerer waagerechter Strich an die obere lin ke Ecke des Ideogramms 武 wǔ Militaumlr uumlber geschrumpftes 止 zhǐ auf houmlr- ge stellt Dies ist eine Form der Ligaturbildung wie sie auch in Al pha bet schrif ten vorkommt etwa in Lateinschrift ltAgt + ltEgt zu ltAEliggt in Suumltterlin lt $ gt bdquocldquo + lt h gt bdquohldquo zu lt c gt bdquochldquo oder in Devanāgarī ltकgt bdquoka ldquo + ltषgt bdquoṣa ldquo zu ltकषgt bdquokṣa ldquo Sol che gestalterische Aufeinander-Abstimmung ist in der Sprech spra che den Similations-Erscheinungen (AssimilationDissimi la tion) vergleich bar(17) 休 xiū ausruh- enthaumllt links das Allomorphkuumlrzel des Pikto-

gramms 人 reacuten Mensch und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum dh bdquojemand der an einen Baum ge lehnt sitzt und rastetldquo

(18) 林 liacuten Wald ist durch Iterativkomposition entstanden Das Schrumpfallomorph des Piktogramms 木 mugrave Holz das urspruumlnglich fuumlr DaggerBaum stand wird ikonisch gedoppelt

91Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Nach demselben Prinzip wie in (18) ist das zusammengesetzte Ideogramm 森 sēn Urwald entweder durch ikonische Verdreifachung gebildet oder aber durch Komposition aus dem Schrumpfallomorph des schon verdop-pelten Zei chen morphems 林 liacuten Wald mit dem Schrumpfallomorph des ein fachen Piktogramms 木 mugrave DaggerBaum Im Deutschen lassen sich Iterativkomposita wie wort+woumlrt+(lich) vor+vor+(gestern) oder Sing+sang vergleichen vom Begriffsinhalt her auch eine Bildung wie kohl+pech+raben+schwarz in welcher alle Glieder gleicher maszligen fuumlr den Inhalt dunkel stehen ohne indes etymologisch mit einander verwandt zu sein

14 形聲 = Ideophonogramme

In den bisherigen drei Kategorien traumlgt der Gesamtkomplex jedes Quadrat-zei chens zugleich Lautung und Sinn Man muss also die Lau tung des Qua-drat zeichens als solche einmal ganz neu lernen durch keinen Be stand teil er haumllt man einen Hinweis auf sie Piktogramme und einfache Ideo gramme sind Mono morphe zusammengesetzte Ideo gram me sind Di- oder ggf Poly-morphe die in bezug auf ihre Zeichen morpheme homo gen sind Die Sache ver haumllt sich aumlhnlich wie in Alphabet schriften in denen oft Bestand teile mit vergleich barer inhaltlicher Geltung zu Di- bzw Poly gra phen zusam-men gestellt werden die als Gesamtheit dann eine aumlhn lich ge artete neue Geltung bekommen So ist zB der einen einzigen Laut be zeich nende rus-sische Digraph ltльgt [ʎ] als Ein heit zu verstehen und um fasst zwei gleicher-maszligen auf die Laut ebene abzie lende Bestand teile naumlm lich ltлgt [l] und ltьgt (Pala talitaumlts anzeiger) der artige Komplexe nei gen be son ders zu graphi scher Ligierung ltлgt + ltьgt zu ser bisch ltљgt

Diese Homo genitaumlt der Bestandteile wird verlassen wenn sich die zu Di- oder Poly gra phen bzw -morphen zusammengestellten Ele men te nicht mehr auf die selbe Ebene beziehen sondern auf unterschiedlich gear tete Ebe nen ab zie len so bewegen sich in alphabetischer Schreibung Zeichen wie ltgt ltsectgt oder lt5gt jenseits der Lautebene und dienen als Ideogramme fuumlr ihren Be griff Und in der chinesischen Schrift ist es so dass dimorphe Qua drat-zeichen aus heterogenen Zeichenmorphemen deren eines auf die Laut ebene deren an deres auf die Begriffsebene abzielt die Regel bilden Es handelt sich um die sog Ideophonogramme Diese beinhalten wie der Name schon sagt ein Zeichen morphem das auf die Lautung des Quadratzeichens ver weist (Laut traumlger) neben einem das auf den Begriff verweist (Sinntraumlger)

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(19) 吐 tǔ ausspuck- birgt links das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 土 tǔ Erdreich als Lauttraumlger

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des Ideo phono gramms 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach als Laut traumlger

Man sieht hier an beiden Zeichenmorphemen die als Kompositions glie der des Ideophonogramms (20) dienen dass bei dieser Quadratzeichen bil dung wieder um anderweitig und mit anderer Geltung (Lautentlehnungs zei-chen) ent standene Komplexe mit neuer Aufgabe als Zeichenmorpheme in ein neu zusam men gesetztes Quadratzeichen eingegliedert werden koumln nen auch ein be reits bestehendes Ideophonogramm kann von seiner Gel tung als Ideo phono gramm freigestellt und als sinntragender (oder in anderen Faumll-len als laut tragender) Komplex in ein neues Ideophonogramm eingebaut werden

(21) 照 zhagraveo schein- zeigt unten das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 火 huǒ Feuer als Sinntraumlger und oben das Schrumpfallomorph des be reits bestehenden Ideophonogramms 昭 zhāo offenkundig als Laut traumlger

Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist ein Ideophonogramm zeichen-morpho taktisch analysiert bei Aufteilung ersten Ranges zunaumlchst aller-mei stens in zwei erstrangige Zeichenmorpheme zu zerlegen einen Sinn- und einen Lauttraumlger Das sinntragende Zeichenmorphem gibt einen vagen Hin weis auf die Bedeutung und das lauttragende Zeichenmorphem auf die Lautung des Quadratzeichens Des oumlfteren dient ein Zeichenmorphem als Sinn traumlger in mehreren Ideophonogrammen deren jeweilige Gesamt be deu-tung mit der Bedeutung des als freies Quadratzeichen vorkommenden Sinn-traumlgers zusammenhaumlngt man koumlnnte hier von bdquoBegriffssippeldquo sprechen Beispiels weise ist das Piktogramm 手 shǒu Hand ein Zeichenmorphem welches in etlichen Ideophonogrammen die fuumlr Handbewegungsarten stehen als Kompositionsglied dient und dort den Sinntraumlger darstellt

Alle Zeichenmorpheme koumlnnten theoretisch als Lauttraumlger eines Ideo-phono gramms fungieren Beim Ideophonogramm (19) 吐 tǔ ausspuck- ist der Lauttraumlger naumlmlich 土 tǔ Erdreich ein Piktogramm das ei nen Erdklumpen auf dem Felde abbildete Wie erwaumlhnt laumlsst sich auch ein Ideophonogramm als Lauttraumlger in einem anderen komple xe-ren Ideophonogramm einsetzen Beim Ideophonogramm (21) 照 zhagraveo

93Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

schein- ist der Lauttraumlger naumlmlich das freie Zeichenmorphem 昭 zhāo offen kundig schon an sich ein Ideophonogramm Das Ideophono gramm 昭 zhāo offenkundig besteht links aus dem Schrumpfallo morph des Piktogramms 日 rigrave Sonne als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf-allomorph eines Ideophonogramms 召 zhagraveo be or der- als Laut traumlger Das Ideophonogramm 召 zhagraveo beorder- weist unten das Schrumpf allo morph des Piktogramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und oben das Schrumpf-allomorph des Piktogramms 刀 dāo Messer als Lauttraumlger auf

Betrachtet man ein und dasselbe Zeichenmorphem in mehreren Ideo phono-grammen in denen es als Lauttraumlger vorkommt so erweist sich der Lau-tungs hinweis haumlufig als recht unzuverlaumlssig (siehe weiter unten) Alle Lau-tungen fuumlr die ein Lauttraumlger stehen kann koumlnnte man als dessen bdquoLau-tungs sippeldquo oder bdquoLautungsbuumlndelldquo bezeichnen Die Ideophonogramm-Bil dung ist mit 80 bis 90 die mit Abstand haumlufigste Quadratzeichen-Bilde weise

15 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen

Diese umstrittene Gruppe wird wie eingangs erwaumlhnt hier uumlbergangen

16 假借 = Lautentlehnungszeichen

Anteil an allen Quadratzeichen ca 36 Die chinesische Schrift befand sich jetzt in einer Entwicklungsphase in der zwar Quadratzeichen fuumlr kon krete Dinge im Alltag zur Verfuumlgung standen kaum jedoch solche fuumlr Ab strak tes Nun ergab sich die Moumlglichkeit ein bereits existie ren des Qua-drat zeichen fuumlr eine etwas ganz anderes bedeutende zufaumlllig homo phone Sil be der Sprechsprache zu verwenden Solche Analogien sind ja auch auf an derer Ebene uumlblich etwa wenn man im Deutschen ltMausgt nicht nur fuumlr die Maus (als Tier) verwendet sondern auch fuumlr die Rechner maus Aus heu tiger Sicht stellen diese rein lautungsbedingt ent lehnten Quadrat zeichen im chine sischen Schriftsystem eine Verbindung zur Laut um schrift oder zu Alphabet schriften dar (denn auch dort werden ja gleiche Lautbilder durch gleiche oder aumlhnliche Schriftbilder wiedergegeben) Besonders haumlufig nutzt das Chine sische diese Hand habung bei Funk tions woumlrtern und Ab strakta Die Zahl der Funk tions woumlrter ist zwar absolut nicht besonders groszlig er freut sich jedoch hoher Vor kommens haumlufigkeit und solche Woumlrter waumlren sonst in der chine si schen Schrift schrei be risch schwer dar zustellen Wenn in der Sprech sprache zwei homo(io) phone Silben vor liegen eine mit kon kreter und eine mit ab strak ter Be deutung und ein Qua drat zeichen fuumlr die Silbe

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mit konkreter Bedeu tung aber keines fuumlr die mit ab strak ter Bedeutung zur Ver fuumlgung steht so wird gern das vor han dene Qua dratzeichen der erste ren Silbe fuumlr die letztere Silbe ent lehnt

(22) 其 war urspruumlnglich piktographisches Abbild einer DaggerSchaufel steht heu te aber fuumlr ein Pronomen der 3 Person mit der Lautung qiacute

Fuumlr Schaufel wird heutzutage das Ideophonogramm 箕 jī geschrieben das oben das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 竹 zhuacute Bambus als Sinn traumlger und unten das Schrumpf allomorph des seinerseits ein Laut-entlehnungs zeichen darstellenden 其 qiacute Pronomen der 3 Person (siehe hier oben) als Laut traumlger aufweist

(23) 孚 fuacute uumlberzeug- stellte urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideo-gramm dar das mit dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 爪 zhuǎ Klaue oberhalb des Schrumpfallomorphs des Piktogramms 子 zhǐ Kind die Bedeutung DaggerGeisel hatte

Fuumlr Geisel wird heute das gleichlautende Ideophonogramm 俘 fuacute ge schrieben das links aus dem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 人 reacuten Mensch (Sinntraumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Laut-ent lehnungs zeichens 孚 fuacute uumlberzeug- als Lauttraumlger besteht

(24) 須 xū muumlss- war urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideogramm fuumlr DaggerBart wobei links drei Haare abgebildet durch das heute nur-ge bundene Grundmorphem dagger彡 shān auf einem urspruumlnglich durch das Schrumpfallomorph des Piktogramms 頁 yegrave Seite be zeichneten DaggerGesicht sprieszligen

Fuumlr Bart wird heute das homophone Ideophonogramm 鬚 xū geschrie-ben das bei Aufteilung erstes Ranges oben in das Schrumpfallo morph des zu sam mengesetzten Ideogramms dagger髟 biāo Zottelhaar und unten in das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 須 xū muumlss- auf zu-tren nen ist Gebildet ist das Ideogramm dagger髟 biāo Zottel haar durch eine Zu sammensetzung welche links das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 長 chaacuteng lang das urspruumlnglich eine Person mit langen Haaren ab bildete enthaumllt und rechts das gebundene Grundmorphem dagger彡 shān HaareIm gegenwaumlrtigen Gebrauch werden Lautentlehnungszeichen die auf die oben genannte Weise zustande gekommen sind (fast) ausschlieszliglich fuumlr Funk tionswoumlrter benutzt waumlhrend im Laufe der Zeit ausdrucks seitig neue Qua dratzeichen fuumlr die urspruumlnglichen inhaltsseitigen Sinneinheiten dieser ent lehnten Quadratzeichen geschaffen worden sind Man koumlnnte hier von bdquoHomo morphie-Fluchtldquo sprechen

95Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Der Lautentlehnung bedient man sich ferner wenn man bdquoFunktionssilbenldquo nieder schreiben will Aus rhythmischen Gruumlnden haumlngen chine sische Mutter sprachler oft an ein einsilbiges bdquoWortldquo eine zusaumltzliche Silbe an das ist einerseits euphonisch bedingt (wie vielleicht im Deutschen syn chron ge sehen -en- in Sternenhimmel oder -e- Schweinefleisch) zum an dern bdquofuumlt ternldquo solche Silben die phonetischen Wortkoumlrper bdquoaufldquo erweitern (und ver deutlichen dadurch) Silben zu Silbensyntagmen (im anderen Sprachen lie szlige sich vielleicht die Erweiterung sehr kurzer bzw im Laufe der Sprach-ent wicklung kurz gewordener Woumlrter wie mhd ucircr zu nhd Auer ochs oder von Aar zu Adler (mhd ar bzw adel-ar) ver glei chen ggf auch mittels suffi xaler Stammbildungserweiterung wie anord ey zu nisl eyja beide bdquoInselldquo) Zum Beispiel bezeichnen Chinesen heute sprechsprachlich einen Stuhl sel ten mit dem einsilbigen bdquoWortldquo yǐ Stuhl sondern in der Regel mit dem Zwei-Silben-Syntagma yǐ + zi die zusaumltzliche verdeutli chende Sil be wird meistens mit einem Nebenton (siehe Einleitung) ausgespro chen Nach dem Prinzip dass 1 Silbe mit 1 Quadratzeichen geschrieben werden soll (siehe unten) schreibt man fuumlr das nun zweisilbige Silben syntagma dann auch zwei Quadratzeichen hin Dabei fragt es sich freilich welches Qua drat zeichen man denn fuumlr diese zusaumltzliche bdquoAuf fuumltterungs-Silbeldquo schreiben solle Fuumlr die hinzugefuumlgte Silbe sucht man ein Quadrat zeichen aus dessen Lautung dieselbe Silbe haupttonig darstellt und ent lehnt dieses dann fuumlr die Wiedergabe der Silbe des (Quasi-)Suffixes in diesem Fall das Qua dratzeichen des homoiophonen Piktogramms 子 zǐ Kind Fuumlr das Silben syntagma 椅子 Stuhl werden somit folglich zwei Quadrat zeichen das Ideophonogramm 椅 yǐ Stuhl und das Laut ent lehnungs zeichen 子 zi als ein Quasisuffix geschrieben

Bei dieser Handhabung hat man theoretisch sehr viele Wahlmoumlglich kei ten und wiederum ist es eine Frage der Eingebuumlrgertheit welche Silben zeichen wann und wie Verwendung finden Dieselben Fragen tauchen uumlbrigens auf wenn fremde Namen und bdquoFremdwoumlrterldquo im Chinesischen geschrie ben wer-den sollen aber auch dann wenn in Film-Untertiteln die zahl rei chen zu saumltz-lichen Silben umgangssprachlicher Sprechsprache wiederzugeben sind

2 Zur Entwicklung der SchriftzeichenbildungDie ersten Versuche der Chinesen Erinnerungen festzuhalten bestan den darin dass sie in Stricke aus Pflanzenfasern Knoten knuumlpften und sich so eine Art Kalender schufen Spaumlter werden es Einkerbungen auf Holz bret-tern (bdquoKerb houmllzernldquo) gewesen sein die Ernten oder andere Ereignisse fest-

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hiel ten Noch spaumlter wurden mit Holz Steinen oder Knochen bestimm te Zei chen (noch keine bdquoSchriftldquo-Zeichen) in Ton eingeritzt

Bis 3000 v Chr benutzten die Chinesen zunaumlchst einfache Zeichen die ihnen als Gedaumlchtnisstuumltzen dienten Auf ausgegrabenen roten Ton-scher ben erscheinen zwei Arten von Schriftzeichen Die einfach sten sind wahrscheinlich Zahlzeichen andere kompliziertere Schrift zeichen be deuten wohl Namen von Sippen oder Staumlmmen In der Folge wur den Zeich nungen verwandt die konkrete Gegenstaumlnde aus der Umge bung bild-lich darstellen sollten also Piktogramme

Allein mit Piktogrammen fuumlr die leicht abzubildenden Gegenstaumlnde der greif baren Wirklichkeit ist noch kein vollwertiges Schriftsystem entstan-den Ein solches Schriftsystem muss nicht nur uumlber Namen fuumlr kon krete bzw konkret abzubildende Dinge verfuumlgen sondern bedarf daruumlber hin aus gra phischer Ausdrucksmoumlglichkeiten etwa fuumlr Eigenschaften Beziehun gen Bewe gungen Vorstellungen usw Dieser Zweck dem jedes Schrift system ge nuumlgen muss ist in der chinesischen Schrift wahrscheinlich erstmals von den einfachen Ideogrammen erfuumlllt worden

Piktographie und Ideographie zeitigen einfache sprechsprachlich mehr-deutige Schriftzeichen phonologisch-phonetische Aspekte spielen beim Auf bau des Zeicheninventars noch keine Rolle Das ist bdquozeichen wirt schaft-lichldquo betrachtet ein Mangel Tausende von Schriftzeichen fuumlr neu entstan-dene bdquoWoumlrterldquo (Inhalte und ausdrucksseitig zugeordnete Lautbilder) nicht nur zu schaffen sondern auch im Kopfe zu behalten ist dermaszligen unprak-tisch dass die Schrift entweder nur als sehr beschraumlnktes System ange wandt werden koumlnnte oder aber so geschmeidig gestaltet werden muumlsste dass sie in der Lage waumlre sich zu einem brauchbaren System zu ent wickeln Um dieses Pro blem in den Griff zu bekommen mussten die graphische und die laut liche Sei te der verfuumlgbaren Schriftzeichen rekursiv mitein ander ver-knuumlpft werden

Die Methode der ideographischen Zusammensetzung schafft neue Qua drat-zeichen ohne indes das Zeichenmorphem-Inventar der Schrift zu ver meh-ren Dieses Verfahren bezieht die graphische Seite der Schriftzeichen eben so wie ihre Bedeutung mit ein wie die Gestalt des neuen Schriftzeichens sich aus den Gestalten seiner Bestandteile (bereits fertiger Zeichen mor-pheme) er gibt so ergibt der Sinn eines neu zusammengesetzten Ideo-gramms sich aus der Verbindung der Bedeutungen seiner Bestandteile Die Laut seite der Zeichenmorpheme spielt hier wie gesagt noch keine Rolle Durch ideo graphische Komposition entstehen also weiterhin Schrift-

97Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichen welche noch keinerlei Hinweis auf die Lautung der bezeichneten bdquoWoumlrterldquo liefern Dieses Verfahren bietet noch immer nicht die (Zeichen-anzahl-beschraumlnkenden und Aussprache-andeutenden) Vorteile welche durch Einbezug einer ausspracheabhaumlngigen Komponente (zB eines lautungs andeutenden Zeichenmorphems) moumlglich werden

Aus diesem Grunde bemuumlhte man um den Schriftzeichenbestand aus zu-bau en schlieszliglich auch die Lautseite Die einfachste Methode die Laut sei te zu nutzen ist bekanntlich die homographische Schreibung homo(io) pho-ner Silben mit unterschiedlicher Bedeutung (zB Silbe A und Silbe B) Da mit isoliert man die graphische Form des Schriftzeichens von der pri-maumlr zuge ord neten Bedeu tung A der Silbe lehnt dann das inhaltlich bdquoent-kop pelteldquo Schrift zeichen an eine homophone Silbe mit Bedeutung B fuumlr die noch kein Schriftzeichen zur Verfuumlgung steht an Was auf der Aus-sprache-Ebene aumlhnlich ist wird auch auf der Zeichengestalt-Ebene aumlhnlich dar gestellt ndash unabhaumlngig vom Inhalt

Diese Methode die sog Lautentlehnung vermehrt nicht den Bestand chine-si scher Schriftzeichen In dieser Hinsicht stufen die heutigen chinesi schen Zeichen morphologen sie weniger als Quadratzeichen-bdquoBildungldquo ein son-dern eher als Quadratzeichen-bdquoVerwendungldquo Des weiteren bringt die Laut-ent lehnung bei der Entwicklung des chinesischen Schriftsystems ein anderes Problem mit sich Durch die Lautentlehnung kann ein Schriftzeichen bei gleich bleibendem Lautwert semantisch doppelt oder mehrfach besetzt sein Fuumlr die Enkodierung der Bedeutungen und die Wiedergabe der Laute in der Sprache (bdquodas Schreibenldquo) ist diese Methode zweifellos effizient Fuumlr die De ko dierung der Bedeutungen (bdquodas Lesenldquo) stellt die semantisch mehrfache Be setzung eines Qua dratzeichens jedoch eine enorme Belastung dar Auch in der deutschen Rechtschreibung sind deshalb in vielen Faumlllen Homo phone graphisch geschieden Wagen und Waagen arm und Arm usw

Wenn das entlehnte Schriftzeichen in seiner urspruumlnglich zugeordne-ten Be deutung A der Silbe weiterhin in der Sprache vorkommt dh nicht ungebraumluchlich geworden ist dann wetteifern ja beide Bedeu-tun gen nicht nur sprechsprachlich mit dem Lautbild der Silbe sondern nun auch schreibsprachlich mit dem Schriftzeichen Die Lage wird dann oft wie der vereindeutigt indem man das Schriftzeichen auf die sekun-daumlre Silben-Bedeutung B einschraumlnkt und fuumlr die primaumlr zugeordnete Silben-Bedeutung A ein zusaumltzliches Zeichenmorphem in das Schrift-zeichen einfuumlgt um es so von seiner Lehnnehmerform mit der sekundaumlren Bedeutung B zu unterscheiden (Homomorphie-Flucht)

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(25) Das Lautentlehnungszeichen 北 Norden běi stellt urspruumlng lich das zu sammengesetzte Ideogramm fuumlr DaggerRuumlcken dar Heute steht es aus-schlieszlig lich fuumlr Norden

Das Quadratzeichen 北 war urspruumlnglich das zusammenge setzte Ideo-gramm fuumlr DaggerRuumlcken welches zwei Personen Ruumlcken an Ruumlcken zeig te Da die gesprochenen Silben begravei fuumlr Ruumlcken und běi fuumlr Nor den aumlhn liche Lautbilder aufweisen wurde fuumlr die Verschriftlichung der Silbe des schwer lich zeichnerisch darzustellenden Abstraktums běi Nor den das zusammengesetzte Ideogramm 北 DaggerRuumlcken entlehnt Nun hatte das Schrift zeichen 北 zeitgleich zweierlei Bedeutungen die pri maumlre Be deu tung war DaggerRuumlcken und die sekundaumlre Norden Um die zwei Bedeu tungen im schriftlichen Text zu differenzieren wurde spaumlter ein neues Schrift zeichen 背 begravei fuumlr die primaumlre Bedeutung Ruumlcken gebil det und zwar ist dieses neue Ideophonogramm 背 begravei Ruumlcken da durch zu stan de gekom men dass das freie Zeichenmorphem 北 běi (Laut traumlger) un ten um das Allo-morph kuumlrzel des Pikto gramms 肉 Fleisch im Sinne von mensch licher Koumlr per (Sinn traumlger) vermehrt wurde Das Laut ent leh nungs zeichen von 北 běi steht in dem neuen Synchron-Zustand aus schlieszlig lich fuumlr die sekun-dauml re Bedeutung Norden fuumlr die pri maumlre Be deu tung Ruumlcken wird heu te nur noch das Ideophonogramm 背 begravei geschrieben

Die Anwendung der Entlehnungsmethode war fuumlr das chinesi sche Schrift-system der Wendepunkt von einer lediglich die Erinne rung stuumlt zenden Bilderschrift zu einer brauchbaren logosyllabischen Schrift Mit fort-schreitender gesellschaftlicher Entwicklung und der Vertiefung von Wahr-neh mung und Praxis mussten mehr und mehr Dinge und Sach ver halte verfeinert bezeichnet werden Um diesen Beduumlrfnissen gerecht zu werden hat man ndash wiederum mithilfe der Lautentlehnungsmethode ndash den Schrift-zeichen-Bestand durch Ideophonogramme vermehrt

Ein Ideophonogramm ist bei Aufteilung ersten Ranges in zwei Zeichen-mor pheme zu zerlegen den Sinntraumlger und den Lauttraumlger Das eine Zei chen morphem der Sinntraumlger verweist auf die Bedeutung des Ideo-phono gramms das andere Zeichenmorphem der Lauttraumlger auf des sen un gefaumlhre Lautung Den Sinntraumlger fuumlr ein Ideophonogramm ge winnt man dadurch dass man ein vorhandenes Zeichenmorphem nimmt und von seiner Lautung isoliert an ihm bdquoklebenldquo dann nur noch vage Bedeu tungs-Assozia tionen Dieses Zeichenmorphem baut man als Sinn traumlger in ein neu zu erstellendes Ideophonogramm ein Den Lauttraumlger fuumlr ein Ideo phono-gramm gewinnt man dadurch dass man ndash aumlhnlich wie bei der Schoumlp fung von Laut entlehnungs zeichen ndash ein Schriftzeichen mit einer bestimm ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 99

ihm an haftenden Lautung entlehnt und zwecks ungefaumlhrer Andeu tung eben dieser Lautung in ein Ideophonogramm einbaut dessen Silbe phone-tisch dem lehngebenden Quadratzeichen aumlhnlich ist Ideophono gram me sind diesbezuumlglich haumllftig als Lautentlehnungszeichen zu betrachten

Es ist nicht von vornherein festgelegt wie die Zeichenmorpheme als Bestand teile innerhalb eines Ideophonogramms angeordnet werden ndash linksrechts obenunten innenauszligen getrenntverschlungen usw Somit muss man wissen welches Zeichenmorphem auf die Lautung und welches auf den Sinn hinweist Es gibt hier aber gebraumluchliche Muster die sich eingebuumlr-gert haben und die der geuumlbte Leser kennt sodass Sinn- bzw Lauttraumlger der meisten Ideo phonogramme fuumlr gewoumlhnlich leicht auszumachen sind

Die Beispiele in Abbildung 1 moumlgen die geschilderte Entwicklung der Bil-dung chinesischer Schriftzeichen veranschaulichen

(26) Piktogramm 自 zigrave DaggerNase

(27) Piktogramm dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze

(28) Piktogramm 犬 quǎn Hund

(29) Piktogramm 口 kǒu Mund

(30) Zusammengesetztes Ideogramm 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] daggerschnupper- und chograveu = [ʈʰograveu] stinkend

(31) Lautentlehnungszeichen 自 zigrave selbst

(32) Lautentlehnungszeichen dagger畀 bigrave verleih-

(33) Ideo phonogramm 鼻 biacute Nase

(34) Ideophonogramm 嗅 xiugrave = [ɕograveu] schnupper-Das Quadratzeichen (26) 自 zigrave war urspruumlnglich ein Piktogramm das von vorn gesehen eine Nase mit Nasenruumlcken und Nasenfluumlgeln abbildete Aus die sem Piktogramm wurden in zwei Richtungen Quadratzeichen gebildet

In die eine Richtung wurde Dagger自 zu einer Zeit da es noch Nase bedeutete wegen der phonetischen Uumlbereinstimmung bzw Aumlhnlichkeit fuumlr den Sinn selbst entlehnt so entstand das Lautentlehnungszeichen (31) 自 selbst das heute zigrave ausgesprochen wird Von da an hatte man synchron die homo graphen Quadratzeichen 自 (26) und (31) nebeneinander ndash zum einen fuumlr die pri maumlre Bedeutung DaggerNase zum anderen fuumlr die sekundaumlre Bedeu-tung selbst Spaumlter wurde dann zur schriftlichen Disambiguierung dem

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder100

Abbildung 1 Beispiele zur Veranschaulichung der Entwicklung chinesischer Qua drat-zeichen Spalte A Piktogramme Spalte B Zusammengesetzte Ideogramme Spalte C Laut entlehnungszeichen Spalte D Ideophonogramme

101Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

自-Qua dratzeichen wo es DaggerNase bezeichnete ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems (27)(32) dagger畀 hinzugefuumlgt das fuumlr sich allein bigrave lautet In dem so entstandenen Ideophonogramm (33) 鼻 biacute Nase dient es lediglich als Lauttraumlger Fuumlr das heutige muttersprachliche Emp finden ist dieser Lautentlehnungsvorgang allerdings nicht mehr durchschau bar denn entweder hat sich der Anglitt der Aussprache des bdquoWortesldquo selbst im Laufe der Zeit aus irgendwelchen Gruumlnden gewandelt oder der Lautwert des bdquoWor tesldquo Nase ist durch Einfluss des lauttragenden Zeichen morphems (27)(32) dagger畀 bigrave abgeaumlndert worden (Leseaussprache) Das Quadrat zeichen (32) dagger畀 bigrave verleih- uumlbrigens ist seinerseits vermutlich von dem Pikto-gramm (27) dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze lautentlehnt Fuumlr den Begriff verleih- verwendet man heute ein gaumlnzlich anderes Quadratzeichen

In die andere Richtung wurde das Schrumpfallomorph des Pikto gramm (26) 自 zigrave DaggerNase mit dem Allomorphkuumlrzel eines weiteren Pikto gramms naumlm lich (28) 犬 quǎn Hund zu einem zusammengesetzten Ideo gramm vereint Das komponierte Ideogramm (30) 臭 spricht sich daggerxiugrave = [ɕograveu] aus ohne irgendwie lautentlehnt zu sein und bedeutet daggerschnupper- Von der pri maumlren Bedeutung daggerschnupper- ist spaumlter (vielleicht durch pejora tive Be deutungs verengung) die sekundaumlre Bedeutung stinkend ab gelei tet wor den Nun stand das Schriftzeichen (30) 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] synchron fuumlr zwei sinn verwandte aber aus sprache verschiedene Bedeu tungen daggerschnup-per- und stinkend Fuumlr die primaumlre Bedeutung schnupper- wurde dann verdeutlichend das Ideophonogramm (34) 嗅 xiugrave gebildet welches links das Schrumpfallomorph des Piktogramms (29) 口 kǒu Mund (Sinn-traumlger) und rechts das Schrumpfallomorph des zusammen gesetz ten Ideo-gramms (30) 臭 daggerxiugrave (Lauttraumlger) birgt Das Schrift zeichen (30) 臭 mit der Lautung chograveu = [ʈʰ ograveu] beschraumlnkt sich seither ausschlieszlig lich auf die sekundaumlre Bedeutung naumlmlich stinkend Dadurch war die zeit weilige Mehr deutigkeit des Schriftzeichens (30) 臭 wieder beseitigt

Gaumlnzlich unabhaumlngig von der Anzahl der Zeichenmorpheme die es bilden wird ein Qua dratzeichen im gegenwaumlrtigen chinesischen Schriftsystem einer und genau einer Sprechsilbe zugeordnet Alle Quadratzeichen vertreten also je eine Silbe Die Entwicklung geht dahin dass wegen der hohen Silben-Homo phonie und der dadurch bedingten potenziellen Mehrdeutigkeit der zeit genoumlssischen chinesischen Sprechsprache immer mehr verdeutli chende oder zT auch nur rhythmisch als erwuumlnscht betrachtete Silben zu einem Silben syntagma zusammengefuumlgt werden solche Silben syntagmen ent-sprechen im Deutschen ungefaumlhr den Ableitungen oder den Kom po sita Da fuumlr jede Sprechsilbe (mindestens) ein Quadratzeichen vorhanden ist schreibt

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder102

man fuumlr jede einzelne Silbe eines Silbensyntagmas auch genau ein Qua-drat zeichen nieder Gerade bei euphonisch oder eurhythmisch bedingten Silben (im Deut schen ist synchron vielleicht das -e- in Strahlemann ver-gleich bar das -s- in Hochzeitsnacht das -n- in Hoffnung oder das -t- in dt eigentlich im Frz das -t- in a-t-il bdquohat erldquo) die ja keine Eigen be deu-tung haben ist es gelegentlich fraglich welches Quadrat zeichen man fuumlr sie schreiben solle

In einer fruumlhen Entwicklungsstufe der chinesischen Schrift waren die meisten der heutigen Quadratzeichen-Bestandteile freie Zeichenmor-pheme Das heiszligt sie fungierten einerseits als selbstaumlndige Quadrat zeichen und ndash spaumlter ndash zusaumltzlich andererseits als Quadratzeichen-Bestand teile Im Laufe der Zeit kamen mehrere davon nur noch als gebundene Zeichen-morpheme im Bestandteilverbund eines Quadratzeichens vor (aumlhnlich wie im Deutschen heute das Suffix -heit oder das Praumlfix ur- nur noch gebunden vorkommen) Manche entwickelten sich dagegen zu Allomorphen die teils frei teils gebunden sind Manche nur-gebundene Allomorphe sind heute sogar unikal (etwa wie im Deutschen -stuumlber in Nasenstuumlber)

3 Zur Normierung chinesischer SchriftzeichenformenIm Laufe ihrer Entwicklung sind die chinesischen Schriftzeichen mehr mals nor miert worden (vgl Abbildung 2) In antiken Epochen wurde eine amt liche Standardisierung meist zu Beginn einer Dynastie vorgenom men damit sich die Befehle und Maszlignahmen von der zentralen Regierung in er oberten Laumlndern erteilen und ohne Missverstaumlndnis durchsetzen lieszligen Als die jeweilige Dynastie allmaumlhlich zerfiel schwaumlchelte auch ihre Macht und damit ihr Einfluss auf Fuumlrstenlaumlnder und deren Bevoumllkerung Die fest gelegte Schreiblehre wurde dann auch nicht mehr so genau beachtet und irgend welche oumlrtlichen Gelehrten dachten sich neue Quadrat zeichen aus wenn sie sich der vordem zentral vorgegebenen Zeichen nicht mehr er innern konnten Gleichzeitig sind mit dem Fortschreiten der Zivilisa tion Neu heiten (Dinge und Sachverhalte) aufgekommen oder ins Bewusstsein der Men schen geruumlckt fuumlr die gesprochene und geschriebene Bezeich nungen be noumltigt wurden Fuumlr diese ersannen Gelehrte Quadratzeichen und zwar mei stens durch neue Zusammenstellung vorhandener Zeichen mor-pheme Weil es oft genug an einer zentralen Steuerung dieser Entwicklung fehlte ver lief die Zeichenbildungstaumltigkeit haumlufig unsystematisch Kam schlieszlig-lich eine neue Dynastie ans Ruder so vereinheitlichte der neue Herr scher das eine Zeitlang wildgewachsene Schriftsystem dann wieder

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Abbildung 2 Zur Entwicklung chinesischer Schriftzeichenformen (aus Fazzioli 2003 15)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder104

31 Vereinheitlichung in Richtung Vereinfachung

Bei den amtlichen Regelungen welche die Quadratzeichengestalt be treffen han delt es sich nicht nur um Vereinheitlichung Oumlfter wurde zu gleich auch versucht die Schriftzeichen zum leichteren Lernen und Schrei ben zu ver-ein fachen Schon seit fruumlher Zeit in der man noch nicht unbe dingt von bdquoQuadrat zeichenldquo sprechen kann ist zB eine immer wieder ange wandte Aumln derungs art der Abbau zeichen gestalterischer Kom plexitaumlt ent weder wird die Anzahl urspruumlnglich ikonisch vermehrfachter Ele mente oder Element teile wieder vermindert oder die Strichzahl sehr auf wendig auf-gebauter Bestandteile wird anderweitig reduziert auf diese Art sind denn auch die Allomorphkuumlrzel entstanden

(35) 集 jiacute versammel- ein zusammengesetztes Ideogramm besteht oben aus dem Schrumpfallomorph des veralteten Piktogramms dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel und unten aus dem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum

Urspruumlnglich war das Quadratzeichen 木 mugrave Holz das Piktogramm eines DaggerBau mes mit Wurzel und Aumlsten Die urspruumlngliche Form des Zeichens 集 ver sammel- zeigte allerdings drei Voumlgel auf dem Baum dh drei Voumlgel die sich auf einem Baum bdquoversammelnldquo Da das Zeichen morphem dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel bereits strichreich ist laumlsst es sich in drei facher Ausfuumlhrung innerhalb eines neuen Zeichens unvereinfacht kaum unter bringen spaumlter wurde das verdreifachte Zeichenmorphem in dem Zeichen deshalb durch ein einziges ersetzt Dadurch war es zwar weniger bild haft dafuumlr aber besser handhabbar

(36) 塵 cheacuten Staub ein zusammengesetztes Ideogramm zeigt oben das Schrumpf allomorph des Piktogramms 鹿 lugrave Hirsch und unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 土 tǔ Erdreich

Auch das urspruumlngliche zusammengesetzte Ideogramm fuumlr Staub zeig te zu naumlchst drei Hirsche auf dem Erdboden das heiszligt beim Ren nen wirbelt eine Herde Hirsche auf der Erde bdquoStaubldquo auf In der moder ni-sier ten Form des heutigen Quadratzeichens 塵 cheacuten Staub ist da von nur noch ein einziges Zeichenmorphem 鹿 lugrave Hirsch uumlbrig

(37) 豪 haacuteo Stachelschwein ein Ideophonogramm besteht unten aus dem Schrumpfallomorph des Piktogramms dagger豕 shǐ Eber als Sinn-traumlger und oben aus dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 高 gāo hoch als Lauttraumlger welches nur den Oberteil des ihm entsprechenden Voll allo morphs zeigt

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Der Lauttraumlger das Allomorphkuumlrzel des freien Zeichenmor phems 高 gāo hoch oben im Ideophonogramm 豪 haacuteo Stachel schwein ist gegenuumlber dem Vollallomorph gestalterisch um seinen Unterteil geschmaumllert worden Genauer gesagt im Vollallomorph zeigt das Piktogramm 高 gāo noch einen Daggerzwei stoumlcki gen Bau die beiden kleinen Strichkomplexe (in Form eines Vier ecks) sind gewissermaszligen Fenster im ersten bzw zweiten Stock Als Laut sym bol-Allomorphkuumlrzel eingefuumlgt in das Ideophonogramm 豪 haacuteo Sta chel schwein verliert es dann das untere bdquoFensterldquo

Als ein weiterer Punkt ist zu beachten dass chinesische Schrift zeichen oumlfter dadurch vereinheitlicht worden sind dass man Zeichen for men unter-schied lichen etymologischen Ursprungs zusammenfallen lieszlig indem man sie graphisch nicht mehr auseinanderhielt man koumlnnte von bdquoZeichen-morphem-Zusammenfallldquo bdquo-Synkretismusldquo bdquo-Kreuzungldquo oder bdquo-Kon ta-mi nationldquo sprechen So werden die zwei bdquoFensterldquo in dem Pikto gramm 高 gāo hoch mit einem Strichkomplex geschrieben der gestalte risch vom Piktogramm 口 kǒu Mund (bzw von seinem Schrumpf allo morph) nicht zu unterscheiden ist Waumlhrend Fenster und Mund sich immer hin noch unter dem Begriff bdquoOumlffnungenldquo zusammenfassen lassen wird der-selbe Strichkomplex (zT in unverhaumlltnisgerecht geschrumpfter Ge stalt) in anderen Quadratzeichen daruumlber hinaus aber noch fuumlr ganz ande res an ge wandt zB fuumlr Geraumlusch Auge eines Strudels menschli ches Ge sicht menschlichen Kopf Tierkoumlrper Steinmesser Schuumls sel Topf Trommel Behausung von Mauern umgrenzte Stadt oder der Strichkomplex des Vierecks wird ganz abstrakt als ein Zeichen mor phem zur Disambiguierung ansonsten formgleicher Quadrat zeichen ein gesetzt

Betrachtet man die Sache nicht von daher welche Geltungen ein Zeichen-morphem in Quadratzeichen annehmen kann sondern aus der Warte der Bedeu tungen so ist eine aumlhnliche Mehrfachanwendung von Elementen fest-zu stellen bei etlichen Quadratzeichen wird beispielsweise die Bedeu tung Ge raumlusch nicht einheitlich durch den Strichkomplex 口 den wir aus heu-tiger Sicht als das Schrumpfallomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund deu ten be zeichnet sondern manchmal auch durch einen Strichkomplex 日 welcher zumindest synchron aussieht wie das Zeichenmorphem 日 rigrave Son ne und deshalb heute als ein Schrumpfallomorph dieses Zeichen-morphems ge wertet wird Derlei Faumllle gibt es viele und die synchron empfun-dene Mehr deutigkeit von Elementen geht oft auf Entwicklungs vor gaumlnge dieser Art zuruumlck auch solcherart bdquoZusammenlegungs-Standardisie run-genldquo haben demnach die Bedeutung chinesischer Quadratzeichen(bestand-teile) ver dunkelt und belasten heute beim Lernen die Form-Inhalts-Bezie-

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder106

hung Moumlchte man eine Parallele zum Deutschen ziehen so kann man die gra phische Zusammenlegung von ltgraumlulichgt von grau‑artiger Farbe und ltgreu lichgt grauenerregend in ltgraumlulichgt durch die Rechtschreib reform von 199620042006 vergleichen

32 Auswirkungen auf die Quadratzeichengestaltung

Die Standardisierungen der chinesischen Schriftzeichen und ihrer Bestand-teile betreffen weitgehend die Formgebung von Quadratzeichen und diese wie derum bildet die Grundlage fuumlr synchrone zeichenmorpholo gische Ana lysen Da die Zeichenmorpheme durch manche Vereinheitli chungs-schrit te richtiggehend bdquoumgemuumlnztldquo worden sind praumlgen sie entspre chend auch Bewusstsein und Wahrnehmung der Schriftanwender um Im Fol gen-den eroumlrtern wir bei der zeichenmorphologischen Betrachtung von Qua-drat zeichen wie sich solche Zeichenform-Normierungen auf die objektive sprach wissenschaftliche Auswertung und auf die subjektive anwender-seitige Wertung der Quadratzeichengestalt auswirken

Wenn man versucht Quadratzeichen moumlglichst weitgehend aufzutrennen so gelangt man ndash ggf uumlber Zeichenmorpheme unterschiedlicher Komplexi-taumlt ndash letzten Endes zu Zeichenmorphemen welche zwar noch eine morpho-lo gische Bedeutung tragen sich allerdings ndash synchron betrachtet ndash nicht wei ter in ihre Strichzuumlge zerlegen lassen ohne dass sie ihre morpho logi sche Gel tung einbuumlszligen wuumlrden Diese kleinsten Einheiten sind die Grund mor-pheme Zwei oder mehr Grundmorpheme koumlnnen zusammengefuumlgt werden um ein neues komplexeres Zeichenmorphem zu bilden Von da an stehen bei der chinesischen Schriftzeichenbildung nicht nur Grundmorpheme son-dern auch komplexere Morpheme zur Verfuumlgung Das heiszligt als Bestand teile von Schrift zeichen duumlrfen sowohl Zeichenmorpheme die aus bloszlig einem Grund morphem bestehen als auch Zeichenmorpheme die ihrerseits schon aus zwei oder mehr Grundmorphemen zusammengesetzt sind dienen Ein durch Zusammenfuumlgung von zwei oder mehr Zeichenmorphemen gebil-detes Quadratzeichen laumlsst sich wiederum als ein idiomatisierter Kom-plex verwenden und als Zeichenmorphem fuumlr weitere Quadratzeichen-bil dung einsetzen Es werden somit Komplexe aus Zeichenmorphemen immer wieder neu idiomatisiert und als neue Einheiten in houmlhere Komposi-tions-Hier archien uumlbernommen Theoretisch kann so jedes eigen staumln dige Schrift zeichen als Bestandteil fuumlr komplexere Schriftzeichen ver wandt werden Vergleichbar ist hier in der deutschen Morphologie die Ablei-tung von einer Ableitungsbasis Basis Handhabe als nicht mehr auftrenn-barer Komplex abgeleitet zu handhaben dann Basis hand haben als

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nicht mehr auftrennbarer Komplex abgeleitet zu hand hab bar schlieszlig-lich Basis handhab bar als nicht mehr auftrennbarer Komplex abge leitet zu Handhab barkeitOft geht man davon aus dass Piktogramme und einfache Ideo gramme aus lediglich einem einzigen Grundmorphem bestuumlnden Pikto gramme wie sen ur spruumlnglich einen Dinge aus der Natur abbildenden Strich kom-plex auf den man aus heutiger Sicht als das Abbild eines Ganzen werten duumlrfte und das entspraumlche dem was uumlblicherweise in Grund mor phemen vorliegt Waumlhrend bdquoeinfacheldquo Piktogramme tatsaumlchlich immer nur ein ein ziges Grundmorphem enthalten (wie in 日 rigrave Sonne und 月 yuegrave Mond) empfinden Lerner und Benutzer chinesischer Quadrat zeichen es heute so dass besonders strichreiche Piktogramme aus meh reren Grund-morphemen zusammengesetzt seien Diese Erscheinung ist dadurch zustande gekommen dass bei der gestalterischen Normierung von Quadrat zeichen-formen bdquoBestandteileldquo in manchen dieser strichreichen Kom plexe so zu sagen bdquomorphemisiertldquo worden sind aus einem Komplex hat man durch eine Art Morphemspaltung meh rere Bestand teile herausabstrahiert die man nun jeden fuumlr sich wie der in anderen Quadratzeichen-Kompositionen als Kompositionsglieder nut zen kann ndash und umgekehrt

Beispielsweise war das Piktogramm 鹿 lugrave Hirsch urspruumlnglich das Ab bild eines Hirsches mit Geweih Kopf Koumlrper und Beinen (sie he Ab bil dung 2) Bei spaumlteren Normierungen wurden oben Geweih Kopf und Koumlrper zwar weiterhin als ein Strichkomplex belassen (dieser stellt heute ein nur-gebunden vorkommendes Zeichenmorphem dar) der Unter teil indes die abstrakt die vier Beine darstellenden Striche war rein gestalterisch zufaumlllig dem zusammengesetzten Ideogramm 比 bǐ ver-gleich- recht aumlhnlich Und so hat man im Zuge einer Normie rung diese Striche durch ein Schrumpfallomorph des Quadrat zeichens 比 bǐ ver-gleich- ersetzt und dadurch den urspruumlnglichen als zusammengehoumlrig zu be trach tenden Strichkomplex von Hirsch in zwei Bestandteile zerlegt deren jeder heute synchron die Geltung eines Zeichenmorphems besitzt Das zusammengesetzte Ideophonogramm 比 bǐ vergleich- uumlbrigens zeigte urspruumlnglich zwei Menschen im Wettlauf miteinander

Uumlblicherweise werden auch saumlmtliche einfachen Ideogramme als Qua drat-zeichen mit nur einem einzigen Grundmorphem ange se hen Ge schicht lich gesehen bargen allerdings wohl alle einfachen Ideogram me ur spruumlng lich zwei zeichenmorphologische Bestandteile in sich naumlm lich Bezugs grund-lage und Hinweis An dieser Stelle sollte man den Tiefen grad bedenken mit dem man die Zusammenfuumlgung zweier Bestand teile betrach ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder108

moumlchte wenn man zeichenetymologisierend vorgeht kann man Ein-heiten freilich tiefergehend sinnvoll auftrennen als wenn man das syn-chrone Schreiberbewusstsein zugrunde legt Aus heutiger Sicht sind naumlm-lich Bezugsgrundlage- und Hinweis-Bestandteil nicht zuletzt in folge nor mierender Umgestaltung zu einem Zeichen morphem zusam men-geschmolzen das als ein einziges Grundmorphem betrachtet wird und des halb spricht man eben von bdquoeinfachenldquo Ideogrammen Ist der Hin weis-Be stand teil noch durchsichtig vom Grundlage-Bestandteil abzutren nen so sollte man indessen meinen das Ideogramm goumllte als aus zwei (ggf mehr) Grundmorphemen zusammengesetzt Das widerspricht aber der her koumlmm lichen Sichtweise Der Status der einfachen Ideogramme ist in dieser Hinsicht womoumlglich revisionsbeduumlrftig Diese naumlhere Betrach tung hat uns bewogen im vorliegenden Aufsatz zwischen bdquoGrund morphemenldquo und bdquoStrichenldquo zu unterscheiden

Im Gegensatz zu den Piktogrammen und einfachen Ideogrammen beste hen die zusammengesetzten Ideogramme sowie die Ideophonogramme aus zwei oder mehr Zeichenmorphemen sind also Polymorphe Lautent lehnungs-zeichen wieder um haben teils ein und teils mehr als ein Grund morphem je nachdem von wel cher Schriftzeichen-Basis sie entlehnt worden sind

4 Naumlhere Betrachtung der Ideophonogramm-BildungIdeophonogramme herrschen in der chinesischen Schriftzeichenbildung vor und bestimmen somit die Charakteristik der chinesischen Quadratzeichen am meisten sowie das Bewusstsein der Schriftanwender am nachhaltigsten

Zur Bildung eines Ideophonogramms fuumlr eine gesprochene Silbe werden zwei Zeichen morpheme zusammengesetzt ein Sinntraumlger und ein Laut-traumlger Das sind die beiden Zeichenmorphem(komplexe) ersten Ranges Beide muumls sen um fuumlr die Komposition verwendet werden zu koumlnnen abstra hiert wer den Der als Sinntraumlger bestimmte Komplex muss von seiner bis heri gen Lau tung frei gestellt werden um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf das Signifieacute die nen zu koumlnnen (und dabei nicht etwa dadurch zu be irren dass mit ihm zu saumltzlich eine Lautung assoziiert wird) Der als Laut traumlger bestimm te Kom plex muss von seiner Bedeutungs-Assoziation frei ge stellt wer den um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf die unge faumlhre Lau tung die nen zu koumlnnen (und nicht dadurch zu stoumlren dass er zusaumltz liche Bedeu tungs-Assoziationen hervorruft) Die In-etwa-Aussprache auf welche der Laut traumlger verweist muss natuumlrlich zur Silbe des neuen Gesamt kom ple xes des durch die Komposition

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entstandenen Ideophono gramms stimmen ndash zumindest zum Zeitpunkt der Zeichenbildung

Gelegentlich kommt es vor dass in einem Ideophonogramm nicht nur ein son dern zwei Zeichenmorpheme als Sinntraumlger zur Bedeutung des Ideo-pho no gramms beitragen Im Folgenden sei ein besonders verwickelter Fall ge schil dert der aber gut als Beispiel fuumlr diese Zeichenbildungsart dienen kann

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des sei ner seits schon ein Ideophonogramm darstellenden Vollallo morphs 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpfallo morph des Laut ent lehnungszeichens 平 piacuteng flach als Lauttraumlger

Der Sinntraumlger 言 yaacuten Wort des Ideophonogramms 評 piacuteng ein-schaumltz- ist wie erwaumlhnt selbst ein Ideophonogramm das unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund (Sinn trauml ger) und oben ein gebundenes heute unikales Allomorph eines obsole ten Zeichen-mor phems mit der Lautung Daggeryǎn (Laut traumlger) in sich birgt Der Laut-traumlger des Ideo phonogramms 評 piacuteng ein schaumltz- naumlm lich das Zeichen-morphem 平 piacuteng flach stammt ur spruumlng lich von einem Pikto gramm 平 piacuteng DaggerWasserlinse das spaumlter auf grund lautlicher Uumlber ein stim mung fuumlr die sekundaumlre Bedeutung flach laut ent lehnt wurde Fuumlr die pri maumlre Bedeutung Wasserlinse wur de dann ent zwei deutigend das Ideo pho no-gramm dagger苹 piacuteng gebildet das wie der um durch Hinzufuumlgung des Allo-morph kuumlrzels des ver alte ten Zeichen mor phems dagger艸 cǎo Gras ober-halb des Laut ent leh nungs zei chens 平 piacuteng flach zustande gekommen war Weil auch das Ideo pho nogramm dagger苹 piacuteng Wasserlinse heute wiederum ver altet ist wird gegen waumlrtig fuumlr Wasserlinse das Quadrat-zeichen 萍 piacuteng geschrie ben

Das letztentstandene Ideophonogramm 萍 piacuteng Wasser linse nun kann syn chron auf zweierlei Art aufgetrennt werden Einerseits so dass es links aus dem Allomorph kuumlrzel des Pikto gramms 水 shuǐ Was ser (Sinn-traumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Ideophono gramms dagger苹 piacuteng Wasserlinse (Lauttraumlger) besteht Andererseits laumlsst es sich ndash zu mindest rein for ma listisch ndash so ana lysieren dass das Allo morph kuumlr zel des Pikto gramms 水 shuǐ Wasser verdeutlichend hinzugefuumlgt wur de um neben dem bereits vorhandenen Sinntraumlger dagger艸 cǎo Gras einen zu saumltz lichen Hinweis auf die Bedeutung des Ideophono gramms 萍 piacuteng Was ser linse zu geben Waumlhlt man diese Sichtweise so duumlrfte man das Allo morph kuumlrzel des veralteten Zeichenmorphems dagger艸 cǎo Gras so wie

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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das Allomorph kuumlrzel des Piktogramms 水 shuǐ Wasser beide fuumlr gleich-ran gige Sinntraumlger des Ideophonogramms 萍 piacuteng Wasserlinse und das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach fuumlr den Laut traumlger halten man haumltte hier also schon bei Auftrennung ersten Ran-ges ein dreigliedriges Ideophonogramm

Das ideophonographische Verfahren bewaumlhrt sich seit langer Zeit als eine nuumltz liche Methode chinesischer Quadratzeichenbildung Mit ihr ist das vor erst letz te quadratzeichen morphologische Entwicklungs sta dium des heutigen chine sischen Schrift systems erreicht Das zeichen morphe misch-sylla bi sche Ver fahren ist seit seiner Einfuumlhrung staumlndig ausge baut worden Die aumllte sten bisher gefundenen chinesischen Schrift zeichen sind wie oben bereits an ge deutet wurde in Rinderknochen (vor al lem auf Schul ter blatt-Kno chen so genannte bdquoOrakel knochenldquo) und Schild kroumlten panzer (zur Weissagung von Jagdgluumlck u auml) eingeritzt Bereits in der Orakel kno-chen schrift machen die Ideophonogramme einen betraumlcht lichen Teil des Schriftzeichen-Bestandes aus In der Gegenwart stellen die Ideo phono-gramme bis zu 90 Prozent aller chinesischen Qua drat zei chen Doch heut-zutage ist auch diese Bildeweise zum Erliegen gekommen denn neue Qua-drat zeichen werden praktisch nicht mehr geschaffen Heute ist neben der Hin ter ein anderreihung von Qua dratzeichen zur Wie dergabe von Mehr-Silben-bdquoWoumlrternldquo (man koumlnnte von bdquoSyntax woumlrternldquo sprechen von Silben-syn tagmen welche durch eine Art Sinn-Univerbierung mehr oder minder lexi kali siert sind heute neigt man dazu in der Schriftsprache aus Paral-lelitaumlt zur Sprechsprache mehr Silben fuumlr bdquoWoumlrterldquo zu schreiben) nur noch das Ver fahren der Lautentlehnung produktiv durch dieses aller dings ver-mehrt sich ja der Quadratzeichenbestand nicht weiter Typischer weise ange-wandt wird dieses Verfahren erwaumlhntermaszligen zB wenn die Lau tungen frem der bdquoWoumlr terldquo und fremder Eigennamen ins Chinesische umzusetzen sind

41 Klassenkoumlpfe

bdquoKlassenkopfldquo ist eine rein formalistisch abstrahierte graphische Grouml szlige ohne tie feren sprachlichen Wert nach der ein Quadrat zeichen im chinesi-schen Woumlrter buch klassifiziert ist um es (vergleichbar der Reihen folge der Buch staben im Alphabet) leichter nachschlagen zu koumlnnen Im Deut-schen wird bdquoKlassen kopfldquo oft mit dem Terminus bdquoRadikalldquo wieder-gegeben In jedem Qua dratzeichen ist entweder ein Strichzug ein Zeichen-morphem oder das ganze Quadrat zeichen (wo dieses aus einem einzigen freien Klassenkopf besteht) als Klassenkopf festgelegt Theoretisch koumlnnte also jedes Zeichenmorphem als Klassenkopf festgelegt werden Saumlmt liche

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Quadrat zeichen in einer Zeichenklasse beinhalten somit einen iden tischen Zeichen bestandteil (naumlmlich den Klassenkopf oder eines seiner Allo morphe) Eine Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe bietet Abbildung 3

Abbildung 3 Erste Seite der Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe (aus Couvreur 1911 1063)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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Die Nachschlagmethode mit Klassenkoumlpfen ist aus den Kompositions-eigen schaften chinesischer Quadratzeichen heraus entwickelt wor den und diese wiederum sind am wesentlichsten durch die bei weitem zahlen-staumlrkste Zeichengattung der Ideophonogramme gepraumlgt Die uumlber wiegende Mehr heit chinesischer Quadratzeichen sind Kompositionen von Zeichen-morphemen die sich bei der Zeichenbildung als (ggf zeichen allo morphisch aus ge formte) Bestandteile wiederholen Des weite ren stellen wie erwaumlhnt Ideo phono gramme die weitaus zahlenstaumlrkste Quadrat zeichen gruppe dar Manche sinntragende Zeichenmorpheme treten dermaszligen haumlu fig auf dass sich die von ihnen mitgebildeten Quadratzeichen nach die sen Sinn traumlgern gruppieren lassen Diesen Umstand macht man sich zu nutze um Quadratzeichen in den herkoumlmmlichen chine sischen Woumlrter buumlchern nach einigen hochfrequenten Zeichenmorphemen zu ordnen Das heiszligt es werden Quadratzeichen mit demselben Zeichen mor phem (-Bestand teil) zusam men geordnet Da die meisten Quadrat zeichen mehr als ein Zeichen-morphem beinhalten wird formalistisch aus jedem mehrglied rigen Qua-drat zeichen ein bestimmtes Zeichenmorphem als fuumlr die Woumlrterbuch-Ein-rei hung maszlig geblich festgelegt Dieses Zeichen morphem bezeichnet man als bdquoKlas sen kopf (des Quadrat zeichens)ldquo Unter einem bestimmten Klassen kopf wer den Quadratzeichen weitergehend nach der Strichzahl geordnet

Aus Ideophonogrammen waumlhlen Herausgeber chinesischer Woumlrter buumlcher vor nehmlich den Sinntraumlger als Klassenkopf aus selten den Laut traumlger Die se Handhabung ist der Grund dafuumlr dass im Bewusstsein chinesi scher Schrei ber das Klassenkopf-Prinzip und das ideophonographische Prin zip eng verwoben sind und das wiederum hat uns veranlasst die Er laumlu te-rung von bdquoKlassenkoumlpfenldquo in dem Abschnitt der Ideophono gramme zu be han deln Weiters fungieren als Klassenkoumlpfe pragmatischer weise et liche kom plexere Zeichen morpheme (einschlieszlig lich solcher die ihrer seits von Ideo phono grammen abgeleitet sind) welche haumlufig als Bestand teile von Qua drat zeichen vor kommen bzw deren Bestand teile um staumlndlich zu zer glie dern waumlren Nicht zuletzt gibt es Quadrat zeichen die mit nur sehr duumlrf tigen Strichzuumlgen geschrieben werden und sich schwerlich aus ein-ander trennen lassen (zB das Quadrat zeichen 七 qī fuumlr die Zahl sie ben) Wuumlr den viele solcher Quadratzeichen als Klassen koumlpfe aufge nom men so stuumln den im Woumlrterbuch etliche Klassenkoumlpfe die nur sehr wenige Ein-traumlge unter sich vereinigen wuumlrden Aus derartigen Quadrat zeichen wird des wegen oft ein einziger Strichzug zum Klassenkopf erklaumlrt auch wenn die unter ihm zusammen sortierten bdquoStrichzug-Klassen koumlpfeldquo zeichen-etymo logisch nichts miteinander gemein haben moumlgen (zB steht der

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Strich zug aus dem das freie Zeichen morphem 一 yī eins besteht als Klassen kopf auch fuumlr das Quadratzeichen 七 qī sieben) Die Anzahl der Klassen koumlpfe belaumluft sich heute auf rund 200 Zahlschwankungen sind dar auf zu ruumlck zu fuumlh ren dass zwischen den einzelnen Woumlrterbuch-Herausgebern Mei nungs ver schie den heiten daruumlber herrschen ob einige Strich zuuml ge Strichzug kom plexe oder gar Zeichen morpheme als Klassen-koumlpfe auf zu nehmen seien

42 Laut-Morphem-Entsprechungen in Ideophonogrammen

Waumlhrend die Formen der chinesischen Quadratzeichen seit knapp 2000 Jah ren verhaumlltnismaumlszligig stabil geblieben sind haben sich im Laufe der Zeit Gebrauch und Aus sprache der Silben stark veraumlndert Wenn sich die Laut bilder einer seits eines Ideophono gramms und andrerseits seines als freies Quadrat zeichen auftretenden Lauttraumlgers allmaumlhlich aus einander ent-wickel ten dann hatte das zur unausbleiblichen Folge dass der Lauttraumlger die Lau tung des von ihm mitgebildeten Komplexes (naumlmlich den Lautwert der Silbe des Ideo phono gramms) mit der Zeit immer ungenauer wieder gibt Das laumlsst sich mit der allmaumlhlichen Auseinanderentwicklung von Schrei-bung und Lau tung auch in Kultursprachen mit Alphabetschriften (wie Fran zouml sisch oder in viel geringerem Maszlige Deutsch) vergleichen

Gilt es die Laut-Morphem-Entsprechung in Ideophonogrammen zu be ur-teilen so sollte man folgende zwei Aspekte in Betracht ziehen erstens ob das Ideo phonogramm und sein Lauttraumlger wenn er in freier Stellung als Qua drat zeichen auftritt homo(io)phon seien und zwei tens ob alle Ideo-phono gramme die das gleiche Zeichenmorphem als Laut traumlger auf weisen ho mo(io)phon seien

Die folgenden Beispiele bilden einige Fallgruppen die grob nach diesen zwei Kri terien sortiert sind Geordnet sind sie hier letztlich nach der Komplexi-taumlt ihrer phonetischen Verhaumlltnisse

(38) Freies Zeichenmorphem 皇 huaacuteng Kaiser als Lauttraumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon徨 huaacuteng unsicher 煌 huaacuteng glaumlnzend 蝗 huaacuteng Heu-schrecke 凰 huaacuteng Phoumlnix 遑 huaacuteng geschweige denn 隍 huaacuteng Graben 湟 huaacuteng Sumpf 惶 huaacuteng aumlngst-lich

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder114

(39) Freies Zeichenmorphem 番 fān barbarisch als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

翻 fān umwaumllz- 幡 fān schmale haumlngende Fahne 旛 fān Wim pel 蕃 fān exotisch

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon藩 faacuten Zaun

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon播 bograve streu-

(40) Freies Zeichenmorphem 青 qīng dunkelgruumln hellblau als Laut-traumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon清 qīng deutlich 蜻 qīng Wasserjungfer 鯖 qīng Ma krele

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon情 qiacuteng Gefuumlhl 晴 qiacuteng klar (in bezug auf Wetter)

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon請 qǐng bitt-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend精 jīng Extrakt Essenz 菁 jīng Quintessenz 睛 jīng Au ge

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend靖 jigraveng befried-

(41) Freies Zeichenmorphem 需 xū brauch- als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend

儒 ruacute Gelehrte(r) 蠕 ruacute sich schlaumlngel- 孺 ruacute Klein kind 濡 ruacute ein tauch- 嚅 ruacute murmel-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon懦 nuograve feige 糯 nuograve Klebreis

(42) Freies Zeichenmorphem 台 taacutei Podest als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

抬 taacutei aufheb- 跆 taacutei trampel- 邰 taacutei ein bestimmter Nach-name 颱 taacutei Taifun

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon苔 tāi Moos 胎 tāi Foumltus

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c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend怠 dagravei faulenz- 殆 dagravei gefaumlhrlich 迨 dagravei bis

d Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt笞 chī peitsch-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon怡 yiacute froumlhlich 貽 yiacute hinterlass- 飴 yiacute Konfekt

f Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon冶 yě schmied-

g Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon治 zhigrave verwalt-

(43) Freies Zeichenmorphem 出 chū her-hinaus als Laut trauml ger ge bunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon絀 chugrave unterlegen 黜 chugrave amtsentheb-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend und mit aumlhn li-chem An glitt屈 qū beug-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt拙 zhuoacute ungeschickt 茁 zhuoacute gedeih-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon咄 duograve ein bestimmtes lautmalerisches Wort

(44) Freies Zeichenmorphem 且 qǐe und als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit demselben Anglitt

蛆 qū Made b Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt und

demselben Ton狙 jū einen Anschlag veruumlb-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt齟 jǔ sich streit- 沮 jǔ niedergeschlagen 咀 jǔ kau-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon租 zū miet-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon阻 zǔ hinder- 祖 zǔ Ahn 俎 zǔ Schneidbrett 詛 zǔ ver fluch‑ 組 zǔ Satz (bei Maszligangaben)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder116

In den obigen Beispielen liegt das Augenmerk darauf welches lautliche Ver haumllt nis zwischen einem Ideophonogramm und seinem Lauttraumlger wenn er frei vorkommt besteht In aumlhnlicher Weise koumlnnte man das Hauptaugen merk dar auf legen in welchem Verhaumlltnis die Lautungen aller Ideophono gram me wel che ein und denselben Lauttraumlger nutzen zueinander stehen

In unseren Beispielreihen sind saumlmtliche Ideophonogramme einer durch Buch staben gekennzeichneten Reihe homophon und weisen den glei-chen Lauttraumlger auf so ist zum Beispiel bei (42) die Lautung saumlmt li cher Ideo phonogramme in Reihe a taacutei in b tāi in c dagravei in d chī in e yiacute in f yě und in g zhigrave Die Ideophonogramme mit dem sel ben laut-tragenden Zeichenmorphem in a taacutei und b tāi sind homoio phon Die Ideo phonogramme in a taacutei und b tāi reimen sich mit denen in c dagravei und besitzen zumindest aumlhnliche Anglitte (t und d) Die Ideo phono-gramme in d chī e yiacute und g zhigrave reimen miteinander Die Quadrat-zeichen in e yiacute und f yě teilen den gleichen Anglitt y waumlh rend der Anglitt in d ch dem in g zh aumlhnelt (bis auf [aspiriert] in al len phono-logischen Merkmalen gleich)

Augenscheinlich lassen sich die Ideophonogramme mit dem freien Zei chen-morphem 台 taacutei Podest (46) in zwei Gruppen unter gliedern Diejenigen in a taacutei b tāi und c dagravei weisen denselben Reim ai untereinander und mit dem frei auftretenden Lauttraumlger taacutei auf waumlhrend sich die Anglitte t und d (in IPA [t ] und [t]) lediglich in dem phonologischen Merkmal [aspi-riert] unter scheiden Dementgegen zeigen die Ideophonogramme in d chī e yiacute f yě und g zhigrave entweder denselben Reim i oder den gleichen bzw einen aumlhnlichen Anglitt (y bzw ch und zh) weder der Reim i noch die An glitte y ch oder zh klingen nach dem frei vorkommenden Laut-traumlger taacutei Wahrscheinlich ist das laut tragende Zeichenmorphem 台 taacutei Po dest durch einen Zusammenfall (Synkretismus) von zwei zeichen etymo-logisch verschiedenen Zeichenmorphemen zustande gekommen oder aus zwei urspruumlnglich geschiedenen Zeichenmorphemen kon tami niert Auch ist denkbar dass die Lautung des freien Zeichen morphems durch Fremd-einfluss (Fremd lautung oder Uumlber nahme mundartlicher Faumlrbung) oder aus einem uns heute verdunkelten historischen Grund veraumlndert wurde Die von ihm abgeleiteten Lauttraumlger waumlren dann zu unter schiedlichen Zei ten (und entsprechend mit unterschiedlicher Lautung) in Ideophono gram me ein gebaut worden

Aus den obengenannten Beispielen laumlsst sich ersehen dass nicht jeder Lauttraumlger einen zuverlaumlssigen Hinweis auf den Lautwert seines Ideo-

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phono gramms gibt Die Zuverlaumlssigkeit mit der ein laut tragendes Zeichen-morphem an einer bestimmten Lautung (oder einem Lautungs buumlndel) verankert werden kann ndash und umgekehrt ndash ist abhaumlngig ua von a) der Anzahl der Ideophonogramme die den gleichen Lauttraumlger aus weisen und phonetisch miteinander uumlbereinstimmen und b) der Haumlufig keit mit der diese Ideophonogramme im Gebrauch vorkommen und damit als Induk-tions basis fuumlr den Anwender dienen koumlnnen

Beispiels weise weisen die Ideophonogramme 提 tiacute heb- bring- erwaumlhn- auf werf- und 堤 tiacute Damm die sehr haumlufig gebraucht werden den gleichen Laut traumlger 是 shigrave sei- auf Daraus ziehen Lerner und Benutzer chine sischer Quadrat zeichen den vorlaumlufigen Schluss dass Ideophono-gramme die den Laut traumlger 是 shigrave sei- enthalten ungefaumlhr mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden sollten ndash obgleich die Lauttraumlger lautung mit der freien Lautung nur im Silbengipfel (hingegen weder im Anglitt noch im Tone) uumlberein stimmt in seiner Eigenschaft als Lauttraumlger haftet dem Zeichen morphem somit eine andere Lautung an als dort wo es frei auf tritt Diese Schluss folgerung finden Quadrat zeichen benutzer bestaumltigt wenn sie seltenere Ideophono gramme wie 醍 tiacute Butter fett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln und 禔 tiacute Gluumlck kennenlernen Stoszligen sie dann auf die ihnen womoumlglich gaumlnzlich (also auch in der Lautung) unbe-kannten Tier namen 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel so sprechen sie beim Vorlesen die fuumlr sie offenkundig als Ideophono gramme erkenn-baren Quadrat zeichen in Analogie ebenfalls mit der Silbe tiacute aus und in diesem Falle stimmt diese Leseaussprache auch Sehen sie nun aber ein anderes ihnen unbekanntes fuumlr sie nicht minder offensichtlich als Ideo-phono gramm zu deutendes Quadratzeichen 湜 shiacute rein (in bezug auf Was ser) so ordnen sie wiederum in Analogie zur oben geschil derten Erfah rung dem Ideophonogramm gleichermaszligen die Silbe tiacute zu ndash dies-mal aber irriger weise denn im Gegensatz zu dem uumlblichen Muster wonach die den Lauttraumlger 是 enthaltenden Ideophonogramme immer mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden bezieht das Ideophono gramm 湜 shiacute rein (in bezug auf Wasser) ungewoumlhnlicherweise seine Lautung unmittelbar aus dem Lautwert des freien Quadratzeichens 是 shigrave sei- wird folglich zu diesem homoiophon mit der Silbe shiacute ausgesprochen

Zu Verwirrungen kann es nicht nur innerhalb der Kategorie der Ideo phono-gramme kommen sondern es geschieht weil ja im Chinesi schen die Ideo-phono gramme dermaszligen vorherrschend sind gelegentlich auch dass ein Leser zusammengesetzte Ideogramme deren Quadratzeichen er noch nicht kennt als Ideophono gramme missdeutet In solchen Faumlllen kann zweier lei

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder118

geschehen Entweder laumlsst der Leser sich vom bdquoPseudo-Lauttraumlgerldquo der maszligen beeinflussen dass er dem ihm unbekannten Quadrat zeichen als Leseaussprache sekundaumlr eine Lautung beimisst welche er mit dem Pseudo-Lauttraumlger verbindet oder aber ndash und das duumlrfte bedeu tend seltener geschehen ndash erkundigt sich der Leser uumlber die sprech sprach lich richtige Lautung des Quadratzeichens und ordnet in seinem Bewusst sein dem Lautungs buumlndel des Pseudo-Lauttraumlgers dann zusaumltzlich diese neue Lautung zu

5 Zur Kombinatorik von ZeichenmorphemenDie uumlberwiegende Mehrheit der chinesischen Quadratzeichen ist durch Kompo si tion von zwei oder mehr Zeichenmorphemen entstanden Aller-dings sind die Zei chen morpheme eines Quadratzeichens im Schreibquadrat nicht willkuumlrlich son dern nach gewissen zeichenmorphotaktischen Regeln platziert

Die kombinatorischen Eigenschaften eines Zeichenmorphems wo es als Kom posi tions glied im Quadratzeichen auftritt sind von zwei Fakto ren ab haumlngig erstens ob das Zeichenmorphem nur gebunden oder aber auch frei vorkommt und zweitens ob das Zeichenmorphem als Bestand teil eines Qua drat zeichens immer ein und dieselbe Position inner halb des Schreib-qua drates einnimmt (stellungsstarr) oder aber an mehreren Posi tionen vor-kommen kann (mehr-Stellungs-faumlhig)

Ein Zeichenmorphem welches nur gebunden als Kompositionsglied im Qua drat zeichen genutzt werden kann ist in aller Regel stellungsstarr Betrachten wir nachfolgend zunaumlchst diese Faumllle nur-gebundener Allo-morphe

(45) Ehemals freies Piktogramm dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette kommt heut zutage nur mehr gebunden vor und ist stellungs starr

a immer am linken und zugleich oberen Quadratzeichenrande wie in 疾 病 瘋 癲 疲 疼 痛 疚 疤 痕 痊 癒 癱 瘓 瘦 疫 療 癮

(46) Ehemals freies Piktogramm dagger卩 daggerjieacute Daggerknieendersitzender Mensch kommt heutzutage nur mehr gebunden vor und ist stellungsstarr

a immer auf der rechten Seite im Quadratzeichen wie in 卯 印 即 卲 卸 卹 卻

Sofern ein Zeichenmorphem auch als eigenstaumlndiges Quadrat zeichen (in Ge stalt eines Vollallomorphs) vorkommt haumlngt seine Stellungs frei heit inner halb des Schreibquadrates davon ab welcher Allomorphart es ange-

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houmlrt den Schrumpfallomorphen oder den Allomorphkuumlrzeln In der Regel nimmt ein Allomorph kuumlrzel nur eine einzige Stelle im Schreib qua drat ein ist also stellungsstarr waumlhrend sich ein Schrumpfallomorph nicht auf eine feste Positio nierung beschraumlnken muss (allenfalls kann) mithin poten ziell mehr-Stellungs-faumlhig ist Das ist der Grund dafuumlr warum die Zeichen morphem gattung bdquoAllomorph kuumlrzelldquo im Bewusstsein chinesi scher Schreiber eine besondere Rolle spielt Nachfolgend fuumlhren wir Bei spiele fuumlr die Platzierung von Schrumpf allomorphen und Allomorph kuumlrzeln im Qua dratfeld an

(47) Piktogramm 山 shān Berg kommt auch frei als Vollallomorph vor so wie als

a Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 屹 崎 嶇 峽 嶼

b Schrumpfallomorph an der Oberkante des Quadratzeichens wie in 嶺 崇 岸 崗

c Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 岡 巒 岳 岔 島

d Schrumpfallomorph auf der rechten Seite im Quadratzeichen (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 訕 汕 疝

(48) Piktogramm 手 shǒu Hand kommt auch frei als Vollallomorph vor sowie als

a Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 摩 拳 拿 掌 擎 摯 擊 攀

b Schrumpfallomorph auf der linken und rechten Seite (im Rahmen der seltenen Komposition aus drei gleichrangigen Gliedern) des Quadratzeichens 掰

c Schrumpfallomorph in der Quadratzeichenmitte und dabei oben so wie beidseits uumlberragt wie in 承

d Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 拜 welches rechts mit einem nur-gebundenen unikalen Allo morph be stuumlckt ist das seinerseits wiederum ur spruumlng lich ebenfalls von dem Pikto gramm 手 shǒu Hand abge leitet ist

e Allomorphkuumlrzel (stellungsstarr) zeichenmorphotaktisch nur im mer am linken Quadratzeichenrande wie in 打 扒 扔 扣 扛 拖 抖 扯 把 抓 攪 拌 捕 捉 握 抽 抵 押

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder120

Die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommen den Zeichen-morphem dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette zusammen gesetzter Qua drat-zeichen sind etwa 病 Krankheit 瘋 verruumlckt 疲 muumlde 痛 Schmerz 疤 Nar be 癒 verheil- 癮 Sucht die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommenden Zeichenmorphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersit zen der Mensch sind zB 印 Stempel 即 sofort 卸 entlad- 卹 troumlst- 卻 hingegen die Bedeutungen solcher Quadrat zeichen mit dem auch frei vorkom menden Zeichen morphem 山 shān Berg sind bei spiels-weise 崎 felsig 峽 Tal 嶼 Inselchen 嶺 Gebirgs zug 岸 Ufer 岳 ho her Berg 島 Insel und Qua drat zeichen mit dem auch frei vor kom-menden Zeichen morphem 手 shǒu Hand koumlnnen folgendes be deuten 拜 anbet- 摩 mit der Hand reib- 拳 Faust 拿 hol- 打 schlag- 捉 einfang-Was Ideophonogramme anlangt kann man meistens aus ihren Kompo si-tions struk turen und den Eigenschaften des Zeichenmorphems schlie szligen ob ein als Kompositionsglied genutztes Zeichenmorphem der Sinn- oder aber der Lauttraumlger eines Ideophonogramms sei Diesbezuumlglich ver su chen wir im Fol genden einige brauchbare Richtlinien aufzustellen und diese an hand der oben aufgelisteten Beispiele zu erlaumlutern Zu beachten ist dass nicht alle Quadrat zeichen in (45) (46) (47) und (48) Ideo phonogramme sind Die Er laumluterung bezieht sich ausschlieszliglich auf die ideo phonographi schen unter den angegebenen Quadratzeichen Saumlmtliche Quadratzeichen in (45) (47) a b und d sowie (48) e stellen Ideophono gram me dar In (46) sind zB folgende Quadratzeichen Ideophonogramme 即 卲 卹 in (47) c 巒 島 und in (48) a 摩 擎 摯

Richtlinie 1 Bei bestimmten Kompositionsstrukturen finden sich der Sinn- und der Lauttraumlger jeweils in bestimmten Stellungen In Ideophono-gram men in denen ein Kompositionsglied das andere (teilweise) um saumlumt (bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition) nimmt der Sinntraumlger die Auszligen- und der Laut traumlger die Innen stellung ein wie in (45) In ideophonogra phi schen Kom posita in denen die Kompositionsglieder senkrecht voneinander zu tren nen sind (bdquoLinksrechtsldquo-Komposition) befinden sich der Sinn traumlger links und der Laut traumlger rechts wie in (47) a und d sowie in (48) e Bei Ideo phono grammen in denen die Kompositionsglieder waage recht von-ein ander zu trennen sind (bdquoObenuntenldquo-Komposition) haumlngt die Unter-brin gung der sinn- und lauttragenden Zeichenmorpheme weniger von ab strakt beschreibbaren Regeln ab sondern sie bdquoklebtldquo eher am einzel nen Zeichen morphem In solchen Faumlllen muss man gewissermaszligen zu jedem Zeichen morphem ein Buumlndel Zusatzeigenschaften kennen zu denen auch

121

die eben erwaumlhnte Po sitio nierung im Zeichen quadrat bei bdquoObenuntenldquo-Kom position gehoumlrt (vgl (47) b und c sowie (48) a)

Richtlinie 2 Es gibt eine beschraumlnkte Anzahl haumlufig gebrauchter Zei-chen mor pheme die ausschlieszliglich oder uumlberwiegend nur einer der bei den Funktionen (Sinn- oder Lauttraumlger) dient Beispielsweise handelt es sich in (45) (46) und (48) um Zeichen morpheme die aus schlieszlig lich als Sinn traumlger erscheinen In (47) tritt das Zeichen morphem 山 shān Berg ungleich haumlufiger als Sinn- (wie in (47) a b und c) denn als Laut traumlger (wie in (47) d) auf nicht zuletzt ist es in seiner selteneren Funktion als Laut traumlger aus schlieszliglich auf der rechten Seite im Schreib quadrat auszumachen (wie in (47) d) wobei noch dazu seine Kompositionspartner auf der linken Seite alle samt gebraumluchliche Sinntraumlger sind und somit die obengenannte Stel-lungs regel bei der bdquoLinksrechtsldquo-Komposition eingehalten wird

Richtlinie 3 Stellungsstarre Kompositionsglieder seien es Allomorph kuumlr-zel wie in (48) e oder nur-gebundene Zeichenmorpheme wie in (45) und (46) dienen in ideophonographischen Quadratzeichen in aller Regel als Sinn traumlger In (46) bestehen die Ideophonogramme aus zwei Kom posi tions-gliedern jeweils einem auf der linken und einem auf der rechten Seite Nach Richtlinie 1 sollte ein Leser den linken Bestandteil als Sinn traumlger und den rechten als Laut traumlger deuten koumlnnen Nun werden bei den Ideo phono gram-men in (46) allerdings die jeweils linken Zeichen morpheme erstens selten als Kompositions glieder in Quadrat zeichen eingesetzt und zweitens falls doch dann sind sie fast nie Sinn traumlger Dem gegen uumlber stellt das stellungs-starre Zeichen morphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersitzender Mensch das stets die rechte Stel lung einnimmt einen gebraumluchlichen Sinn traumlger dar der erfah rene LeserSchreiber hat bei diesem (und anderen) Zeichen also nicht nur die Form sondern zugleich auch etwaige an dieser Form bdquoklebendeldquo Eigen schaften wie bdquoSinn traumlgerldquo und bdquoStellung inner halb des Quadrat feldesldquo ver inner licht Diese Kenntnisse fuumlhren ihn dann zur Schluss folge rung dass die Ideo phono gramme in (46) so komponiert worden seien dass ndash im Gegensatz zur gewoumlhnlichen Positionierung ndash der Sinn traumlger auf der rechten Seite und der Lauttraumlger auf der linken Seite stehe

Wenn sie die obengenannten Richtlinien verinnerlicht haben nehmen Lerner und Benutzer chinesischer Schriftzeichen nur selten das sehr haumlu-fige Quadrat zeichen 題 tiacute Aufgabe als Ideophonogramm wahr Zeichen-etymolo gisch betrachtet besteht dieses Quadratzeichen naumlmlich rechtsinnen aus dem Schrumpf allomorph des Laut entlehnungs zeichens 頁 yegrave Seite als Sinn traumlger und linksauszligen aus dem Allomorph des zu sam men-gesetz ten Ideo gramms 是 shigrave sei- als Lauttraumlger Warum aber erkennt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder122

man diesen ideophonographischen Aufbau von 題 tiacute Aufgabe nun aber meist nicht Das Zeichen mor phem 是 shigrave sei- tritt als Laut traumlger in aller Regel auf der rechten Seite von Ideo phono grammen mit bdquoLinksrechtsldquo-Komposition auf diese Eigen schaft des Zeichen mor phems laumlsst sich aus etlichen Beispielen indu zieren 提 tiacute heb- 堤 tiacute Damm 醍 tiacute Butterfett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln 禔 tiacute Gluumlck 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel Aller dings im Qudratzeichen 題 tiacute Aufgabe steht 是 shigrave einzig artiger weise auf der linken Seite obgleich es in dieser Kom position gleicher maszligen Laut traumlger ist auf faumllligerweise wird zu dem der untere Strich des Allo morphs von 是 shigrave sei- nach rechts unten weitergezogen Dieser weiter gezogene Strich veranlasst den Leser das Quadratzeichen 題 tiacute Auf gabe nicht mehr als bdquoLinksrechtsldquo-Komposition sondern eher als eine (auch anderweitig uumlbliche) bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition zu erachten und da mit ist das Allo morph des Zeichen-morphems 是 shigrave sei- als aumlu szligerer Bestand teil und das Schrumpf allo morph des Zeichen morphems 頁 yegrave Sei te als innerer Bestandteil zu wer ten Wie oben erlaumlutert dient bei Ideo phono grammen mit solcher bdquoAu szligenin nenldquo-Komposition in der Regel das aumluszligere Zeichen morphem (hier 是 shigrave sei-) als Sinn- und das innere (hier 頁 yegrave Seite) als Lauttraumlger Im Qua-drat zeichen 題 tiacute Auf gabe in des sen ist es gerade umgekehrt denn hier nimmt der Laut traumlger die sonst fuumlr den Sinn traumlger uumlbliche Stellung ein und umgekehrt Deshalb wertet der Leser wie erwaumlhnt dieses Quadrat-zeichen schwer lich als Ideo phono gramm son dern nimmt es einfach als Ein heit hin ohne es zu ana lysieren Dieser Ver zicht des Anwenders sich den ideophonographischen Zeichenaufbau zu ver durch sich ti gen liegt umso naumlher als es sich beim Ideophonogramm 題 tiacute Auf gabe um ein uumlber-aus gelaumlufiges Qua drat zeichen handelt sehr gelaumlufige sprachliche Grouml szligen idiomatisiert man bekanntlich schneller und nimmt sie dann eher als gege-bene Einheiten wahr ohne dass man das Beduumlrfnis hegte sich ihren Auf-bau bei jedem Auftreten neu zu vergegenwaumlrtigen

6 Mehr-Zeichen-Komposita und chinesische TexteJedes chinesische Einzelschriftzeichen wird unabhaumlngig von der Zahl sei-ner Bestand teile (Zeichen morpheme) und Strichzuumlge zu einem theore tisch gleich groszligen quadratischen Block gestaltet Anlaumlsslich dieser Eigen schaft wird es im vorliegenden Beitrag ein gaumlngig bdquoQuadrat zeichenldquo genannt Die Rege lung dass alle Quadrat zeichen theoretisch ein gleichgroszliges Feld aus fuumlllen wird beim Drucken und beim Lernen streng eingehalten Diese Diszi plinie rung scheint trivial zu sein sie ist fuumlr die Aufrecht erhaltung der

123

Funktions weise der chinesischen Schrift jedoch von nicht zu unter schaumlt-zender Bedeutung Dadurch dass alle Zeichen morpheme eines zusammen-gesetz ten Schrift zeichens in einem gedachten Quadrat bestimmter Groumlszlige ange ordnet werden vermeidet man dass seine Bestandteile gra phisch aus-ein ander fallen

61 Schriftliche Wiedergabe lexikalischer mehrsilbiger Komposita

In klassischen chinesischen Texten steht jedes Quadratzeichen fuumlr einen Be griff Etliche Quadratzeichen repraumlsentieren als Homographe meh rere Bedeu tungen also mehrere bdquoWoumlrterldquo (meist Homonyme) Je nach Kon text wird die angemessenste Bedeutung dahinter verstanden Um diese Mehr-deutigkeit zu mindern wurden zuerst neue Quadrat zeichen konstruiert welche die Begriffe eindeutiger abbilden konnten Wohl gemerkt ein Qua-drat zeichen obgleich (heute) mit einer Silbe ausgesprochen bildete zunaumlchst nicht unbe dingt eine einzige Silbe ab sondern stand damals noch fuumlr ein Abbild des Inhalts fuumlr einen Begriff der Inhaltsseite welcher ausdrucks-seitig durch passende bdquoWoumlrterldquo (Einsilbler oder Silben syntagmen) ausge-druumlckt werden konnte Nach und nach hielt das Tempo der Quadrat zeichen-bildung nicht mehr mit der sprunghaften Vermehrung neuer bdquoWoumlrterldquo Schritt auch wuumlrden zu viele Ein-Begriff-ein-Quadratzeichen-Entspre-chun gen zu Lasten des Gedaumlchtnisses gehen Aus diesem Grund haben sich Gelehrte auf die feste Hinterein ander reihung mehrerer Quadrat zeichen verlegt ndash und jedes dieser Quadrat zeichen entsprach dann nur noch einer ein zigen Silbe Mehr silbige bdquoWoumlrterldquo konnten und mussten nun also mit einer ihrer Silben zahl entsprechenden Reihe von Quadratzeichen geschrie-ben werden Durch den rekursiven Einsatz vorhandener Quadratzeichen lassen sich so nahe zu unbegrenzt neue Einheiten bilden ohne dass man den Bestand der Quadrat zeichen weiter erhoumlhen muumlsste Als Ergebnis ent-stehen Mehr-Zeichen-Komposita aus zwei drei oder mehr Quadratzeichen Im der deutschen Wortbildung lassen sich mehrgliedrige Komposita (und Mehrfach-Ableitungen) vergleichen

Da zu Anfang als die Schrift noch bildhafter war und eher Begriff lichkeiten denn Lautwoumlrter ausdruumlckte und jedes Zeichen einen Begriff dar stellte (hinter dem sich mehrere Sprechwoumlrter vereinen lieszligen) war keine begren-zende Leere zwischen Quadratzeichen in einer Zeile noumltig Auch als spaumlter die genann ten Mehr-Zeichen-Komposita ent standen blieb dieser Zu stand un veraumlndert So gibt es auch heute beim Schreiben keine Markie rung zwi-schen lexikalischen Einheiten zwischen enger und weniger eng Zu sammen-gehoumlren dem Jedes Quadrat zeichen ist vom anderen gleich weit ent fernt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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gleich ob ein zwei oder mehr Quadrat zeichen zu einem lexika lischen Kom positum zusammengehoumlren Bis auf Anfuumlhrungszeichen fuumlr bdquoneueldquo bzw erklaumlrungsbeduumlrftige bdquoWoumlrterldquo wird auch niemals ein Binde strich oder ein entspre chendes Verdeutlichungs zeichen angewandt welches die Zusammen gehoumlrigkeit eines Mehr-Zeichen-Kompositums kenn zeichnen wuumlrde

62 Interpunktion im chinesischen Text

Die Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen stellt nicht die einzige Schwierig keit beim Lesen klassischer Texte dar Sind schon die Wort gren-zen nicht markiert (und damit zB die haumlufigen Mehr-Zeichen-Komposita nicht als zusammengehoumlrig kennzeichenbar) so gilt dasselbe in klassi schen Tex ten obendrein fuumlr die Grenzen zwischen Saumltzen Des weiteren wurden klassi sche Schriftwerke wohl schon wegen des teuren Schreib materials in einer sprachlich sehr gedraumlngten Form (einer Art bdquoTelegramm stilldquo) verfasst die sich uns heute ohne Kenntnis der damaligen Umstaumlnde heraus nicht mehr von selbst erklaumlrt Daruumlber hinaus gibt es im Chinesischen als isolie-render Sprache kein Kasussystem welches die Rolle der Satz glieder unter-stuumltzend anzeigen koumlnnte Waumlhrend in der heutigen Schriftsprache (in Ent sprechung zur Sprechsprache) wenig Spielraum hinsichtlich dessen herrscht in welcher Folge man Quadratzeichen im Satz anordnen kann kennt die klassische Schreibung kaum Regeln fuumlr die Anordnung der Qua-drat zeichen die schriftliche Fixie rung des Sinnes ist sehr unscharf und da durch sind viele und oft genug stark unterschiedliche Aus legun gen moumlg-lich bzw noumltig fuumlr alle bdquoWort artenldquo ist theoretisch die syntaktische Rolle in einem Satz jederzeit austauschbar Je nach Interpretationsbedarf werden die passendste Bedeutung und Anwendung gewaumlhltDie Sinn-Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen der Mangel an Wort-grenzen Satzzeichen und Kasus die relativ freie Quadratzeichen=bdquoWortldquo-Stel lung sowie die spaumlrliche Schreibweise ndash und nicht zuletzt auch der im Laufe der Zeit eingetretene Sprachwandel in der Sprech sprache ndash er schweren chinesischen Gelehrten die Ausdeutung klassischer Texte seit Ge nera tionen Der Volksmund nimmt diesen Umstand mit folgender Geschichte aufs Korn Es war einmal ein Mann der als es heftig regnete bei einem Besuch im Hause seines Gastgebers dort auch fuumlr die Nacht unterkam Der Regen indes dauerte und dauerte an so wohnte der Besucher Tag um Tag weiter in dem gastfreien Hause Aus Houmlflichkeit wollte der Gastgeber seinem Besu-

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder

125

cher nicht von Angesicht zu Angesicht mitteilen dass er jetzt langsam denn doch nach Hause zuruumlckkehren sollte also klebte er einen Zettel an die Zimmertuumlr des klettigen Gastes Darauf stand

(49) 下雨天留客天留我不留

a 下 xiagrave herabfall- b 雨 yǔ Regen c 天 tiān Himmel Tag d 留 liuacute (jemanden) halt- e 客 kegrave Besucher f 我 wǒ Pronomen der 1 Person g 不 bugrave nicht bu eine Fragepartikel

Der Gastgeber wollte damit ausdruumlcken

(50) 下雨天留客天留我不留

Es regnet Der Himmel haumllt den Besucher [hier bei mir fest] Der Himmel will [dich] halten ich [aber] nicht

Allerdings hatte der kleine Text (49) klassischerweise keine Interpunktion Der gewitzte Besucher indes fuumlgte eine solche auf folgende Weise hin zu

(51) 下雨天留客天留我不留

Tage an denen es regnet [sind] Tage da der Besucher [im Hau se] behalten [werden sollte] [Sollst du als Gastgeber] mich hal ten oder nicht Jawohl [eigentlich Halten]

Das Quadratzeichen 天 tiān Himmel hat weitere Bedeutungen wie Tag Wet ter und Gott Das Quadrat zeichen 留 liuacute fuumlr das Verb halt- laumlsst sich intran sitiv im Sinne von bleib- verwenden Selbst das Quadrat-zeichen 不 bugrave fuumlr die Ver neinungs partikel nicht findet Anwendung auch als Frage partikel wobei dann beim Sprechen die Silbe nebentonig wird Es ist (vor allem im klassischen Text) nicht erforderlich dass alle Satz glieder wie syntak tisches Subjekt oder Objekt eines Satzes ausgedruumlckt werden Hat sie der Textver fasser nicht hingeschrieben so muss sie der Text leser selbst aus dem Kon text erschlieszligen Je nach Hintergrund oder Bedarf ergeben sich unterschiedliche ggf widerspruumlchliche Inter pretationen des-selben Tex tes

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

63 Laufrichtungen von Quadratzeichenfolgen und Textzeilen

Die Schreibrichtung der chinesischen Quadratzeichen ist traditionell in der Regel senkrecht von oben nach unten und die so entstehenden senkrechten Zeilen sind von rechts nach links angeordnet Seit ca 100 Jahren werden chine sische Texte neben der althergebrachten Schreibrichtung auch in Zeilen von links nach rechts und mit von oben nach unten angeordneten Zeilen geschrieben ndash wie in europaumlischen Buumlchern

Dank der Tatsache dass wegen der Form der Quadratzeichen die Zei-chen eines Textes wie die Kaumlstchen in einem Kreuzwortraumltsel angeord net sind sind bei einem chinesischen geschriebenen Text etliche spieleri sche Lesun gen und Schreibungen moumlglich Solche Spielereien sind bei Chine-sen traditionell uumlblich daher sei ihrer hier erwaumlhnt Nicht nur die Zei-chen an Zeilen anfaumlngen oder Zeilenenden sondern auch zB die jeweils sieben ten Quadrat zeichen aller Zeilen stehen in einer Flucht Sie bilden also quer durch die Zeilen laufende bdquo(Diagonal-)Spaltenldquo Das graphische bdquoAkro syllabonldquo dehnt sich uumlber den ganzen Text hin aus Man kann darin die Leserichtungen wechseln oder geometrische Figuren oder auch Endlos schleifen konstruieren So lassen sich beispielsweise auch die fuumlnf Quadrat zeichen in (52) spielerisch dergestalt niederschreiben dass sie in der ange gebenen Abfolge einen Kreis bilden der ndash das legen wir fest ndash im Uhrzeigersinn gelesen wird

(52) 清 心 也 可 以

a 清 qīng reinig- b 心 xīng Geist c 也 yě auch eine Bestaumltigungspartikel d 可 kě koumlnn- e 以 yǐ mittels eine Art Modalpartikel

Wieder dank der Mehrdeutigkeit und der vielfachen Anwendbarkeit kann jedes Quadratzeichen an den Anfang eines Satzes zu stehen kommen

(53) Die fuumlnf moumlglichen Lesarten der Kette aus fuumlnf Quadratzeichen in (52) sind somit folgende (die syntaktischen Komplexe sind durch zusaumltzliche Binde striche verdeutlichend getrennt)

a 清心也可以 (清心-也-可以) Den Geist zu reinigen [ist hiermit] eben falls moumlglich

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder126

b 心也可以清 (心也-可以-清) Der Geist ndash [er] ebenfalls ndash kann [hier-mit] gereinigt werden

c 也可以清心 (也-可以-清心) Ebenfalls kann [hiermit] der Geist ge rei nigt werden

d 可以清心也 (可以-清心-也) [Hiermit] kann der Geist gereinigt wer den jawohl

e 以清心也可 (以-清心-也可) [Hier]mit den Geist zu reinigen [ist] eben falls moumlglich

Das bdquoWortldquo 可以 in den ersten vier Saumltzen bedeutet koumlnn- wobei das Qua-drat zeichen 以 yǐ als rhythmische Partikel keinen Beitrag zur Bedeu tung leistet Das Quadrat zeichen 也 yě im vierten Satz ist ledig lich eine Bestaumlti-gungs partikel wenn es in klassischen Texten am Satz ende hin zuge fuumlgt wird Dieser etwas spielerische volkstuumlmliche Spruch findet sich auf einer chine sischen Teekanne Mit ihm ist gemeint dass guter Tee nicht nur den Durst stille sondern auch den Geist reinige

127Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder128

7 SchrifttumBlakney Raymond B (1948) A course in the analysis of chinese cha rac-ters Peiping The College of Chinese StudiesCouvreur Seacuteraphin (31911) Dictionnaire classique de la langue chinoise Zhili Ho Kien FouFazzioli Edoardo (2003) Gemalte Woumlrter 214 chinesische Schriftzeichen ndash vom Bild zum Begriff Wiesbaden Fourier-VerlagKarlgren Bernhard (22001) Schrift und Sprache der Chinesen Ber lin Springer-VerlagLin Hsin-Hwa (1996) Der sinnhafte Aufbau der chinesischen Schrift Frank furt am Main Peter LangRudolph Joumlrg-Meinhard (2004a) Das groumlszligte Geheimnis Chinas I Ludwigs hafen Ostasieninstitut der FH LudwigshafenRudolph Joumlrg-Meinhard (2004b) Das groumlszligte Ge heimnis Chinas II Ludwigshafen Ostasieninstitut der FH Lud wigs hafenWang Hongyuan (1997) Vom Ursprung der chinesischen Schrift Peking Sino lingua BeijingWieger Leacuteon SJ (1965) Chinese characters Their origin etymology his tory classification and signification A thorough study from Chinese do cu ments New York DoverYan Zhenjiang (2000) Schriftsystem Literalisierung Literalitaumlt Frank furt am Main Peter Lang

Danksagung Die Verfasser danken herzlich den KorrekturlesernMeike Brehmer Jost Gippert Joshua Kraumlmer und Andreas Schabalin

Dr Chung-Shan KaoDepartement fuumlr PsychologieUniversitaumlt Freiburg im UumlechtlandRue Petermann-Aymon de Faucigny 2CH-1700 FreiburgSchweizchung-shankaounifrch+41 (0)26300 74 94

Thorwald PoschenriederTausendschoumln-Verlag

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Geschichte der Morphologie

Rosemarie Luumlhr1

The present approach to history of morphology centres around a certain term namely syncretism because this term plays a major role in modern linguistics under the name of underspecification In the following the phenomenon of underspecification will be dealt with firstly by means of Latin nominal mor-phology and secondly by reference to Old Indic This is supposed to indicate that the Old Indic grammarians already knew essential aspects of underspeci-fication

EinleitungDie Behandlung der Geschichte der Morphologie erfolgt anhand eines be-stimmten Begriffs naumlmlich anhand des Synkretismus weil dieser Begriff unter dem Terminus Unterspezifikation in der modernen Linguistik eine groszlige Rolle spielt Das Phaumlnomen der Unterspezifikation wird im folgenden erstens anhand der lateinischen nominalen Morphologie erlaumlutert zweitens anhand der altindischen Dabei soll gezeigt werden daszlig die altindischen Grammatiker schon wesentliche Aspekte der Unterspezifikation erkannt haben

Das griechische Substantiv συγκρητισμός Vereinigung von kretischen Ver-baumlndenrsquo dann Vereinigung zweier streitender Parteien gegen einen dritten Feindrsquo wurde von Erasmus von Rotterdam neu belebt im Sinne von Ver-mischung von religioumlsen Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbildrsquo Er hat das Wort volksetymologisch an griech συγκεράννυμι vermischersquo σύγκρατος vermischtrsquo angeschlossen Im 19 Jh erfuhr der Begriff eine Ausdehnung Die Anwendung auf die Sprachwissenschaft stammt von August Pott 18362

Eine uumlbliche Definition von Synkretismus findet sich in Abrahams bdquoTermi-nologie zur neueren Linguistikldquo (Abraham 1988 S 849)

bdquohistor Zusammenfall von urspruumlnglich verschiedenen grammatischen For-men mit verschiedenen Bedeutungen so daszlig sprachgeschichtlich Morphem- oder Phonemhomonymie zustande kommt synchron allerdings ist die Lizenz dieses Wandels daszlig eine der gesonderten Bedeutungen oder grammatischen

1 Herr Dr Bernd Wiese hat mir die das Latein betreffenden Graphiken zur Verfuumlgung gestellt und autorisiert Ich danke ihm herzlich dafuumlr2 BaermanBrownCorbett 2005 S 3f

Rosemarie Luumlhr130

Funktionen aufgegeben wird Dies zeigt sich im altgriech Kasussystem das den aumllteren idg Vokativ im Nominativ den Ablativ im Dativ aufgenommen hat Siehe dagegen das Lateinische wo Vokativ und Ablativ noch als gesonderte Kasus existierenrdquo

Auch das Deutsche zeigt bekanntlich Synkretismen vgl die Flexion des Artikels

(1)

[-pl] [+pl]

[+mask] [+neut] [+fem] [+mask] [+neut] [+fem][+nom] -er -es -e -e -e -e

[+acc] -en -es -e -e -e -e[+dat] -em -em -er -en -en -en[+gen] -es -es -er -er -er -er

Klassifiziert man nach Genus Numerus und Kasus erhaumllt man 24 Kom-binationen Doch verwendet man heute anstelle des Begriffs Synkretis-mus den genannten Terminus Unterspezifikation und versucht homo-nyme Endungen unter einer bdquonatuumlrlichen Klasseldquo zusammenzufassen Eine natuumlrliche Klasse ist dann gegeben wenn man weniger Merkmale braucht um diese Klasse zu spezifizieren als ein einzelnes Element hat das zu dieser Klasse gehoumlrt (Hall 2000 S 122) ZB hat die Endung -em in (1) die Merkmale [+dat +mask -pl] und [+dat +neut -pl] Streicht man die gemeinsamen Merkmale weg bleiben [+mask] und [+neut] uumlbrig Dem-nach bilden Maskulinum und Neutrum eine bdquoKlasseldquo die vom Femininum unterschieden ist In einem naumlchsten Schritt wird das Merkmal [+neut] auf-gegeben und das Neutrum anhand der Merkmale [plusmnmask] und [plusmnfem] defi-niert Demnach steht [+mask -fem] fuumlr das Maskulinum [-mask +fem] fuumlr Femininum [-mask -fem] fuumlr Neutrum Wenn man nun diese Merkmals-klassifikation auf die Endung -em anwendet ist diese durch den Merk-malssatz [+dat -fem -pl] ausgezeichnet und es ergibt sich ein Synkretismus oder eine Unterspezifikation in Hinblick auf die Genusmerkmale

Auch bei den Kasusmerkmalen ist der Begriff Unterspezifikation anwend-bar Fuumlr das Slawische hat zuerst Jakobson (1962) Merkmale wie [+nom] [+acc] [+dat] und [+gen] in die allgemeineren Merkmale [plusmngov(erned)] [plusmnobl(ique)] uumlbergefuumlhrt Eine Kreuzklassifikation fuumlhrt dann fuumlr die einzelnen Kasus zu folgenden Merkmalen Nominativ [-gov -obl] Akku-sativ [+gov -obl] Dativ [+gov +obl] Genitiv [-gov +obl] Auf diese Weise

Geschichte der Morphologie 131

entstehen die natuumlrlichen Klassen Nominativ Akkusativ vs Dativ Genitiv und zwar nicht oblique ([-obl]) vs oblique ([+obl]) Kasus Ein Flexions-marker kann so unterspezifizierte Kasus-Information zum Ausdruck brin-gen zB [+obl -mask +fem -pl] fuumlr -er im Dativ Genitiv Singular Femi-ninum (Muumlller Gunkel Zifonun 2004 S 2 6ff) Nimmt man nun fuumlr die Merkmalsklassifikation nur die positiven Merkmale erhaumllt man ein noch einfacheres Schema

(2)

o=oblique[ ]

Nominativ

o

Genitivg=governed g

Akkusativ

og

Dativ

Man sieht daszlig der Dativ gegenuumlber den anderen Kasus durch zwei Merk-male charakterisiert ist oblique und governed An dieser Stelle kommt die Natuumlrlichkeitstheorie ins Spiel Die These ist daszlig die Flexionsendun-gen partiell ikonisch sind (Gallmann 2004 S 125) Dh die Kasus die die meisten Merkmale haben sollten auch formal am meisten komplex sein In der Tat ist der Nasal -m gegenuumlber -n markiert und die Endung -em so ein bdquoschweres Affixldquo (Wiese 1999 S 14)

Die Frage ist nun ob derartige Analysen auch in der Geschichte der Morphologie eine Rolle spielen Man wird schnell fuumlndig Schon die altindischen Grammatiker haben wesentliche Hinweise zur Analyse der altindischen Nominalflexion gegeben Zunaumlchst einmal ist festzu-halten daszlig die bdquoElsewhere-Bedingungldquo ein uumlbergeordnetes Prinzip in der modernen Linguistik auf den genialen Grammatiker Pāṇini zuruumlckgeht Sie besagt bdquoWenn sowohl eine spezifischersquo Regel als auch eine generellersquo Regel auf eine zugrundeliegende Form angewendet werden koumlnnen dann operiert die spezifische Regel vor der generellen Regelldquo (Hall 2000 S 146) Daszlig der Vorrang deskriptiver Regeln von ihrer relativen Anordnung abhaumlngt sieht man zB an den lateinischen nominalen Endungen im Neu-trum und Maskulinum

Rosemarie Luumlhr132

(3) a NOM SGACC SG = X b X = stem + -um c NOM SG in masculine = stem + -usHier steht die Endung -us des Maskulinums der Default-NominativAkku-sativ-Endung -um gegenuumlber (BaermanBrownCorbett 2005 S 135f)

Bleiben wir zuerst beim Lateinischen und pruumlfen wie die bdquoElsewhere-Bedingungldquo im einzelnen wirkt Eine bemerkenswerte Analyse stammt hier von Bernd Wiese Diese soll nun vorgestellt werden

1 Analyse der lateinischen NominalflexionDie lateinische Nominalflexion ist bekanntlich ein komplexes morpholo-gisches System bdquodas alle Symptome des flektierenden Syndromsrsquo zeigt (homonyme synonyme und kumulative Exponenten Genuseinteilung unterschiedlich strukturierte Deklinationsklassen defektive Paradig-men)ldquo Nach Wiese (2002) helfen bei der morphologischen Beschreibung weder regelbasierte Ansaumltze weiter noch bieten morphembasierte Analysen Einsichten in die sbquoLogikrsquo solcher fusionierender Flexionssysteme da die Auffassung von morphologischen Markern als sbquoSaussuresche Zeichenrsquo bei Paradigmen wie den lateinischen nicht haltbar ist Jedoch hat de Saussure (1976 S 122) am Beispiel der deutschen Pluralbildung Gast Gaumlstersquo einen ent scheidenden Hinweis fuumlr Wieses Analyse solcher Formen gegeben bdquoce nrsquoest pas lsquoGaumlstersquo qui exprime le pluriel mais lrsquoopposition sbquoGast Gaumlstersquordquo Die Funktion morphologischer Markierungen laumlge also in derartigen Faumlllen nicht darin als sbquoExponentenrsquo von sbquoInhaltenrsquo zu fungieren sondern in der Unterscheidung von Formen unterschiedlicher Funktion Es wird eine funktionale Distinktion zum Ausdruck gebracht die mit einer formalen Differenzierung korreliert Folgerichtig stellt Wiese so unabhaumlngig begruumln-dete funktionale und formale Ordnungen der lateinischen Flexionsendun-gen auf und bezieht sie aufeinander Dabei kann er die Feststellung einer diagrammatischen Form-Funktions-Korrelation praumlzisieren und die prima facie verwirrende Vielfalt der bdquoAbhaumlngigkeiten und Querverbindungenldquo so Ernst Risch zur lateinischen Flexion (Risch 1977 S 236) auf eine einfache Abbildungsbeziehung im Sinne Buumlhlers zuruumlckfuumlhren

Zunaumlchst nimmt Wiese eine merkmalsbasierte Analyse vor wobei er sich fuumlr die Ausdifferenzierung obliquer Kasus auf Blakes (1994 S 158) Untersuchun-gen zu Kasussystemen stuumltzt In Systemen mit zwei obliquen Kasus steht der

Geschichte der Morphologie 133

Genitiv gewoumlhnlich in Opposition zu einem allgemeinen multifunktionalen Obliquus den Blake den elsewhere-casersquo im Sinne Pāṇinis nennt

(4)(a) Kasusdifferenzierung im Singular und Plural

(4)(b) Ausdifferenzierung obliquer Kasus Synkretismus im Lateinischen

Das lateinische System findet sich unter (4)(b) an letzter Stelle Bei (5) wird deutlich daszlig im Lateinischen non-oblique und oblique Kasus im allge-meinen gut unterschieden werden In den meisten Teilparadigmen gibt es fuumlr die jeweiligen drei Kasus jedoch nur je zwei verschiedene Formen Dies trifft durchgaumlngig fuumlr den Plural zu wo Vokativ und Nominativ ei-nerseits und Dativ und Ablativ andererseits identisch sind Als Einzelkasus gekennzeichnet sind der Genitiv als Attributskasus und der Akkusativ als Objektskasus Kasus denen als bdquovergleichsweise unspezifische Sammelformldquo der VokativNominativ und DativAblativ gegenuumlbersteht Die bdquoSammel-formldquo faszligt Wiese dabei als unmarkiertes Glied der jeweiligen Opposition auf Gegenuumlber dem Plural wird im Singular zusaumltzlich der Objektskasus Dativ formal gekennzeichnet und im non-obliquen Bereich bdquoder Subjekti-

Rosemarie Luumlhr134

vus also der Nominativldquo Fuumlr die einzelnen Deklinationsklassen ergeben sich so folgende Synkretismus-Felder

(5) Paradigmengliederung (Synkretismusfelder)

V N A Ab D G VPl NPl APl AbPl DPl GPl

ictus u-Dekl (7 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

rēx C-Dekl (8 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

diēs ē-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNAPl AbDPl GPl

capra ā-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNPl APl AbDPl GPl

ignis i-Dekl (8 Felder) VN A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

lupus o-Dekl (8 Felder) V N A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

Wieses naumlchster Analyseschritt ist nun die formale Bestimmung der Formenkategorien

(6) Bau der lateinischen Deklinationen (Uumlberblick)

Streicht man den Themavokal ab enthaumllt man in Spalte 3 zB die Laumlnge als formales Kennzeichen der Endung bei der o- ā- u- und ē-Deklination

135Geschichte der Morphologie

(7)(a) FormentypenMarkerParadigmenfelder in der u- C- und i-Deklination (ohne VNA Pl Ntr)

u-Deklination

Formtyp 0 1 2 3b 4 5b 6+ 7

Marker s m L vL Ls X-s vm

Endung -u -us -um -ū -ūi -ūs -ibus -uum

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

C-Deklination

Formtyp 0 1 2 3a 4 5a 5b 6+ 7Marker s m v vL vs Ls X-s vm

Endung - -s -[e]m -e -ī -is -[ē]s -ibus -um

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

i-DeklinationFormtyp 0 1 2 3b (=4) 5a 5b 6 6+ 7

Marker s m L (=vL) vs Ls vLs x-s vm

Endung -e -is rarrC-Dekl -ī -is rarrC-Dekl -īs -ibus -ium

Felder VNANtr VN A AbD G NPl APl AbDPl GPl

(7)(b) EndungstypenMarkerEndungen (formale Ordnung)

Formtyp 0 1 2 3b 4 5 6 6+ 7 7+Marker s m L vL Ls vLs -X-s vm -X-mu-Dekl -u -us -um -ū -uī -ūs -ibus -uume-Dekl -ēs () -em -ē -ei -ēs -ēbus -ēruma-Dekl -a -am -ā -ae -ās -īs -ārumo-Dekl -e -us -um -ō -ī -ōs -īs -ōrum

u-Dekl VNANtr VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

e-Dekl VN A Ab DG VNAPl AbDP GPl

a-Dekl VN A Ab DG VNPl APl AbDP GPl

o-Dekl V N A AbD G VNPl APl AbDP GPl

a b c d e f g h

Paradigmenfelder (funktionale Ordnung)

Rosemarie Luumlhr136

Wieses Interpretation lautet nun folgendermaszligen

Der houmlchstrangigen Position Genitiv Plural Feld h ist eine Form des Typs 7 eine schwere Nasalform zugeordnet dem Ablativ-Dativ-Plural-Feld g eine Form des Typs 6 eine hochmarkierte sigmatische Form Das in der Hierarchie folgende Synkretismusfeld f ist mit einer Form des Typs 5 besetzt und so fort bis zum Nominativ Singular der hier wie sonst gewisse Unregelmaumlszligigkeiten aufweisen kann In der ē-Deklination ist der Thema-vokal anders als sonst im Nominativ Singular lang In der ā-Deklination fehlt die einfache sigmatische Form in diesem Fall und dort wo eine besondere kasus-unmarkierte Neutrum-Form oder ein besonderer Voka-tiv unterschieden wird kommt die 0-Form oder mit Hermann Hirt zu sprechen der casus indefinitus zum Zuge3

In der Tat stimmen nun formale und funktionale Markiertheit uumlberein So ist der Genitiv Plural mit der schweren Nasalform die markierte Form im obliquen Plural waumlhrend etwa die Endungen auf kurzen Vokal in Spalte 0 die formal am wenigsten charakterisierten Endungen sind sie stehen innerhalb der nicht-obliquen Kasus fuumlr die Nicht-Objekts-Kasus

Wieses Fazit lautet so

bdquoFormtypen nehmen einen Platz in der Endungsordnung ein sie besitzen aber nicht notwendig einen festen Inhalt der etwa durch Angabe einer bestimmten Menge morphosyntaktischer Merkmale zu repraumlsentieren waumlre Erst indem eine Form eine Stelle im Paradigma besetzt gewinnt sie einen definitiven Stellenwert Die Position die eine Form im Paradigma einnimmt bestimmt ihren Funktionswert nicht umgekehrtrdquo

Damit kehrt Wiese das traditionelle Bild um Waumlhrend bdquotraditionelle Darstellungen sich gewoumlhnlich mehr oder minder strikt an ein fuumlr alle Deklinationen einheitliches Zwoumllf-Felder-Schema [halten und sich] die Unterschiede zwischen den Deklinationen hellip dann ganz vorrangig als Divergenzen in der Formenbildung dar[stellen]ldquo bietet seine Darstellung bdquoein einheitliches System von Formkategorienldquo

2 Analyse der altindischen NominalflexionWenn wir uns nun der altindischen Nominalflexion zuwenden so haben die altindischen Grammatiker bereits das wesentliche Organisationsprinzip erkannt Die altindischen Grammatiker haben die Kasus mit den entspre-chenden Ordinalzahlwoumlrtern bezeichnet zB prathamā erstersquo (vibhaktiḥ

3 Vgl etwa Hirt 1925

Geschichte der Morphologie 137

Teilung Unterscheidung Abwandlungrsquo) = Nominativ ṣaṣṭhī sechstersquo = Genitiv und nach der Reihenfolge Nominativ Akkusativ Instrumental Dativ Ablativ Genitiv und Lokativ angeordnet weil dies die einzige Folge ist bei der uumlberall die Kasus mit gemeinsamen Endungen also unterspezi-fizierte Formen beisammen sind Instrumental und Dativ (und Ablativ) im Dual Dativ und Ablativ im Plural (und Dual) Ablativ und Genitiv im Sin-gular Genitiv und Lokativ im Dual Nicht mitgezaumlhlt wurde der Vokativ Dieser Kasus gibt anders als die anderen Kasus keine Beziehung im Satz an sondern ist selbst Satzaumlquivalent Vgl die altindischen a- und ā-Staumlmme

(8)(a) a-Staumlmme Maskulinum

Singular Dual Plural Vok deacuteva deacutevau deacutevāḥ Nom devaacuteḥ devaacuteu devḥ I Akk devaacutem devaacuteu devn II Instr deveacutena devbhyām devaacuteiḥ III Dat devya devbhyām deveacutebhyaḥ IV Abl devt devbhyām deveacutebhyaḥ V Gen devaacutesya devaacuteyoḥ devnām VI Lok deveacute devaacuteyoḥ deveacuteṣu VII

(8)(b) a-Staumlmme Neutrum

Singular Dual Plural Vok yuacutega(m) yuacutege yuacutegāni Nom yugaacutem yugeacute yugni Akk yugaacutem yugeacute yugni(8)(c) ā-Staumlmme Femininum

Singular Dual Plural Vok seacutene seacutene seacutenāḥ Nom seacutenā seacutene seacutenāḥ I Akk seacutenām seacutene seacutenāḥ II Instr seacutenayā seacutenābhyām seacutenābhiḥ III Dat seacutenāyai seacutenābhyām seacutenābhyaḥ IV Abl seacutenāyāḥ seacutenābhyām seacutenābhyaḥ V Gen seacutenāyāḥ seacutenayoḥ seacutenānām VI Lok seacutenāyām seacutenayoḥ seacutenāsu VII

Rosemarie Luumlhr138

Zweitens lassen die altindischen Grammatiker die obliquen Kasus mit dem Instrumental und nicht etwa mit dem Lokativ beginnen denn der Instrumen-tal entspricht beim Passiv dem Subjektsnominativ beim Aktiv (Wackernagel Debrunner 19291930 S 11)

21 Merkmalsbasierte Analyse

Versucht man nun eine merkmalsbasierte Analyse so ergibt sich fuumlr die haumlufigsten Staumlmme im Altindischen die a- und ā-Staumlmme folgendes Bild

(9)(a) +Sg -Pl a-Stamm

(9)(b) +Sg -Pl ā-Stamm

Geschichte der Morphologie 139

(9)(c) -Sg -Pl a- ā-Staumlmme

(9)(d) -Sg +Pl a-Stamm

22 Formanalyse

Wir betrachten zuerst die Genus-Unterspezifikation und dann die Kasus-Unterspezifikation

221 Genus‑UnterspezifikationIm Falle der Genus-Unterspezifikation bleiben der Nominativ Plural Maskulinum devḥ und der NominativAkkusativ Plural seacutenāḥ auszliger Betracht da im Femininum in bestimmten Positionen die Endung -āḥ noch zweisilbig ist (WackernagelDebrunner 19291930 S 123) Einzig und allein die Endung des Genitiv Plural ist bei den a- und ā-Staumlmmen vollkommen identisch [+Pl +obl +Gen] devnām seacutenānām Warum das so ist hat moumlglicherweise folgenden Grund In vielen Sprachen die Genussys-teme haben ist im Plural generell die Genusunterscheidung aufgegeben Daszlig aber speziell im Genitiv Plural keine Genusunterscheidung durchge-fuumlhrt ist liegt wohl an der Funktion Partitiv die der Genitiv haben kann

Rosemarie Luumlhr140

Der Plural ist in dieser Funktion als kollektiver Plural auffaszligbar weshalb kein Bedarf an einer Genusdifferenzierung besteht

Doch sind sonst die Genera Femininum und Nicht-Femininum dh Maskulinum und Neutrum bei den a- und ā-Staumlmmen deutlich geschieden4 Auszligerdem treten bei den a-Staumlmmen Kasusendungen auf die sich in anderen Stammklassen nicht finden Auch dies hat einen einfachen Grund Die maskulinen neutralen a- und femininen ā-Staumlmme haben auch einen wesentlichen Anteil an der Bildung der Adjektiva Wie ai priyaacuteḥ priy priyaacutem liebrsquo griech νέος νέα νέον lat novus nova novum zeigt ist dieser Adjektivtyp indogermanisches Erbe Dh in der altindischen Flexion der a- und ā-Staumlmme sind Kasusformen zu erwarten die speziell der Genusunterscheidung dienen Tatsaumlchlich gibt es solche Endungen wie man schon lange gesehen hat

In der Indogermanistik nimmt man im allgemeinen an daszlig die Uumlber-tragung pronominaler und damit bestimmter Genusendungen auf das Substantiv durch pronominal flektierende Adjektive wie viacuteśva- allersquo also sogenannte Pronominaladjektive zustande kam weil ein Adjektiv naumlher beim Substantiv steht als ein Determinierer In der Tat kann man einen schrittweisen Uumlbergang vom Determinativ uumlber das Adjektiv zum Sub-stantiv annehmen wenn man Seilers (1978) Adjektivklassifikation folgt

(10)

Determinativ Adjektiv SubstantivArtikelklassifikatoren Qualifikativa Nominalklassifikatoren

diediesemeine

erwaumlhnten zehn schoumlnen dicken roten houmllzernen Kugeln

Zahlwoumlrter wie zehn zB sind weit vom substantivischen Pol entfernt und gehoumlren zu den Artikelklassifikatoren Das Zahlwort impliziert zwar Zaumlhlbarkeit der Referenzobjekte gibt aber keine weitere Eigenschaft der in Rede stehenden Objekte an Ein Zahlwort wie zehn sagt vielmehr etwas uumlber die Art der Bezugnahme naumlmlich uumlber die Anzahl der Objekte auf die der Sprecher Bezug nimmt aus Aumlhnliches gilt fuumlr textverweisende Aus-druumlcke wie etwa erwaumlhnt Dies ist der Bereich der Festlegung von Eigen-schaften des Referenzakts wie etwa der Festlegung auf ein bestimmtes Genus hierfuumlr sind aber insbesondere die Determinative im Indogerma-nischen die Demonstrativpronomina zustaumlndig (Wiese 2004) So ist die 4 Zur Sonderstellung des femininen Genus in der Morphologie vgl Wiese 2004a Thieroff 2004

Geschichte der Morphologie 141

Formkategorie worin Sprachen am deutlichsten das Genus ausdruumlcken das Pronomen Selbst Sprachen die keine Genusunterscheidung bei den Substantiven haben haben oftmals beim Pronomen eine solche Differen-zierung Es ist so anzunehmen daszlig solche Woumlrter zunaumlchst die Substan-tive in ihrer Flexion beeinfluszligt haben und erst in einem naumlchsten Schritt erfolgte die Beeinflussung der Adjektive durch die Substantive Damit duumlrfte eine pronominale Endung wie im Falle des Instrumentals -ena bei den a-Staumlmmen also zuerst auf die Substantive uumlbergegangen sein und erst dann auf Adjektive

Geht man nun auf die Unterschiede in der Flexion zwischen Nicht-Femi-nina und Feminina ein so waumlren bei den ā-Staumlmmen etliche Kasusformen bei normaler Entwicklung mit dem Maskulinum zusammengefallen Ein solcher Genus-Synkretismus oder eine solche Genus-Unterspezifikation wurde aber vermieden indem das feminine Substantiv weitgehend umge-staltet wurde und zwar eben zumeist nach dem Demonstrativpronomen

(11)InstrSg seacutenayā anstelle von seacutenā asymp aumllter mask dev vgl taacuteyā vom Pron taacute- dieserrsquo DatSg seacutenāyai anstelle von seacutenai asymp aumllter mask devaacutei vgl taacutesyai vom Pron taacute- LokSg seacutenāyām anstelle von seacutene5 asymp mask deveacute vgl taacutesyām vom Pron taacute-

Eine andere Neubildung ist der VokSg seacutene anstelle von seacutena6 asymp mask deacuteva vgl aksl ženo gr νύμφα

Doch auch das Maskulinum hat Umbildungen nach dem Pronomen erfahren

(12)zB DatAblPl deveacutebhyaḥ anstelle von devaacutebhyaḥ vgl teacutebhyaḥ vom Pron taacute-

Warum bei den altindischen a- und ā-Staumlmmen Genus-Unterspezifikatio-nen weitgehend aufgehoben wurden ist sicher auf die Funktion des Genus als Signal fuumlr syntaktische Kongruenz zuruumlckzufuumlhren7

5 Vgl dazu Luumlhr 19916 Luumlhr 19917 Corbett 1991 S 4 bdquoIf a language distinguishes gender there is always agreement with respect to genderldquo Auszligerdem ist Genus wichtiger als Numerus da bdquogender is inherently fixed for a noun whereas [number] is usually instantiated and gives rise to different word forms in the paradigm of a nounldquo Auf der anderen Seite wird aber Genus arbitraumlr zuge-wiesen (Ortmann 1998 S 62)

Rosemarie Luumlhr142

222 Kasus‑UnterspezifikationNach WackernagelDebrunner (19291930 S 1f) besteht bei der altindischen Deklination bdquofast uumlberall die Neigung Form und Bedeutung eindeutig aufeinander zuzuordnenldquo Dh die Funktionen der nominalen Endungen sind klar erkennbar wodurch sich das Altindische wesentlich vom Latei-nischen unterscheidet Betrachtet man aber die Endungen im Uumlberblick so ist wie in anderen Sprachen auch die Obliquus-Form bei den a- und ā-Staumlmmen stets laumlnger oder schwerer als die entsprechende Nicht-Obli-quus-Form Ohne auf Einzelheiten einzugehen findet man im Maskulin- Paradigma (devaacuteḥ) im Singular im Nicht-Obliquus nur kurze Vokale waumlhrend der Obliquus Langvokale im Ablativ und Lokativ und dreisil-bige Formen im Instrumental Dativ und Genitiv aufweist und zwar teils mit langem Vokal in der Mittelsilbe Entsprechend ist das Verhaumlltnis im Feminin-Paradigma (seacutenā) nur daszlig hier den langvokalischen Formen im Nicht-Obliquus durchaus schwere zweisilbige Endungen im Obliquus entsprechen Auch im Dual und Plural ist der Gegensatz Nicht-Obliquus vs Obliquus deutlich ausgepraumlgt Einsilbigen Endungen mit Langvokal im Nicht-Obliquus stehen zwei- oder dreisilbige Endungen teils wiederum mit Langvokalen im Obliquus gegenuumlber Nun sind in einer Akkusativsprache wie es das Altindische ist die nicht-obliquen Kasus die unmarkierten die obliquen aber die markierten Kasus Demnach laumlszligt sich festhalten daszlig dem Mehr an Form in den obliquen Kasus ein Mehr an Merkmalen entspricht

Damit sind die Endungen der nominalen a- und ā-Staumlmme im Altin-dischen als ikonisch einzustufen Daszlig dies tatsaumlchlich ein Bildeprinzip des altindischen Nomens ist sieht man daran daszlig einsilbige Endungen die sich bei einer regelrechten Entwicklung aus dem Indogermanischen ergeben haumltten im Altindischen umgebildet worden sind vgl zB

(13) InstrSgMask(Neut) deveacutena anstelle des Instr dev DatSgMask(Neut) devya anstelle des Dat devaacutei GenPlMask(Neut) devnām anstelle des Gen devm

Doch ist noch ein Weiteres festzustellen vgl

(14)AblGenSgFem seacutenāyāḥ anstelle des Gen seacutenāḥ vgl griech GenSgf τιμῆς GenPlFem seacutenānām anstelle des Gen seacutenām

Geschichte der Morphologie 143

Die zu erwartende Form seacutenāḥ waumlre synkretistisch mit dem Nicht- Obliquus Plural seacutenāḥ zusammengefallen Ein Genitiv Singular Femini-num seacutenāḥ mit den Merkmalen [+sg +obl +gen] und ein VokativNomina-tivAkkusativ Plural Feminum seacutenāḥ mit den Merkmalen [+pl -obl] bilden jedoch keine bdquonatuumlrliche Klasseldquo weil diese Formen auszliger dem Genus keine Merkmale gemeinsam haben Aumlhnliches gilt fuumlr einen Genitiv Plural Femi-ninum seacutenām da dieser mit dem Akkusativ Singular Femininum seacutenām zusammengefallen waumlre8 Somit bleibt festzuhalten Im altindischen Nomi-nalparadigma der a- und ā-Staumlmme wird Kasus-Unterspezifikation bei Formen die keine natuumlrliche Klasse bilden nicht geduldet Dies ist sicher der Grund weshalb die altindischen Grammatiker die Formen der a- und ā-Staumlmme in die genannte Reihenfolge bringen konnten

FazitWir halten fest Der von August Pott in die Sprachwissenschaft eingefuumlhrte Terminus Synkretismus hat eine lange Tradition Schon die altindischen Grammatiker haben diesen Terminus im Sinne des heutigen Begriffs Unter-spezifikation angewandt um uumlbereinstimmende Kasusformen nebenein-ander anzuordnen Doch sind im Altindischen Unterspezifikationen im Paradigma der a- und ā-Staumlmme relativ wenig ausgepraumlgt weil wegen der Uumlbereinstimmung mit dem Adjektiv und Pronomen hier Genusunter-scheidungen viel deutlicher als bei anderen Stammklassen zum Ausdruck kommen Anders verhaumllt es sich im Lateinischen Es gibt eine Fuumllle von synkretistischen oder unterspezifizierten Kasusformen Gemeinsam ist aber beiden Sprachen daszlig einem Mehr an Merkmalen ein Mehr an Form entspricht Dies wird im Altindischen an der komplexeren Form der Kasus obliqui gegenuumlber den Nicht-Obliqui deutlich Auch im Altindischen koumlnnen also Form und Funktion korreliert werden

8 Luumlhr 2002 S 131f

Rosemarie Luumlhr144

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Wiese Bernd (2002) lsquoZur lateinischen Nominalflexion Die Form-Funk-tions-Beziehungrsquo Paper read at the 26th annual meeting of the Deutsche Gesellschaft fuumlr Sprachwissenschaft Mannheim February 2002 Ms Man-nheim IDS

Wiese Bernd (2004) Zur Systematisierung der Schwankungen zwischen starker und schwacher Adjektivflexion nach Pronominaladjektiven Ms Mannheim IDS

Wiese Bernd (2004a) lsquoCategories and Paradigms On Underspecification in Russian Declensionrsquo in Muumlller Gunkel Zifonun 2004 S 321-372

Rosemarie Luumlhr Universitaumlt Jena RosemarieLuehruni-jenade

Ostgermanische Morphologie

Magnuacutes Snaeligdal

The title of this paper is East-Germanic morphology but as explained in the introduction East-Germanic morphology is in fact Gothic Morphology as our knowledge of other languages in that group is minimal Section 2 deals with the size of the Gothic corpus word number and frequency etc This informa-tion is used in section 3 to discuss what we know about Gothic morphology and section 4 to discuss what we dont know about Gothic morphology Section 5 contains some concluding remarks

1 Einleitung

Ostgermanische Morphologie ist eigentlich gotische Morphologie weil mit Ausnahme des Gotischen die Sprachen der Ostgermanen nur wenig bekannt sind Zu diesen Sprachen gehoumlren die Sprachen der Gepiden Wandalen Burgunder Heruler Rugier und Skiren und es handelt sich dabei fast ausschlieszliglich um Eigennamen die in nicht germanischen Quellen uumlberliefert sind Das sogenannte sbquogotische Epigrammrsquo wird jedoch als wandalisch angesehen

(1) Inter eils Goticum scapia matzia ia drincan non audit quisquam dignos edicere versos

Auf Gotisch waumlre das vermutlich

Hails Skapja Matja jah drigkan sbquoHeil Kellner Essen und Trinkenrsquo

Auch die Formel froia arme die auf Bibel-Gotisch frauja armai lauten sollte dh κύριε ἐλέησονsbquo Herr erbarme dichrsquo ist vielleicht Gotisch durch Wandalen vermittelt (vgl Tiefenbach 1991 S261) Da die Wandalen nicht gerade fuumlr ihre Barmherzigkeit beruumlhmt waren kann man es wohl als einen Anticlimax bezeichnen daszlig von ihrer Sprache fast nur dieses Gebet uumlberliefert ist

Einige Runeninschriften werden als ostgermanisch oder gotisch angesehen Ich nenne an dieser Stelle nur zwei davon (vgl Ebbinghaus 1990 S207 bis 210)

Magnuacutes Snaeligdal148

1 Die Speerspitze von Kowel in der Ukraine Darauf ist die Inschrift tilarids zu lesen (linkslaufend) Doch ist hier die Deutung einiger Runen dunkel und unsicher

2 Der Goldring von Pietroassa Darauf steht die Inschrift gutaniowihailag zu lesen Selbstverstaumlndlich wird es wegen des Anfangs in Verbindung mit den Goten gebracht doch ist keines dieser Worte in den gotischen Bibeltexten uumlberliefert nicht einmal hailags (sondern weihs) Einigkeit uumlber die Deutung dieser Inschrift besteht jedoch nicht

2 Der Umfang des gotischen KorpusDie gotischen Sprachdenkmaumller sind klein und einfoumlrmig Die Gesamtheit der gotischen Uumlberlieferung umfaszligt weniger als 70000 Woumlrter Als minimale Grundlage einer digitalen grammatischen Analyse muumlssen mindestens 70000 Woumlrtern analysiert werden Wenn man also den ganzen gotischen Text analysiert hat reicht dieses Material kaum fuumlr eine digitale Analyse ndash und welche Texte sollten uumlberhaupt damit analysiert werden Die Einfoumlrmigkeit der Sprachdenkmaumller besteht darin daszlig es sich fast nur um eine Uumlbersetzung des Neuen Testaments handelt Der Text der Evangelien ist manchmal aumlhnlich und einige Teile der Paulus-Briefe sind parallel in zwei Handschriften uumlberliefert Deshalb gibt es viele Loumlcher in unserer Kenntnis des gotischen Wortschatzes Wir wissen zB nicht was sbquoPferdrsquo auf Gotisch heiszligt da dies weder in den Evangelien noch in den Briefen vorkommt Das Wort aiƕatundi sbquoβάτος Dornstrauchrsquo enthielt als erstes Glied der Stamm aiƕa- sbquoPferdrsquo (vgl Lat equus Gr ἵππος usw) was auf aiƕs deuten koumlnnte aber dies war nicht notwendigerweise das uumlbliche Wort fuumlr Pferd

21 Woumlrter asymp Tokens und Wortformen asymp Typen

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 ist die erste digitale Bearbeitung des gotischen Textes und baut voumlllig auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 auf1 Das Resultat besteht darin daszlig die Anzahl der Woumlrter (asympTokens) 67438 betraumlgt und die der Wortformen (asympTypen) 9462 Es sei hervorgehoben daszlig sie Faumllle wie zB thornatuthorn-thornan sbquound auch diesrsquo und sumaih sbquound einigersquo als jeweils ein Wort zaumlhlen thornatuh thornan aber als zwei Woumlrter

1 Sie beziehen jedoch das Speyerer Blatt und die neuen Lesarten von Bennetts Skeireins-Ausgabe mit ein und nennen S XI Fn 2 auch W Estabrooks und J W Marchands nicht veroumlffentlichte Computertexte

Ostgermanische Morphologie 149

In dem gotischen Text der Snaeligdal bdquoConcordanceldquo 2005 (CBG) zugrunde liegt (ebenfalls auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 basierend) betraumlgt die Zahl der Woumlrter 68133 und die der Wortformen 9421 (mit einer Zahl von 356506 Buchstaben in Woumlrtern) Hierin werden Faumllle wie zB thornatuthorn thornan und thornatuh thornan als jeweils zwei Woumlrter gezaumlhlt die nachgestellten Partikeln -u (30) und -uh (214 mit Varianten) auch als selbstaumlndige Woumlrter doch nicht von Pronomen und Adverbien getrennt Wenn man diese abzieht betraumlgt die Zahl der Woumlrter noch 67889 die Wortformen werden jedoch etwas zahlreicher (und naumlhern sich der Anzahl bei TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976) Nun kommen auch Wortformen wie bi-thorn-thornan-gitanda vor (1 KorA 1515 εὐρισκόμεθα δὲ καί Wir werden aber auch hellip erfundenrsquo) und es ist vielleicht nur natuumlrlich diese als drei Woumlrter zu zaumlhlen da die Partikeln sonst wie selbstaumlndige Woumlrter gezaumlhlt sind (Solche Woumlrter sind 28 von 24 Typen) Wenn diese eingeschobenen Partikeln mitgerechnet werden muss man folgendes Material hinzufuumlgen

1 -ba1 ƕa1 ni1 nu

12 thornan1 thornau4 -u

20 -uh -h -uthorn -thorn41

Tab 1 Die Zahl der eingeschobenen Partikeln

Das heiszligt also 41 Tokens Der Text umfasst dann 68174 Woumlrter Man muss auch die Wortformenzahl korrigieren und 13 abziehen was zu einem Ergebnis von 9408 fuumlhrt2 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang daszlig in den Paulus-Briefen immer -uh-thornan- (und dessen Varianten

2 Wird -uh- von at-uh-gaf entnommen bleibt atgaf uumlbrig aber diese Wortform ist schon gezaumlhlt worden Wenn dementsprechend auch -h von sumai-h entnommen wird bleibt die Form sumai uumlbrig die ebenfalls gezaumlhlt worden ist Wird dagegen -u- von bi-u-gitai entnommen bleibt bigitai uumlbrig das nicht gezaumlhlt worden ist oder -uh-thornan- von diz-uh-thornan-sat was dizsat ergibt das nicht gezaumlhlt worden ist nur dissat Vergleiche auch solche Beispiele wie usiddja uz-uh-iddja wo us- sich vor -uh- zu uz- aumlndert aber nicht vor iddja Das letzte Beispiel ist dann vergleichbar mit Filippauz-uh Wenn -uh davon entnommen wird bleibt Filippauz uumlbrig und wird neben Filippaus als eine selbstaumlndige Type gezaumlhlt Dieses Beispiel zeigt auch dass Type und Wortform nicht ganz gleichbe-deutend sind

Magnuacutes Snaeligdal150

insgesamt 10 Beispiele) eingeschoben ist auszliger in at-uh-gaf EphA 48 Interessant ist daszlig diese eingeschobenen Formen so selten sind daszlig sie nur in den groumlszligten Handschriften vorkommen dh dem Codex Argenteus und den Codices Ambrosiani A und B

211 Zufuumlgungen und AuslassungenAn diese Stelle muss ein ABER eingefuumlgt werden

Im Text der CBG wurden 148 Woumlrter eingefuumlgt (in spitzen Klammern gedruckt) die nicht in den Handschriften vorkommen von denen aber Streitberg (so wie auch andere Herausgeber vor ihm) meint daszlig sie zwar auf Grund der Ungeschicktheit des Schreibers weggefallen sind sie vom griechischen Text her jedoch erfordert werden Am haumlufigsten handelt es sich dabei nur um ein einzelnes Wort in einigen Faumlllen jedoch auch um mehrere zB wenn der Schreiber vermutlich eine ganze Zeile uumlberspringt Dies macht ungefaumlhr 02 des Textes aus An dieser Stelle sollte auch angefuumlhrt werden daszlig Streitberg 162 Woumlrter aus dem Text streichen will (in eckigen Klammern gedruckt)

Es gibt jedoch auch noch andere Hinzufuumlgungen Hier geht es um die Rekonstruktionen von verschollenen Textstellen die wegen der Beschaumldigung einiger Handschriftenblaumltter verloren sind Insgesamt muumlssen daher weitere 150 Woumlrter weggenommen werden was weitere 02 des Textes ausmacht

Ein stark beschaumldigtes Blatt des Codex Argenteus enthaumllt einen Teil des 11 Matthaumlus-Kapitels der verlorene Text ist jedoch rekonstruiert worden insgesamt 44 komplette Woumlrter (und 37 Wortteile)

Aus den Bruchstuumlcken des 23 und 24 Kapitels des Lukas-Evangeliums im Codex Gissensis wurden 79 komplette Woumlrter rekonstruiert (und 14 Wortteile aus diesem Fragment sind 19 komplette Woumlrter belegt sie enthalten jedoch beschaumldigte Buchstaben)

Im Codex Carolinus wurden die meisten Blaumltter am oberen Blattrand abgeschnitten Deshalb sind 6 Woumlrter in der ersten Zeile beschaumldigt aber 6 sind verloren gegangen und rekonstruiert worden

In 1 TimA 612ndash14 muumlssen 13 Woumlrter abgezogen werden da sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf dem Handschriftenblatt vorhanden sind

Ostgermanische Morphologie 151

Weitere vier Faumllle ergeben 5 rekonstruierte Woumlrter anthornaris lithornus RoumlmC 125 mag 1 TimB 616 im 2 TimB 416 diakuna 4 Unterschrift der Urkunde von Neapel

In Faumlllen wie zB (Mt 1115)

(2) saei habai au[sona hausjandona ga]hausja[i] ὁ ἔχων ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω Wer Ohren hat zu houmlren der houmlre

wo das was in die eckigen Klammern steht rekonstruiert wurde ist nur ein ganzes Wort hinzugefuumlgt worden dh hausjandona Uumlberreste wie au zaumlhlt man als ein Token im Text der Handschrift und stattdessen kommt das rekonstruierte au[sona] das keinen Einfluss auf die Anzahl der Woumlrter hat Die Buchstabenzahl veraumlndert sich dabei allerdings etwas Die Anzahl solcher Wortuumlberreste betraumlgt 96 wovon 5 Wortformen sonst nicht belegt sind Bethorn[saiumldan] Mt 1121 analag[jandans] Lk 1030 [usso]kjands LkG 2314 [qis]teins Mk 144 rahnjai[dau] 2 TimA 416

Der Text ist damit um 298 Tokens oder 04 geschrumpft Das Resultat besteht damit aus 67835 Tokens 9404 Typen und 356649 Buchstaben in Woumlrtern Wenn man mit den eingeschobenen Partikeln gerechnet hat betraumlgt das Ergebnis 67876 Tokens und 9391 Typen Jede Type hat dann im Durchschnitt sieben Tokens Dies ist keine groszlige Abweichung von den urspruumlnglichen Zahlen und das Resultat kann nicht als vollkommen genau angesehen werden ZB werden Buchstaben die einen erhaltenen Wortteil vollenden in die Buchstabenzahl miteinbezogen Einige Konjekturen werden mit eingerechnet aber sie beeinflussen das Resultat nur unwesentlich

212 Die RandglossenWoumlrter in den Randglossen werden in diesen Zahlen mitgerechnet Drei Glossen werden jedoch weggenommen weil ich es fuumlr relativ sicher halte daszlig sie nicht vorhanden sind andwaih RoumlmA 913 salja 2 KorA 616 lustau KolA 35 Insgesamt betragen die Glossen 103 Tokens 96 Typen 741 Buchstaben3 In den Glossen sind 13 ἅπαξ λεγόμενα und 18 Wortformen enthalten die sonst nicht belegt sind In Lk 732 steht die Gl hufum zu gaunodedum und das ist auszliger Mt 1117 huf[um] die einzige belegte Form dieses Verbs (hiufan θρηνεῖν Klagelieder singenrsquo) In der Glosse zu Lk 934

3 Im Codex Ambrosianus A sind es 52 Glossen 81 Woumlrter 609 Buchstaben im Codex Argenteus sind es 15 Glossen 22 Woumlrter 142 Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal152

wird milhmam (drei weitere Beispiele) als Fehlschreibung fuumlr milhman (milhma sbquoνεφέλη Wolkersquo) angesehen aber diese Form ist sonst nicht belegt Die Glossen fuumlgen deshalb unserer Kenntnis von der gotischen Morphologie etwas hinzu

213 Die ZahlzeichenIn diesen Ziffern sind die Zahlzeichen im Text auch enthalten 145 Tokens (78 Typen) oder ungefaumlhr 02 der Tokens Die Zahlzeichen kommen verhaumlltnismaumlszligig am haumlufigsten in Nehemia besonderes in 7 Kapitel 51 (105 der Tokens in Nehemia) im Kalender 40 (506 der Tokens) und im Codex Vindobonensis 12 (40 der Tokens) vor Im Codex Argenteus betragen sie 17 im Codex Ambrosianus A 7 Cod Ambr B 1 Cod Ambr E 6 in der Urkunde von Neapel 8 der Urkunde von Arezzo 1 den Gotica Veronensia 2 Dagegen werden die Zahlen am Rande die die Aufteilung des Textes in Leseabschnitte oder andere Sektionen markieren nicht mitgerechnet

214 Lexeme Fremdwoumlrter NamenIm Gotischen gibt es 3612 NachschlagswoumlrterLexeme 3537 wenn die Zahlzeichen (75) nicht mitgezaumlhlt werden und 3058 wenn auch die Lehnwoumlrter abgezogen werden Dies ist dann der ostgermanische Wortschatz den das Gotische uumlberliefert

Die Lehnwoumlrter (auszliger Namen) und davon abgeleiteten Woumlrter betragen 146 308 Typen die 1102 Tokens ergeben Diese Gruppe ist aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt von alten Lehnwoumlrtern die sich in den Ohren eines gewoumlhnlichen Goten wohl kaum fremdartig anhoumlrten bis hin zu Woumlrtern die unveraumlndert aus dem griechischen Text entnommen wurden Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 53 oder 363 der Lexeme und 48 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich werden die meisten von ihnen der letzten Gruppe zugeteilt Ein gotisches Produkt sind 22 abgeleitete Woumlrter und Komposita mit einem Lehnwort als zweitem Glied Die Verben aiwaggeljan und praufetjan sind in Anlehnung an Gr εὐαγγελίζεσθαι und προφητεύειν gebildet aber sie koumlnnen nicht einfach als Lehnwoumlrter bezeichnet werden Von diesen sind 8 ἅπαξ λεγόμενα Zu den Lehnwoumlrtern kann dann hinzugefuumlgt werden 44 laiktsjo (6)laiktjo (38) lectio Leseabschnittrsquo und peika- in peikabagms sbquoφοίνιξ Palmbaumrsquo Hier sind 4 unvollstaumlndige Woumlrter

Ostgermanische Morphologie 153

anzufuumlhren and[bahtja] 2TB 411 si[ponjans] Mt 101 sipon[jos] Mk 1416 und [praufe]te Neh 614

Personennamen Ortsnamen und davon abgeleitete Nomina die aus der Vorlage entnommen und mit gotischen Buchstaben transkribiert wurden betragen insgesamt 333 Lexeme 569 Typen die 2350 Tokens ergeben Iesus und Xristus stehen fuumlr insgesamt 961 Woumlrter oder 409 Die haumlufigsten dieser Namen waren wohl weit verbreitet andere jedoch eher selten oder unbekannt Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 181 oder 543 der Lexeme und 77 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich sind die meisten von ihnen im 3 Kap Lukas und 7 Kap Nehemia enthalten Ein gotisches Erzeugnis sind fuumlnf Woumlrter die davon abgeleitet sind aber zum Teil mit gotischem Material jedoch mit griechischen Woumlrtern als Vorbild fwnikiskssbquo Φοινίκισσα phoumlnikischrsquo judaiwisks sbquoἰουδαϊκός juumldischrsquo iudaiwisko sbquoἰουδαϊκῶς auf juumldische Weisersquo iudaiwiskon sbquoἰουδαΐζειν juumldisch lebenrsquo und galiugaxristus sbquoψευδόχριστος falscher Christusrsquo Diese sind hier gezaumlhlt und ergeben 6 Woumlrter Hierunter gibt es auch 8 unvollstaumlndige Woumlrter Aze[ris] Neh 745 Bethorn[saiumldan] Mt 1121 Iohan[nes] Jh 1118 Kafarna[um] Mt 1123 [Iairu]salem LkG 2413 [Herode]s LkG 2312 [Peilata]u LkG 2311 und [Seidon]e Mt 1121

Insgesamt umfassen die Fremdwoumlrter 475 Lexeme 869 Typen und 3447 Tokens Das ist 131 der Lexeme 925 der Typen und 5 der Tokens

Zur Uumlbersicht diene folgende Tabelle

Tokens Typen LexemeTollenaere Jones 67438 9462CBG 68174 9408 3613Ohne Hinzufuumlgungen

67876 9391 3612

Tab 2 Vergleich von Tollenaere Jones CBG und Text ohne Hinzufuumlgungen

22 Der Umfang einzelner Handschriften

Die oben behandelten Zahlen sind im Vergleich mit den Handschriften nicht ganz genau da darin einige Konjekturen mitgerechnet sind wie bereits erwaumlhnt wurde Es ist jedoch auch nicht einfach die Woumlrter und Buchstaben in Handschriften zu zaumlhlen Ist ƕa|ƕazuh ein Wort oder zwei Besteht der Fehler darin daszlig der Schreiber erst die ersten Silbe ƕa geschrieben hat und dann das ganze Wort ƕazuh oder hat er erst das Wort ƕa und dann das Wort ƕazuh geschrieben Wie viele Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal154

sind in sīd (= sind) erhalten Ist der Nasalstrich ein selbstaumlndiger Buchstabe oder sollte er als eine Variante von n (und m) angesehen werden Dazu kommen auch die Ligaturen und die Abkuumlrzungen von nomina sacra Wenn die Woumlrter in den Paralleltexten nur einmal gezaumlhlt werden betraumlgt das Resultat 59623 Tokens 9363 Typen und 311498 Buchstaben

Die Zahlen in Tab 3 gelten fuumlr den Umfang des editierten Textes aus einzelnen Handschriften Nasalstriche Ligaturen und nomina sacra sind aufgeloumlst

Tokens Typen Bstaben Tok BstCod Arg (incl F Spir) 35338 5673 178777 520 503Cod Ambr A (incl Kal) 15247 3978 82126 224 231Cod Ambr B 13649 3519 74478 201 209Cod Ambr E (Skeireins) 1957 867 10764 29 30Cod Carolinus (Rom) 597 338 3102 09 09Cod Ambr D (Nehemia) 483 286 2730 07 08Cod Ambr C (Matth) 346 202 1728 05 05Urkunde von Neapel 113 31 689 02 02Gotica Veronensia 62 43 299 009 008Cod Gissensis 33 32 188 005 005Cod Vindobonensis 30 25 135 004 004Urkunde von Arezzo 21 19 126 003 003

67876 355142 9991 100Tab 3 Tokens Typen und Buchstaben in einzelnen Handschriften

Hier kann man sehen daszlig die Texte von Codex Argenteus Codices Ambrosiani AndashE und Codex Carolinus zusammen 996 des gotischen Textes ausmachen unabhaumlngig davon ob man von der Woumlrter- oder Buchstabenzahl ausgeht aber die Buchstabenzahl ist ein bisschen zu hoch (die Nasalstriche und Ligaturen sind aufgeloumlst) Dann wird auch klar daszlig der Teil der Codices Ambrosiani A und B etwas ansteigt wenn man von der Buchstabenzahl ausgeht (die Briefe haben ein bisschen laumlngere Woumlrter) Die letzen fuumlnf Bruchstuumlcke sind geradezu erstaunlich klein sie machen nur 04 aus

Ostgermanische Morphologie 155

In Tab 3 wird das Folium Spirense als ein Teil des Codex Argenteus gezaumlhlt Es enthaumllt 142 Woumlrter und 110 Wortformen sowie 819 Buchstaben Um diese Zahl wurde der gotische Text im Jahre 1970 vermehrt Von diesen Wortformen sind 18 nicht anderswo belegt Davon sind drei ἅπαξ λεγόμενα aber nur ein neues Morphem farw sbquoGestaltrsquo

Neue Lexeme Neue Wortformenagljai Mk 1618 (agljan sbquoβλάπτω schadenrsquo) farwa Mk 1612 (farw n sbquoμορφή Gestaltrsquo) ingibe Mk 1618 (ingif n ingifs m sbquoθανάσιμον toumldliches Giftrsquo)

afargaggandeins Mk 1620 afargaggithorn Mk 1617 afdomjada Mk 1616 drigkaina Mk 1618 gasaiƕandam Mk 1614 gaskaftai Mk 1615 gawaurstwin Mk 1620 idweitida Mk 1614 niujaim Mk 1617 tulgjandin Mk 1620 ufdaupithorns Mk 1616 ungalaubein Mk 1614 uslagjand Mk1618 usnumans Mk 1619 waurmans Mk 1618

Tab 4 Neue Lexeme und Wortformen im Folium Spirense

Mit dem Codex Ambrosianus A (und Taurinensis) ist der Kalender gezaumlhlt Darin sind 79 Tokens (meistens Zahlzeichen) 65 Typen und 426 Buchstaben Dies macht 05 des Textes in A aus wenn man von Tokens oder Buchstaben ausgeht aber 15 von den Typen aus gesehen Die ἅπαξ λεγόμενα sind meistens Namen Bairaujai 1911 (Bairauja) Batwin 2910 (Batwins) bilaif 2910 (bileiban oder was) Daurithornaius 611 Frithornareikeis 2310 Jiuleis inc11 Kustanteinus 311 Naubaimbair inc11 und Werekan 2910 (Wereka) Einige Wortformen kommen nur hier vor aipisks 611 auszliger wenn man es als aipiskaupaus oder -us aufgeloumlst ist das einzige Beispiel fuumlr den GSg von aipiskaupus (zwar hat der Kalender -us im GSg von u-Staumlmmen auszliger bei Filippaus 1511) althornjono (1911 Konjektur fuumlr althornjano) fullaizos 2910 gabrannidai 2910 papan 2910 Nicht belegt ist weiter Gutthorniuda 23 2910 An dieser Stelle steht auch Andriiumlns 2911 aber Andraiiumlns in Mk 129 und DSg Jairupulai 1511 im Vergleich mit Iairaupaulein KolAB 413

Magnuacutes Snaeligdal156

Die Urkunde von Arezzo enthaumllt die ἅπαξ λεγόμενα frabauhtaboka und husis (hus Konjektur fuumlr hugsis) aber gudhus ist im Codex Argenteus beleget auszligerdem die Namen Gudilub Alamoda und Kaballarja Die einzigen eigentlichen ἅπαξ λεγόμενα in der Urkunde von Neapel sind die Namen Ufitahari Sunjafrithornas Merila und Wiljarithorn die Urkunde ist zugleich das einzige Dokument das alamothorns (alamoda) sbquoVertreterrsquo hat und die Wortformen andnemum saiwe wairthorn und das Lehnwort kawtsjo sbquocautiorsquo sind nicht in anderen Dokumenten vorhanden Den beiden Urkunden gemeinsam sind die Wortformen ufmelida (ufmeljan sbquounterschreibenrsquo) und skilliggans (skilliggs sbquosolidus Schillingrsquo) Die Morpheme sind doch weitgehend bekannt

Die Gotica Veronensia enthalten als einzige Quelle die Wortform blothornarinnandin (fuumlr -ein 713) aber der NSg ist in Mt 920 belegt Die Formen horans und motarjans (1930) sind Konjekturen und die belegten Formen horos und motarjos sind aus einigen Beispielen bekannt Interessant ist auch die Form martwrans (2769) die es wahrscheinlich macht daszlig man in Kal 23 2910 marwtre in martwre korrigieren sollte

Nur im Codex Vindobonensis 795 ist die Form libaida sbquoἔζησε lebtersquo erhalten aber am interessantesten ist hier vielleicht das Zahlzeichen uarr fuumlr 900

Der Codex Gissensis enthaumllt als einziger die Wortformen bairhtaim (LkG 2311) und ufkunthornedeina (LkG 2416) ein neues Wort ist dort jedoch nicht zu finden

Diese kleinen Bruumlckstuumlcke stellen keine groszligen Zusaumltze zu unserer Erkenntnis der gotischen Morphologie dar aber etwas ist nur dort belegt Da die gotischen Quellen so eingeschraumlnkt sind muss man immer beachten was belegt ist und was nicht

23 Die am haumlufigsten vorkommenden Woumlrter

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 S335 und 337 erstellen auch eine Liste der 6 Woumlrter die eine so groszlige Frequenz aufweisen daszlig jedes von ihnen mehr als 1 des gesamten Textes ausmacht Diese 6 Woumlrter sind jah in ni du izwis und ithorn Sie gehen von Typen aus aber wenn man von Lexemen und deren Varianten ausgeht (zB jah jab jad jag jal jam jan jar jas jathorn) und Flexionsformen zusammenstellt ergibt dies 14 Lexeme

Ostgermanische Morphologie 157

TollenaereJones MSn 2006Type Zahl Lexem Zahl Typen

jah 4429 65 jah 4479 66 (10)sa 3090 45 (17)

in 2315 34 in 2340 34is 2162 32 (17)

wisan 1947 29 (49)ni 1507 22 ni 1527 225 (2)

qithornan 1195 176 (39)izwis 873 13 jus 1094 16 (4)

du 1061 16 du 1058 156saei 1040 15 (18)

ik 970 14 (4)alls 728 11 (14)guthorn 690 10 (3)

ithorn 688 10 ithorn 685 10Tab 5 Die haumlufigsten Woumlrter im Vergleich mit TollenaereJones

Diese 14 am haumlufigsten vorkommenden Lexeme ergeben insgesamt 23997 Tokens oder 353 des ganzen Textes Zwar macht izwis fuumlr sich genommen noch 13 des Textes aus (867 Beispiele) die Form hat jedoch zwei Funktionen Akkusativ und Dativ und unterscheidet sich deswegen von den anderen Woumlrtern in der Liste von TollenaereJones Es stuumlnde zwischen ik und alls Die flektierten Woumlrter werden unten weiter eroumlrtert

Solche Informationen zur Wortfrequenz muumlssten miteinbezogen werden falls die Absicht darin bestuumlnde einem Computer Gotisch beizubringen Ich habe jedoch die Tatsache nicht beruumlcksichtigt daszlig einige dieser Flexionsformen eines Lexems haumlufig vorkommen waumlhrend andere nur sehr selten vorkommen oft nur einmal Es ist auch so daszlig das was im gotischen Text vorkommt von der griechischen Vorlage bestimmt ist Diese Informationen sagen uns jedoch etwas daruumlber wie der gotischen Text zusammengesetzt ist

3 Was wissen wir von gotischer MorphologieDie gotischen Quellen ermoumlglichen es uns trotz ihrer oben diskutierten Eingeschraumlnktheit das morphologische System des Gotischen relativ gut zu kennen Es ist den Systemen der anderen uns bekannten altgermanischen

Magnuacutes Snaeligdal158

Sprachen weitgehend aumlhnlich wobei es allerdings altertuumlmlicher ist und Kategorien bewahrt die in den anderen germanischen Sprachen verloren gegangen sind

31 Die Substantive

Das am haumlufigsten vorkommende Nomen ist guthorn sbquoGottrsquo was fuumlr einen biblischen Text natuumlrlich nicht erstaunlich ist Eigentlich geht es hier um 4 Typen guthorn guthorna guthorns und guda Die Substantive weisen drei Genera auf und werden in vier Kasus und zwei Numeri dekliniert Der fuumlnfte Kasus der Vokativ faumlllt meistens mit dem Nominativ zusammen hat aber in einigen Deklinationsklassen im Singular dieselbe Form wie der Akkusativ (aiund-Staumlmme) Der Vokativ als selbstaumlndiger Kasus ist in den anderen germanischen Sprachen nicht uumlberliefert Ein Substantiv im Gotischen kann also houmlchstens acht verschiedene Kasusformen aufweisen wobei viele im Vokativ nicht belegt sind (und aus semantischen Gruumlnden nicht zu erwarten waumlren) Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen sind 23 (9 Maskulina 8 Neutra 6 Feminina) Diese werden hier aufgefuumlhrt und dabei zeigen skalks und sunus den Vokativ

Maskulinum Neutrum Femininum

manna ndash 350 Mann sunus ndash 295 Sohn atta ndash 252 Vater dags ndash 198 Tag ahma ndash 193 Geist brothornar ndash 176 Bruder hlaifs ndash 74 Brot skalks ndash 58 Knecht praufetus ndash 50 Prophet

waurd ndash 210 Wort waurstw ndash 102 Werk hairto ndash 93 Herz barn ndash 84 Kind namo ndash 81 Name mel ndash 70 Zeit waldufni ndash 67 Gewalt frathorni ndash 17 Verstand

managei ndash 143 Menge mahts ndash 94 Macht frawaurhts ndash 90 Suumlnde thorniuda ndash 59 Volk aikklesjo ndash 58 Gemeinde qino ndash 46 Weib

Tab 6 Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen nach der Frequenz geordnet

Auch sollten in diesem Zusammenhang Beispiele wie aba (29) sbquoEhemannrsquo genannt werden wo der APl nicht belegt ist obgleich die Form abans einmal als NPl vorkommt Es ist eindeutig daszlig es keine direkte Beziehung gibt zwischen der Zahl der Beispiele und dem was von dem Paradigma belegt ist Von frathorni gibt es zB nur 17 Beispiele aber von frauja sbquo(der)

Ostgermanische Morphologie 159

Herrrsquo 450 doch ist der GPl fraujane nicht belegt Von guthorn fehlen der D und GPl

32 Die Adjektive

Die Adjektive werden stark und schwach dekliniert wie in den anderen altgermanischen Sprachen auch Fuumlr kein Adjektiv ist das komplette Paradigma uumlberliefert Das Pronominaladjektiv alls sbquoallrsquo zeigt die starken Formen wird aber nicht schwach dekliniert Es fehlt hier der GSgm da von den 33 Tokens des Types allis 6 zum GSgn und 27 zur Konjunktion allis gehoumlren

33 Die Pronomina

Alle 24 Flexionsformen des Demonstrativpronomens sa sbquoder dieserrsquo sind belegt Wegen des Synkretismus wuumlrde man 15 verschiedene Formen erwarten es tauchen jedoch 17 auf Die zwei zusaumltzlichen Formen sind die Variante thornizei (11) im GPlm amp n fuumlr thornize (122) und thornat- (17) im N amp ASgn fuumlr thornata (485) in thornatist und thornatain

Die Flexionsformen des Relativpronomens saei sbquoderrsquo betragen 23 wobei der GPlf nicht belegt ist (thornizoei) Von dieser Form abgesehen waumlren 14 verschiedene Formen zu erwarten es tauchen jedoch 18 auf Die 4 zusaumltzlichen Formen sind thornane (1) im ASgm fuumlr thornanei (69) thornize (9) im GSgm amp n fuumlr thornizei (39) thornizeiei (1) im GPlm fuumlr thornizeei (18) und thornoze (1) im APlf fuumlr thornozei (13) Von den Tokens von thornatei houmlren 206 zum Relativpronomen saei und weitere 443 zur Konjunktion thornatei sbquodaszligrsquo von den 109 Tokens von thornammei gehoumlren 92 zum Pronomen aber 17 zur Konjunktion von den 51 Tokens von thornizei gehoumlrt ein zur Konjunktion die anderen wurden bereits oben behandelt Die Konjunktion thornatei thornammei thornizei weist damit 461 Tokens auf

Die Flexionsformen des Personalpronomens issiita sbquoersieesrsquo betragen 22 der APln ist nicht belegt sollte aber mit dem N uumlbereinstimmen ija das gleiche gilt fuumlr den NPlf der dem A entsprechen sollte ijos Zu erwarten waumlren 15 verschiedene Formen es tauchen jedoch 17 auf Die zusaumltzlichen Formen sind imm- (2) im DSgm fuumlr imma (595) in immuh und izei (3) im GPlm fuumlr ize (115) Von den 23 Tokens von izei gehoumlren dann 20 zu dem Relativpronomen izei sbquoderrsquo mit 14mal ize von 129 Mit den 48 Tokens von sei betragen die Tokens von diesem Pronomen 82 Von den 514 Tokens von is sind 139 NSgm 320 GSgm sowie 7 GSgn und 48 sind die 2PSg

Magnuacutes Snaeligdal160

von wisan Von den 479 Tokens von im sind 341 DPlm 17 DPln sowie 9 DPlf und 112 sind die 1PSg von wisan

Zu jus sbquoihrrsquo (176 + juz 1) werden izwis (867) und 50 Tokens von izwara gezaumlhlt weitere 66 gehoumlren zum Pron izwar Die Formen der 2PSg betragen 414 und die des Du 8 insgesamt fuumlr die Pronomina der zweiten Person 1516 (22)

Zu ik sbquoichrsquo (324) werden mik (271) mis (360) und 15 Tokens von meina gezaumlhlt weitere 64 houmlren zum Pron meins Die Formen der 1PDu sind 8 und der Pl 368 insgesamt fuumlr die Pronomina der ersten Person 1346 (2)

34 Die Verben

In der Konjugation hat das Gotische zwei Kategorien bewahrt die sonst in den germanischen Sprachen nicht vorkommen Diese Kategorien sind der Dual und das Passiv (nur im Praumlsens auch sollte hier die dritte Person Singular und Plural Imperativ genannt werden) Dualformen gibt es nur wenige ndash 32 Tokens von 24 Typen ndash und sie kommen am meisten im Lukas- und Markus-Evangelium vor Es fehlen verschiedene Formen zB der Optativ Praumlteritum Das Passiv wird jedoch haumlufig gebraucht Dafuumlr gibt es insgesamt 331 Tokens (05) von 190 Typen (2) von 144 Verben Die Verben die am haumlufigsten im Passiv vorkommen sind bigitan sbquofindenrsquo (10 Tokens 3 Typen 5 Kategorien) und haitan sbquonennenrsquo (25 Tokens 5 Typen 6 Kategorien) Die Beispiele sind folgendermaszligen auf Personen Numeri und Modi verteilt

1 2 3IndSg 11 4 142 Pl 14 10 36

OptSg 13 6 60 Pl 10 8 17

Tab 7 Die Anzahl und Distribution der Passivformen

Fuumlr kein Verbum ist das komplette Paradigma uumlberliefert aber die haumlufigsten sind wisan sbquoseinrsquo und qithornan sbquosagenrsquo

Von wisan sind 49 Typen belegt die 40 Stellen im Paradigma ausmachen Dabei gibt es wie man sieht verschiedene Varianten Wenn wir vermuten daszlig dieses Verb kein Passiv keinen Imperativ und kein Partizip Praumlteritum gehabt hat fehlen auf jeden Fall 7 finite Dualformen Vorhanden sind dann 25 Formen von 32 wegen des Synkretismus (was) sollten sie 31 sein Im Partizip

Ostgermanische Morphologie 161

Praumlsens sind 15 Stellen von 24 gefuumlllt Dort gibt es 11 (12) verschiedene Formen die jedoch 14 betragen sollten Dazu kommt dann noch der Infinitiv Insgesamt sind 40 Stellen von 57 (70) abgedeckt oder 36 Wortformen von 46 (78)

1 wisan svInf wisan

pers 1 2 3Prindsg im is ist nist

du siju sijutspl sijum sium sijuthorn siuthorn siud sind

optsg sijau siau sijais siais sijai siaidu sijaiwa sijaitspl sijaima sijaithorn sijaid sijaina

Ptindsg was wast wasdu wesu wesutspl wesum wisum wesuthorn wesun weisun

optsg wesjau weisjau weseis weiseis wesidu weseiwa weseitspl weseima weseithorn weseina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSgm wisands -a wisandan wisandin wisandinsPlm wisandans wisandans wisandam wisandaneSgn wisando wisando wisandin wisandinsPln wisandona wisandona wisandam wisandaneSgf wisandei wisandein wisandein-din wisandeinsPlf wisandeins wisandeins wisandeim wisandeino

Tab 8 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von wisan

In dem Paradigma von qithornan gibt es 124 Stellen (wenn man die 1PDuImp mitzaumlhlt vermutlich qithornos) Es waumlre auch moumlglich die 1 amp 2PDu amp Pl nicht mitzuzaumlhlen da diese immer gleich dem Indikativ sind Die Paradigmastellen betruumlgen dann 120 Doch ist auch die Variante qithornanata im PzPtNASgn moumlglich und vielleicht die schwache Form qithornanda im PzPrNSgm Belegt sind 39 Typen die 39 Stellen abdecken (man beachte jedoch die Konjektur qithornando die eigentlich zu qithornano gezaumlhlt werden sollte) Ungefaumlhr 32 der Stellen sind gefuumlllt Mit Komposita koumlnnen weitere

Magnuacutes Snaeligdal162

sieben Stellen gefuumlllt werden insgesamt 37 Von dem zweithaumlufigsten Verb sind also nur ungefaumlhr ein Drittel der Formen belegt

qithornan sv5Inf qithornan

Pers 1 2 3Pr Ind Sg qithorna qithorn- qithornis qithornithorn

Du qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornid qithornand

Opt Sg qithornau qithornais qithornaiDu qithornaiwa qithornaitsPl qithornaima qithornaithorn qithornaina

Imp Sg qithorn qithornadauDu qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornandau

Pass Ind Sg qithornada qithornaza qithornadaPl qithornanda qithornanda qithornanda

Opt Sg anaqithornaidau qithornaizau qithornaidauPl qithornaindau qithornaindau qithornaindau

PtIndSg qathorn qast qathornDu qethornu qethornutsPl fauraqethornum qethornuthorn qethornun

Opt Sg qethornjau qethorneis qethorniDu qethorneiwa qethorneitsPl qethorneima qithorneithorn qethorneina qithorneina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSg m qithornands -a qithornandan qithornandin qithornandinsPl m qithornandans fraqithornandans qithornandam qithornandaneSg n qithornando qithornando qithornandin qithornandinsPl n qithornandona qithornandona qithornandam qithornandaneSg f qithornandei qithornandein qithornandein qithornandeinsPl f qithornandeins qithornandeins qithornandeim qithornandeino

Ostgermanische Morphologie 163

PzPt

Sg m sw

qithornans qithornana

faurqithornanana qithornanan

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl m sw

fraqithornanai fraqithornanans

qithornanans qithornanans

qithornanaim fraqithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg n sw

qithornan -ata qithornano

qithornan -ata qithornano

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl n sw

qithornana qithornanona

qithornana qithornanona

qithornanaim qithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg f sw

qithornana qithornano

qithornana qithornanon

qithornanai qithornanon

qithornanaizos qithornanons

Pl f sw

qithornanos qithornanons

qithornanos qithornanons

qithornanaim qithornanom

qithornanaizo qithornanono

Tab 9 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von qithornan

4 Was wir nicht wissenAn dieser Stelle moumlchte ich Folgendes einfuumlgen Wenn ich einen islaumlndischen Text analysiere dann kenne ich zB den ASg aethgang und ich weiszlig daszlig der NSg aethgangur heiszligt (bdquoZutrittldquo) Auch kann ich jemanden fragen oder in einem Woumlrterbuch nachschlagen falls ich im Zweifel bin Wenn ich einen gotischen Text analysiere kann ich nicht wissen welchen Nominativ der ASg atgagg hat wenn er nicht im Text vorkommt ist er atgagg n oder atgaggs m Die erste Form stuumltzt sich auf gagg DSgAPl gagga Die zweite Form ist auch moumlglich vgl Isl aber wenn so wie war das Wort dann eigentlich dekliniert War es ein a- oder ein i-Stamm In solchen Faumlllen stuumltzt man sich auf die anderen germanischen Sprachen wenn das Wort dort belegt ist Das kann jedoch problematisch sein Im Gotischen findet man zB DSg sinthorna und DPl sinthornam Ist der NSg sinthorn n wie Isl sinn oder sinthorns m wie Ahd sind sbquoMalrsquo Weiter kann man an einem Beispiel wie wahtwom (Lk 28) nicht sehen ob es ein ō-Stamm oder ein ōn-Stamm ist NSg wahtwa oder wahtwo sbquoWachersquo Schlieszliglich nenne ich ein Beispiel wie gards sbquoHausrsquo Im Gotischen liegt ein i-Stamm vor aber garethur ist ein a-Stamm im Islaumlndischen und Westgermanischen was wahrscheinlich urspruumlnglicher ist Gotisch bewahrt nicht immer das Aumllteste Man kann sagen daszlig wir das Deklinationssystem der Gotischen im Groszligen und Ganzen kennen Die Schwierigkeit besteht eher darin daszlig

Magnuacutes Snaeligdal164

wir wegen der begrenzten Quellen nicht ohne weiteres sagen koumlnnen wie jedes gotisches Wort dekliniert wurde

Es ist auch ein gewisses Problem daszlig der Text meistens nur in einer Handschrift uumlberliefert ist Deswegen ist es oft unmoumlglich zu sehen ob ein Schreibfehler vorliegt oder nicht vgl(3) ἰδοὺ ἐξῆλθεν ὁ σπείρων τοῦ σπεῖραι Mk 43 (CA) sai urrann sa saiands du saian Ver 2235 bi thornatei qithornithorn sai urrann saianltdsgt du saltigtan Luther Siehe es ging ein Saumlmann aus zu saumlen Elberfelder Siehe der Saumlmann ging aus um zu saumlen Lk 85 urrann saiands du saian

In diesem Fall waumlre der Artikel in Gotischen nicht zu erwarten da der Saumlmann hier zum ersten Mal genannt wird (vgl Lk 85) Vielleicht bewahrt die veronesische Randglosse (Gotica Veronensia) hier die urspruumlngliche Form aber der Schreiber des Codex Argenteus hat einen Fehler gemacht Er schrieb erst sa und dann das ganze Wort saiands Im Zweifelsfall kann sa auch ein selbstaumlndiges Wort sein Ist dies die Silbe sa oder das Morphem sa

Noch ein Beispiel(4) Joh 1816ndash17 16 hellip thornaruh usiddja ut sa siponeis anthornar saei was kunthorns thornamma gudjin jah qathorn daurawardai jah attauh inn Paitru 17 thornaruh qathorn jaina thorniwi so daurawardo du Paitrau

16 hellip ἐξῆλθεν οὖν ὁ μαθητὴς ὁ ἄλλος ὃς ἦν γνωστὸς τῷ ἀρχιερεῖ καὶ εἶπεν τῇ θυρωρῷ καὶ εἰσήγαγεν τὸν Πέτρον 17 λέγει οὖν ἡ παιδίσκη ἡ θυρωρός τῷ Πέτρῳ

16 hellip Da ging der andere Juumlnger der dem Hohenpriester bekannt war hinaus und sprach mit der Tuumlrhuumlterin und fuumlhrte Petrus hinein 17 Da spricht die Magd die Tuumlrhuumlterin zu Petrus

Hier ist es wahrscheinlich daszlig daurawardo ein Schreibfehler fuumlr daurawarda ist von so verursacht aber selbstverstaumlndlich ist es nicht ausgeschlossen daszlig beide Formen im Gotischen uumlblich waren Aber da wir hier nur eine Handschrift haben ist es schlichtweg unmoumlglich ein endguumlltiges Urteil zu faumlllen Im Fall des jan-Stamms waurstwja sbquoἐργάτης Arbeiterrsquo der 17 Mal vorkommt gibt es auch aber nur einmal den reinen n-Stamm waurstwa (1 TimA 518) Bevor man dies als Schreibfehler

Ostgermanische Morphologie 165

verurteilt sollte man gawaurstwa (13) sbquoσυνεργός Mitarbeiterrsquo und die Moumlglichkeit von wrakja (8) wraka (5) sbquoδιωγμός Verfolgungrsquo uumlberlegen Hier leben anscheinend ein jō-Stamm und ein ō-Stamm Seite an Seite vgl die folgenden Parallelstellen(5) 2 Tim 311ndash12

2 TimA 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakjos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

2 TimB 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

In einigen wenigen Faumlllen gibt es unverstaumlndliche Formen die in Morpheme zerlegbar sind aber deren Wurzeln ganz isoliert sind ZB

(6) a Phlm 22

bijandzuthorn thornan manwei mis salithornwos ἅμα δὲ καὶ ἑτοίμαζέ μοι ξενίαν Zugleich aber bereite mir auch eine Herberge

b 2 ThessB 32

jah ei uslausjaindau af gastojanaim jah ubilaim mannam καὶ ἵνα ῥυσθῶμεν ἀπὸ τῶν ἀτόπων καὶ πονηρῶν ἀνθρώπων und daszlig wir errettet werden von den schlechten und boumlsen Menschen

Im ersten Fall ist die Form bijands problematisch Sie scheint ein Partizip Praumlsens zu sein aber wie kann ein solches Partizip das griechische ἅμα uumlbersetzen Zu erwarten waumlre das Adverb samana sbquozusammen zugleichrsquo Dieses bij- ist ganz isoliert auszliger falls es ein Schreibfehler fuumlr bidjandz- ist das bliebe ebenfalls eine merkwuumlrdige Uumlbersetzung

Im zweiten Fall geht es um gastojanaim Eigentlich scheint es ein starkes Partizip Praumlteritum des schwachen Verbs (ga)stojan sbquo(be- ver-) urteilenrsquo zu sein Semantisch waumlre dies wieder eigentuumlmlich Das griech Adj ἀτόπος ist sonst zweimal im Neuen Testament belegt (Lk 2341 und Apg 286) aber beide Stellen sind im gotischen Korpus verloren gegangen

Zum Schluss nenne ich das Beispiel des Verbs kaurjan βαρεῖν druumlckenrsquo wo die Quellen die Frage nicht beantworten koumlnnen ob der Stamm lang oder

Magnuacutes Snaeligdal166

kurz ist Die entscheidenden Formen kaurjiskaureis kaurjithornkaureithorn sind nicht belegt (vgl Snaeligdal 2002 S37) Die Konjugationsklasse einiger Verben ist auch unsicher

In der Lemmatisierung der CBG habe ich diese Probleme bdquogeloumlstldquo indem ich einfach die Form die ich als die wahrscheinlichste dachte als Grundform gewaumlhlt habe Dabei ist immer klar ob die Form belegt ist oder nicht

5 Zum SchlussIm Project Wulfila (httpwwwwulfilabegothicbrowse) kann man durch Anklicken die grammatische Analyse jedes Wortes haben Es waumlre wuumlnschenswert einen annotierten Text herzustellen denn dann koumlnnte man nach grammatischen Kategorien suchen hier zum Beispiel fuumlr Phlm 11ndash134

(7) Phlm 11hellip ithornltCgt nultDgt thornusltRP DS thornugt jahltCgt misltRP DS ikgt bruksltA NSM bruksgt THORNanuhltRD ASM sahgt insandida ltV XAI1S insandjan gt Phlm 12 ithornltCgt thornultRP NS thornugt inaltRP ASM isgt thornat-ltRD NSN sagt istltV PAI3S wisangt meinosltA APF meinsgt brustsltN APF brustsgt meinaltA APN meinsgt h[air]thornraltN APN hairthornragt andnimltV PAD2S andnimangt Phlm 13 thornaneiltRR ASM saeigt ikltRP NS ikgt wildaltV XAI1S wiljangt atltPgt misltRP DS ikgt gahabanltV PAN gahabangt eiltCgt faurltPgt thornukltRP AS thornugt misltRP DS ikgt andbahtidediltV XAO3S andbahtjangt inltPgt bandjomltN DPF bandigt aiwaggeljonsltN GSF aiwaggeljogt

Am besten sollte ein solcher Text mit dem annotierten Text der griechischen Vorlage kombinierbar sein

(8) Phlm 11 hellip νυνὶ ltDgt δὲ ltCgt σοὶ ltRP DS σύgt καὶ ltCgt ἐμοὶ ltRP DS ἐγώgt εὔχρηστον ltA ASM εὔχρηστοςgt Phlm 12 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἀνέπεμψα ltV AAI1S ἀναπέμπωgt σὺ ltRP NS σύgt δὲ ltCgt αὐτόν ltRP ASM αὐτόςgt τοῦτrsquo ltRD NSN οὗτοςgt ἔστιν ltV PAI3S εἰμίgt τὰ ltRA APN ὁgt ἐμὰ ltA APN ἐμόςgt σπλάγχνα ltN APN σπλάγχνονgt προσλαβοῦ ltV AMD2S προσλαμβάνομαιgt Phlm 13 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἐγὼ ltRP NS ἐγώgt ἐβουλόμην ltV IMI1S βούλομαιgt πρὸς ltPgt ἐμαυτὸν ltRP ASM ἐμαυτοῦgt κατέχειν ltV PAN κατέχωgt ἵνα ltCgt ὑπὲρ ltPgt σοῦ ltRP GS σύgt μοι ltRP DS ἐγώgt διακονῇ

4 Erklaumlrung der Abkuumlrzungen ltCgt = Konjunktion ltDgt = Adverb ltPgt = Praumlposition ltRP DSgt = Personalpronomen Dativ Singular ltRD ASMgt = Demonstrativpronomen Akkusativ Singular Maskulinum ltA NSMgt = Adjektiv Nominativ Singular Maskulinum ltN DPFgt = Nomen Dativ Plural Femininum ltV XAI1Sgt = Verb Praumlteritum Aktiv Indikativ erste Per-son Singular usw im Griechischen zB ltV AAI1Sgt = Verb Aorist Aktiv Indikativ erste Per-son Singular ltV AMD2Sgt = Verb Aorist Medium Imperativ zweite Person Singular usw

Ostgermanische Morphologie 167

ltV PAS3S διακονέωgt ἐν ltPgt τοῖς ltRA DPM ὁgt δεσμοῖς ltN DPM δεσμόςgt τοῦ ltRA GSN ὁgt εὐαγγελίου ltN GSN εὐαγγέλιονgt

LiteraturBennett William H (1960) The Gothic Commentary on the Gospel of John skeireins aiwaggeljons thornairh iohannen A Decipherment Edition and Translation New York The Modern Language Association of America (Monograph series XXI)

Ebbinghaus Ernst A (1990 2003) lsquoThe Question of Visigothic Runic Inscriptions Re-examinedrsquo in General Linguistics 41990 (Band 30) The Pennsylvania State University (Neudruck (2003) in Ebbinghaus Ernst A Gotica Kleine Schriften zur gotischen Philologie Piergiuseppe Scardigli mdash Wolfgang Meid (eds) Innsbruck S 180-188) S 207-214

Snaeligdal Magnuacutes (2002) lsquoGothic kaurus lsquoheavyrsquo and its cognates in Old Norsersquo in NOWELE 2002 (Band 41) Odense University Press of Southern Denmark S 31-43

Snaeligdal Magnuacutes (22005) A Concordance to Biblical Gothic I Introduction Texts II Concordance Reykjaviacutek University of Iceland Press

Streitberg Wilhelm (61971) Die gotische Bibel Erster Teil Der gotische Text und seine griechische Vorlage Mit Einleitung Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleineren Denkmaumllern als Anhang Sechste unveraumlnderte Auflage Zweiter Teil Gotisch‑Griechisch‑Deutsches Woumlrterbuch Heidelberg Carl Winter Universitaumltsverlag

Tiefenbach Heinrich (1991) lsquoDas wandalische Domine misererersquo in Historische Sprachforschung 21991 (Band 104) GoumlttingenZurich Vandenhoeck amp Ruprecht S 251-268

Tollenaere Felicien de mdash Jones Randall L (1976) Word-indices and Word-lists of the Gothic Bible and Minor Fragments Leiden Brill

Magnuacutes Snaeligdal Professor of General Linguistics School of Humanities University of Iceland Saeligmundargoumltu 2 IS-101 Reykjaviacutek Iceland hreinnhiis

Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology

Luděk Vaciacuten

The present paper studies the status and role of the sun-god in Mesopotamian royal ideology It scrutinizes the development of the sun-godrsquos image from Early Dynastic times until the Old Babylonian period and discusses its depen-dence on current ideological schemes The focus of the paper is the Ur III image of the sun-god in this period the deification of kings resulted in a merge of king and sun-god with the former replacing the latter Since this merge was a by-product of the notion of divine kingship it was abandoned during the Old Babylonian period together with the concept of royal divinity as a whole in favour of traditional ideology

Ancient Near Eastern royal ideology is one of the most complex important and interesting issues for any scholar in the field as it sheds light on the ways used in that region for millennia to justify the rule of peoples by a single man the monarch1 The fundamental importance of legitimacy for a ruler is amply documented in a wealth of written and material sources which record various ideas of kingship and its sacred basis eg royal inscriptions date formulae ideologically charged literary compositions statues reliefs stelae etc Thus the theme of royal ideology offers a wide range of topics to focus on This brief paper deals with the relationship between the king and the sun-god specifically with the attribution of some of the sun-godrsquos features to the king in Ur III Mesopotamia2 Its basic substance is much indebted to a more general article by Claudia Fischer at the end of which the author states that one of the aims of her paper was lsquoto provide impetus for other researchers to explore the themes presented here or to offer their

1 Despite a number of studies on the royal ideologies of ancient Near Eastern cultures their changes over the time and their adaptation to the needs of certain dynasties or even individual rulers the only monograph attempting to cover this huge theme in all its com-plexity is still Henri Frankfortrsquos seminal but outdated book (Frankfort 1978) 2 I am grateful to D Schwemer for suggesting this topic to me For a general characteri-sation of early Mesopotamian royal ideology see Postgate 1995 395-403 407 Cf Edzard 1972-5 Krecher 1976-80 Caplice - Heimpel 1976-80 Edzard 1980-3a Edzard 1980-3b Cf further the recent volume containing several illuminating articles on divine kingship Brisch 2008

Luděk Vaciacuten172

own interpretationsrsquo3 The present article is a response to that call refining several points Fischer made and discussing some additional ones

First we shall review the most important aspects and functions of the sun-god in general The solar god (Utu in Sumerian and Šamaš in Akkadian) is attested in tandem with another astral deity the moon-god (Nanna in Sumerian and Sursquoen in Akkadian) already in archaic texts from Uruk and Ur and subsequently in all the later god lists But despite the importance of the object that he represented the sun-god did not attain the kind of prominence in myth and ritual enjoyed by the moon-god in the third mil-lennium Perhaps this can be explained by the significance of the moon for the calendar the influence of moon phases on ebb and flow and fertility of crops and livestock (sowing crops and mating animals were by preference done during moon waxing) on the mental state of humans (especially women during menstruation) and possibly also by the similarity of moon phases with the course of human life Thus unlike the Egyptian one the early Mesopotamian sun-god stood in the shadow of the moon-god but it does not mean at all that he was always seen as subordinate to the moon-god

He was venerated in the majority of Mesopotamian cities for millennia the centres of his cult being his temple complexes in Larsa and Sippar both called Ebabbar (lsquoThe Shiny Housersquo) His aspects and functions were deter-mined by the obvious features and activities of the solar disc The sun dis-pels darkness and thus wards off danger and evil Its rays reach every corner of the world Accordingly UtuŠamaš was the omniscient god who saw and knew everything while tirelessly roaming the universe day and night he was the guardian and overseer of cosmic order These two capacities made him the natural guarantee of justice the divine supreme judge and the patron of travellers This basic picture of the Mesopotamian sun-god is present in a number of literary compositions which often elaborate on it sometimes over several hundred lines Among the most telling examples are a Sumerian incantation to Utu and the Akkadian Šamaš Hymn4 We will briefly summarize the characteristics of the sun-god described in these texts as it is important for our subsequent discussion of royal ideology

The initial (and lengthy) part of the Sumerian incantation to the sun-god invokes him as the source of light and juridical authority It proceeds to extol him as a protector of animals and humans He inspects the universe and guards orphans and widows Without him there would be no justice

3 Fischer 2002 133 4 For an edition of the former see Alster 1991 For the latter see Lambert 1960 121-38

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 173

no river ordeal no regalia no kingship the cultic personnel would not be selected wild animals would not catch their prey people would not get their sustenance fowlers and fishermen would not catch anything weavers would not make cloth people would not be able to live and die they would not be able even to recognize each other it would not be pos-sible to wage war there would be no order in Sumer no one would take care of the poor Significantly this section ends with an image of the poor and homeless as well as widows and orphans again directing their eyes towards Utu and seeking assistance (cf Alster 1991 30f)

The Akkadian Šamaš Hymn represents the most comprehensive summary of Mesopotamian solar theology It praises the sun-god as the provider of light who brings blessings to the fields and illumines the mountains He herds all breathing creatures he is the guardian of all above and below crossing the skies unceasingly All mankind bows low to him and longs for his radiance His words are righteous decrees he stands by pilgrims walking difficult roads protects merchants from storms shows shelter to refugees and supports captives His ultimate juridical authority is glorified by the examples of a remorseless judge whom he punishes and a prudent judge whom he makes oversee the palace and live among princes Another example is that of a deceitful merchant whose fraudulence loses him his assets and an honest merchant whose fairness gains him everything in a good measure Šamaš is futher extolled as a protector of those who are away from their homes and therefore weakened hunters travellers even highwaymen

The above functions of the sun-god are apparently a sum of an ideal kingrsquos features Hence already some Old Sumerian semi-legendary as well as historical rulers strove for Utursquos support and called him lsquotheir lordrsquo Meskiaĝgašer of Uruk was the lsquoson of Utursquo according to the Sumerian King List5 Similarly the ruler of Uruk Enmerkar (Meskiaĝgašerrsquos son in the SKL) is the lsquoson of Utursquo in several literary compositions6 He is even referred to as the lsquosun-god of the landrsquo in lsquoEnmerkar and the Lord of Arattarsquo (line 309) The sun-god further acts as a protector and helper of Lugalbanda and Gilgameš in literature pertaining to them7 He also helps his brother-in-law

5 For the sake of brevity we refer only to the ETCSL treatment of the majority of Sumerian texts discussed in this paper The reader will find references to the respective critical edi-tions there See ETCSL 211 lsquoThe Sumerian King Listrsquo lines 96f 6 See ETCSL 1823 lsquoEnmerkar and the lord of Arattarsquo passim 1822 lsquoLugalbanda and the Anzud birdrsquo passim 1821 lsquoLugalbanda in the mountain caversquo passim 7 For the tales of Lugalbanda see the previous note Concerning the Sumerian tales of Bilgames see especially ETCSL 1815 lsquoGilgameš and Huwawa (version A)rsquo passim 18151

Luděk Vaciacuten174

Dumuzi escape the netherworld demons8 However it must be stressed that we do not know the extent to which Old Sumerian compositions might have been altered by the time of the manuscripts on which they are extant today Indeed some of them show signs of the moon-godrsquos superiority over the sun-god not ascertainable in texts from earlier times9 Therefore literary texts dealing with the above rulers cannot be taken as a reflection of the relationship between an Old Sumerian ruler and the sun-god with-out due caution Finally king Lugalzagesi who unsuccessfully attempted to create the first territorial state in Mesopotamia called himself the one lsquonamed by Utursquo and the lsquomilitary governorrsquo of Utu stressing the sun-godrsquos warlike aspect also present in the first section of the Sumerian incantation summarized above (cf Fischer 2002 130f with references)

As we have seen in Early Dynastic times the sun-god played the usual roles of divine father guardian and helper for the king Such functions were ful-filled by many major as well as minor deities throughout Mesopotamian history But in this case the sun-godrsquos capacity to take care of those far from home on dangerous missions and his heroic aspect came to the fore10 However apart from the unique attestation concerning Enmerkar no one seems to have attempted to appropriate that aspect for himself and thus become an lsquoearthly sun-godrsquo dispossessing the heavenly one

The situation changed fundamentally when the Old Akkadian king Narāmsursquoen held sway over Mesopotamia His deification meant that he himself became a heroic god and protective deity of Akkad His reign is the likely point of time when the sun-god became the moon-godrsquos son and thus

lsquoGilgameš and Huwawa (version B)rsquo passim 1814 lsquoGilgameš Enkidu and the nether worldrsquo passim For the Akkadian Gilgameš Epic see George 2003 8 See ETCSL 143 lsquoDumuzidrsquos dreamrsquo passim 141 lsquoInanarsquos descent to the nether worldrsquo lines 368-83 9 Particularly the father-son relationship referred to in line 152 (lsquohero Ningalrsquos sonrsquo) of lsquoLugalbanda in the Mountain Caversquo line 238 (lsquoyoung warrior Utu the son born by Ningalrsquo) of lsquoBilgames Enkidu and the Netherworldrsquo and Utursquos obvious subordination to Nanna in line 206 (lsquoFather Nanna gives the direction for the rising Utursquo) of lsquoLugalbanda in the Moun-tain Caversquo are typical features of the post-Sargonic solar theology The notion that the sun-god was a son of the moon-god seems to have originated during the reign of Narāmsursquoen Further the fact that the sun-god was regarded as a lsquominorrsquo deity in Sargonic and Ur III times speaks for itself See Fischer 2002 130 with nn 37 and 39 10 With regard to the kingrsquos person these two features can be seen as closely connected because war was definitely one of the dangerous missions in which the king would have needed the sun-godrsquos protection as well as his military prowess Hence it is not surprising that Utu was the divine father of adventurous rulers of the heroic age and that he should have chosen Lugalzagesi a king with imperial aspirations

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 175

the superiority of Nanna-Sursquoen over UtuŠamaš was established11 The sun-god was suppressed precisely because his characteristics perfectly fitted the image of an ideal king now a deity The most striking act of Narāmsursquoenrsquos displacement of the sun-god was the erection of his famous victory stela depicting the king as a martial god climbing a mountain (a posture used for astral deities in visual art mainly glyptic) in the sun-godrsquos city Sippar (perhaps even in his temple) in celebration of the kingrsquos new status the victorious sun-god of his land (Fischer 2002 131)

One might surmise that the act of assuming features proper to a deity could be a way of glorifying that deity rather than suppressing it The logic would more or less be that lsquoimitation is the sincerest form of flatteryrsquo This does not seem to apply to our case however Imitation might function as a form of glorification when the imitator was human (as in the case of Hammurāpi and other later kings see below) But Narāmsursquoen was divine He not only took over functions from the sun-god but also presented him-self in a posture normally reserved to the latter Thus what he did amounts to the substitution of one deity (the sun-god) with another (himself)

The kings of the Ur III dynasty adopted many measures formerly used by Old Akkadian monarchs to create and sustain an empire and this one was no exception In fact it was only natural for rulers coming from the moon-godrsquos city to turn Nanna into the most important astral deity and con-versely apply the sun-godrsquos features to the king at the expense of Utursquos cult Accordingly the old tradition of Nanna as Enlilrsquos son was revived and fixed in myth12 whereas Utursquos heroic and juridical aspects were appropriated by the king While the former event took place during the reign of Urnamma the second occurred under Šulgi in connection with his deification and was

11 See Fischer 2002 128 and n 19 130 and n 37 Note that in pre-Sargonic tradition the sun-god was regarded as Anrsquos or Enlilrsquos son12 See Krebernik 1993-7 364 for evidence of the Abū Ṣalābīkh tradition of Enlil and Ninlil as Nannarsquos parents (ref courtesy AR George) For a detailed discussion of the Ur III genealogy of Nanna see Klein 2001 especially 283f where he deals with the myth lsquoEnlil and Ninlilrsquo (ETCSL 121) describing the rape of the virgin goddess by Enlil which resulted in the birth of Nanna-Sursquoen as the first-born son of Enlil Klein states (2001 284) lsquoWe get the impression that the theologians of Urnammu or Šulgi who composed this piquant myth were at utmost pain to prove the firstborn status of Suen probably to refute a contradicting theological traditionrsquo Note however that Klein missed the ancient tradi-tion regarding Nanna as a son of Enlil when he ascribed the lsquoearliest explicit references to NannaSuen as Enlilrsquos sonrsquo (2001 280 see also 289ff 296 n 93) to Urnamma It is clear that Urnamma merely revived the old genealogy very suitable for his political goals indeed and developed it accordingly

Luděk Vaciacuten176

fully developed by the end of Amarsursquoenarsquos reign13 Although the king is never equated with Utu in royal hymns the sun-godrsquos inferiority is made clear by calling him the kingrsquos lsquobrother and friendrsquo (like Gilgameš)14 That is the result of the kingrsquos identity with Dumuzi on the mythological level which made him the husband of Inana and thus the brother-in-law of Utu The kingrsquos intimate relationship with Utursquos sister was undoubtedly responsible for Utursquos regular cult in the palace along with Inanarsquos and Nin-egalrsquos (a hypostasis of Inana) while his cult at Ur beyond the palace was only marginal and he was never worshipped along with his father in Ur III times (Fischer 2002 130 cf Sallaberger 1993 223 n 1061 tab 75 in vol 2) Utursquos lower status and the kingrsquos takeover of his functions are further apparent in a hymnal simile comparing Šulgi to the rising sun15 Utu is otherwise referred to in the Šulgi hymns as a provider of martial prowess and strength in battle often in his capacity of the kingrsquos companion and constable of the gods16 a further sign of his ancillary status Interestingly Šulgi seems to have appropriated Utursquos juridical aspect only indirectly The king as supreme judge was identified with Ištarān17 not with Utu but his characteristics are the same as Utursquos given in compositions pertaining to 13 The place name dŠulgi-dUtuki (lsquoŠulgi is the sun-godrsquo) given by Fischer (2002 132) as evi-dence for the kingrsquos explicit identification with Utu already by the time of Šulgi is inconclu-sive for we know of a site called dŠulgi-dNannaki as well See Edzard - Farber 1974 18414 Šulgi A line 79 Šulgi B lines 40 123 See Klein 1981 198f ETCSL 24202 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi B)rsquo Although the bulk of Ur III royal hymns is preserved on Old Babylonian tablets and therefore the possibility that the original Ur III traditions were dis-torted by Old Babylonian traditions always has to be reckoned with it does not seem that the tradition with which we are dealing here was subject to any distortion The hymnal evidence is corroborated not only by a piece of Ur III visual evidence (see n 16 below) but also by Ur III administrative texts coupling the offerings brought to Utu in the palace to those delivered on behalf of Inana and Ninegal for an interpretation of which see above Further divine Amarsursquoena was called lsquothe sun-god of his landrsquo in a royal inscription (see below) surely intact by any later tradition15 Šulgi C line 25 iri-ĝu10 dutu-gin7 ba-ta-egrave-egraven (lsquoI rose over my city like Utursquo) ETCSL 24203 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi C)rsquo 16 The bestowal of glory in battle and even of kingship in the land is the main theme of the fragmentary adab () hymn to Utu (Šulgi Q) ETCSL 24217 lsquoAn adab () to Utu for Šulgi (Šulgi Q)rsquo Could this hymn have been composed for use in the palace cult mentioned above Note also that Šulgi is depicted on a seal given by him to his consort Gemeninlila in the posture taken up by Narāmsursquoen on his victory stela and therefore as a victorious divine king in an astral dimension For a drawing of the seal see Mayr - Owen 2004 167 no 2 Noteworthy is also that Šulgi lsquoascended to heavenrsquo upon his death according to a contemporary administrative record and that there was a lsquostar of Šulgirsquo in Old Babylonian lexical tradition See Horowitz - Watson 1991 410f 413 17 This could have resulted from political considerations because Ištarān a deity of foreign origin (perhaps Elamite) was the city-god of Dēr a strategic centre at the unstable north-eastern fringe of the statersquos core territory Thus the king may have attempted to

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 177

the sun-god18 The final step in this development was taken by Šulgirsquos suc-cessor Amarsursquoena who called himself explicitly lsquothe righteous god the sun-god of his landrsquo (see Frayne 1997 263 E321316)

The concept of the king taking over some of the sun-godrsquos functions con-tinued after the demise of the Ur III kingdom in the Isin-Larsa period but as it was closely tied to the deification of kings it gradually disappeared together with divine kingship itself Although eg Hammurāpi called him-self the lsquosun-god of Babylonrsquo the lsquosun-god of his peoplersquo and the one desig-nated lsquoto rise like Šamaš over the black-headed ones to illuminate the landrsquo (Fischer 2002 132 Beckman 2002 39f with references) these references should be taken as metaphorical for the Old Babylonian king was not dei-fied In other words he imitated the sun-god in his capacity of a protec-tor of the people and supreme judge but unlike Narāmsursquoen and some of the Ur III kings he did not and could not strive to replace him because he lacked the necessary precondition to do so ie he did not consider himself a divine being Thus in stark contrast to the depictions of divine kings Narāmsursquoen and Šulgi on his famous law code stela Hammurāpi was depicted as a respectful servant of the sun-god The textual references to Hammurāpi as sun-god can be interpreted as a form of flattery for a human king imitating a deity undoubtedly glorifies the latter This is also the case with similar passages in the inscriptions of later Mesopotamian kings because though they also adopted the idea of the rulerrsquos close bond with the sun-god they never attempted to replace him

Thus the post-Ur III period kings were just earthly reflections of the great astral deity symbolizing stability harmony justice and order ie the values inherent in the sun-godrsquos daily and immutable movement across the sky (cf Fischer 2002 132f)

show his desired unequivocal sovereignty over that area by means of identifying himself with Ištarān in his propagandistic texts 18 The most telling example comes from Šulgi X lines 142-9 lsquoHe the Ištaran of Sumer the omniscient one from birthfor the land he renders a firm judgementfor the land he obtains firm decisions(so that) the strong does not oppress the weakthe mother says pleas-ing (words) to her sonthe son speaks truth to his fatherunder him Sumer is filled with abundanceUr abounds in prosperityrsquo Klein 1981 144f

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Luděk Vaciacuten Department of the Near and Middle East Faculty of Languages and Cultures School of Oriental and African Studies University of London ludekvacinseznamcz

ERRATA ET CORRIGENDAIm Artikel bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo von Šaacuterka Velhartickaacute im Chatreššar 2006 wurden ohne Absprache und Zustimmung der Autorin zahl-reiche Aumlnderungen vorgenommen Der Korrektor hatte vor allem den urspruumln-glichen Titel des Artikels geaumlndert (zu bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) womit der Eindruck entsteht es gaumlbe mehrere Versionen dieses Rituals Die Autorin behaumllt sich vor den Artikel unter seinem urspruumlnglichen und kor-rekten Titel in Zukunft zu zitierenEin weiterer Fehler besteht darin dass der Korrektor in allen Faumlllen den Deter-minativ vor dem Wettergott statt bdquoDldquo auf bdquoDUldquo aumlnderte (in zwei Faumlllen auf DIM S 83) wodurch die Transkription unverstaumlndlich wurde An vielen Stellen kam es zu Veraumlnderungen bei der Schreibung der Kursive und umgekehrt und es gibt auch Fehler bei den Hochschreibungen In dem Kommentar zur Uumlbersetzung des hethitischen DUGpahhunalli- hatte der Korrektor willkuumlrlich die Uumlberset-zung der Autorin veraumlndert Daneben wurden auch mehrere Saumltze veraumlndert

Die Redaktion bedauert die oben genannten Veraumlnderungen Die Autorin stellt die korrekte und urspruumlngliche Version des Artikels allen Interessenten gern zur Verfuumlgung (velhartickacentrumcz) Diese ist auch unter httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf zu finden

V člaacutenku bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo Šaacuterky Velhartickeacute v Chat-reššaru 2006 byly bez vědomiacute a souhlasu autorky učiněny četneacute korektury Korektor pozměnil předevšiacutem titul člaacutenku (na bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) čiacutemž vznikaacute dojem že existuje viacutece verziacute tohoto rituaacutelu Autorka si vyhrazuje praacutevo citovat v budoucnu tento člaacutenek pod jejiacutem původ-niacutem a spraacutevnyacutem naacutezvem

Dalšiacute chyba spočiacutevaacute v tom že korektor ve všech přiacutepadech pozměnil determi-nativ před bohem bouřky z bdquoDldquo na bdquoDUldquo (ve dvou přiacutepadech na DIM s 83) čiacutemž se transkripce stala nesrozumitelnou Na mnoha miacutestech došlo ke změ-naacutem ve psaniacute kurziacutevy a opačně a vyskytly se chyby v psaniacute horniacuteho indexu V komentaacuteři k překladu chetitskeacuteho DUGpahhunalli- pozměnil korektor sveacutevolně autorčin překlad Vedle toho byly pozměněny i četneacute věty

Redakce vyslovuje politovaacuteniacute nad zmiacuteněnyacutemi uacutepravami Autorka poskytne raacuteda spraacutevnou a původniacute verzi člaacutenku k dispozici všem zaacutejemcům (velhar-tickacentrumcz) Tu je možneacute vyhledat i na straacutenkaacutech Uacutestavu srovnaacutevaciacute jazykovědy (httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf)

Chatreššar 2009

Edited by the Institute of Comparative Linguistics

Charles University in Prague Faculty of Arts

ISSN 1803-005X

EDITORIAL BOARDJost Gippert Goethe University Frankfurt aMHans Christian Luschuumltzky University of ViennaPetr Vavroušek Charles University PragueMartin Worthington University of CambridgeAndrzej Zaborski University of CracowPetr Zemaacutenek Charles University Prague

EXECUTIVE EDITORSJan Bičovskyacute Pavel Čech

PROFILE

Chatreššar is a scholarly peer-reviewed journal dedicated to publishing original research in the fields of Indo-European and Semitic linguistics and philology especially for ancient languages Areas of interest include comparative linguistics cultural history sociolinguistics electronic corpora and computational linguistics lexicography and other subjects Chatreššar is published in the form of a printed book selected articles will be accessible on-line depending on the authorsrsquo consent English summaries will be available on-line along with information on the contributors Chatreššar has been published yearly since 1997

More details on the journal including the journals policy information on the submission procedure as well as the purchase possibility can be found at httpenlilffcuniczchatressar

Page 2: Chatreššar 2009 - Univerzita Karlovausj.ff.cuni.cz/system/files/chatrssar2009.pdfJan Bičovský Pavel Čech Published by the Charles University in Prague, Faculty of Arts. Printed

Chatreššar 2009

Chatreššar 2009

copy The editors and contributors

Executive editorsJan BičovskyacutePavel Čech

Published by the Charles University in Prague Faculty of Arts Printed in the Czech Republic by BCS sro Pořiacutečany

The Chatreššar is edited by the Institute of Comparative Linguistics Charles University PragueThe members of the Editorial Board are Jost Gippert (Frankfurt aM) Hans-Christian Luschuumltzky (Vienna) Petr Vavroušek (Prague) Martin Worthington (Cambridge) Andrzej Zaborski (Cracow) and Petr Zemaacutenek (Prague)

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ISSN 1803-005XISBN 978-80-7308-297-0

Contents

International Conference on Morphology and Digitisation

Preface 9

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 11 Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

Sprachliche Morphologie digitalisiert 35 Jost Gippert

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre Verbalstammbildung und das Kausativ 63 Hans Henrich Hock

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 81 Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Geschichte der Morphologie 129 Rosemarie Luumlhr

Ostgermanische Morphologie 147 Magnuacutes Snaeligdal

Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 171 Luděk Vaciacuten

Errata et corrigenda

Errata in Šaacuterka Velhartickaacute Chetitskyacute Chutušiho rituaacutel 180 (Chatreššar 2006)

Acknowledgments

The publication of the Journal has been financially supported by the project MSM 0021620823 ldquoČeskyacute naacuterodniacute korpus a korpusy dalšiacutech jazykůrdquo [The Czech National Corpus and Corpora of Other Languages] of the Ministry of Education of the Czech Republic

International Conference on Morphology and Digitisation

Free University of Berlin7 and 8 July 2007

Preface

International Conference on Morphology and Digitisation

On the 7 and 8 July 2007 an International Conference on Morphology and Digitisation was held at the Free University of Berlin covering several scientific fields in addition to linguistics in which the concept of morphology plays an important role The topics of the papers ranged from basic linguistic subjects to the structure of clouds The interdisciplinary character of the conference together with the innovative combination of morphology and digitisation enabled the participants to launch test baloons without the obligation of submitting articles for publication The result of this liberty was that many of the high fliers disappeared from the screen whilst others kept on mdash and keep on mdash growing and a few participants have finally submitted a printable text Six articles that have been received by Phillip Chilson Jost Gippert Hans Henrich Hock Chung-Shan Kao and Thorwald Poschenrieder Rosemarie Luumlhr and Magnus Snaeligdal are published in the following pages of Chatreššar Our thanks are due to Petr Vavroušek and his team who fostered the publication of the articles in the journal and Thorwald Poschenrieder who co-organized the conference in Berlin

Matthias Fritz Jost Gippert

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie

Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

How does one understand the concept of morphology in the field of meteorology It depends upon whom you ask The Glossary of Meteorology published by the American Meteorological Society (AMS 2000) simply states bdquoA study of the structure form or shape of meteorological phenomena such as clouds or ice crystalsrdquo Here we explore morphology not only in this context but also in the context of the dynamical evolution that brings about these structures How one perceives structure is critically dependent upon the spatial and temporal scales of interest For example it is possible to describe the structures in clouds over 100lsquos of kilometers as seen from satellites or the fractal dimensionality of clouds over scales of 100lsquos of meters or even the distribution of individual cloud particles over scales of 100lsquos of millimeters The same principle holds for atmospheric dynamics Large-scale atmospheric motions eventually release their energy to smaller and smaller scales in a cascade effect until all that remains is the thermal motions of molecules in the form of heat These concepts are discussed while drawing upon several examples taken from actual meteorological phenomena such as fine-scale turbulence the formation of snowflakes atmospheric waves and the atmospheric boundary layer

KurzfassungWie ist der Begriff der bdquoMorphologierdquo im Rahmen der Meteorologie zu verstehen Nun da kommt es darauf an wen man fragt Das bdquoGlossary of Meteorologyrdquo (herausgegeben von der Amerikanischen Meteorologischen Gesellschaft AMS 2000) nennt schlicht folgendes Morphologie ist die Untersuchung des inneren Aufbaus der Anordnung oder der aumluszligeren Gestalt von meteorologischen Erscheinungen wie beispielsweise Wolken oder Eiskristalle In diesem Beitrag soll die Morphologie nicht allein in diesem Zusammenhang erkundet werden als vielmehr auch im Hinblick auf die dynamischen Entwicklungsvorgaumlnge welche zu diesen Erscheinungen fuumlhren Wie man eine Erscheinung wahrnimmt haumlngt entscheidend davon ab welche raumlumlichen und zeitlichen Ausdehnungen betrachtet werden So lassen sich beispielsweise Wolken-Formationen die sich uumlber hunderte von Kilometern erstrecken so beschreiben wie man sie vom Satelliten aus wahrnimmt oder die fraktalen Dimensionen in den Wolken uumlber hunderte von Metern oder gar die Verteilung einzelner Wolkenteilchen im 100-

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson12

Millimeter-Bereich Dasselbe gilt im Grunde fuumlr die Bewegungen in der Atmosphaumlre Die Energie groszligraumlumiger atmosphaumlrischer Bewegungen wird in einer Art Kaskade an nachfolgende Bewegungen von immer kleineren Maszligstaumlben abgegeben bis schlieszliglich alles in die Bewegungsenergie von Molekuumllen in Form von Waumlrme umgewandelt ist Solche Betrachtungen werden in diesem Beitrag vorgestellt dazu werden reichlich Beispielfaumllle beigezogen die von echten Wetter-Phaumlnomenen stammen wie die Turbulenz im kleinen Maszligstab die Formation von Schneeflocken die atmosphaumlrischen Wellen und die atmosphaumlrische Grenzschicht

1 Einfuumlhrung Bevor wir uns dem Thema der Morphologie in der Meteorologie widmen soll uns zuerst ein kurzer geschichtlicher Ruumlckblick uumlber die Verbundenheit des Menschen mit Wetter und Natur darauf vorbereiten Schon seit jeher wohnt dem Menschen ein ungemeines Interesse fuumlr das Wetter und die damit verbundenen Vorgaumlnge inne Das ist natuumlrlich keine Uumlberraschung wenn man bedenkt wie eng sein Uumlberleben und Wohlbefinden an die natuumlrlichen Gegebenheiten wie Hitze und Kaumllte Regen und Duumlrre sowie stuumlrmisches und ruhiges Wetter gebunden sind Gewisse sich wiederholende Vorgaumlnge des Wetters sind sicherlich schon sehr fruumlhzeitig erkannt worden und zwar nicht nur die taumlglichen Zyklen betreffend sondern auch jene die nur nach einem laumlngerem Zeitraum wiederkehren So folgten den kalten und unfruchtbaren Monaten des Winters die warmen und fruchtbaren Zeitraumlume des Fruumlhjahrs In bestimmten Gegenden mit erheblichen jaumlhrlichen Niederschlaumlgen folgte die mit Sehnsucht erwartete Regenzeit den Duumlrreabschnitten Durch das Beobachten und Wahrnehmen dieser Vorgaumlnge wurde es dem Menschen moumlglich sich den Bedingungen des Wetters anzupassen So erkannte er beispielsweise die Notwendigkeit in klimatisch mildere Gegenden zu ziehen oder sich im Lande auf das Kommen des Winters vorzubereiten Wahrscheinlich wurde durch die langjaumlhrig gesammelten Beobachtungen auch eine gewisse Erwartung oder Vorfreude auf das Wiederkehren bestimmter natuumlrlicher Vorgaumlnge erweckt wie zum Beispiel auf das Kommen des Fruumlhlings einer Regenzeit oder den Segen einer fruchtbaren Ernte In vielen Kulturen waren diese Ereignisse mit groszligen Feierlichkeiten verbunden

Nachdem der Mensch die der Natur innewohnenden Vorgaumlnge lange beobachtet hatte richtete er nun sein Interesse darauf die Naturkraumlfte welche solche Schauspiele bereiteten zu verstehen Er fragte sich nach den Hintergruumlnden der rhythmischen Veraumlnderungen in seiner Umgebung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 13

Gewoumlhnlicherweise wurde das Geschehen in der Natur irgendeinem uumlbernatuumlrlichen Wesen zugeschrieben welches auszligerdem meist noch als launenhaft oder sogar rachbegierig wahrgenommen wurde Diese Auffassung war im Einklang mit den unberechenbaren und oft verheerenden Geschehnissen in der Natur Wurden die Goumltter nicht bei guter Laune gehalten dann lieszligen sie ihren Zorn in der Form von schlechtem Wetter oder Naturkatastrophen an den Menschen aus Infolgedessen strebten jene fruumlhgeschichtlichen Voumllker danach mit den Goumlttern in Harmonie und Ausgeglichenheit zu leben So wurden den Goumlttern Gebete und Opfer dargebracht um sie zu besaumlnftigen und bei Laune zu halten Auszligerdem wurden feierliche Rituale durchgefuumlhrt mit dem Ziele guumlnstiges Wetter herbeizufuumlhren

Mit der Zeit verstand man dass viele Vorkommnisse in der Atmosphaumlre von denen man vorher annahm dass sie zufaumlllig waumlren durchaus erklaumlrbar waren So erkannte man die entsprechenden Vorboten fuumlr viele verschiedene Wetterverhaumlltnisse Man koumlnnte eigentlich sagen dass die Wetterkunde nichts weiter ist als eine gruumlndliche Untersuchung von erkennbaren sich wiederholenden Verhaltensmustern und Erscheinungen Der Bauer wie auch der Seemann der den Himmel scharf beobachtete konnte Wetterentwicklungen anhand von Wolkenformationen und Windverhaumlltnissen voraussagen Die erworbene Weisheit wurde an die naumlchste Generation weitergegeben und bildete somit die Grundlage fuumlr eine umfangreiche Geschichte der Wetterfolklore Diese Tradition hat eine lange Liste von Wetterweisheiten hervorgebracht Hier nur einige Beispiele

Bei rotem Mond und hellem Sterne sind Gewitter gar nicht fernebull Abendrot ndash Gutwetterbotrsquo ndash Morgenrot mit Regen drohtbull Hof um den Mond bedeutet Regen Hof um die Sonne groszlige Stuumlrmebull Steigt der Rauch ganz gerade nach oben bleibt das Wetter lange schoumlnbull Geht die Sonne feurig auf folgen Wind und Regen draufbull Je weiszliger die Schaumlfchen am Himmel gehrsquon je laumlnger bleibt das Wetter schoumlnbull

Natuumlrlich sind solche Weisheiten nicht immer oumlrtlich uumlbertragbar Sie entsprechen nicht unbedingt der absoluten Wahrheit sind aber oft eine gute Annaumlherung daran und basieren auszligerdem auf meteorologisch bewiesenen Grundsaumltzen

Manchmal wurden jenen Leuten die die Faumlhigkeit besaszligen Naturgeschehen richtig zu deuten groszlige Bedeutung beigelegt Nehmen wir Aumlgypten als Beispiel Die Zivilisation konnte in dieser Gegend wegen des nahrhaften

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson14

Bodens auf Grund der alljaumlhrlichen Uumlberflutung des Nils gut gedeihen Dieses Geschehen war von solch groszligem Stellenwert dass man es dem Gott Hapi der fuumlr Fruchtbarkeit stand zuschrieb Die Priester dieser Zeit erkannten dass das abendliche Erscheinen des Sterns Sirius mit dem Beginn der Uumlberschwemmung des Nils zusammentraf Sie waren Priester aufgrund der Bedeutsamkeit ihrer Beobachtungen aber heute wuumlrde man sie als Gestirnforscher beschreiben

Obwohl die zuvor erwaumlhnten Bauern Seeleute und Priester in der Lage waren Verhaltensmuster in der Natur zu erkennen und diese meteorologischen Phaumlnomenen zuzuschreiben verstanden sie doch nicht unbedingt die dahinterliegenden Mechanismen und waren sich nicht im Klaren daruumlber inwieweit wirkliche Verbindungen bestanden So deuteten sie also die Ursachen und Wirkungen nicht immer richtig Im Falle der Uumlberschwemmung des Nils war die eigentliche Ursache nicht der Erscheinen des Sirius sondern der Einbruch der Regenzeit im aumlthiopischen Hochland Mit der Zeit hing die Deutung von Verhaltensmustern im Wetter immer weniger vom Zufall ab und es gelang immer mehr die zugrundeliegenden Verhaumlltnisse zu verstehen In diesem Zusammenhang werden wir nun mit der Untersuchung der Morphologie in der Meteorologie beginnen

2 Qualifizierende Wetter-Verhaltensmuster Die griechische Sehensweise Viele Zivilisationen haben erstaunliche Geschichten daruumlber wie sie begannen beobachtete Verhaltensmuster in der Natur zu quantifizieren Allerdings wollen wir hier nur auf eine einzige solche Zivilisation naumlher eingehen naumlmlich die der Griechen Es bietet sich an die Griechen hierfuumlr auszuwaumlhlen zumal sie ja die Grundsteine fuumlr die heutigen westlichen Zivilisationen gelegt haben Die alten Griechen begannen schon im Jahre 800 v Chr die Zusammenhaumlnge innerhalb ihrer eigenen Umgebung sehr genau zu uumlberdenken Man muumlsste allerdings einschraumlnken dass ein systematisches Herangehen an diese Sache erst in der Zeit des Aristoteles (384 ndash 322 v Chr) stattfand Aristoteles ist fuumlr viele bedeutende Erkenntnisse beruumlhmt geworden Fuumlr unsere Eroumlrterung hier ist vor allem sein groszliges Werk die Meteorologica von entscheidender Bedeutung In diesem Werk versuchte er verschiedene atmosphaumlrische Phaumlnomene wie beispielsweise Blitz Wolken Wind Regenboumlgen und auch Meteore zu quantifizieren Aristoteles argumentierte so wie andere Griechen vor ihm dass jegliche Materie aus folgenden vier Grundelementen bestehe Feuer Luft Wasser und Erde Eigentlich glaubte man noch an ein fuumlnftes Element naumlmlich den Aumlther der der Baustoff der himmlischen Materie sei Den Aumlther verstand

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man als ein Medium in dem alles vorhanden sein konnte denn man glaubte nicht daran dass die Natur aus einem Vakuum bestehen koumlnnte

Aristoteles glaubte dass alle meteorologischen Erscheinungen mit den vier Elementen erklaumlrt werden koumlnnten Sein Verstaumlndnis der Meteorologie ging weit uumlber das Wetter hinaus Es schloss alles ein was von oben auf die Erde kam oder uumlber der Erdehingldquo Jedes der vier Elemente wurde mit zwei der folgenden vier Eigenschaften in Verbindung gebracht heiszlig kalt nass und trocken (siehe Abbildung 1 zur Veranschaulichung) Auszligerdem glaubte man dass alle Elemente umwandelbar seien was durch Ablaumlufe der Kondensation und Verduumlnnung bewirkt werde Die Umwandlungen wuumlrden sich an bestimmte Richtlinien halten So wuumlrde sich also verduumlnnte Luft in Feuer umwandeln kondensierte Luft wiederum in Wind Wolken und Wasser Wasser koumlnnte sich dann weiter verfestigen und zu Erde werden Schlieszliglich gebe es eine klare Rangordnung der Elemente die dazu diente alles in Bewegung zu halten Feuer wuumlrde uumlber andere Elemente aufsteigen und Erde wuumlrde hinuntersinken Wasser wuumlrde uumlber Erde aufsteigen aber nicht uumlber Luft die Luft wiederum wuumlrde uumlber Wasser aufsteigen aber nicht uumlber Feuer Aus diesem Grunde wuumlrden sich die Wolken uumlber der Erde bilden und ebenso die Luftblasen im Wasser

Abbildung 1 Wechselbeziehungen zwischen den Elementen der Materie gemaumlszlig Aristoteles

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Aristoteles gemaumlszlig konnte sich die Luft zu Wasser kondensieren und dann als Regen auf die Erde fallen Das gleiche galt fuumlr den Tau der allerdings nicht herunterfallen musste Diese Ansichten erklaumlrten die verschiedenen Phasen von Wasser aber uumlber das Vorkommen von Hagel im Sommer war Aristoteles etwas verbluumlfft Seine Auffassungen waren gewiss sehr erfin-derisch und schoumlpferisch auch wenn sie letztendlich falsch waren Diese Anschauungen herrschten noch 2000 Jahre nach seinem Tod vor und behinderten sogar die Entwicklung der atmosphaumlrischen Wissenschaft Erst durch Galileo Galilei wurden die aristotelischen Ansichten verdraumlngt und durch ein neues Wissenschaftsverstaumlndnis ersetzt

3 Wetterverhaltensmuster uumlber raumlumliche und zeitliche SkalenUm eine vollstaumlndige Einsicht uumlber die Rolle der Morphologie innerhalb von Wettersystemen zu erzielen ist es notwendig zuerst uumlber die unglaublich weitreichenden raumlumlichen und zeitlichen Ausmaszlige nachzudenken Zum Beispiel muss man fuumlr weite raumlumliche und lange zeitliche Skalen atmosphaumlrische Bewegungen ins Auge fassen deren Laumlngen mit dem Durchmesser der Erde vergleichbar sind und deren Zeiten in der Groumlszligenordnung von Tagen stehen Zu den wesentlichen Einfluumlssen in diesem Bereich gehoumlren die Erdumdrehung die ungleichmaumlszligige Erhitzung der Erde und die Verteilung von Landmassen und groszligen orographischen Erscheinungen Im anderen Extrem wenn man sich mit Vorgaumlngen im Millimeterbereich und mit Laufzeiten im Sekundenbereich beschaumlftigt wird es noumltig die molekularen Wechselbeziehungen der einzelnen atmosphaumlrischen Teilchen mit in Erwaumlgung zu ziehen Es gibt nicht nur eine Vielzahl von atmosphaumlrischen Prozessen sondern es muss auch beachtet werden dass diese sich gegenseitig beeinflussen

Anfangs hat es den Anschein dass es fast unmoumlglich sei die Atmosphaumlre in solch einem Ausmaszlig zu eroumlrtern Um Fortschritte im Verstehen der Atmosphaumlre und der dazugehoumlrigen Morphologie zu machen ist es entscheidend den Fragebereich in kleinere uumlberschaubare Untereinheiten zu zerlegen Dann besteht die endguumlltige Herausforderung darin die relative Bedeutung der einzelnen Faktoren die diese Untereinheiten beeinflussen richtig einzuschaumltzen Wenn man beispielsweise versucht die Staumlrke und Lage des Jetstreams in Europa waumlhrend der naumlchsten 24 Stunden vorherzusagen koumlnnte man auch den Einfluss der Getreidefelder in Bayern auf den niedrigen Wind mit einbeziehen aber dies waumlre nur

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ein minimale Beeinflussung Allerdings bietet es sich schon an die Oberflaumlchenerwaumlrmung der gleichen Getreidefelder zu beachten wenn man die allgemeinen Strukturen von konvektiven Wolken wie sie sich im Sommer bilden eroumlrtertBeim Unterteilen der Atmosphaumlre in Untereinheiten fanden es die Meteorologen zweckmaumlszligig mehrere allgemeine raumlumliche Skalen zu definieren Diese sind in Tabelle 1 aufgefuumlhrt Die vier Haupt- gruppierungen sind die planetarische Skala die synoptische Skala die Mesoskala und die Mikroskala aber wie man schon aus der Tabelle ersehen kann koumlnnen auch diese wiederum in weitere Untereinheiten zerlegt werden Um ein besseres Gefuumlhl fuumlr die raumlumlichen und zeitlichen Skalen zu bekommen und einige der damit verbundenen atmosphaumlrischen Erscheinungen zu erklaumlren haben wir Abbildung 2 eingefuumlgt Diese Abbildung wurde von Dr Czeckowsky am Max-Planck-Institut fuumlr Aeronomie (heute Max-Planck-Institut fuumlr Sonnensystemforschung) bereitgestellt Wie wir daraus ersehen koumlnnen haben kleine raumlumliche Erscheinungen entsprechende kurze zeitliche Skalen und umgekehrt Es waumlre nicht sinnvoll allgemeine Gleichungen zu erstellen die man uumlber den ganzen Bereich dieser Skalen verwenden wuumlrde Im Grunde formen jene verschiedenen Arbeitsgebiete die fundamentalen Bausteine der atmosphaumlrischen Analyse und die Grundlage fuumlr die Morphologie in der Meteorologie

Groumlszliger als Skala Name20000 km Planetarische Skala2000 km Synoptische Skala

200 km Meso-α Mesoskala20 km Meso-β Mesoskala

2 km Meso-γ Mesoskala200 m Mikro-α Turbulenz in der Grenzschicht

20 m Mikro-β Turbulenz in der Bodenschicht2 m Mikro-γ Turbulenz im Traumlgheitsbereich

2 mm Mikro-δ Kleinskalige TurbulenzLuftmolekuumlle Molekular Viskoser Dissipations-Teilbereich

Tabelle 1 Die raumlumlichen Groumlszligenordnungen bzw Skalenbereiche zum Beschreiben atmosphaumlrischer Phaumlnomene

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Im Folgenden zeigen wir zwei Beispiele in denen ein bestimmtes atmosphaumlrisches Phaumlnomen in der passenden Groumlszligenordnung analysiert wird Erwaumlgen wir zuerst die Entstehung und Ausbreitung eines Systems von Gewittern Gewitter koumlnnen erzeugt werden wenn warme feuchte Luft durch irgendeinen Vorgang nach oben gefuumlhrt wird Dieser Vorgang koumlnnte Oberflaumlchenerwaumlrmung oder die Einfuhr eines kalten dichten Luftstroms sein Wenn die Bedingungen richtig sind dann werden diese aufstroumlmenden Luftmassen durch Auftriebkraumlfte weiter nach oben gezogen Des Weiteren kuumlhlen sich die Luftmassen beim Aufsteigen wesentlich ab was zur Kondensation des verfuumlgbaren Wasserdampfes fuumlhrt Die Abgabe von Waumlrme bei diesem Vorgang erwaumlrmt die Luft noch weiter und foumlrdert die Aufwaumlrtsbewegung der Luftmassen Das Ergebnis ist ein starker Aufwind und eine rasche Kondensierung des Wasserdampfes was wiederum zur Praumlzipitation und zur Trennung elektrischer Ladungen fuumlhrt An der Erdoberflaumlche entsteht durch den Niederschlag ein Gebiet kalter Luftmassen welches aus dem Gewitter herausstroumlmt Wenn die vorherrschenden Bedingungen richtig sind dann kann dieser kalte Luftschub weitere Gewitter hervorrufen Alle soeben beschriebenen dynamischen und thermodynamischen Vorgaumlnge spielen sich innerhalb des Mesoskalenbereichs ab Wenn es jedoch notwendig wird die gesamten meteorologischen Bedingungen die fuumlr ein Gewitter bedeutsam sind zu erwaumlgen dann muumlssen wir auch auf Erscheinungen im synoptischen Skalenbereich zuruumlckgreifen Die zugrundeliegende atmosphaumlrische Physik ist in beiden Faumlllen die gleiche aber die analytischen Werkzeuge sind dem jeweiligen Skalenbereich angepasst Als zweites Beispiel betrachten wir die Staumldte-Meteorologie Man muss vielleicht vorhersehen koumlnnen wie ein Windfeld auf Gebaumlude oder Straszligenschluchten einwirkt aber es ist nicht einfach solche Wechselbeziehungen im Kleinskalenbereich zu ermessen Allerdings koumlnnen die gesamten im Mesoskalenbereich vorhergesagten Windfelder als Eingabe-Parameter fuumlr den erwuumlnschten Mikroskalenbereich verwendet werden Es koumlnnen sozusagen Vorgaumlnge die in verschiedenen Skalenbereichen ablaufen synergistisch uumlber ihre eigenen Grenzen hinaus miteinander verbunden werden

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Abbildung 2 Darstellung von gewoumlhnlichen Phaumlnomenen in der Atmosphaumlre innerhalb uumlblicher zeitlicher und raumlumlicher Skalen

Als ein Beispiel wie eine Kopplung sich uumlber Skalen hinaus in der Atmosphaumlre offenbart betrachten wir nun die Wechselbeziehungen zwischen dynamischen Vorgaumlngen wie sie innerhalb der planetarischen Grenzschicht uumlblich sind Wenn wir von der Grenzschicht sprechen meinen wir jenen Teil der Atmosphaumlre welcher in starker Beziehung zur Erdoberflaumlche steht und von Reibung und Waumlrmeeinwirkungen beeinflusst wird Uumlblicherweise ist die Dicke der Grenzschicht uumlber Land ungefaumlhr 100-200 m waumlhrend des Abends und ungefaumlhr 1-2 km waumlhrend des Tages Diese Werte haumlngen letztendlich von den allgemeinen atmosphaumlrischen Bedingungen und den Oberflaumlchen-Gegebenheiten ab Natuumlrlich ist die Grenzschicht ein houmlchst bedeutender Bereich der Atmosphaumlre wenn man bedenkt dass sie unser Lebensraum ist

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Besonders waumlhrend des Tages sind atmosphaumlrische Luftbewegungen innerhalb der Grenzschicht stark von der Turbulenz beeinflusst Die Turbulenz umfasst die chaotischen stochastischen Bewegungen in Fluumlssigkeiten und steht mit einer schnellen Aumlnderung von Druck Temperatur und Geschwindigkeit in Verbindung Die Geschwindigkeit der Fluumlssigkeit ist zu einem beliebigen Zeitpunkt bestaumlndig unregelmaumlszligigen Schwankungen ausgesetzt Aus diesem Grunde wird die Atmosphaumlre in der Meteorologie als eine Fluumlssigkeit betrachtet Wenn wir die atmosphaumlrische Turbulenz sehen koumlnnten dann wuumlrden wir eine Ansammlung von Wirbeln sehen die innerhalb eines raumlumlichen und zeitlichen Skalenbereichs angesiedelt sind Es waumlre offensichtlich dass diese Wirbel nebeneinander bestehen und bestaumlndig aufeinander einwirken Eine Darstellung dieser Wechselwirkungen von Wirbeln ist in Abbildung 3 zu sehen

Abbildung 3 Veranschaulichung atmosphaumlrischer Turbulenz

Stochastische Systeme wie sie in Turbulenzen vorkommen sind von Natur aus nicht deterministisch aber es koumlnnen trotzdem sinnvolle Parameter errechnet werden Da es unmoumlglich ist die Bewegungsablaumlufe von einzelnen Teilchen in einer Fluumlssigkeit zu berechnen haben sich Wissenschaftler zu einer statistischen Vorgehensweise entschlossen Nehmen wir an wir haben eine bestimmte Menge von Gas in einem festen Behaumllter von gleichbleibendem Volumen eingeschlossen Man hat herausgefunden dass hier die Waumlrmeenergie der gesamten Gasteilchen in einer Beziehung zur Temperatur des Gases steht Deshalb kann man zusammenfassend sagen dass die zufaumllligen Zusammenstoumlszlige der Teilchen mit der Wand des Behaumllters statistisch als Druck quantifiziert werden koumlnnen Tatsaumlchlich ist in diesem Beispiel der Druck einzig von der Temperatur abhaumlngig Die unmoumlgliche

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Aufgabe die Lage und die Geschwindigkeit der Gasteilchen zu verfolgen ist somit auf eine ganz einfache Gleichung zuruumlckgefuumlhrt worden naumlmlich P = ρ R T wobei P der Druck ist ρ die Dichte des Gases und R eine Konstante die sich auf das jeweilige Gas bezieht Wenn man sich diese taumluschend einfache Gleichung ein bisschen genauer ansieht dann laumlsst sich daraus eine reichhaltige Vielfalt statistischer Physik erschlieszligen

Die Auswirkungen der Turbulenz und stochastischer Vorgaumlnge findet man uumlberall in der Natur und sie waren und sind noch immer das Thema langer Reihen von Erkundungen Allerdings ist die Turbulenz trotz dieser Bemuumlhungen eines der am wenigsten verstandenen Gebiete in der klassischen Physik geblieben Warum ist das so Schon 1755 gelang es dem Schweizer Mathematiker Euler ein System von Gleichungen aufzustellen das die Bewegungen von Fluumlssigkeiten beschrieb Er hatte jedoch die Auswirkungen der Viskositaumlt welche ein Maszligstab fuumlr den Widerstand einer Fluumlssigkeit ist nicht miteinbezogen Das mathematische Bezugssystem das heute haumlufig gebraucht wird um zaumlhfluumlssige und waumlrmeleitende Fluumlssigkeiten zu beschreiben nennt man die Navier-Stokes-Gleichungen sie wurden zwischen 1822 und 1845 von dem Franzosen Navier und dem Briten Stokes formuliert Diese Gleichungen sind das Herz und die Seele aller hydrodynamischen Modelle mit denen man newtonsche Fluide wie Wasser Luft oder Oumll beschreibt jedoch werden auch sie der Verflochtenheit der Turbulenz nicht gerecht Ein halbes Jahrhundert nach dem Werk von Navier und Stokes wurden Wissenschaftler wegen des Mangels an neuen Erfolgen in ihrem Verstaumlndnis der Turbulenz wieder entmutigt Waumlhrend einer Ansprache vor der britischen Gemeinschaft fuumlr wissenschaftlichen Fortschritt (British Association for the Advancement of Science) im Jahre 1932 soll der bekannte und geschaumltzte britische Physiker Horace Lamb folgendes gesagt haben bdquoI am an old man now and when I die and go to Heaven there are two matters on which I hope for enlightenment One is quantum electrodynamics and the other is the turbulent motion of fluids And about the former I am really rather optimisticrdquo (Heute bin ich ein alter Mann und wenn ich einst sterbe und in den Himmel komme moumlchte ich dort gerne zwei Fragen beantwortet haben die eine uumlber die Quanten-Elektrodynamik und die andere uumlber die Turbulenz von Fluumlssigkeiten Hinsichtlich der ersten Frage bin ich noch recht optimistisch)

Ein gewisser Erfolg kam endlich als der russische Wissenschaftler Komogrov im Jahre 1950 in der Lage war die Turbulenz teilweise zu charakterisieren Komogrov zufolge kommt der groumlszligte Teil der kinetischen Energie in einem Fluid (wir meinen hier die Atmosphaumlre) in groumlszligeren

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Skalen vor Diese Energie wird dann an kleinere und noch kleinere Skalen weitergegeben Die kinetische Energie wird also von den groumlszligeren Wirbeln an kleinere Wirbel abgegeben und zwar durch eine Reihe von Vorgaumlngen die man als Energiekaskade bezeichnet Die Energie wird bestaumlndig an kleinere Skalen abgegeben bis die turbulenten Wirbel so klein sind dass molekulare diffusive Kraumlfte eine wichtige Rolle spielen und die Energie in Form von Waumlrme abgegeben wird Eine graphische Darstellung des Kaskadenvorgangs ist in Abbildung 4 zu sehen Die y-Achse des Diagramms bezeichnet den Betrag der kinetischen Energie pro Wirbel fuumlr eine bestimmte Groumlszlige Die Wellennummer befindet sich auf der x-Achse Fuumlr unsere gegenwaumlrtige Eroumlrterung kann man sich die Wellennummer k als die inverse charakteristische Groumlszlige der turbulenten Wellen denken und zwar innerhalb der Grenzschicht Dies ist aumlhnlich wie die Beziehung zwischen Zeit und Frequenz Eine Erhoumlhung der Wellenzahl entspricht also einer Abnahme der Groumlszlige Den Bereich der Wellenzahlen (Groumlszligen) fuumlr welche der Kaskadenvorgang stattfindet nennt man Traumlgheitsbereich (inertial subrange) und dieser ist sehr wichtig fuumlr die atmosphaumlrische Dynamik In der atmosphaumlrischen Grenzschicht werden kinetische Energien in der Groumlszligenordnung von 100-200 m angeregt und eine Erwaumlrmung tritt ungefaumlhr dann auf wenn die Wirbel 1 mm groszlig sind Die Energiekaskade beschreibt die Umwandlung von turbulenter kinetischer Energie innerhalb raumlumlicher Skalen die sich um fuumlnf Groumlszligenordnungen bzw Zehnerpotenzen voneinander unterscheiden

Abbildung 4 Darstellung des Energiegehalts turbulenter Stroumlmungen als eine Funktion der Wellenzahl

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4 Fruumlhzeitige Wettervorhersage-ModelleIm Jahre 1904 wies der Norweger Bjerknes darauf hin dass es moumlglich sein sollte quantitative und objektive Wettervorhersagen zu machen die auf der deterministischen Theorie der atmosphaumlrischen Bewegung und den Navier-Stokes Gleichungen basieren Er behauptete also dass es moumlglich sei das Wetter anhand analytischer Modelle vorherzusagen Diese Vorgehensweise gleicht also nicht den Vorhersagen von erfahrenen Leuten die sich auf Wetterkarten beobachtete Daten und den Himmel verlieszligen Die Aussicht auf eine Erstellung von objektiven Wettervorhersagen fuumlhrte den Begriff der Morphologie in ein neues Zeitalter Nun wurde es zum ersten Male sinnvoll nach den zugrunde liegenden Beziehungen zwischen den Verhaltensmustern die man jahrhundertelang beobachtet hatte zu suchen Es ist allerdings fraglich ob Bjerknes eine starke Hoffnung auf das Zustandekommen solcher Vorhersagen hatte Weitere 30 Jahre mussten vergehen bis Konrad Zuse den ersten binaumlren Rechner in Deutschland entwickelte Das erste Geraumlt wurde noch mechanisch betrieben und erst einige Jahre spaumlter wurde daraus der erste elektronische Rechner bzw Computer

Zu Beginn des 20 Jahrhunderts begann Lewis Fry Richardson mit einem Plan fuumlr objektive Wettervorhersagen welche auf den Ergebnissen von Bjerknes beruhten und zwar ohne mechanischen oder elektronischen Rechner Er veroumlffentlichte diese wegweisenden Vorstellungen im Jahre 1922 Weil es zu der Zeit noch keine physikalischen Rechner gab stellte sich Richardson menschliche Rechner vor Nach seinen Berechnungen braumluchte man 64000 Menschen die rund um die Uhr arbeiteten um angemessene Wettervorhersagen zu erstellen Er stellte sich vor dass diese Personen zusammen in einer groszligen Halle arbeiten wuumlrden wobei jeder einzelne eine relativ kleine Aufgabe der Gesamtarbeit uumlbernaumlhme Laumlufer wuumlrden dann die Ergebnisse zwischen den menschlichen Rechnern uumlbermitteln Ein Hauptleiter wuumlrde die einzelnen Vorgaumlnge uumlberwachen und die Arbeitsablaumlufe aufeinander abstimmen Richardson schrieb in dem Buch Weather Prediction by Numerical Processes folgendes (Richardson 2007) bdquoImagine a large hall like a theater except that the circles and galleries go right round through the space usually occupied by the stage The walls of this chamber are painted to form a map of the globe hellip From the floor of the pit a tall pillar rises to half the height of the hall It carries a large pulpit on its top In this sits the man in charge of the whole theatrerdquo (Stellen wir uns eine groszlige Halle vor etwa so wie ein Theater aber die Kreise und Emporen gehen ganz herum auch da wo normalerweise der

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Schauplatz ist Die Waumlnde sind so bemalt wie unsere Weltkugel Vom Boden des Parketts erstreckt sich eine hohe Saumlule bis zur halben Houmlhe der Halle Auf der ist obendrauf eine groszlige Kanzel Hier sitzt der Mann der das ganze Theater leitet) Richardson war sich wohl bewusst dass es zu seiner Zeit fast unmoumlglich gewesen waumlre dieses Vorhaben durchzufuumlhren Im Vorwort zu seinem Buch schrieb er (Richardson 1922) bdquoPerhaps some day in the dim future it will be possible to advance the computations faster than the weather advances and at a cost less than the saving to mankind due to the information gained But that is a dreamrdquo (Vielleicht wird es eines Tages in ferner Zukunft moumlglich sein die Berechnungen schneller zu beschleunigen als die Fortschritte der Wetterforschung und um einen Preis der geringer ist als die Gewinne die die neuen Erkenntnisse fuumlr die Menschheit erbringen Aber das ist ein Traum) Vielleicht war es nur ein Traum aber einer den er ernsthaft in Betracht zog In seinem Buch legte Richardson systematisch die Grundlage fuumlr ein neues Gebiet der Wetterforschung naumlmlich die numerische Wettervorhersage die auch noch heute betrieben wird Lewis Fry Richardson wird von vielen sogar als der Urheber dieses Forschungsgebietes angesehen

Mit der Entwicklung des ENIAC (Elektrischer und Numerischer Integrator und Rechner) im Jahre 1946 durch eine Gruppe von amerikanischen Ingenieuren der Elektrotechnik geleitet von Mauchly und Eckert konnte Richardsons Traum endlich Wurzel fassen und beginnen Wirklichkeit zu werden Mit der Abloumlsung mechanischer Relais und Schalter durch die Vakuumroumlhre wurde der ENIAC tausendmal schneller als die zeitgenoumlssischen Rechner Der ENIAC wurde vom Militaumlr fuumlr die Aufgabe entwickelt aufwendige ballistische Flugbahnen auszurechnen John von Neumann ein Mathematiker an der Universitaumlt Princeton erkannte sofort dass der ENIAC auch fuumlr die Modellierung von Wettervorhersagen gut geeignet sein wuumlrde Er nahm die Hilfe des amerikanischen Meteorologen Jule Charney in Anspruch und die beiden lieferten im Jahre 1950 die erste numerische Wettervorhersage mittels des ENIAC Es dauerte noch ein Jahrzehnt bis die numerischen Modelle fuumlr die Wettervorhersagen besser wurden und in der Lage waren Vorhersagen zu liefern die sich mit den subjektiven Analysen menschlicher Meteorologen messen konnten

Heutzutage sind Computermodelle eine Hauptquelle fuumlr die Meteorologie und die Wettervorhersage Es gibt allerdings noch kein Modell das alle phaumlnomenologischen und morphologischen Skalen der Atmosphaumlre behandeln wuumlrde Deshalb ist der Grundsatz die Umgebung in uumlberschaubare Skalen (wie in Tabelle 1 aufgefuumlhrt) zu unterteilen bestehen geblieben In

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der raumlumlichen Skala von ungefaumlhr 1 mm bis zu hunderten von Metern kann man turbulente Stroumlmungsmuster mit einem groszligen Genauigkeitsgrad mittels direkter numerischer Simulation (DNS) ausrechnen Fuumlr groumlszligere Skalen verwendet man die Groszlig-Wirbel-Simulation (LES = large eddy simulation) Mit dieser Herangehensweise werden alle Vorgaumlnge von kleineren Skalen von mehreren 10 Metern mit Parametern versehen (nicht direkt berechnet) und dafuumlr verwendet fluumlssige Stroumlmungen innerhalb einer Skala von mehreren 10 Kilometern zu untersuchen Zusaumltzlich zur DNS und LES gibt es auch noch mesoskalige Modelle synoptische Modelle erdumfassende Umlauf-Modelle usw Wenn der Bereich in dem ein Modell verwendet wird an Groumlszlige zunimmt dann nimmt auch die Groumlszlige der kleinsten Einheit des Modells zu Deshalb wird es immer wichtiger das gewonnene Wissen uumlber die kleinen Skalen (von Simulationen) zu nuumltzen um Parameter-Systeme fuumlr die Verwendung in Modellen groumlszligerer Skalen zu entwickeln

5 Die Geburt des ChaosIn den spaumlten fuumlnfziger und fruumlhen sechziger Jahren gerade als die elektronische Computertechnologie sich eingebuumlrgert hatte und die Zukunft von numerischen Wettervorhersagen rosig aussah kam es in den Hallen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu einer unerwarteten Wendung Ein Meteorologe mit dem Namen Ed Lorenz entwickelte seine eigenen Modelle fuumlr die Wettervorhersage an einem geraumluschvollen Computer in seiner Amtsstube Weil Lorenz nur eine beschraumlnkte Auswahl von Hilfsmitteln zur Verfuumlgung hatte hielt er sein Modell sehr schlicht Seine simulierte Atmosphaumlre enthielt nur 12 Gleichungen und die Variabeln (Regelgroumlszligen) die errechnet werden konnten waren lediglich einzelne Groumlszligen wie Druck Temperatur und Windvektoren Mit jeder Wiederholung in simulierter Zeit erstellte der Computer eine groszlige Menge von Zahlen die Werte der errechneten Parameter anzeigten Lorenzrsquo Wettersimulationen gaben Aufschluss uumlber gewisse Beziehungen von atmosphaumlrischen Erscheinungen und seine Ergebnisse gaben ihm die noumltigen Einsichten um Verhaltensmuster im Wetter zu suchen

Eines Tages waumlhrend seine Simulationen liefen machte Lorenz eine Entdeckung die spaumlter zu einem voumlllig neuen Zweig der Mathematik fuumlhren sollte An jenem Tage versuchte er eine Simulation zu wiederholen

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die er schon vorher durchgefuumlhrt hatte Jedoch wollte er das Modell mit der neuen Simulation uumlber einen laumlngeren Zeitraum laufen lassen Um den Vorgang zu beschleunigen entschied sich Lorenz fuumlr eine Abkuumlrzung Er initialisierte die neue halbwegs fertig gelaufene Simulation dadurch dass er die ausgedruckten Parameter die also schon erstellt waren eingab Er tippte die Zahlen in sein Programm schaltete den Computer ein und verlieszlig seine Amtsstube um sich eine Tasse Kaffee zu holen Als er eine Stunde spaumlter zuruumlckkam bemerkte er etwas Uumlberraschendes Die Ergebnisse der neuen Simulation waren voumlllig anders als was er zuvor errechnet hatte

Nachdem er sicherstellte hatte dass kein Fehler vorlag kam Lorenz zur Schlussfolgerung dass der Unterschied der Ergebnisse ein Rundungsfehler sein muumlsste der durch das Eintippen der Parameter in der Mitte der Simulation entstanden war So wurde zum Beispiel ein Wert von 05783214 als 0578 ausgedruckt Konnte denn ein Rundungsfehler in den Tausender Dezimalstellen zu solch tiefgreifenden Abweichungen in den simulierten Ergebnissen fuumlhren Dieser Rundungsfehler war doch kleiner als die Fehler in den zahlreichen meteorologischen Beobachtungen die fuumlr das Wettervorhersage-Modell benutzt wurden Es bleib jedoch unuumlbersehbar dass die Ergebnisse der beiden Simulationen enorme Abweichungen zeigten Welche Folgen wuumlrde dies fuumlr die Zukunft der numerischen Wettervorhersagen haben

Als geschickter Mathematiker verstand Lorenz dass diese neue Art der Unvorhersehbarkeit irgendwo in den Zahlen verborgen lag Man nennt diese Erscheinung die bdquoEmpfindlichkeit gegenuumlber den Anfangsbedingungenldquo (sensitive dependance on initial conditions) Das bedeutet dass kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen das langfristige Verhalten eines Verfahrens wesentlich veraumlndern koumlnnen Heute nennt man das den Schmetterlingseffekt da man sich vorstellen kann dass das Schwingen eines Fluumlgels eines Schmetterlings grundsaumltzlich einen tiefgreifenden Einfluss auf das Wetter nehmen kann das zu spaumlterer Zeit beobachtet wird Hieraus entwickelte sich spaumlter die Chaosforschung

Um diese Auswirkung besser zu verstehen versuchte Lorenz seine Vorhersage-Modelle so weit wie moumlglich zu vereinfachen ohne jedoch die empfindsamen Abhaumlngigkeiten der Anfangsbedingungen zu

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vernachlaumlssigen Es gelang ihm die Gleichungen die die Konvektion bestimmen auf drei zu beschraumlnken diese wurden dazu benutzt um Werte von drei verschiedenen physikalischen Parametern vorherzusagen Das erweckt den Anschein dass die endguumlltigen Gleichungen allzu simpel seien aber die Verhaltensmuster die diese vorhersagen sind keineswegs einfach zu verstehen Abbildung 5 zeigt ein Beispiel Die drei vorhergesagten Parameter sind als x y und z gekennzeichnet und in einem dreidimensionalen Raum eingetragen Die Lage des Punktes der von x y und z bestimmt ist bewegt sich in unvorhersehbarer Weise zwischen den Iterationen Allerdings wird die Gesamtheit aller Punkte vom Raum begrenzt und daraus bildet sich ein gewisses Verhaltensmuster Solch ein Verhalten veranschaulicht ein deterministisches Chaos und wird ein seltsamer Attraktor genannt Das besondere Beispiel in Abbildung 5 zeigt den sogenannten Lorenz-Attraktor

Abbildung 5 Der Lorenz Attraktor veranschaulicht die verschiedenen Muster die bei chaotischem Verhalten vorkommen

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Wie wir wissen hat die Entdeckung chaotischer Systeme in der Atmosphaumlre numerische Wettervorhersagen nicht abgeloumlst Wissenschaftler wussten schon Hunderte von Jahren vor der Lorenzschen Chaostheorie von den zufaumllligen Bewegungen der Turbulenz Allerdings hat diese Entdeckung die Hoffnung der Meteorologen auf genaue langfristige Vorhersagen auch groumlszligere Skalen betreffend etwas gedaumlmpft Dennoch koumlnnen wir darauf zaumlhlen dass die heutigen Grenzen der Vorhersagen fuumlr Wetterentwicklungen in der Zukunft weiter hinausgeschoben werden koumlnnen Durch eine Verbesserung der Rechenleistungen fortschrittlicher Computer durch eine feinere Einstellung der Modelle und durch die Entwicklung atmosphaumlrischer Geraumlte die genauere Messungen zulassen wird dies moumlglich sein Man muss sich natuumlrlich bewusst sein dass verstrickte chaotische Geschehen immer die Oberhand haben werden

6 Selbst-Aumlhnlichkeit in der AtmosphaumlreEine weitere fesselnde Erscheinungsform von Chaos in der Natur und in der Atmosphaumlre ist die sogenannte Selbstaumlhnlichkeit Einen Gegenstand oder eine Gestalt nennt man selbst-aumlhnlich wenn ersie aumlhnlich (oder bei mathematisch erzeugten Gegenstaumlnden gleich) erscheint unabhaumlngig davon in welcher Groumlszligenordnung ersie betrachtet wird Ein Beispiel dafuumlr sind die Fensterbilder die das Eis an kalten Wintertagen hinterlaumlsst Die Muster erscheinen aumlhnlich (wenn auch nicht deckungsgleich) wenn man sie mit einem Vergroumlszligerungsglas oder auch mit dem bloszligen Auge ansieht

Selbstaumlhnliche Gegenstaumlnde besitzen in rein rechnerischem Sinne viele fesselnde Eigenschaften Wir sprachen soeben von der Skalen-Invarianz In manchen Faumlllen kann man kaum sagen wo der Beruumlhrungsbereich eines Gebildes beginnt und wo er endet Vielleicht ist eine der sonderbarsten Eigenschaften solcher Gestalten ihre fraktionale Dimensionalitaumlt (weiter unten erklaumlrt) Wegen dieser Eigenschaft nennt man selbst-aumlhnliche Gebilde oft Fraktale Man kann sich daruumlber streiten ob die Selbst-Aumlhnlichkeit der Kern der Morphologie in der Meteorologie ist

Zugleich muss zwischen rein rechnerischen Selbst-Aumlhnlichkeiten und der Annaumlherung von Selbst-Aumlhnlichkeit in der Natur unterschieden werden Offenkundig ist der Begriff der Skalen-Invarianz in der Natur raumlumlich beschraumlnkt Turbulente Stroumlmungen koumlnnen zum Beispiel als selbst-aumlhnlich beschrieben werden wenn man nur die Skalen innerhalb des Traumlgheitsbereichs betrachtet In diesem Fall kann man nicht zwischen groszligen und kleinen Wirbeln unterscheiden ohne eine Art von Bezugs-

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Skala heranzuziehen Weitere klassische Beispiele fuumlr die Selbst-Aumlhnlichkeit beziehen sich auf Wolkenstrukturen Gebilde von Schneeflocken Wechselbeziehungen zwischen der Grenzschicht und der freien Atmosphaumlre (Entrainment) usw In vielen dieser Faumllle koumlnnen durch rein rechnerische Modelle Annaumlherungen an diese Erscheinungen gefunden werden

Wir wollen die Selbst-Aumlhnlichkeit am Beispiel von Schneeflocken die als Fraktale betrachtet werden koumlnnen veranschaulichen Wir beginnen dies damit indem wir ein einziges Streckenstuumlck wie es in der oberen linken Ecke von Abbildung 6 zu sehen ist betrachten Das mittlere Drittel dieser Strecke wird durch zwei Streckenabschnitte (die beide ebenfalls ein Drittel der Gesamtlaumlnge einnehmen) in abgewinkelter Weise entsprechend einem gleichseitigen Dreieck ersetzt Aus einer Strecke sind also vier geworden und so haben wir vier deckungsgleiche Abbildungen Die Groumlszlige dieser neuen Strecken ist zur urspruumlnglichen um den Faktor drei verschieden Man sagt der Vergroumlszligerungsfaktor ist drei Wenn dieser Vorgang wiederholt wird dann werden die daraus entstehenden Gegenstaumlnde zunehmend unuumlberschaubar (siehe Abbildung 6) Es ist offensichtlich dass man wenn wenn man einen beliebigen Teil der ganzen Gestalt vergroumlszligern wuumlrde wieder aumlhnliche Formen (in diesem Fall sogar deckungsgleiche) vorfinden wuumlrde und zwar ungeachtet der jeweiligen Vergroumlszligerung Auszligerdem wird diese Strecke unendlich lang und bleibt nur vom Raum begrenzt Dies ist die sogenannte Koch-Kurve (nach dem schwedischen Mathematiker Koch benannt) und sie gehoumlrt zur Familie der Fraktale Wie gesagt kann man solche Muster an vereisten Fenstern finden Mit dem gleichen Vorgang koumlnnen wir eine vernuumlnftige Darstellung einer Schneeflocke hervorbringen Diesmal benutzen wir aber ein Dreieck anstelle einer Strecke als Ausgangspunkt Nach nur drei Wiederholungen werden die entstehenden Muster den echten Schneeflocken wie sie in Wolken beobachtet werden bereits aumlhnlich Dies ist allerdings nur ein Beispiel fuumlr Veranschaulichungs-Zwecke Mittels Fraktalen koumlnnen weitaus echter aussehende Schneeflocken gebildet werden

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Abbildung 6 Entstehung der Koch-Kurve und der Kochrsquoschen Schneeflocke

Was bedeutet es zu sagen dass selbst-aumlhnliche Gegenstaumlnde eine fraktale Dimension haben Nun wir wissen schon dass ein Punkt nulldimensional ist eine Strecke eindimensional eine Ebene zweidimensional und ein Wuumlrfel dreidimensional aber was bedeutet der Begriff der Dimensionalitaumlt wirklich Einfachheitshalber arbeiten wir in den nachfolgenden Beispielen mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei Das bedeutet eine selbstaumlhnliche Abbildung der naumlchsten Groumlszlige ist um den Faktor zwei verschieden Nehmen wir zwei gleiche Streckenstuumlcke der Laumlnge eins Aneinandergefuumlgt bilden diese ein selbst-aumlhnliches Streckenstuumlck der Laumlnge zwei Mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachtet finden wir also zwei selbst-aumlhnliche Streckenstuumlcke vor Genauso koumlnnen wir ein Quadrat aus vier gleichgroszligen Quadraten bilden Wenn wir das groumlszligere Quadrat mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachten dann sehen wir vier selbst-aumlhnliche Abbildungen (2x2) Schlieszliglich koumlnnen wir diesen Vorgang fuumlr einen Wuumlrfel wiederholen In diesem Fall liefert ein Vergroumlszligerungsfaktor von zwei genau acht (2x2x2) selbst-aumlhnliche Abbildungen Wir bemerken die Entwicklung eines Musters das wir mathematisch auf folgende Weise beschreiben koumlnnen

Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile = (Vergroumlszligerungs-Faktor)D

D steht dabei die Dimension zB ist die Dimension fuumlr einen Wuumlrfel drei Im Fall der Koch-Kurve ist der Vergroumlszligerungsfaktor drei und die Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile vier Aus diesen beiden Groumlszligen koumlnnen wir nun die Dimensionalitaumlt berechnen Aus 3 = 4D folgt D = 1262 Das gilt fuumlr die

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 31

Koch-Kurve und fuumlr die kochsche Schneeflocke Ein sehr bemerkenswertes Ergebnis aber kann man es in der Natur anwenden

Meteorologen beschaumlftigen sich immer haumlufiger mit der Selbst-Aumlhnlichkeit Wenn wir verstehen warum und wie fraktale Muster in der Natur vorkommen dann koumlnnen wir auch die zugrundeliegende Physik und die gegenseitigen Wechselbeziehungen der dazugehoumlrenden Kraumlfte besser verstehen Die fraktale Dimension von Eisteilen koumlnnte eine wichtige Einsicht geben wie diese sich formen und wie sie wachsen vorausgesetzt wir beachten bestimmte Umgebungsbedingungen wie Auszligentemperatur Wasserdampfgehalt fluumlssiger Wassergehalt und turbulente Betriebsamkeit Die sogenannte Kalte-Wolken-Mikrophysik ist oft schwierig zu verstehen aber sie ist besonders wichtig fuumlr Niederschlagsvorhersagen Die gleichen Aussagen gelten fuumlr die Analyse von Wolken welche ebenfalls selbst-aumlhnliche Gebilde sind Bei einem Versuch wurde durch das Auswerten von Lichtbildern erkannt dass die fraktalen Dimensionen von Wolkenquerschnitten dem Wert 43 neigen Wir koumlnnen hier nicht naumlher auf die Gruumlnde eingehen doch folgt weil die Wolken als selbst-aumlhnliche Gebilde angenommen werden koumlnnen fuumlr die fraktale Dimension volumetrischer Wolken D = 43 +1 oder D = 73 Nun fragt man sich ob dies als allgemeiner Parameter gelten kann Die Antwort ist wahrscheinlich nein weil die fraktale Dimension von der Umgebung in der sich die Wolken bilden abhaumlngt und folglich von der Wolkenart

7 ZusammenfassungDie Atmosphaumlre ist fortwaumlhrend in einem Zustand des Uumlbergangs und der Bewegung begriffen da sie nach einem Zustand der Ausgeglichenheit zwischen den einzelnen Kraumlften die auf sie einwirken strebt Ebenso wie fuumlr den vom Schicksal getroffenen Tantalos in der griechischen Mythologie bleibt der Zustand der Ausgewogenheit fuumlr unsere Atmosphaumlre unerreichbar Die kreisende Erde wird ungleichmaumlszligig erhitzt Oberflaumlchengegebenheiten fuumlhren zu Reibungsaumlnderungen das Strahlungsgleichgewicht wird durch die An- oder Abwesenheit von Wolken veraumlndert und die Menschheit erschuumlttert die Ausgeglichenheit der Atmosphaumlre durch Umwelteinfluumlsse Das Ergebnis dieser verschiedenen Einfluumlsse ist ein wundervoll vielschich-tiges dynamisches System das sich uumlber einen weiten Bereich zeitlicher und raumlumlicher Skalen offenbart Die Aussicht darauf unsere Atmosphaumlre gruumlndlich zu verstehen und eine angemessene Wettervorhersage zu machen bleibt dennoch eher duumlster Je mehr man in die Tiefe geht um die verwickelten Wechselbeziehungen des Wettergeschehens zu verstehen

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson32

desto schlechter scheinen die Aussichten auf Erfolg zu sein Die Rettung kommt durch die Verhaltensmuster die hinter dem zugrunde liegenden Chaos zum Vorschein kommen

So wird aus der Kunde vom Wetter die Kunde der statistischen Analyse und der geschickten Erkennung von Verhaltensmustern Auf grundlegender Ebene ist es wichtig die Grenzen der Theorie der Turbulenz weiter zuruumlckzuschieben und ein verlaumlssliches Modell zur Beschreibung atmosphaumlrischer Selbst-Aumlhnlichkeit zu erstellen Fortschritte auf diesem Gebiet sind entscheidend um einen klaren Gesamteindruck der Natur zu erhalten Letztendlich muumlssen wir uns damit abfinden dass immer Luumlcken in unserem Verstaumlndnis der Atmosphaumlre bestehen bleiben werden Ferner schraumlnkt die den atmosphaumlrischen Stroumlmungen innewohnende chaotische Natur unsere Moumlglichkeiten ein deterministisches System mit Gleichungen die das Wetter beschreiben zu schaffen erheblich ein Aus diesem Grunde muumlssen die Meteorologen noch immer auf ihr Gespuumlr vertrauen wenn sie die verfuumlgbaren Beobachtungen zusammen mit den Ergebnissen numerischer Wettervorhersagen auswerten Obwohl wir einsehen muumlssen dass wir nicht immer wissen koumlnnen wie die Atmosphaumlre sich verhaumllt koumlnnen wir das Wetter von morgen oder uumlbermorgen doch schon mit groszliger Wahrscheinlichkeit voraussagen Dies setzt oft ein gruumlndliches Verstehen bestimmter morphologischer Muster und von deren Bezug zum Wetter voraus Am liebsten wuumlrden wir diese Erkenntnisse wissenschaftlich eingliedern und fuumlr objektive Wettervorhersagen verwenden aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das menschliche Mitwirken noch immer eine wichtige Zutat in der Einschaumltzung der Witterung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 33

LiteraturverzeichnisAmerican Meteorological Society (22000) Glossary of Meteorology Todd S Glickman managing editor Boston

Richardson Lewis Fry (1922) Weather Prediction by Numerical Process Cambridge Cambridge University Press

Prof Dr Phillip B Chilson School of Meteorology Christa Chilson Department of Modern Languages Literatures and Linguistics University of Oklahoma Norman OK USA

Sprachliche Morphologie digitalisiert

Jost Gippert (Frankfurt)

The article discusses the question how and to what extent the digitisation of morphological features of natural languages is able to support linguists in both teaching and research Within the scope of applied linguistics it focusses on the impact of digitised morphological data on optical character recognition speech recognition spell and grammar checking machine translation and teaching sce-narios The implementation of digitised means in linguistic research is thema-tised with respect to lexicography and grammar writing as well as diachronic investigations of various kinds The perspectives of applying digitisation to linguistic morphology can be summarised in two theses a) the more linguistic data are provided with a thorough morphological (and beyond that syntacti-cal semantical pragmatical metrical etc) analysis the more reliable the basis for theoretical investigations will be both in synchronical-descriptive and in diachronical-comparative linguistics b) the digital preparation of large data sets is an urgent methodological prerequisite for the verification and falsification of linguistic hypotheses

Fuumlr manch einen Auszligenstehenden hat die Sprachwissenschaft spaumltestens mit dem Strukturalismus eine Ausrichtung angenommen die Goethe und Schiller in ihren Xenien schon lange vorher andeuteten als sie den bdquoSprach-forscherldquo so apostrophierten1

Anatomieren magst du die Sprache doch nur ihr Cadaver Geist und Leben entschluumlpft fluumlchtig dem groben Scalpell

Mit dem Einsatz digitaler Verarbeitungsverfahren duumlrfte sich das Schreckensbild einer immer tiefergehenden bdquoanatomistischenldquo Zerlegung sprachlicher Aumluszligerungen in den Augen vieler eher noch weiter verfestigt haben Im folgenden soll gezeigt werden daszlig eine digital basierte Morphologie natuumlrlicher Sprachen im Gegensatz zur Einschaumltzung unserer Klassiker durchaus nicht mit Geist- und Leblosigkeit einherzugehen braucht sondern

1 Xenie Nr 141 Goethe Werke 1889-1896 I Abtlg Bd V 1 Abtlg 1893 S 225 Schiller Werke 1943ndash Bd I 1943 S 326 Ob das Distichon von Goethe oder Schiller verfaszligt wurde scheint nicht sicher geklaumlrt Corkhill 1991 S 248 schreibt es offensichtlich Goethe zu der damit bdquodie klinisch anmutende fachliche Sprachbetrachtung persiflieren wollteldquo

Jost Gippert36

gerade dazu dienen kann sprachliche Inhalte genauer zu beleuchten und den Umgang mit Sprache in unterschiedlichen Bereichen zu unterstuumltzen

1 Anwendungsbezogene Zielsetzungen digital basierter MorphologieFuumlr eine digital basierte sprachwissenschaftliche Morphologie kommen im wesentlichen fuumlnf anwendungsbezogene Zielsetzungen in Betracht naumlmlich die Unterstuumltzung von Texterkennung (bdquoOCRldquo = bdquoOptical Character Recognitionldquo) Spracherkennung Rechtschreibung (bdquoSpell-checkingldquo) automatische Uumlbersetzung sowie Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht In verschiedenen dieser Anwendungsbereiche wird digitalisierte Morphologie seit laumlngerem bereits mit stetig steigendem Erfolg eingesetzt Einige wenige Grunduumlberlegungen verdienen es dennoch hier kurz abgehandelt zu werden

11 Texterkennung

Digitale Texterkennung dh die retrograde Umwandlung bereits gedruck-ter oder geschriebener Textmaterialien in eine digitale Form zum Zwecke der Weiterverarbeitung setzt typischerweise den folgenden Ablauf voraus Nach dem Einscannen einer Druckseite als Rasterbild muumlssen in diesem zunaumlchst die groben Einheiten des Schriftbilds herausisoliert werden dies geschieht durch die Erfassung von Zonen ohne schwarze Bildpunkte (bdquoPixelldquo) durch die Abstaumlnde zwischen Zeilen Woumlrtern Buchstaben Satzzeichen etc gekennzeichnet sind sowie umgekehrt durch die Erfas-sung zusammenhaumlngender Pixelstrukturen die Buchstaben Satzzeichen etc repraumlsentieren Letztere muumlssen dann mit Mustern verglichen werden um die repraumlsentierten Zeichen im einzelnen zu bestimmen Hierbei ist immer mit einer gewissen Fehlerquote zu rechnen die zB von der druck-technischen Qualitaumlt der Vorlage oder den in ihr benutzten Zeichenformen und -saumltzen abhaumlngt Eine Reduzierung der Fehlerquote die auch heute nach rund 20 Jahren fortschreitender Entwicklung von OCR-Verfahren2

2 Seit 1987 habe ich kontinuierlich kommerzielle OCR-Programme getestet und mit mehr oder weniger groszligem Erfolg sowohl auf lateinschriftliche als auch auf andere Quellen ange-wendet Erwaumlhnen moumlchte ich SPOT 31 (Flagstaff Engineering 1989) ein auf Zeichenfor-men bdquotrainierbaresldquo DOS-basiertes Programm das ich sehr erfolgreich an die georgische Schrift anpassen konnte und dessen Leseergebnisse die Grundlage fuumlr zahlreiche uumlber den TITUS-Server (su Fn 9) verfuumlgbare elektronische Texteditionen darstellen das Kurzweil Scanner-System in den fruumlhen 90er Jahren das Non-Plus-Ultra der PC-basierten OCR mit dem verschiedene lateinschriftlich gedruckte TITUS-Texte eingelesen wurden sowie den Fine Reader (ABBYY) der sich in den letzten Jahren als die leistungsfaumlhigste OCR-Software fuumlr multilinguale Anwendungen herausgestellt hat (derzeit verfuumlgbar in Version

Sprachliche Morphologie digitalisiert 37

noch immer betraumlchtlich sein kann3 setzt verschiedene Arten von Plausi-bilitaumltspruumlfungen voraus bei denen das Leseresultat auf seine sprachliche Korrektheit hin getestet wird Ein typisches Beispiel waumlre die bdquoVerlesungldquo der deutschen Wortform Muumlndern (DatPl) als Mundem sowohl die Igno-rierung des Diakritikums die auf der Diskontinuitaumlt des Buchstabenbildes ltuumlgt beruht als auch die irrige Zusammenlesung der Buchstabenfolge rn als m sind charakteristische Probleme von OCR-Anwendungen Um die gelesene Wortform Mundem nun auf ihre Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen bieten sich zwei Verfahren an Das in kommerziellen OCR-Programmen meist genutzte Verfahren ist rein bdquolexikalischldquo Zum Abgleich wird eine (mehr oder weniger umfangreiche) Wortformenliste der betr Sprache benutzt in der natuumlrlich neben Lemmaformen auch flektierte Formen aller Art enthalten sein muumlssen Die der gelesenen Form am naumlchsten kom-mende wird dann vorschlagsweise eingesetzt im gegebenen Fall duumlrfte dies die Form Munden sein die sich von Mundem nur in einem Buchstaben unterscheidet damit freilich aber noch nicht bdquokorrektldquo ist und somit bereits die Grenzen eines rein lexikalischen Abgleichs aufzeigt Es kommt hinzu daszlig keine Wortformenliste des Deutschen jemals vollstaumlndig sein kann da insbesondere die Moumlglichkeiten der Komposition das deutsche Lexikon unendlich groszlig gestalten

Um eine bessere Lesegenauigkeit zu erzielen ist deshalb ein anderes mehrstufiges Verfahren vonnoumlten das neben einer lexikalischen Daten-basis auch andere Vorinformationen darunter morphologische verar-beiten kann Ein solches Verfahren das ich bdquogemischtldquo nennen wuumlrde muumlszligte neben einem Basislexikon der Wortstaumlmme zunaumlchst die gramma-tischen Regeln der Morphologie dh der Formen- und Wortbildung der betr Sprache beruumlcksichtigen daruumlber hinaus bdquographischeldquo und bdquographo-

9) Die spezifischen Beduumlrfnisse von Sprachwissenschaftlern (va in Bezug auf transkriptive Sonderzeichen) sind allerdings bis heute nirgends zufriedenstellend beruumlcksichtigt 3 Eine Fehlerquote von 2 bedeutet zB zwei Fehler innerhalb von zwei normalen Druckzeilen eines Buches Welche Schwaumlchen oberflaumlchlich angewandte OCR-Verfahren nach wie vor haben und zu welchen Irrtuumlmern sie fuumlhren koumlnnen zeigt deutlich das ehrgeizige Projekt bdquoGoogle Booksldquo (httpbooksgooglecom) Sucht man hier nach SCHLEICHERs Compendium so werden verschiedene Eintraumlge aus Kuhns Zeitschrift fuumlr Vergleichende Sprachwissenschaft ausgegeben in denen das Werk ua als bdquoCompendium tier vergleichenden grammatikldquo und sein Band I als ein bdquoKurzer abrilldquo einer lautlehre der indogermanischen ldquo erscheint entsprechend liefert eine Suche nach bdquoCompendiumldquo und bdquoTierldquo genau den erstgenannten Eintrag zuerst noch vor zoologischen Werken (Stand 2532007 1751h) [Korrekturzusatz Der gleiche Eintrag lautet am 8102009 1319h wie folgt August Schleicher compendium der vergleichenden grammatik der indogermanischen sprachen Bd I Kurzer abrifs einer lautlehrc der Die Ergebnisse der (fortschreitenden) Texterkennung bei Google Books bleiben also unzuverlaumlssig]

Jost Gippert38

taktischeldquo Regeln Gehen wir wieder von unserem Beispiel der Wortform Muumlndern aus die sich als Dativ Plural von Mund in drei Morpheme das Lexem Mund das Pluralsuffix er und die Dativendung n zerlegen laumlszligt und gleichzeitig das Phaumlnomen des bdquoUmlautsldquo von u zu uuml aufweist das im morphologischen Sinne als ein Ablautphaumlnomen aufzufassen ist Ein bdquogemischtesldquo Analyseverfahren muumlszligte die eingelesene Form Mundem nun von hinten beginnend schrittweise verkuumlrzen bis eine Uumlbereinstimmung mit einem im Basislexikon enthaltenen Wortstamm gegeben ist dies waumlre der vierbuchstabige Stamm Mund Daraufhin waumlre zu uumlberpruumlfen ob der verbleibende Rest em im Morpheminventar verankert ist ndash dies ist zwar der Fall da die deutsche Nominalflexion ein solches postlexematisches Mor-phem kennt (vgl gutem schoumlnem) es ist jedoch nicht mit dem gefundenen Basisstamm Mund kompatibel da dieser kein Adjektiv darstellt Dasselbe Verfahren muumlszligte dann iterativ weiter durchgefuumlhrt werden (Mun ndashdem etc) kaumlme aber allein noch zu keinem Ergebnis An dieser Stelle nach nega-tivem erstem Durchlauf waumlre das Leseresultat (Mundem) dann auf seine graphische Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen wobei zunaumlchst bdquountypischeldquo Zeichenfolgen zu eruieren waumlren solche sind im gegebenen Beispiel nicht vorhanden laumlgen aber zB in einer Verlesung IVIund vor die aufgrund allgemeinen Vorwissens uumlber Zeichenformen der Lateinschrift und ihre Verteilung in Wortformen unmittelbar plausibel in Mund zu korrigieren waumlre Bei bdquogelesenemldquo Mundem muumlszligten umgekehrt die graphotaktisch unproblematischen aufgrund desselben Vorwissens fuumlr Verlesungen jedoch als besonders anfaumlllig geltenden Buchstaben ltmgt und ltugt versuchsweise durch ihre naumlchstaumlhnlichen bdquoPartnerldquo ltrngt und ltuumlgt ersetzt und die sich so ergebenden Wortformen wieder der iterativen Analyse unterzogen werden Dies wuumlrde bereits fuumlr Mundern die moumlgliche Verknuumlpfung eines Lexems (Mund) mit bdquopassendenldquo Flexionsmorphemen er-n ergeben jedoch noch keine korrekte Wortform da der Plural von Mund eben Umlaut aufweist Erst ein dritter Durchlauf mit der Abaumlnderung von ltugt zu ltuumlgt ergibt dann das richtige Resultat Vorausgesetzt ist dabei daszlig auch die Information uumlber das Umlaut- bzw Ablautverhalten der Staumlmme im lexikalischen und morphologischen Basiswissen verankert sein muszlig

Hinsichtlich der bdquographotaktischenldquo Wissensbasis auf die ein solches Ver-fahren zwingend zuruumlckgreifen muszlig sei noch einmal festgehalten daszlig diese sowohl schriftspezifische dh durch die Aumlhnlichkeiten von Buch-stabenformen gegebene Probleme als auch sprachspezifische Regelun-gen umfassen muszlig die jeweils statistisch erfaszligt werden koumlnnen Zu den ersteren gehoumlren zB in der Lateinschrift neben den bereits behandel-

Sprachliche Morphologie digitalisiert 39

ten Verwechslungspaaren solche bei denen sich Buchstaben und Ziffern gegenuumlberstehen wie zB ltSgt und lt5gt oder ltOgt und lt0gt (null) Eine Plausi-bilitaumltspruumlfung kann in diesen Faumlllen ohne weiteres davon ausgehen daszlig eine lt1gt (eins) die mitten in einem bdquoWortldquo und von sicher gelesenen Klein-buchstaben umrankt zu stehen scheint eher ein kleines ltLgt repraumlsentieren duumlrfte waumlhrend eine Folge von lt7gt und dreimaligem Buchstaben ltOgt eher bdquosiebentausendldquo meinen wird4 Entsprechende Vorhersagen werden fuumlr andere Schriften wie zB die Kyrillische nicht unbedingt zutreffen hier wird zB eher eine Verwechslung der Buchstaben ltлgt (asymp ltlgt) ltпgt (asymp ltpgt) ltнgt (asymp ltngt) und ltиgt (asymp ltigt) untereinander anzunehmen sein

Der sprachspezifische Anteil der Wissensbasis kann zB allgemeine statistische Erkenntnisse uumlber die Verteilung von Graphemen in Wortformen der betr Sprache verwenden danach wuumlrde etwa ein gelesenes ltsehoumlngt im Deutschen ohne weiteres zu schoumln nicht aber zu sehen zu korrigieren nahegelegt da das ltoumlgt aufgrund seiner Seltenheit gewissermaszligen eine lectio difficilior gegenuumlber ltegt darstellt (und schwerlich fuumlr dieses verlesen sein kann) waumlhrend von den beiden Zeichenfolgen ltsehgt und ltschgt die letztere eine klare statistische Praumlponderanz fuumlr sich hat Im gleichen Sinne koumlnnten Regelungen der Groszlig- und Kleinschreibung beruumlcksichtigt werden die ihrerseits mit der morphologischen Bestimmung einhergehen sollten so haumlngt zB bei einer Verlesung von Guumltern als Gutem die Plausibilitaumlt der letzteren Form davon ab ob sie ndash als Adjektiv ndash in einer Umgebung erscheint die einen initialen Groszligbuchstaben erwarten laumlszligt oder nicht

Damit ist bereits angedeutet daszlig eine wirklich zuverlaumlssige Texterken-nung bei der Plausibilitaumltsanalyse noch einen Schritt weiter gehen muszlig naumlmlich bis hin zu einer syntakto-semantischen Uumlberpruumlfung Gutem ist ja eine vollkommen korrekte Wortform des Deutschen kommt allerdings im Vergleich zu Guumltern obwohl ebenfalls ein Dativ mit groszligem ltGgt in nur sehr reduzierten syntaktischen Konstellationen vor naumlmlich entweder satzeinleitend als Adjektiv ohne vorangehenden Artikel (etwa Gutem Brauch folgend schlieszligt sich der Landrat)5 oder als substantiviertes Adjektiv ebenfalls ohne Artikel (etwa bdquoob er nach Gutem oder Boumlsem

4 Erstaunlicherweise werden in den meisten kommerziellen OCR-Programmen nicht einmal derartig banal anmutende Regelungen beruumlcksichtigt Auch lassen sie sich nicht in die von den Programmen verwendete Wissensbasis integrieren da selbst bdquotrainierbareldquo Programme normalerweise nur Zeichenformen zu speichern erlauben nicht jedoch spezi-fische distinktive Merkmale von Zeichen oder graphotaktische Regeln5 S httpwwwodenwaldkreisdeindexpfunktion=presseartikelphpampselected =1ampid=848 (1912007)

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jagtldquo)6 Eine Entscheidung zwischen Guumltern und Gutem setzt also eine syntaktische Analyse voraus die zumindest die umgebenden Wortfor-men mit beruumlcksichtigen muszlig hierbei koumlnnen statistische Angaben uumlber sog bdquoKollokationenldquo Entscheidungshilfen bilden7 In anderen Faumlllen wie etwa bei dem ndash graphisch minimalen ndash Unterschied zwischen Tochter und Toumlchter wird nicht einmal durch Informationen aus der syntaktischen Umgebung immer eindeutig geklaumlrt werden koumlnnen ob eine gegebene bdquoLesungldquo richtig ist man vgl zB die Lesungen ltdie juumlngere Tochtergt und ltdie juumlngeren Tochtergt wo die Endungen der attributiven Adjektive im Verbund mit den Artikelformen Eindeutigkeit herstellen waumlhrend in gelesenem ltIch sehe seine Tochtergt (gegenuumlber ltIch sehe seine Toumlchtergt) ohne Kenntnis des Kontextes keine Entscheidung fuumlr die Singular- oder die Pluralform moumlglich ist Wie sehr die morphologische Bestimmung von syn-takto-semantischen Vorgaben abhaumlngen kann zeigt sich nicht zuletzt bei homonymen Wortformen die unterschiedlichen morphologischen Klas-sen zugehoumlren man vgl zB das Verb zugreifen gegenuumlber dem Komposi-tum Zugreifen = Zug + Reifen oder das Partizipialadjektiv vereinzelt gegenuumlber dem Kompositum Vereinzelt = Verein + Zelt

Auch das bdquogemischt-morphologischeldquo Verfahren zur Unterstuumltzung der Texterkennung hat also Grenzen die auch mit groszligen Datenmengen nicht leicht zu uumlberbruumlcken sein werden Hier duumlrften auf laumlngere Sicht Verfahren der statistischen Untermauerung durch Kollokationen eine entscheidende Rolle spielen Morphologisches Wissen bleibt dabei aber mit Sicherheit ein unverzichtbarer Bestandteil

12 Spracherkennung

Der Einsatz morphologischer Verfahren unterliegt bei der Spracherkennung ganz aumlhnlichen Bedingungen wie bei der Texterkennung Auch hier geht es um eine eindeutige Bestimmung sprachlicher Formen bei der digitalen

6 Goethe Werke I Abtlg Bd II 1888 S 246 ndash Theoretisch sollte ein gut fundiertes bdquogemischtesldquo System auch in der Lage sein Druckfehler stillschweigend zu korrigieren dies duumlrfte jedoch immer dann ausgeschlossen sein wenn das verdruckte Wort eine morphologisch bdquokorrekteldquo Form darstellt wie etwa im Falle von fuumlr ltVerballhornungengt verdrucktem ltVerbalhornungengt = VerbalHornungen Hier mag selbst eine kollokationsbasierte semantische Analyse scheitern wenn der Druckfehler in einem sprachwissenschaftlichen Kontext auftritt der ua auch Woumlrter wie Verbalflexion aufweist (so bei Hoffmann Altiranisch S 10 = Aufsaumltze I S 67 Z 6 vu bzw S 16 73 Z 11)7 Vgl hierzu das Projekt bdquoKollokationen im Woumlrterbuchldquo der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften s httpwwwbbawdebbawForschungForschungspro-jektekollokationendeueberblick

Sprachliche Morphologie digitalisiert 41

Erfassung von Aumluszligerungen Ein Unterschied zur Texterkennung besteht nur darin daszlig die graphische Komponente entfaumlllt da die zugrundelie-genden Daten nicht schriftlich dh zeichenkettenbasiert sondern muumlndlich (und als akustisches Signal digitalisiert) vorliegen An die Stelle der bdquographo-taktischenldquo Entscheidungshilfen muumlszligten hier wenn man ein bdquogemischtesldquo Verfahren anstrebt deshalb phonotaktische Statistiken treten Die Not-wendigkeit einer Einbindung morphologischer Analyseverfahren bleibt davon unberuumlhrt

13 Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung

Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Anwendungsbereichen setzt die Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung eine Stufe spaumlter an naumlmlich bei einem schon existierenden digital vorliegenden Text Unabhaumlngig davon ob dieser von Hand eingegeben oder via OCR oder Spracherkennung generiert wurde geht es hier jedoch wieder um genau dieselbe Art von Plausibilitaumltspruumlfung wie sie oben als Bestandteil des Erkennungsprozesses beschrieben wurde Ein klarer Unterschied besteht gegenuumlber der Texterkennung lediglich in der Hinsicht daszlig bei von Hand eingegebenen Texten nicht dieselben bdquographotaktischenldquo Vorgaben gelten da beim bdquoTippenldquo systematisch andere Buchstaben verwechselt werden als beim optischen Einlesen naumlmlich typischerweise die auf der Tastatur benachbarten Zeichen (etwa ltigt und ltogt oder ltbgt und ltvgt) Die Einsetzbarkeit morphologischer Verfahren der og Art ist von diesem Unterschied nicht betroffen und solche Verfahren werden von gaumlngigen Textverarbeitungsprogrammen heute bereits weitgehend wenn auch nicht immer zufriedenstellend ausgenutzt8

14 Automatische Uumlbersetzung

Noch eine Stufe spaumlter setzt der Einsatz digitaler Morphologie bei der automatischen Uumlbersetzung an Anders als bei den Plausibilitaumltspruumlfun-gen zur Etablierung eines bdquokorrektenldquo Texts wird hier ein solcher bereits vorausgesetzt bei der morphologischen Analyse geht es dann statt dessen um die Herstellung der Basis fuumlr eine adaumlquate Uumlbersetzung Es entfallen somit grapho- und phonotaktische Begleitverfahren die Probleme rund um

8 So ergibt zB die Uumlberpruumlfung des fehlerhaften Satzes bdquoDas Wortform sbquoMundemrsquo ist unsinigldquo in MS-Word 2003 lediglich die Zuruumlckweisung von bdquoMundemldquo sowie von bdquounsinigldquo der Artikel das wird nicht als falsch erkannt

Jost Gippert42

Homonymien etc bleiben jedoch bestehen und auch hier muumlssen syntakto-semantische Verfahren vorrangig einbezogen werden

15 Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht

Daszlig die Morphologie ein unabdingbarer Bestandteil des Fremdsprachen-unterrichtsund mehr noch der sprachwissenschaftlichen Ausbildung ist duumlrfte keinem Zweifel unterliegen Digitale Verfahren koumlnnen hier in zweierlei Weise unterstuumltzend eingesetzt werden naumlmlich bei der Analyse fremdsprachiger Textmaterialien im Hinblick auf gegebene Wortformen und umgekehrt bei der Erzeugung von Wortformen Die hierfuumlr zu schaffenden Datenbasen sind im Prinzip dieselben wie die bereits oben beschriebenen Fuumlr weniger anspruchsvolle Anwendungen wird man zunaumlchst mit einem bdquostatischenldquo rein lexikalischen Verfahren operieren koumlnnen das lediglich eine bestimmte (aber erweiterbare) Menge von manuell vordefinierten Wortformen umfaszligt um eine morphologische Analyse beliebiger Wortformen zu ermoumlglichen wird hingegen wieder ein bdquogemischtesldquo Verfahren eingesetzt werden muumlssen bei dem neben Listen lexematischer und nicht-lexematischer Morpheme auch deren Verknuumlpfungsregeln (gegebenenfalls unter Einschluss von Um- und Ablautsphaumlnomenen) verarbeitet sind Beide Verfahren seien kurz an Implementationsbeispielen aus der TITUS-Textdatenbank9 illustriert

151 TocharischWie auch andere TITUS-Texte sind diejenigen des A-tocharischen Corpus10 mit einer relationalen Datenbank verknuumlpft die die Belegstellen jeder einzelnen Wortform umfaszligt und somit einen unmittelbaren Zugriff auf die Beleglage derselben ermoumlglicht dies geschieht durch einfaches Anklicken der betreffenden Wortform im Text oder durch Eingabe in eine Suchmaske Daruumlber hinaus ist das A-tocharische Corpus bereits mit morphologischen Informationen versehen die die Bestimmung von Verbalformen betreffen Klickt man zB auf die in Abb 1 enthaltene Verbalform kumsentildecauml11 so

9 Die Textdatenbank des TITUS-Projekts (bdquoThesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialienldquo) ist online uumlber httptitusuni-frankfurtdetextetexte2htm verfuumlgbar10 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcstochtochatochahtm11 Da der Unicode-Standard noch nicht alle fuumlr die traditionelle Transkription des Tochar-ischen erforderlichen Zeichen umfaszligt sind die toch Texte in der TITUS-Datenbank vorerst in einer Behelfsumschrift wiedergegeben hier vertritt zB ein Majuskel-ltAumlgt das bdquostummeldquo ltaumlgt neben Virāma im Auslaut

Sprachliche Morphologie digitalisiert 43

erfolgt ein Datenbankaufruf der die Analyse der Form ausgibt (s Abb 2) Die Einbettung der Form in ihren paradigmatischen Zusammenhang (sowie ihr Verhaumlltnis zu den entsprechenden B-tocharischen Formen) kann durch ein weiteres Anklicken der Wurzel (kaumlm) abgerufen werden (s Abb 3) Das dahinter stehende Verfahren ist im Sinne der obigen Definition rein bdquolexikalischldquo da jede Verbalform mit ihrer Bestimmung sowie mit dem Verweis auf das jeweilige Lemma (Wurzel) fuumlr sich bereits in der Datenbank abgelegt ist eine eigentliche morphologische Analyse findet also nicht beim Aufruf statt sondern ist bereits vorher (manuell) in die Datenbank eingeflossen (lediglich gewisse graphische Alternationen werden beim Aufruf automatisch bdquoabgefangenldquo)12 Dieses Verfahren empfiehlt sich bei einer Corpussprache mit begrenztem Wortformenvorrat wie dem Tocharischen durchaus zumal wenn die verbale Formenbildung wie in dieser Sprache in erheblichem Maszlige durch ablautbedingte und andere Stammvariationen gekennzeichnet ist und viele Irregularitaumlten aufweist

152 VedischWaumlhrend die bdquohalbautomatischeldquo Analyse im Falle des Tocharischen noch auf das Verbum beschraumlnkt ist steht fuumlr die vedischen Texte in der TITUS-Kollektion bereits ein weitergehendes morphologisches Retrievalsystem zur Verfuumlgung das zumindest die Wortformen der Rgveda-Samhitā voll-staumlndig erfaszligt Auch diese Datenbank ist bdquolexikalischldquo indem saumlmtliche Wortformen in ihr vorab bestimmt und auf ihr jeweiliges Lemma bezo-gen enthalten sind13 lediglich die durch Sandhi entstehende Variation wird durch einen eigenen Regelmechanismus beim Aufruf abgeglichen Dieser kann wiederum durch einfaches Anklicken einer im Text gegebenen Wort-form erfolgen (vgl Abb 4 mit RV 111andashc) ausgegeben wird dann zunaumlchst eine morphologische Bestimmung mit Bedeutungsangabe wie in Abb 5 fuumlr agnim14 Daruumlber hinaus steht bereits eine lemmabezogene Suchmaschine zur Verfuumlgung die fuumlr ein Lexem wie agni- bdquoFeuerldquo saumlmtliche bezeugten

12 Dies betrifft generell den Wechsel zwischen den sog bdquoFremdzeichenldquo und den eigentli-chen Brāhmī-Akṣaras aber auch zB das oe bdquostummeldquo ltaumlgt im In- und Auslaut13 Grundlage ist die RV-Konkordanz von A Lubotsky Bedeutungsangaben greifen zusaumltzlich auf ein von P Schreiner (Zuumlrich) erarbeitetes Digitalisat des Sanskrit-Woumlrter-buchs von K Mylius (mit Ergaumlnzungen des Autors) zuruumlck Die Programmierarbeit wurde im Rahmen des Projekts bdquoAvesta und Rgveda Elektronische Analyseldquo (AUREA 1995-1998 cf httptitusuni-frankfurtdecurricaureaaureahtm) von R Gehrke erbracht14 Die morphologische Bestimmung ist (auch abgesehen von unklaren Wortformen) noch nicht in allen Einzelfaumlllen endguumlltig verifiziert die Retrievalergebnisse sind deshalb als noch nicht verlaumlszliglich gekennzeichnet

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Formen abzurufen gestattet vgl Abb 6 die den Aufruf des bdquoThesaurus-Sucheldquo ausgehend von der Akkusativ-Form agnim zeigt15 und Abb 7 die das mit der Nominativ-Form agniḥ beginnende Suchresultat darstellt Es versteht sich von selbst daszlig eine Datenbank die allein die in der Rgveda-Samhitā auftretenden Wortformen umfaszligt den kompletten vedischen For-menbestand nicht erschlieszligen kann eine Ausweitung im Sinne eines ge-mischten bdquolexikalisch-morphologischenrdquo Verfahrens ist also unumgaumlnglich wenn man die altindische Uumlberlieferung in groumlszligerem Umfang abdecken will Dies gilt umso mehr als eine Ausdehnung auf das epische buddhis-tische und klassische Sanskrit durch die Moumlglichkeiten der Wortkomposi-tion praktisch wieder lexikalische Unendlichkeit mit sich bringt

153 Alt- und NeugeorgischEin bdquogemischtesldquo lexikalisch-morphologisches Verfahren ist in der TITUS-Datenbank zB fuumlr das umfangreiche altgeorgische Textmaterial implementiert worden und zwar fuumlr dessen nominale Bestandteile Hierzu wurde zunaumlchst der Wortbestand der Sammlungen von I Abuladze Z Sarjveladze und H Faumlhnrich16 als Lemmaliste mit deutschen Uumlbersetzungen digitalisiert dann wurden saumlmtliche in der nominalen Formenbildung auftretenden Morpheme (Suffixe Endungen) mit ihren Kombinationsmoumlglichkeiten in einer eigenen Datentabelle erfaszligt Ruft man diesen Datenverbund nun uumlber das Anklicken einer Form wie ġaġadebisay in Mk 13 innerhalb der altgeorg bdquoProtovulgataldquo ab (s Abb 8)17 so erhaumllt man die korrekte Analyse wie in Abb 9 dargestellt ausgegeben Dabei ist zu beachten daszlig bei der Ruumlckfuumlhrung auf das Lemma ġaġadeba‑y bdquoRufenrdquo zunaumlchst die Nominativ-Endung -y und das stammauslautende -a- dieses Verbalnomens (bdquoMasdarrdquo) durch den Endungskomplex -isay verdraumlngt sind und letzterer seinerseits in drei Morpheme zerfaumlllt naumlmlich die Genetivendung is deren sog bdquoemphatischerdquo Erweiterung a sowie die Nominativendung i die nach a als ltygt = [j] repraumlsentiert ist Daszlig die Genetivendung ihrerseits um eine Nominativendung erweitert ist ist im Altgeorgischen durch die Regeln der sog bdquoSuffixaufnahmerdquo bedingt der Genetiv bdquodes Rufensrdquo ist an der gegebenen Stelle von dem im Nominativ

15 S httptitusfkidg1uni-frankfurtdesearchqueryhtm16 Abulaʒe Masalebi 1973 Sarǯvelaʒe Masalebi 1995 Sardschweladse Faumlhnrich Woumlrter-buch 1999 Zugrunde liegt eine elektronische Fassung des letzteren Woumlrterbuchs das die Materialien der beiden erstgenannten mit umfaszligt fuumlr die Bereitstellung sei H Faumlhnrich und Z Sarǯvelaʒe auch an dieser Stelle herzlich gedankt 17 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcacaucageontcinantcinanhtm

Sprachliche Morphologie digitalisiert 45

erscheinenden qmay bdquodie Stimmerdquo als Attribut abhaumlngig18 und diesem nachgestellt und erfordert deshalb die zusaumltzliche Markierung fuumlr den Kasus seines Bezugsworts Die einzelnen Analyseelemente seien noch einmal zusammengefaszligt

Lemmaform ltġaġadebaygt ġaġadebai bestehend aus Verbal-Wz bull +Praumls-Stammbildungssuffix+Masdar-Suffix+Nom-Endung

zu analysierende Form ltġaġadebisaygt ġaġadebaisai bestehend aus bull Verbal-Wz+Praumls-St+Masdar-S+Gen-E+bdquoemphldquo El+Nom-E

Regel Masdar-Suffix gt Oslash_Gen-Endung | Instr-Endungbull

Daszlig ein entsprechendes Analyseverfahren fuumlr das altgeorg Verbum noch nicht entwickelt wurde liegt an der enormen Formenfuumllle durch die dieses gekennzeichnet ist wobei Praumlfixe Suffixe Infixe und Ablaut involviert sind Auch ein solch komplexes System kann jedoch als Regelapparat pro-grammiert werden wie die von Paul Meurer (Bergen) implementierte Verbalformenanalyse des Neugeorgischen beweist19 Man vgl zB die in Abb 10 wiedergegebene Ausgabeseite die die paradigmatische Einbettung der Wortform daumalavs zeigt Die Form ist in korrekter Weise doppelt erfaszligt naumlmlich a) als Futurform bdquoersiees wird ihnsieessie vor ihmihr verbergenldquo und b) als Perfektform bdquoersiees soll ihnsiees sie (Sachen) verborgen habenldquo Dabei ist zu beruumlcksichtigen daszlig sich die beiden For-men allein dadurch unterscheiden daszlig die Markierung des handelnden Subjekts (Agens) in ersterer in der Endung -s steckt in letzterer jedoch in dem praumlradikalen -u- das in der Futurform ein indirektes (bdquoversionalesldquo) Objekt bdquovor ihmihrihnenldquo bezeichnet

Futur daumalavs bull Praumlv+indObjV3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +Subj3Sg

Perfekt daumalavs bull Praumlv+Subj3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +dirObj3Sg

18 Mit der bdquoStimme des Rufens in der Wuumlsteldquo (statt bdquodes Rufersldquo griech τοῦ βοῶντος) zeigt die altgeorg Bibel an der gegebenen Stelle einem Zitat aus Is 403 im uumlbrigen eine bemerkenswerte Uumlbereinstimmung mit der armen Bibel (jayn barbary wtl bdquoStimme des Sprechensrdquo) die auf eine syrische Vorlage weist 19 Die Analyse beruht auf einer Implementierung der morphologischen Angaben in K Tschenkelis Woumlrterbuch s httpmaximosaksisuibnoAksis-wikiGeorgian _ Gram-mar _ Project

Jost Gippert46

Es sei noch hinzugefuumlgt daszlig auf der Basis eines derartigen umfassenden morphologischen Formengenerators auch eine tiefgehende syntaktische Analyse programmierbar ist ein Prototyp fuumlr das Georgische ist von Paul Meurer als Finite-State-Anwendung auf der Basis der bdquoLexical-Functional Grammarldquo (LFG)20 entwickelt worden (vgl Abb 11)

2 Linguistische Zielsetzungen digital basierter MorphologieAlle bisher behandelten Anwendungsbeispiele setzen linguistisches Wissen voraus fuumlhren jedoch selbst allenfalls in begrenztem Maszlige zu einer Wei-terentwicklung unseres Wissens uumlber einzelne Sprachen oder menschliche Sprache im allgemeinen Dennoch kann die Digitalisierung morpholo-gischer Strukturen auch ihrerseits in erheblichem Maszlige zu linguistischem Kenntnisgewinn beitragen Die betreffenden Einsatzbereiche seien im fol-genden kurz umrissen

21 Einsatzbereich Lexikographie

Elektronische Textcorpora schaffen eine hervorragende Basis fuumlr lexiko-graphische Untersuchungen aller Art bis hin zur Erstellung vollstaumlndi-ger Konkordanzen Um das Textcorpus einer Sprache mit reichhaltiger Flexionsmorphologie lexikographisch in konsistenter Weise auszuwerten bedarf es einer Lemmatisierung die nur dann automatisch erfolgen kann wenn eine korrekte Bestimmung saumlmtlicher Wortformen gewaumlhrleistet ist21 Hierfuumlr ist es erforderlich Verfahren zu implementieren wie sie oben am Vedischen und weitergehend am Georgischen illustriert wurden

22 Einsatzbereich Grammatikographie

Auf der Basis von Textcorpora kann eine Digititalisierung morpholo-gischer Strukturen praktisch in allen Bereichen zur Unterstuumltzung einer grammatischen Beschreibung der betr Sprache eingesetzt werden Dies betrifft zum einen die Morphologie der Sprache selbst insofern je nach Umfang des Corpus mehr oder weniger erschoumlpfende Aussagen zur Gestal-tung und Distribution von Morphemen moumlglich werden Daruumlber hinaus ist

20 S dazu zB Kroeger Approach 200421 Vgl den 1994 publizierten Wortformenindex zu den Schriften Galens (Gippert Index Galenicus) bei dessen Erarbeitung noch nicht auf eine automatische Lemmatisierung des Altgriechischen zuruumlckgegriffen werden konnte Heute 15 Jahre nach der Erarbeitung dieser Wortformenkonkordanz wuumlrden geeignete Mittel fuumlr eine automatische Lemma-tisierung bereitstehen

Sprachliche Morphologie digitalisiert 47

die Syntax betroffen insofern sie (als Morphosyntax) die funktionale Ver-wendung von Morphemen zum Gegenstand hat Auch fuumlr die Phonologie kann digitalisierte Morphologie Erkenntnisse bringen soweit sie zB die lautliche Auspraumlgung von Allomorphen und phonotaktische Phaumlnomene an Morphemgrenzen zu untersuchen erlaubt

Dabei ist es zweckmaumlszligig zwei Verfahren zu unterscheiden Das erste das ich bdquointrinsischldquo nennen wuumlrde basiert wieder auf der digitalen Grundstruktur von Text naumlmlich der bdquoZeichenketteldquo (String) ein darauf aufbauendes Auswertungsverfahren (bdquozeichenkettenbasierte Sucheldquo) wird allerdings nur bei (nahezu) eindeutiger Form dh variantenloser Schreibung und bei (nahezu) eindeutigem klar definierbaren Zeichenkontext zufriedenstellende Ergebnisse zeitigen Dies sei am Beispiel gotischer Passivformen illustriert

221 Gotisches PassivDie (wenigen) synthetischen Passivformen des Gotischen sind bekanntlich durch spezifische Endungen gekennzeichnet naumlmlich im Praumlsens Indikativ -za fuumlr die 2PsSg -da fuumlr die 1 und 3PsSg und -nda fuumlr die Pluralpersonen Will man diese Endungen als solche abfragen so muszlig zunaumlchst sichergestellt werden daszlig sich die Abfrage nur auf wortfinales -za bzw -(n)da bezieht diese Einschraumlnkung kann in der TITUS-Suchmaschine durch die Eingabe eines Sternchens als Stellvertreterzeichen fuumlr eine beliebige Zeichenfolge markiert werden das den Wortkoumlrper repraumlsentiert (bdquoWildcardldquo vgl Abb 12 mit der Eingabe fuumlr die Endung -za in der Form za) Die daraufhin ausgegebene Wortformenliste zeigt auf den ersten Blick (s den Ausschnitt in Abb 13) die Unzulaumlnglichkeit dieses Verfahrens auf denn neben den (zwei) gewuumlnschten Passivformen (haitaza bdquodu wirst genannt (werden)ldquo Lk 17622 und us-maitaza bdquodu wirst abgehauen (werden)ldquo Roumlm 1122) finden sich hier in weitaus groumlszligerer Zahl andere Formen die auf -za auslauten wie zB die Komparative maiza und minniza bdquogroumlszliger mehrldquo und bdquokleiner minderldquo (Mt 1111 uouml) oder die substantivischen Dativformen riqiza bdquoder Finsternisldquo (Mt 1027 uouml) und Moseza bdquo(dem) Moseldquo (2Tim 38) Noch weitaus diffuser ist die Liste die bei der Abfrage nach da ausgegeben wird (s den Ausschnitt in Abb 14) denn hier erscheinen insbesondere Praumlteritalformen auf -da (wie zB gaweihaida bdquoer hat geheiligtldquo Jo 1036) in groszliger Zahl

22 Im intr heiszligen = bdquogenannt werdenldquo (gegenuumlber trans jdn (etw tun) heiszligen) mani-festiert sich im Deutschen offensichtlich noch eine Reminiszenz an die fruumlhere Existenz eines (Medio-)Passivs des gotischen Typs

Jost Gippert48

222 Annotative VerfahrenAngesichts solcher Ergebnisse ergibt sich die Notwendigkeit ein besser geeignetes Verfahren anzuwenden nahezu von selbst Als ein bdquoextrinsischesldquo Verfahren das bereits weithin genutzt wird bietet sich die durchgehende Annotation von Textdaten an Hierbei werden durch ein sog bdquoTaggingldquo vorzugsweise auf der Basis der sog bdquoExtended Markup Languageldquo (XML) die fuumlr eine gezielte Abfrage erforderlichen Daten (Formenbestimmungen Lemmaangaben) in den Text eingebunden so daszlig sie fuumlr gezielte Abfragen verfuumlgbar sind Der Vorteil eines derartigen Verfahrens besteht in der rel frei definierbaren und anpassungsfaumlhigen Informationsstruktur Das Tagging kann in nahezu beliebiger Weise explizit (dh als lesbarer bdquoKlartextldquo) oder implizit (in Form von Abkuumlrzungen Siglen etc) gehalten werden nur Konsistenz muszlig gewahrt bleiben Abb 15ndash16 zeigen zur Illustration eines maximal expliziten Taggings einen Ausschnitt aus dem Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus23 in verschiedenen Darstellungsformen24 Als Beispiel fuumlr ein besonders wenig explizites Annotationsverfahren kann man denselben Ausschnitt aus der urspruumlnglichen Fassung des Corpus (Abb 17) oder den von Han Steenwijk aufbereiteten Slovenischen (Resischen) Katechismus (Abb 18) vergleichen Eines muszlig natuumlrlich klargestellt werden Wie explizit auch immer das Tagging ist ndash es reflektiert auf jeden Fall bereits vorher akkumuliertes linguistisches Wissen

Inwiefern kann ein annotationsbasiertes Retrieval dann uumlberhaupt selbst zum linguistischen Erkenntnisgewinn beitragen Eine ganz wesentli-che Funktion liegt in der Verifikation und Falsifikation von Hypothesen die das Verfahren erlaubt Dabei geht es insbesondere um eine statistische Untermauerung dh die Frage nach der Stringenz linguistischer Annah-men im Hinblick auf in Corpora enthaltene Daten Warum ein Retrieval auf der Basis von Annotationen dabei einer einfachen Suche nach objekt-sprachlichen Zeichenketten uumlberlegen ist sei wiederum an einem Beispiel illustriert

23 S httpwwwikpuni-bonndedtforschfnhd24 Die Ausgabe von XML-Strukturen haumlngt von dem jeweiligen Verarbeitungspro-gramm ab hier dargestellt sind die frei verfuumlgbaren XML-Editoren von firstobject (httpwwwfirstobjectcomdn _ editorhtm) und XMLFox (httpwwwxmlfoxcomdownloadhtm) Auf der Seite httptitusuni-frankfurtdeldlinkshtm sind online verfuumlgbare XML-Werkzeuge zusammengestellt

Sprachliche Morphologie digitalisiert 49

223 Echofragen im KaukasusWer die georgische Sprache erlernt wird sich uumlber kurz oder lang wundern daszlig Echofragen in dieser Sprache in spezifischer Weise ausgepraumlgt sind insofern sie mit den auf sie folgenden Antworten durch die Konjunktion da bdquoundldquo verbunden werden man vgl das folgende Beispiel25

Frage ras aḳetebt axla tkven bdquoWas tut ihr geradeldquo

Echofrage+Antwort čven ras vaḳetebt da meored motibul tivas vparcxavt bdquoWas wir tun sbquoUndrsquo ndash wir rechen die zweite Mahd zusammenldquo

Wollte man derartige Konstellationen nun in einem groumlszligeren Corpus des (gesprochenen) Georgischen abfragen so wuumlrde man mit einer rein zeichenkettenbasierten Suche schwerlich in vertretbarer Zeit zum Erfolg kommen da eine Suche nach selbstaumlndigem da sowohl saumlmtliche Belege fuumlr die Konjunktion (und damit das haumlufigste Wort uumlberhaupt) als auch solche fuumlr das homonyme da bdquoSchwesterldquo (NomSg) erbringen wuumlrde Noch schwieriger wuumlrde sich die entsprechende Suche im Svanischen einer der Schwestersprachen des Georgischen gestalten das einen genau entsprechenden Gebrauch der Konjunktion bdquoundldquo kennt Diese lautet hier normalerweise i wie in der woumlrtlichen Entsprechung des obigen Beispiels

Frage im xašdbad atxe sgaumly Echofrage+Antwort nauml im xwašdbad i mēris xwipcxidIn der Position nach vokalischem Auslaut wird das i nun aber als [j] real-isiert und sofern svanische Texte niedergeschrieben werden als solches an das vorhergehende Wort angehaumlngt so daszlig eine Suche nach (selbstaumlndigem) i diese Faumllle nicht erbringen wuumlrde

Frage si zurāl im xašdba bdquoDu Frau was tust du (gerade)rdquo Echofrage+Antwort im xwašdbay ulyāks xwaumlpšwde bdquoWas ich tue lsquoUndrsquo ndash ich schere ein Schafrdquo

25 Die folgenden Beispiele sind dem im Rahmen des Projekts bdquoEndangered Caucasian Languages in Georgialdquo (s httptitusfkidg1uni-frankfurtdeeclingeclinghtm) gesammelten originalsprachlichen Material entnommen Die Beispiele wurden nicht gezielt eruiert sondern sind jeweils Bestandteil ungesteuerter Konversation

Jost Gippert50

Noch komplexer ist die Sachlage in einer zweiten ihrerseits nicht ver-wandten Nachbarsprache des Georgischen dem Tsova-Tuschischen oder Batsischen Auch hier koumlnnen moumlglicherweise unter georgischem Einfluszlig Echofragen mit den folgenden Antworten durch bdquoundrdquo verbunden sein die Konjunktion liegt dabei jedoch nicht als eigenstaumlndiges Wort (und somit als eindeutig abgrenzbare Zeichenkette) vor sondern manifestiert sich jeweils unterschiedlich in der Laumlngung des auslautenden Vokals des vorangehenden Wortes der seinerseits in anderen Konstellationen getilgt sein kann man vgl das folgende Beispiel

Frage men yar o psṭuyn bdquoWer war diese Fraurdquo Echofrage+Antwort men yarē xaxabuyren bdquoWer sie war (lsquoUndrsquo) ndash sie war aus Xaxabordquo

Es kommen jedoch auch Echofragen ohne eine derartige Laumlngung vor

Frage qēn nānas vux dīen bdquoWas tat (seine) Mutter dannrdquo Echofrage+Antwort nānas vux dīen ndashnān korlacyīen bdquoWas (seine) Mutter tat (Seine) Mutter wurde verhaftetrdquo

Die sich hieraus unmittelbar ergebende Frage nach der Konsistenz des Gebrauchs kann durch eine Zeichenkettensuche in keiner Weise beant-wortet werden da eben kein zu suchendes Zeichen gegeben ist Man wird also um das Phaumlnomen der Echofragen im Kaukasus im Hinblick auf seine Regelhaftigkeit weiter zu untersuchen nicht umhin koumlnnen eine Anno-tation vorzusehen die nicht nur die morphologischen Elemente sondern sogar syntaktische Einheiten (eben Echofragen als solche) markiert

23 Digitale Morphologie und diachrone Untersuchungen

Einen weiteren Einsatzbereich digitalisierter Morphologie innerhalb der Linguistik stellen diachrone Untersuchungen dar Dabei gilt wieder das Grundprinzip daszlig der Einsatz digitaler Verfahren va zur Verifizierung bzw Falsifizierung von an Einzelfaumlllen erarbeiteten Hypothesen dienen kann Auch dies sei durch ein Anwendungsbeispiel aus dem kaukasischen Raum illustriert

Das Svanische faumlllt unter den kartvelischen oder suumldkaukasischen Sprachen insbesondere dadurch auf daszlig es in mehrere Dialekte mit houmlchst unterschied-licher phonologischer Struktur zerfaumlllt Die historischen Veraumlnderungspro-

Sprachliche Morphologie digitalisiert 51

zesse die diese Diversitaumlt herbeigefuumlhrt haben umfassen houmlchst komplexe Umlautungen Assimilationen sowie Syn- und Apokopeerscheinungen So wuumlrde man etwa die Form aumlǯhīdx bdquosie sind uumlber euch gekommenldquo des ober-balischen Dialekts auf eine historisch zugrundeliegende Form adǯihīdex zuruumlckfuumlhren die sich uumlber die folgenden vier chronologisch aufeinander-folgenden an das Altirische erinnernden Schritte veraumlndert haben duumlrfte

Umlautung aumldǯihīdex Apokope (Tilgung des Vokals der Auslautssilbe) aumldǯihīdx Synkope (Tilgung kurzer Vokale in geraden Silben) aumldǯhīdx Clustervereinfachung aumlǯhīdxDabei ist zu bemerken daszlig ein anderer Dialekt der lenṭechische die Syn-kope noch nicht vollzogen hat und in aumllteren svanischen Volksliedtexten sogar noch Formen ohne Apokope begegnen

Die historisch anzusetzende bdquoursvanischeldquo Grundform ist nun zugleich auch diejenige die man bei einer morphologischen Analyse von aumlǯhīdx zugrundelegen muszlig Tatsaumlchlich zerfaumlllt diese Form in insgesamt sechs morphologische Elemente naumlmlich das Praumlverb ad bdquoherldquo das Zeichen eines Objekts der 2 Person verbunden mit dem Zeichen der bdquoobjektiven Versionldquo ǯ+i bdquoin Bezug auf dich euchldquo die Verbalwurzel hīd bdquokommenldquo das Suf-fix des Aorists e sowie das Zeichen fuumlr ein Subjekt der 3 Person Plural x von denen aber eben nicht mehr alle in der heutigen oberbal Form als solche bdquosichtbarldquo sind Schematisch

I II III IV V VIad + ǯ + i + hīd + e + xPraumlv + 2PsObj + ObjV + Wz + AorSuff + 3PlSubjaumlǯhīdx

Wie in diesem Fall ist zu erwarten daszlig eine konsistente morphologische Analyse regelmaumlszligig Formen liefern wird die den mutmaszliglichen historischen (ursvanischen) Ausgangsformen zumindest nahekommen Sie koumlnnen damit als Inputformen fuumlr eine (automatische) Verifizierung der postulierten lautgesetzlichen Entwicklungen vom Ursvanischen zu den einzelnen heutigen Dialekten wie auch fuumlr die postulierten interdialektalen Lautentsprechungen dienen26

26 Vgl bereits Gippert Divergences 2000 mit einigen Fallbeispielen

Jost Gippert52

3 ResuumlmeeDie Perspektiven die die Anwendung digitaler Morphologie in der Sprach-wissenschaft eroumlffnet lassen sich auf der Grundlage der oben behandelten Fallbeispiele in zwei Thesen zusammenfassen

These I Je mehr sprachliche Daten mit morphologischer (und daruumlber hinaus syntaktischer semantischer pragmatischer metrischer) Analyse digital aufbereitet sind auf desto sichererem Boden steht die Theo-riebildung in synchron-deskriptiver und diachron-vergleichender Linguis-tik

These II Durch die Digitalisierung groszliger Datenmengen wird eine (statistische) Verifizierung bzw Falsifizierung sprachwissenschaftlicher Hypothesen nicht nur moumlglich sondern geradezu als methodisches Postu-lat erzwungen

Durch eine entsprechende Aufbereitung sprachlicher Daten die Voraus-setzungen hierfuumlr zu schaffen sehe ich als eine der vorrangigen Aufgaben der heutigen Linguistik an

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Jost Gippert54

Abbildungen

Abb 1 A-tocharischer Textausschnitt (THT 634r 1-3)

Abb 2 Aufruf der Datenbank

Sprachliche Morphologie digitalisiert 55

Abb 3 Paradigma-Ausgabe

Abb 4 Vedischer Textausschnitt (RV 111a)

Jost Gippert56

Abb 5 Bestimmung der Form agnim

Abb 6 Aufruf der Thesaurus-Suchmaschine

Sprachliche Morphologie digitalisiert 57

Abb 7 Ausgabe der Thesaurus-Suche

Abb 8 Mk 12ndash3 in der altgeorgischen bdquoProtovulgataldquo

Jost Gippert58

Abb 9 Bestimmung der altgeorg Wortform ġaġadebisay

Abb 10 Verbformengenerator fuumlr das Neugeorgische (Paul Meurer)

Sprachliche Morphologie digitalisiert 59

Abb 11 Georgische Syntaxanalyse (Paul Meurer)

Abb 12 Abfrage der gotischen Endung -za

Jost Gippert60

Abb 13 Ausgabeliste von Wortformen auf -za

Abb 14 Ausgabeliste von Wortformen auf -da

Sprachliche Morphologie digitalisiert 61

Abb 15 Annotation (Tagging) im Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus

Abb 16 Dasselbe in systematischer Darstellung

Jost Gippert62

Abb 17 Dasselbe in nicht explizitem Tagging

Abb 18 Implizites Tagging Slovenischer Katechismus

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre

Verbalstammbildung und das Kausativ

Hans Henrich Hock

Since the time of Whitney (1889) western scholarship generally assumes that lsquosecondaryrsquo verb inflections of Sanskrit such as the causative are based on derived stems which are not available in all tense categories while lsquoprimaryrsquo verbs based on roots are not restricted in this way (with certain idiosyncratic exceptions) This approach contrasts with that of Pāṇini according to which lsquosecondaryrsquo formations are based on derived roots rather than stems and these roots behave just like ordinary roots being inflectable in all tense categories I show that Pāṇinirsquos approach provides a more satisfactory account of the Sanskrit facts even though the notion lsquoderived rootrsquo is unorthodox from the present-day perspective and thus constitutes a certain challenge to modern linguistics In addition my paper demonstrates that in the investigation of Sanskrit grammar the work of the indigenous Indian grammarians must be regarded as earlier scholarship on a par with that of western scholars such as Whitney

0 EinleitungSeit Whitney (1889) wird im Allgemeinen angenommen daszlig im Sanskrit (oder Altindoarischen) ein Unterschied besteht zwischen bdquoprimaumlrerrdquo und bdquosekundaumlrerrdquo Verbalstammbildung Etwas vereinfachend kann der Unterschied so dargestellt werden daszlig Sekundaumlrverben (Kausative Desiderative Intensive und Passive) abgeleitete Verbalstaumlmme und daher nicht in allen Tempuskategorien verwendbar sind waumlhrend Primaumlrverben mit gewissen idiosynkratischen Ausnahmen dieser Beschraumlnkung nicht unterliegen Im Gegensatz dazu analysiert Pāṇinis Generativgrammatik (Pāṇini bdquoGrammatikrdquo) die Sekundaumlrverben als nicht auf abgeleiteten Staumlmmen basiert sondern auf abgeleiteten Wurzeln

In diesem Aufsatz versuche ich darzustellen daszlig Pāṇinis Ansatz fuumlr die synchronen Tatsachen eleganter aufkommt und bessere Verallgemeinerungen macht obwohl er mdash und das muszlig zugegeben werden mdash aus heutiger Sicht bdquounorthodoxrdquo anmutet und daher eine gewisse Herausforderung fuumlr die moderne Morphologie darstellt In diesem Zusammenhang ist das Kausativ von besonderer Bedeutung da es den besten Beweis zu liefern scheint fuumlr

Hans Henrich Hock64

die Ansicht daszlig Sekundaumlrkonjugationen sich von der Primaumlrkonjugation grundlegend unterscheiden Mein Aufsatz zielt daher im allgemeinen nur das Kausativ an1

Zusaumltzlich zu der Verteidigung von Pāṇinis Ansatz sollten meine Ausfuumlhrun-gen klar stellen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker keineswegs vernachlaumlssigt werden duumlrfen sondern genauso wie die Arbeiten von Gelehrten wie Whitney als fruumlhere Forschungsansaumltze beruumlcksichtigt wer-den muumlssen

1 Die traditionelle westliche Standard-AnsichtWie bekannt hat das Sanskrit eine Reihe von bdquosekundaumlrenrdquo Verbal- formationen naumlmlich Kausativ Desiderativ und Intensiv zu denen haumlufig auch das Passiv gefuumlgt wird (s aber weiter unten) Vergleiche die Uumlbersicht der von der Wurzel bhr- abgeleiteten Praumlsensflexionen in [1]

[1] a bdquoPrimaumlr-Flexionrdquo bhaacuter-a-ti und biacute-bhar-ti2 traumlgtrsquo b Kausativ bhār-aacutey-a-ti laumlszligt tragenrsquo c Desiderativ buacute-bhūr-ṣa-ti will tragen ist dabei zu tragenrsquo d Intensiv bhaacuteri-bhr-ati sie tragen immer wiederrsquo e Passiv bhri-yaacute-te wird getragenrsquo

Seit Whitney (1889) wird das Verhaumlltnis zwischendiesen Formatio-nen allgemein dahingehend erklaumlrt daszlig die in [1a] Primaumlrverben und die in [1b-e] Sekundaumlrverben seien und daszlig diese Sekundaumlrverben auf einem abgeleiteten Verbalstamm basieren siehe [2]

[2] bdquoSecondary conjugations are those in which a whole system of forms like that already described as made from the simple root [dh die bdquoPrimaumlrformationenrdquo] is made with greater or less com-pleteness from a derivative conjugation-stem and is also usually connected with a certain definite modification of the original radi-cal sensersquo (Whitney 1889 S 360-361)

1 Damit die Darstellung nicht all zu spezialisiert und kompliziert wird beschraumlnke ich mich im allgemeinen auf die Finitformen des Verbums die wichtigste Nicht-Finitform ist das ta-Partizip manchmal auch faumllschlich als Passiv-Partizip des Perfekts bezeichnet (bei Intransitiven ist es aktiv und im fruumlhen Sanskrit hat es eher Gemeinsamkeiten mit dem Aorist)2 Im Unterschied zu den meisten anderen Verbalwurzeln hat bhr- zwei verschiedene bdquoprimaumlrerdquo Praumlsensbildungen

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 65

Whitneys Ansicht wird weitgehend geteilt Zum Beispiel behandeln ThumbHauschild (1959 S 330-357) Mayrhofer (1978 S 93-95) und Renou (1984 S 463-490) alle unter [1b-e] angefuumlhrten Formationen zusammen aber getrennt von der Primaumlrflexion wobei ThumbHauschild und Mayrhofer explizit den Terminus bdquoabgeleitete Konjugationenrdquo verwenden

Eine Variante findet sich bei Macdonell (1916 S 195-207 vs 178-180) Sten-zler (1970 S 52-54 vs 51) und Gonda (1966 S 73-74 vs 72-73) die das Pas-siv separat behandeln (Die Einstellung von Morgenroth (1973 S 158-168) ist in dieser Beziehung ambig)

Waumlhrend in den meisten Faumlllen die Behandlung der Verben in [1b-e] (oder [1b-d]) als Sekundaumlrkonjugationen ohne weitere Diskussion als selbstver-staumlndlich angesehen wird stellt Morgenroth (1973 S 185) bei der Bespre-chung des Kausativs ausdruumlcklich fest daszlig diese Formation bdquozu den sekundaumlren Verben [gehoumlrt] dh zu Verben deren Staumlmme von Verbal-wurzeln abgeleitet sind und eine spezielle Bedeutung habenrsquo

Bevor wir uns weiteren Folgen der westlichen Standard-Ansicht zuwenden ist es vielleicht angebracht kurz die Variante zu besprechen die das Passiv separat behandelt Explizite Ausfuumlhrungen fehlen in den zitierten Veroumlffentlichungen aber es lassen sich wenigstens zwei solcher Begruumlndungen anfuumlhren Die erste hat mit der Tatsache zu tun daszlig das Passiv im Unterschied zu den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo morphologisch auf das Praumlsenssystem und die dritte Person Singular Aktiv des Aorists beschraumlnkt ist auszligerhalb dieser Formationen kann das Passiv nur durch das Medium dargestellt werden das aber auch andere Funktionen erfuumlllt In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert daszlig sich dieses Argument auch bei Whitney findet der sich aber dann doch entscheidet das Passiv bei den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo einzuordnen

[3] bdquoThe passive is classed here as a secondary conjugation because of its analogy with the others in respect to specific value and free-dom of formation although it does not like them make its forms outside the present system from its present-stemrsquo (Whitney 1889 S 361)

Eine weitere Begruumlndung waumlre die folgende Die einheimische indische Grammatik erlaubt Desiderative und Kausative von Intensiven [4a] Kau-sative von Desiderativen [4b] und Desiderative von Kausativen [4c] und die meisten dieser Formation sind auch in Texten bezeugt Kausative von Desiderativen und Desiderative von Kausativen relativ haumlufig die anderen

Hans Henrich Hock66

Formation eher selten3 Zu jeder dieser Formationen kann im Prinzip auch ein Passiv gebildet werden [4arsquo-4crsquo] aber vom Passiv koumlnnen keine anderen bdquoSekundaumlrformationenrdquo abgeleitet werden

[4] a Wurzel vid- wissenrsquo Intensiv ve-vid- Desid des Int ve-vid-i-ṣa-ti Kaus des Int ve-vid-aya-ti b Wurzel āp- erreichenrsquo Desiderativ īp-sa-ti Kaus des Des īp-s-aya-ti c Wurzel pā- trinkenrsquo Kausativ pāy-aya-ti Des des Kaus pi-pāy-ayi-ṣa-ti arsquo Pass des Int ve-vid-ya-te brsquo Pass des Desid īp-s-ya-te crsquo Pass des Kaus pāy-ya-teDiese Verhaumlltnisse sprechen daher fuumlr eine Trennung des Passivs von den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo

2 Empirische Begruumlndung der traditionellen westlichen Standard-AnsichtDie Begruumlndungen fuumlr die separate Einstufung der bdquoSekundaumlrformationenrdquo in der traditionellen westlichen Sanskrit-Grammatik sind eher duumlrftig Wie schon vorher angedeutet ist ein Hauptargument daszlig diese Verbfor-mationen eine spezielle semantische Bedeutung haben die sich von der (unmarkierten) Bedeutung der bdquoPrimaumlrverbenrdquo unterscheidet Wie schon gesehen wuumlrden auf Grund dieses Arguments das Passiv und die anderen bdquoSekundaumlrverbenrdquo zusammen gegliedert obwohl das Passiv in der Deriva-tion ein ganz anderes Verhalten zeigt

Das einzige weitere haumlufiger angebrachte Argument ist historischer Art Es beruht auf der Ansicht daszlig die sogenannten Sekundaumlrverben urspruumlnglich auf das Praumlsenssystem (Praumlsens Imperfekt und vom Praumlsens abgeleitete Partizipen) beschraumlnkt waren und erst sekundaumlr auf andere Tempussysteme ausgedehnt wurden Siehe z B das folgende Zitat von Whitney

3 Beispiele von Whitney 1889 S 372 377 386

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 67

[5] bdquoIn these [secondary or derivative conjugations] a conjugation stem instead of the simple root underlies the whole system of inflection Yet there is clearly to be seen in them the character of a present-system expanded into a more or less complete conjuga-tion and the passive is so purely a present-system that it will be described in the chapter to that part of the inflection of the verbrsquo (Whitney 1889 S 203-204)

Indirekt wird diese Ansicht unterstuumltzt durch das besondere Verhaumlltnis des dem Kausativ zugehoumlrigen reduplizierten Aorists der dem Anschein nach nicht vom Kausativstamm gebildet wird sondern suppletiv direkt von der Wurzel Siehe zB das Verhaumlltnis zwischen [6a-d] und [6e]

[6] a Praumlsens bhārayati b Futur bhārayiṣyati c Passiv bhāryate d ta-Partizip bhārita- e Perfekt bhārayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist abībharat (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Vergleiche in dieser Hinsicht die Ausfuumlhrungen von Whitney und Macdonell wobei die letztere durch ihre historische Begruumlndung besonders auffaumlllt

[7] bdquoThe aorist of the causative conjugation is the reduplicated which in general has nothing to do with the causative stem but is made directly from the rootrsquo (Whitney 1889 S 383)

[8] bdquoThough (with a few slight exceptions) unconnected in form with the causative it has come to be connected with the causative in sense helliprsquo (Macdonell 1916 S 173)

Ein weiteres historisches Argument wird von ThumbHauschild angedeutet naumlmlich daszlig das periphrastisch gebildete Perfekt [6e] erst sekundaumlr dem Kausativsystem zugefuumlgt ist

[9] bdquohellip und somit ist das periphrastische Perfekt nur das Ergebnis einer sprachlichen Auslese welche es ermoumlglichte zu abgeleiteten Verben (wie den Causativstaumlmmen) hellip ein besonderes Perfekt zu bildenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 295)

Ein aumlhnlicher Vorschlag findet sich wiederum bei ThumbHauschild in Bezug auf das Passiv [6c] das zwar dieselbe Wurzelform wie die anderen

Hans Henrich Hock68

nicht-aoristischen Formen hat bei dem aber das normale Suffix -aya- fehlt4

[10] bdquoDaszlig es sich auch hier hellip um junge Neubildungen handelt ergibt sich schon aus der Chronologie dieser Formen sie beginnen erst in den Brāhmaṇas gelegentlich aufzutretenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 344)

3 Probleme des traditionellen westlichen AnsatzesObwohl die historischen Erklaumlrungen fuumlr die verschiedenen Formen im groszligen Ganzen stimmen sind solche historischen Begruumlndungen synchron belanglos Die synchrone Grammatik sollte nur fuumlr die synchronen Tatsachen- verhaumlltnisse aufkommen

Sehen wir uns also kurz an was der traditionelle westliche Ansatz uumlber diese Verhaumlltnisse auszusagen hat und welche Probleme sich dabei herausstellen

Um die Futurformen [6b] und aumlhnliche Formationen wie den Infinitiv zu erklaumlren wird allgemein angenommen daszlig das -a- des Praumlsenssuffixes -aya- abgeworfen wird und zwischen das -ay- und das Futursuffix der sogenannte Bindevokal (bdquounion vowelrdquo) eingeschoben wird der sich fakul-tativ oder obligat in vielen anderen Formen findet

Wie schon oben angedeutet nimmt man fuumlr das Passiv [6c] an daszlig das ganze Praumlsenssuffix abgeworfen wird so daszlig das Passivsuffix direkt an die Kausativwurzel angefuumlgt wird Die Analyse ist aumlhnlich fuumlr das ta-Partizip [6d] nur daszlig hier der Bindevokal vor das ta-Suffix eingeschoben wird

Die Tatsache daszlig das Perfekt periphrastisch gebildet wird mit dem urspruumlnglichen Akkusativ Singular eines vom Praumlsensstamm abgeleiteten deverbalen Nomens plus Auxiliar [6e] wird in manchen Veroumlffentlichungen (zB Whitney und ThumbHauschild) verglichen mit aumlhnlichen aber etwas selteneren Formationen die direkt von der Wurzel gebildet werden wie zB die in [11] angefuumlhrten

[11] vid- wissenrsquo (Praumls vetti5) Perf vidāṁ cakāra īkṣ- schauenrsquo (Praumls īkṣate) Perf īkṣāṁ cakre

4 Fuumlr das ta-Partizip [6d] siehe Sektion 35 Neben dem unreduplizierten Perfekt veda das wie vetti Praumlsensfunktion hat

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 69

Die Formation die die groumlszligten Schwierigkeiten verursacht ist der redu-plizierte Aorist [6f] Waumlhrend beim Passiv und ta-Partizip die Gestalt der Wurzel die gleiche ist wie im Praumlsensstamm (zB bhār- wie in bhārayati) scheint die Wurzelform des reduplizierten Aorists (abībharat mit Voll-stufe bhar) voumlllig verschieden zu sein von der Wurzel des Praumlsensstamms (bhārayati mit Dehnstufe bhār) Das Verhaumlltnis scheint also suppletiv zu sein und die synchrone Analyse scheint daher mit der historischen Inter-pretation uumlbereinzustimmen

Dieser Anschein aber truumlgt Wie aus Daten wie denen in [12] erhellt sind gewisse Wurzelveraumlnderungen des Praumlsensstammes6 nicht nur in den For-men zu finden die allgemein als vom Praumlsensstamm abgeleitet angesehen werden [12a-e] sondern auch im reduplizierten Aorist [12f]

[12] a Praumlsens sthā-p-aya-ti (Wurzel sthā ῾stehenrsquo) b Futur sthā-p-ayi-ṣya-ti c Passiv sthā-p-ya-te d ta-Partizip sthā-p-i-ta e Perfekt sthā-p-ayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist a-ti-ṣṭhi-p-a-t (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Die allgemeine Antwort auf dieses Problem liegt in der Annahme daszlig diese Form des Aorists synchron anomal und irgendwie aus dem Praumlsens-stamm uumlbertragen ist siehe zB [13] (Aumlhnliches bei Gonda 1966 S 65 und Stenzler 1970 S 47)

[13] bdquoIn a few cases where the root has assumed a peculiar form before the causative sign mdash as by the addition of a p or ṣ hellip mdash the redu-plicated aorist is made from this form instead of the simple root thus atiṣṭhipam from sthāp (stem sthāpaya) for sthā hellip the only other example from the older language is bībhiṣa from bhīṣ for bhīrdquo (Whitney 1889 S 384)

Die Folgen dieser Anschauung sind am deutlichsten in der Organisation von Whitneyrsquos (1885) zu erkennen wo bdquoregelmaumlszligigerdquo Formen wie [6f] als normale Aoristformen angefuumlhrt werden waumlhrend Formen wie [12f] unter dem Kausativeintrag erscheinen7 Siehe [14a] vs [14b] wo die relevan-ten Aoristformen durch (von mir zugefuumlgten) Fettdruck gekennzeichnet sind

6 Die meisten dieser Veraumlnderungen haben die Wurzelerweiterung -p- aber es gibt auch andere (zB -ṣ- fuumlr die Wurzel bhī fuumlrchtenrsquo)7 Siehe Whitney 1885 svv

Hans Henrich Hock70

[14] a Formen der Wurzel bhr tragenrsquo Pres [3] biacutebharti biacutebhrati hellip mdash [1] hellip bhaacuterati ndashte hellip mdash [2] bharti hellip Perf babhāra hellip Aor 1 bhartaacutem hellip mdash 3 bībharas hellip mdash 4 abhārṣīt hellip Fut 1 bhariṣyaacuteti hellip mdash 2 bhartā hellip hellip Sec Conj hellip Caus bhārayati

b Formen der Wurzel sthā stehenrsquo Pres [1] tiacuteṣṭhati hellip Perf tasthāuacute hellip Aor 1 aacutesthāt hellip mdash [4] [sthāsīṣṭa] hellip Fut 1 sthāsyaacuteti hellip mdash 2 sthātā hellip hellip Sec Conj hellip Caus sthāpayati hellip (aacutetisthipat etc VB hellip sthāpyate hellip -sthāpayiṣyati B)

Nur bei ThumbHauschild und Macdonell finden sich etwas bessere Beschrei-bungen siehe [15] Dabei wird aber vernachlaumlssigt daszlig die dem -p- vorangehende Wurzelform eben nicht mit der des Praumlsensstamms uumlbereinstimmt Auszligerdem werden die Konsequenzen der Annahme daszlig der Aorist den Praumlsensstamm oder einen Teil des Praumlsenssuffixes enthaumllt nicht durchgesprochen

[15] a bdquohellip der reduplizierte Aorist von p-Causativa hellip wird nicht von der Wurzel sondern von dem Causativstamm gebildetrsquo (ThumbHauschild 1959 S 343)

b bdquoThe initial of the suffix is retained from the causative stems jntildeā-paya hellip thus a-ji-jntildeip-at helliprsquo (Macdonell 1916 S 175)

Als Fazit laumlszligt sich also sagen daszlig der traditionelle westliche Ansatz zwar irgendwie fuumlr die synchronen Tatsachen aufkommt aber keine konse-

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 71

quenten grammatischen Verallgemeinerungen liefert die es ermoumlglichen koumlnnten die Aoristformen mit Wurzelerweiterung (Typus [12f]) zu erklaumlren

4 Der juumlngste westliche Versuch (Stump 2005)Obwohl der kuumlrzlich erschienene Aufsatz von Stump (Delineating 2005) als Hauptthema die theoretische Frage hat ob das Kausativsuffix -aya- Flexionsklasse oder Derivation markiert bespricht er auch noch einmal eingehend die verschiedenen Formationen des Kausativs und bietet zudem eine Alternativanalyse von -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassen-marker -a- an

Wie im tradionellen westlichen Ansatz sieht Stump den reduplizierten Aorist als suppletiv an Zusaumltzlich interpretiert er das Fehlen des Kausativ- suffixes -aya- im Passiv und im ta-Partizip als Anzeichen dafuumlr daszlig die-ses Suffix nur Flexionsklasse markiert (fuumlr die Formationen in denen es erscheint) und nicht der Ableitung dient Wie die meisten traditionellen westlichen Forscher behandelt er in diesem Verfahren die bdquoroot modifica-tionsrdquo (Dehnstufe der Wurzel und Wurzelerweiterung -p-) als im Effekt nebensaumlchlich Soweit der Hauptteil seines Artikels der sich also nicht wesentlich von dem traditionellen westlichen Ansatz unterscheidet

In einer Art Anhang aber erwaumlgt Stump eine Alternativloumlsung die wenig-stens das Potential zu einem neuen Ansatz hat Dies ist der Vorschlag daszlig -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassenmarker -a- analysiert wer-den kann Der Vorteil dieses Ansatzes ist daszlig die Futurform des Typus bhārayiṣyati [6b] leichter erklaumlrt werden kann naumlmlich als Kausativ-stamm bhār-ay- plus Futursuffix -syaṣya- (mit vorhergehendem Binde-vokal) Zusaumltzlich kann nun das ta-Partizip des Typus bhārita- [6d] vom Stamm bhār-ay- abgeleitet werden unter der Annahme daszlig das dem -ta- vorausgehende -i- die Nullstufe des Suffixes -ay- darstellt da Nullstufe vor dem ta-Suffix vorherrscht

Man koumlnnte sogar einen Schritt weitergehen und das Passiv bhār-ya-te [6c] vom Stamm bhār-ay-ableiten unter der Annahme daszlig auch hier das Kau-sativsuffix -ay- in der Nullstufe -i- erscheint da auch vor dem Passivsuffix Nullstufe vorherrscht Der Schwund dieses -i- koumlnnte dann erklaumlrt werden

Hans Henrich Hock72

als Parallelerscheinung zum Schwund des -i- der sogenannten seṭ-Wurzeln das auch im Passiv schwindet aber nicht im ta-Partizip8 siehe [16]

[16] Kausativ mit Suffix in Nullstufe seṭ-Wurzel Grundform bhār-i- pat-i-fliegen fallenrsquo ta-Partizip bhār-i-ta- pat-i-ta- Passiv bhār-ya-te pat-ya-teVom theoretischen Standpunkt ist aber Stumps Alternativloumlsung schwierig da er annimmt daszlig sowohl das Suffix -ay- als auch das fol-gende -a- Flexionsklassenmarker sind Eine solche Serialisierung von zwei Flexionsklassenmarkern scheint ziemlich ungewoumlhnlich und sollte durch eingehendere Argumente begruumlndet werden

Letzten Endes leidet Stumps Analyse also unter denselben Schwierigkeiten wie der traditionelle westliche Ansatz vor allem dadurch daszlig die im Aorist erscheinende Wurzelerweiterung -p- nicht motiviert ist

5 Die bdquoWurzelrdquo-Analyse von Pāṇini9

In manchen Gesichtspunkten beruumlhrt sich Pāṇinis Grammatik mit der Alternativloumlsung Stumps in anderen mit dem traditionellen westlichen Ansatz aber in Bezug auf die theoretische Perspektive ist sie grundver-schieden dadurch daszlig sie statt eines Kausativstamms eine abgeleitete Kausativwurzel postuliert

Pāṇinis Grammatik ist generativ und operiert mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen die oft grammatische Marker enthalten die nur dazu dienen gewisse Regeln in Kraft zu setzen oder zu steuern (wie zB Regeln uumlber Ablaut) die fuumlr viele phonetische Prozesse unsichtbar sind und die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Um das Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten zu erleichtern gebe ich im Folgenden statt Pāṇinis Sūtras (dh Regeln) Zusammenfassungen der durch diese Sūtras gemachten Verallgemeinerungen mit Hinweis auf Buch Kapitel und Sūtra

Pāṇini fuumlhrt verschiedene abgeleitete Verbalformationen in 315-3131 ein Diese schlieszligen das Desiderativ (315-7) Intensiv (3122-24) und fuumlr uns wichtig das Kausativ (3126) ein Das letztere wird eingefuumlhrt unter der

8 In Wurzeln mit Resonant vor dem seṭ -i finden sich im ta-Partizip kompliziertere Alternationen 9 Mit gewissen Veraumlnderungen findet sich Pāṇinis Ansatz in den meisten modernen indischen Grammatiken des Sanskrit wie zB Kale 1894

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 73

Bedingung daszlig ein bdquoVerursacherrdquo des Kausativs (hetu) vorliegt und die Formation enthaumllt einen Pratyaya (asymp Suffix10) ṇic wobei ṇ und c gram-matische Marker sind Der Pratyaya ist daher nur i das auf Grund des Ablautsystems mit e vorvokalisch ay alterniert11

Die Sūtras die diese Formationen einfuumlhren werden direkt gefolgt durch 3132 wonach all diese Formationen Wurzeln (dhātus) sind

Schlieszliglich fuumlhrt 7336 die Erweiterung -p- nach gewissen Wurzeln ein Wichtig ist dabei daszlig die Erweiterung zwischen die Wurzel und den Kausativ- Pratyaya i eingefuumlgt wird so daszlig der ganze dabei entstehende Komplex (zB sthā-p-i) nach 3132 als Wurzel gilt

Dieser Ansatz ist aus mehrerer Hinsicht nuumltzlich Erstens erklaumlrt er daszlig zB Desiderative von Kausativen gebildet werden koumlnnen genau wie von bdquoPrimaumlrwurzelnrdquo (s [4] oben) Zweitens wird dadurch daszlig das Praumlsenssuffix des Passivs in anderem Zusammenhang eingefuumlhrt wird (3167) die Tat-sache erklaumlrt daszlig Desiderative Kausative usw nicht vom Passiv abgeleitet werden koumlnnen Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste erlaubt es die Formation von reduplizierten Aoristen mit Wurzelerweiterung (-p- usw) zu erklaumlren wie weiter unter dargestellt werden soll

Dem Pratyaya des Kausativs folgt im aktiven Praumlsenssystem das bdquoDefaultrdquo-Suffix śap (Implikation von Sūtra 3168) wobei ś und p wiederum gram-matische Marker sind und das p auf Grund anderer Sūtras den Pratyaya i zu ay verstaumlrkt12 Dadurch kommt das -ay-a- des Praumlsenssystems zustande Die Tatsache aber daszlig das abschlieszligende -a- Praumlsenssuffix ist erklaumlrt dann seine Abwesenheit in auszligerpraumlsentischen Formationen wie dem Futur (zB bhāray-iṣya-ti)13 Interessanterweise macht Pāṇini nicht von der Moumlglichkeit Gebrauch das Fehlen des Pratyaya i im Passiv (zB bhār-ya-te) durch Vergleich mit

10 Im Folgenden wird das Sanskrit-Wort Pratyaya gebraucht um einer Fehlinterpreta-tion als Suffix im westlichen Sinne vorzubeugen11 Da fuumlr gegenwaumlrtige Zwecke nur die vorvokalische Variante von Belang ist wird in den folgenden Ausfuumlhrungen nur diese genannt12 In Pāṇinis Grammatik gilt im allgemeinen die Nullstufe (wie zB i) als Grundform und Vollstufe (zB eay) und Dehnstufe (zB aiāy) werden als bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo abge-leitet Zum leichteren Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten gebrauche ich den Terminus bdquoVer-staumlrkungrdquo fuumlr die fuumlr uns wichtige Guṇierung und bdquoNicht-Verstaumlrkungrdquo fuumlr den Gebrauch der Grundform13 Das periphrastische Perfekt wird erklaumlrt nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Eine Endung -ām wird an die Kausativwurzel mit vollstufigem Pratyaya (ay) angefuumlgt und darauf folgt dann die angemessene Perfektform der Wurzel kr tun machenrsquo

Hans Henrich Hock74

dem Fehlen des i in seṭ-Wurzeln (zB pat-ya-te s [16] oben) zu erklaumlren Statt dessen fuumlhrt er ein besonderes Sūtra ein (6451) wonach das i des Kausativs vor dem Passiv-Suffix -ya- getilgt wird wie auch vor anderen zT nominalen Suffixen einschlieszliglich des Aorist-Suffixes caṅ (s unten) Der Grund dafuumlr ist wohl die Tatsache daszlig Pāṇini die seṭ-Wurzeln nicht als besondere Klasse anerkennt sondern das bei ihnen regelmaumlszligig vor Konsonanten (auszliger y) vorkommende -i nicht von dem oft nur fakultativen i unterscheidet welches nachkonsonantisch vor fast allen konsonantisch anlautenden Suffixen eingeschoben werden kann wie zB in rakṣ-i-tum Infinitiv der Wurzel rakṣ- behuumlten kontrollierenrsquo14 (Dieser i-Einschub der Bindevokal der westlichen Tradition ist unter anderem fuumlr das -i- des Futurs bhāray-i-ṣya-ti und aumlhnlicher Formen verantwortlich) Fuumlr Pāṇini ist daher bei Formen wie pat-ya-te kein Grund zur Annahme einer i-Tilgung diese ist nur noumltig fuumlr das Kausativ Andererseits ist aber bei Pāṇini das Prinzip der Tilgung von Suffixen und anderen Element so fest verankert daszlig die i-Tilgung im Passiv des Kausativs (und aumlhnlichen Formen) keineswegs ad hoc ist Eine Uumlbersicht der relevanten Regel- anwendungen findet sich in [17] weiter unten

Auch im Falle des ta-Partizips nimmt Pāṇini nicht die Gelegenheit wahr das -i- in Formen wie bhār-i-ta- als das nicht verstaumlrkte -i- des Kausativ-Pratyayas zu interpretiern Statt dessen operiert er mit der Annahme eines i-Einschubs nach der Kausativ-Wurzel und vor der Endung -ta- Vor diesem i erleidet dann das Kausativ-i- dieselbe Art von Tilgung (in diesem Fall nach 6452) wie vor dem Passiv-Suffix -ya- Der Grund hierfuumlr mag zum Teil der sein daszlig auf diese Weise die Formation des ta-Partizips vom Kausativ parallel ist zu der entsprechenden Formation des Desiderativs und anderer abgeleiteter Wurzeln bei denen ebenfalls ein i vor dem ta-Suffix eingeschoben wird (Siehe die Illustration der Regelan-wendungen in [17] unten)

Zum Teil aber mag der Grund auch darin liegen daszlig die Annahme eines regelmaumlszligigen i-Einschubs vor mit t anlautenden Suffixen es ermoumlglicht fuumlr die Form des Absolutivs (oder Konverbs) des Kausativs aufzukommen wie zB bhāray-i-tvā getragen habend nach dem Tragenrsquo Das Schwierige an dieser Form ist daszlig das Suffix -tvā normalerweise die unverstaumlrkte Form der vorhergehenden Wurzel verlangt (wie z B in i-tvā gegangen seiend nach dem Gehenrsquo von der Wurzel i-) Das verstaumlrkte -ay- von bhāray-i-tvā verlangt daher nach einer besonderen Erklaumlrung Diese liegt bei Pāṇini in der Annahme daszlig eine Form mit -i-Einschub zu Grunde liegt (also

14 Die zustaumlndigen Sūtras sind 7235-100 mit 724-34

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 75

bhāri-i-tvā) und daszlig in dieser Konfiguration der normale Effekt des -tvā aufgehoben ist (1218) bhāri-i-tvā erleidet daher Verstaumlrkung des Kausativ-Pratyayas i zu -ay- wodurch bhāray-i-tvā zu Stande kommt Siehe die Zusammenfassung in [17]

[17] ta-Partizip Passiv Absolutiv bhāri-ta- bhāri-ya-te bhāri-tvā i-Einschub bhāri-i-ta- bhāri-i-tvā Verstaumlrkung bhāray-i-tvā i-Tilgung bhār-i-ta- bhār-ya-teAuf jeden Fall sollte bemerkt werden daszlig bei Pāṇini die Aumlhnlichkeit zwischen dem i-Pratyaya das Kausativs und dem -i- des ta-Partizips nur zufaumlllig ist

Bis zu diesem Punkt leistet Pāṇinis Grammatik ungefaumlhr dasselbe wie der traditionelle westliche Ansatz und vor allem wie Stumps Alternativloumlsung auszliger natuumlrlich der Tatsache daszlig er mit Wurzeln statt Staumlmmen arbeitet

Wenn wir uns der Erklaumlrung des reduplizierenden Aorists zuwenden koumlnnen wir sehen daszlig sich Pāṇinis Grammatik von westlichen Ansaumltzen grundlegend unterscheidet und daszlig die bdquoWurzeltheorierdquo erklaumlren kann was die bdquoStammtheorierdquo nicht erklaumlrt

Der Flexionsmarker des reduplizierten Aorists caṅ wobei c und ṅ gramma-tische Marker sind wird in 3148 nach dem Kausativ-Pratyaya und gewissen primaumlren Wurzeln eingefuumlhrt Die diesem Flexionsmarker vorausgehende Wurzel wird nach 6111 redupliziert und der Vokal der Reduplikations-silbe wird unter gewissen Umstaumlnden gelaumlngt (7493-94) Fuumlr uns wichtig ist was mit der zwischen Reduplikationssilbe und Flexionsmarker -a-15 stehenden Kausativwurzel geschieht

Erstens verliert die Wurzel ihr -i- nach 6451 derselben Regel die das i vor dem Passiv-Suffix -ya- tilgt (s oben) Zweitens wird ein Wurzelvokal gekuumlrzt dem nur ein Konsonant folgt (741) Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste lehrt das Sūtra 745 daszlig das ā der Wurzel sthā- unter denselben Umstaumlnden dh wenn nur ein Konsonant folgt durch i ersetzt wird Diese Regel kann aber nur dann zur Anwendung kommen wenn die Wurzel die Erweiterung -p- enthaumllt da nur unter diesen Umstaumlnden dem ā der Wurzel noch ein Konsonant folgt (Siehe die Darstellung in [18])

15 Das heiszligt caṅ ohne die grammatischen Marker c und ṅ

Hans Henrich Hock76

[18] Wurzel Wurzel ohne p-Erweiterung mit p-Erweiterung (bhr) (sthā) Aorist Einsatzform16 bhāri-a- sthāpi-a-i-Tilgung bhār-a- sthāp-a-Reduplikation bi-bhār-a- ti-ṣṭhāp-a-Wurzelschwaumlchung bi-bhar-a- ti-ṣṭhip-a-Oberflaumlchenform17 a-bī-bhar-a-t a-ti-ṣṭhip-a-t

Wir koumlnnen daher folgern daszlig im Gegensatz zu westlichen Ansaumltzen Pāṇinis Grammatik eine elegante und system-konsequente Erklaumlrung fuumlr das Vorkommen der kausativen Wurzelerweiterung p im reduplizierten Aorist bietet und daszlig in dieser Beziehung die bdquoWurzeltheorierdquo produktiv ist

6 Zusammenfassung und ImplikationenWie wir gesehen haben liefert Pāṇinis bdquoWurzeltheorierdquo eine methodische Erklaumlrung des kausativen Aorists die traditionellen westlichen bdquoStammtheorierdquo-Ansaumltzen bisher nicht gelungen ist Gleichzeitig aber muszlig betont werden daszlig die Annahme von abgeleiteten bdquoWurzelnrdquo aus der Perspektive der westlichen grammatischen Tradition(en) aumluszligerst ungewoumlhn- lich ist Es fragt sich daher ob und wie weit sich die Einsichten von Pāṇinis Ansatz in einer bdquoStammtheorierdquo replizieren lassen Ich uumlberlasse etwaige Antworten auf diese Frage anderen Forschern und wende mich nur kurz einigen weiteren Implikationen zu

Erstens erhebt sich die Frage inwieweit sich Pāṇinis Ansatz veraumlndern lieszlige so daszlig zB die Aumlhnlichkeit zwischen dem -i- des ta-Partizips und dem -iay- des Kausativs nicht zufaumlllig sondern signifikant waumlre Da Pāṇinis Grammatik im wahrsten Sinne des Ausdrucks ein Gebilde ist in dem bdquotout se tientrdquo wuumlrde ein Versuch die Erklaumlrung des ta-Partizips zu aumlndern dazu fuumlhren daszlig die gesamte Struktur der Grammatik uumlberdacht und umgeaumlndert werden muumlszligte Ein solches Unterfangen waumlre fuumlr normale Sterbliche unerreichbar

16 Zur Vereinfachung der Darstellung wird hier angenommen daszlig gewisse andere Regeln (wie die Tilgung der grammatischen Marker) schon eingetreten sind17 Dritte Person mit Anwendung weiterer Regeln

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 77

Zweitens wirft Pāṇinis Ansatz die Frage auf inwieweit die weit verbreitete Ansicht aufrecht zu erhalten ist daszlig Primaumlr- und Sekundaumlrflexion sich grundlegend unterscheiden In dieser Hinsicht ist beachtenswert daszlig selbst Whitney sich in dieser Hinsicht nicht so ganz sicher war wie das Zitat in [19] erhellt

[19] bdquohellip Nor is there any distinct division-line to be drawn between tense-systems and derivative conjugations the latter are present-systems which have been expanded into conjugations by the addi-tion of other tenses and of participles infinitives and so on hellip rsquo (Whitney 1889 S 361)

Schlieszliglich hoffe ich daszlig meine Ausfuumlhrungen zu der Einsicht verhelfen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker unter allen Umstaumlnden beruumlcksichtigt und als fruumlhere Forschung betrachtet werden muumlssen genau so wie die Arbeiten von Forschern wie Whitney oder Stump In allen Faumlllen haben wir natuumlrlich nicht nur das Recht sondern die Aufgabe fruumlhere Ansichten kritisch zu betrachten und mdash hoffentlich mdash mit neuen besseren Loumlsungen aufzuwarten Aber eine Vernachlaumlssigung der indischen grammatischen Tradition sollte im Grunde genommen nicht mehr zu rechtfertigen sein

In diesem Zusammenhang waumlre es natuumlrlich fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der indischen grammatischen Tradition hilfreich wenn Werke wie Pāṇinis Grammatik digital in einem geeigneten Format zur Verfuumlgung stuumlnden Zwar gibt es schon mindestens zwei digitale Ver-sionen dieser Grammatik die uumlber GRETIL (Goumlttingen Register of Elec-tronic Texts in Indian Languages httpwwwsubuni-goettingende ebene _ 1fiindologretilhtm) abgerufen werden koumlnnen Wie aber schon angedeutet arbeitet Pāṇini mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen und noch abstrakteren grammatischen Markern die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Dazu kommt daszlig die verschiedenen Regeln (oder Sūtras) thematisch ein-geordnet sind und nicht in der Anordnung in der sie bei bestimmten Formen zur Anwendung kommen Selbst wenn wir die vielen in den obigen Ausfuumlhrungen nicht weiter besprochenen Regeln vernach- laumlssigen (wie zB die fuumlr bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo [s Fn 12]) ist es leicht ersichtlich daszlig die Regeln fuumlr die Bildung der verschiedenen Kausativ-formen weit uumlber Pāṇinis Grammatik verstreut sind So findet sich die Einfuumlhrung des Kausativ-Pratyayas in 3126 und die Definition der resultierenden Formation als Wurzel in 3132 Die Wurzelerweiterung

Hans Henrich Hock78

-p- wird durch 7336 eingefuumlhrt Das auf Wurzel samt Erweiterung folgende Praumlsenssuffix wird auf Grund von 3168 angefuumlgt das Aorist-Suffix nach 3148 die Formation des Perfekts nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Die Reduplikation des Aorists wird durch 6111 festgelegt und weitere Konsequenzen werden in 7493-94 und 741745 behandelt Das -i- der Kausativwurzel wird nach 6452 vor gewissen Suffixen getilgt Und so weiter

Selbst wenn Pāṇinis Grammatik mit guten Indices versehen ist wuumlrde es Nicht-Experten auf diesem Gebiet schwer fallen all diese verschiedenen Regeln ausfindig zu machen und auf die richtige Art und Weise fuumlr die Derivation zusammenzubringen Traditionell ausgebildete Experten vollziehen diese Aufgaben im Kopfe sie haben den ganzen Text nicht nur auswendig gelernt sondern ihn auf solche Weise gespeichert daszlig sie gezielte Suchen durchfuumlhren und die Resultate wiederum im Gedaumlchtnis zusammen- bringen koumlnnen Wie mein Freund und Kollege Madhav Deshpande (Uni-versity of Michigan) berichtet wird dies dadurch ermoumlglicht daszlig das Auswendiglernen der Grammatik in taumlglichen Portionen von je 20 Sūtras stattfindet und die dadurch entstehende Division des Texts in kleinere Subdomaumlnen zur Suche verwendet werden kann Wenn man zB nach einem gewissen Sūtra in sagen wir Buch 3 Kapitel 2 sucht (welches 188 Sūtras enthaumllt) und weiszlig daszlig dieses ungefaumlhr im dritten Viertel zu finden waumlre braucht man nicht muumlhselig die Sūtras vom Anfang des Kapitels durchzusuchen sondern kann sofort auf die Zwanziger-Gruppe in der Naumlhe von Sūtra 140 peilen und diese durchsuchen Falls diese Suche nicht das Richtige erreichte peilt man die unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Zwanziger-Gruppen an Auf diese Weise bei der man die im Gedaumlchtnis gespeicherte Information wie eine Computerdatei behandelt kommt man schnell zum Erfolg

Fuumlr die von uns die einem solchen Auswendiglernen und einer solchen Text- manipulierung nicht gewachsen sind bestuumlnde die beste Annaumlherung an die traditionelle Arbeitsweise in einer relationalen Datei die bei jedem Sūtra Links zu den verschiedenen anderen Regeln bietet die bei der Ableitung anzubringen sind Soweit mir bekannt ist hat der amerikanische For-scher George Cardona 1990-1994 mit seinem damaligen Studenten Peter M Scharf an einem Projekt mit diesem Ziel gearbeitet und der letztere hat als Nachfolgeprojekt eine relationale Datei herausgebracht (Scharf 2001) die uumlber httpsanskritlibraryorg abgerufen werden kann Eine Antwort auf die Frage wie weit diese Datei fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 79

indischen grammatischen Tradition hilfreich sein kann steht meines Wis-sens noch aus

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Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Keeping with the Chinese linguistic tradition Chinese writing characters are categorized into six groups by their composition or their development Whereas picto grams and ideograms contribute merely to a small portion of the entire character inventory ideophonograms comprise the substantially large majority of Chinese characters The change in character constitution should shed light on how the Chinese characters pursuing the principle of writing economy have been evolving into a morphosyllabic writing system which bears to a cer-tain extent on the morphosyntactic features of the Chinese language Further-more the gradual remodelling of character forms also exerts influences on the characteristics of Chinese characters The present paper notably outlines the gra pho (no)tactics of character constituents as well as the phonetic connections be tween ideophonograms and their phonetic constituents

0 EinleitungZiel des vorliegenden Aufsatzes ist es einen Uumlberblick uumlber die wichtigsten Zuuml ge der chinesischen Schrift aus dem Blickwinkel der Zeichenbildungs-Mor phologie und -Morphotaktik zu geben Sein Wert duumlrfte weniger in neu en Erkenntnissen bezuumlglich Einzelfragen liegen sondern eher darin dass versucht ist die herkoumlmmliche chinesische Auf fassung von dem Gegen stand aus zeichenmorphologischer Sicht zu vermitteln und dabei gleich zeitig eine feingliedrige Terminologie zu bieten Grundsaumltzlich ist an gestrebt einen moumlglichst repraumlsentativen Querschnitt darzustellen durch den das Wesenhafte im Vordergrund Stehende gut herauskommt

周禮八歲入小學保氏教國子先以六書一曰指事指事者視而可識察而見意上下是也二曰象形象形者畫成其物隨體詰詘日月是也三曰形聲形聲者以事為名取譬相成江河是也四曰會意會意比類合誼以見指撝武信是也五曰轉注轉注者建類一首同意相受考老是也六曰假借假借者本無其事依聲託事令長是也

Dieses Zitat ist ein Auszug aus dem Vorwort zum ersten chinesischen Woumlrterbuch herausgegeben vom Gelehrten Shen Xu im Jahre 100 n Chr Mit diesen Worten erklaumlrt er wie chinesische Schriftzeichen nach ihrer Kom positions methode in sechs Kategorien eingestuft werden sollen

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder82

Im chinesischen Text stellt die eigenstaumlndige SchreibDruck- und Wahr neh-mungs einheit ein Quadrat dar Unabhaumlngig von Anzahl und Anordnung der das Einzelschriftzeichen bildenden Bestandteile und Strichzuumlge wird grund saumltzlich angestrebt bei jedem Einzelschriftzeichen die Form eines an naumlherungs weise quadratischen Rechtecks einzuhalten Dieses Feld nun ist nicht immer voll und gleichmaumlszligig mit Schrift-Elementen ausgefuumlllt doch der Platz bleibt an unbeschriebenen Stellen leer sodass man sich ein un sicht bares Quadratfeld um das Geschriebene herum zu mindest denken kann Beispielsweise ist das Feld des Quadratzeichens 冊 cegrave Band (eines Buches) weitgehend ausgefuumlllt Spaumlrlicher hingegen ist zB die Ausfuumlllung des Zeichenfeldes der Quadratzeichen 一 yī eins und 止 zhǐ bis Ein Quadratzeichen entspricht im gesprochenen Chinesischen der Sprech-sprache also genau einer Silbe Chinesische bdquoWoumlrterldquo (zu bdquoWortldquo siehe weiter unten) bestehen heutzutage haumlufig aus mehreren Silben und werden dann mit einer der Silbenzahl entsprechenden Anzahl Quadratzeichen geschrieben

Die Wurzel morph (gewonnen aus griechisch μορφή bdquoGestaltldquo) ist in der sprach wissenschaftlichen Terminologie von der bdquoGestaltldquo an sich abstrahiert und auf einen gewissen Aspekt der Wort-bdquoGestaltldquo von Sprache uumlbertragen wor den namentlich auf den Bereich von Stamm- und Formenbildung Dar-auf hat man mit der Zeit eine terminologische Sippe aufgebaut Morphem Mor pho logie Morphotaktik usw Diese terminologische Sippe wenden wir im vorliegenden Aufsatz nun wieder auf eine konkrete bdquoGestaltldquo an und zwar auf die Bestandteile der chinesischen Quadratzeichen Im Ge gen satz zu Alphabetsprachen in denen die (ein Morphem bildenden) Buch staben-ketten weitgehend nur eins zu eins den Lautwert abbilden (ein Morphem ent spricht ausdrucksseitig also einer Buchstaben=Laut-Kette) sind die chi ne sischen Strichzugkomplexe wenn sie auch rein schriftgestalterisch ab strakt wirken viel bildlicher und stellen in sich aufteilbare bdquoGestaltldquo-Groumlszligen dar - viel mehr als Buchstaben(ketten) es tun Diese graphischen Kom plexe aus denen chinesische Quadratzeichen aufgebaut sind sind es die wir in diesem Beitrag als unsere bdquoMorphemeldquo ansehen Zur Unterscheidung von sprachlichen bdquoMorphemenldquo im herkoumlmmlichen Sinne nennen wir sie Zeichen morpheme

Ein Zeichenmorphem kann frei oder gebunden sein Ein freies Zeichen-morphem erscheint als eigenstaumlndiges Quadratzeichen das (zumindest) einen festgelegten Lautwert hat Dementgegen dient ein gebundenes Zei-chen morphem ausschlieszliglich als Bestandteil zum Komponieren von Qua-drat zeichen fuumlr ein Zeichenmorphem das heute nur gebunden und nie mals (mehr) frei als Quadratzeichen vorkommt wird im Woumlrterbuch um es sprech-

83Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

sprach lich benennen zu koumlnnen ein behelfsmaumlszligiges Lautbild angegeben das aber ggf von Woumlrterbuch zu Woumlrterbuch variiert Ein Quadratzeichen birgt ein oder mehrere Zeichenmorpheme Ein Zeichenmorphem das einen Kom plex bildet kann immer wieder als Komplex in eine houmlherrangige Qua drat zeichen-Komposition eingebaut werden und zaumlhlt darin als ein ein ziger Bestandteil

Allomorphe sind gemeinhin ausdruckssprachliche Auspraumlgungen eines Morphems In der chinesischen Schrift finden wir auch wenn wir Duktus-Erschei nungen (wie relative Strichdicke oder Zierabschluumlsse an den Strich-Enden) ver nachlaumlssigen und uns auf die Skelettform eines Quadratzeichens (also die allernoumltigsten Strichzuumlge welche die typische Form eines Morphems erken nen lassen) beschraumlnken drei voneinander abgrenzbare Gruppen von Allomorphen eines Zeichenmorphems vor

Ein Vollallomorph ist die unverschlankte Auspraumlgung eines Zeichen-mor phems Bei einem freien Zeichenmorphem tritt sein Vollallomorph in der Regel in Form eines eigenstaumlndigen Quadratzeichens auf zB bei 火 huǒ Feuer In der Komposition mit anderen Zeichenmorphemen bil den Vollallomorphe zwei Arten von Tochter-Allomorphen aus naumlmlich Schrumpf allomorphe und Allomorphkuumlrzel

Schrumpfallomorphe Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Schrumpfallomorph ist die entweder lediglich in der Laumln ge gestauchte oder nur in der Breite gestauchte oder aber ver haumllt nis gerecht ver kleinerte Auspraumlgung eines Vollallo morphs Die Groumlszligen veraumlnde rungen wer den vorgenommen damit das Zeichen morphem zusaumltzlich zu einem oder mehreren ande ren Zeichen morphemen im Quadratfeld Platz finde Vom Voll allomorph 火 huǒ Feu er etwa gibt es ein waagerecht gestauch tes Schrumpfallomorph wel ches im Quadratzeichen 燒 shāo brenn- auf der lin ken Seite unter ge bracht ist Die Form eines Schrumpfallomorphs weicht selten von der seines Voll allomorphs ab houmlchstens wird ein Strich der zB im Vollallomorph waage recht ist im Schrumpfallomorph leicht gekippt Des weiteren be schraumlnkt sich ein Schrumpfallomorph meistens nicht auf eine feste Stel lung in Quadratzeichen das heiszligt es kann an mehreren Posi-tionen im Qua dratfeld auftreten und ist damit mehr-Stellungs-faumlhig

Allomorphkuumlrzel Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Allomorphkuumlrzel stellt eine Auspraumlgung mit veraumlnderter Skelett form dar die aus einem Vollallomorph vereinfacht ist um im Zeichen morpho-tagma eines Quadratzeichens leichter Platz zu finden und besser ver bindbar zu sein So wird zB das aus dem Vollallomorph 火 huǒ Feu er auf vier

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder84

hintereinander folgende kleine Striche zusammengestutzte Allo morph-kuumlrzel unten in das Quadratzeichen 焦 jiāo verbrannt eingebaut Die Form eines Allomorphkuumlrzels weicht immer vom Vollallomorph ab die Gestalt vereinfachung darf nicht nur aus einer (ggf unproportionalen) Ver-kleine rung bestehen sondern mindestens ein Strich im Vollallomorph muss merklich anders gestaltet sein (etwa erscheint er schraumlg statt zuvor waagerecht oder aber er wird ganz weggelassen) Nicht zuletzt erscheint das Allomorphkuumlrzel eines Zeichenmorphems in der Regel immer an ein und derselben Position innerhalb des Schreibquadrates ist damit stellungsstarr

Bei nur-gebunden vorkommenden Zeichenmorphemen ist es nicht sinnvoll zwischen den einzelnen Allomorphgattungen zu unterscheiden

Bestimmte Zeichenmorpheme stufen wir als Grundmorpheme ein Ein Grund morphem ist synchron betrachtet die kleinste Einheit bei der Qua-drat zeichenbildung der im zeichenmorphotaktischen Zusammenhang eine Geltung zugemessen werden kann Ein Grundmorphem laumlsst sich mit hin nicht in kleinere zeichenmorphemische Elemente zerlegen ohne dass es seinen Status verloumlre Aufgebaut ist der Strichzugkomplex des Grund mor-phems aus einem oder einigen (wenigen) Strichen allerdings ist nicht jeder be liebige Strich als Grundmorphem zu werten Im Rahmen der vor liegenden Ana lyse stellt ein (nicht als Grundmorphem zu wertender) Strich (zug) einen Schrift zug dar den wir nicht hinsichtlich seiner Geltung als Grundmorphem defi nieren eine unklassifizierte Verbindung aus Strichzuumlgen nennen wir ent-spre chend Strich(zug)komplex Ein Zeichenmorphem als Bestandteil von Quadratzeichen kann aus einem oder mehreren Grundmorphemen be stehen

Zu beachten sind Abweichungen von Quadratzeichenformen in manchen Rech ner schriften Zum Beispiel birgt das Quadratzeichen 臭 chograveu stin-kend zwei Bestandteile einen oberen und einen unteren Der untere Be stand teil soll ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems 犬 quǎn Hund sein Allerdings fehlt der rechts oben vorhandene Strich die ses Zeichenmorphembestandteils auf faumllligerweise in manchen typo gra-phi schen Auspraumlgungen des Quadratzeichens 臭 chograveu stinkend Damit unter scheidet sich dieser untere Bestandteil nicht mehr vom Schrumpf allo-morph des Quadratzeichens 大 dagrave groszlig Zeichenmorphemisch hat solch eine Abweichung indes nichts zu besagenEine Kultursprache lebt von der Ungebrochenheit ihrer Uumlberlieferung ndash auch ihrer schriftlichen Fixierung Saumlmtliche Quadratzeichen die wir im Text dieses Aufsatzes behandeln weisen die Form der sog bdquoLangzeichenldquo auf Sog bdquoKurzzeichenldquo wie sie ab dem Jahre 1956 bei der amtlichen Schrift-

85Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichenreform in China entstanden sind bzw festgelegt wurden werden im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht beruumlcksichtigt Die hier zur Ver anschaulichung verwendeten Quadratzeichen-Formen sind dem-nach allesamt unvereinfachte Langzeichen Der sprachwissenschaftliche Grund fuumlr diese Handhabung ist folgender Viele zeichenetymologische Zu sammen haumlnge sind in Kurzzeichen verunklaumlrt worden In einer Ab hand-lung wie der vorliegenden welche sich auch mit der geschichtlichen Ent-wick lung von Zeichen und ihrer Morphologie befasst ist es tunlicher ein ein deutigeres System in welchem mehr nuumltzliche Unterscheidungen be wahrt sind als Grundlage zu verwenden

Aus chinesischer Sicht ist ein bdquoWortldquo ein Lautbild (eine Silbe oder ein seman-tisch stark lexikalisiertes Silbensyntagma) welchem als kleinster selbstaumln di-ger Sprach einheit inhaltsseitig ein semantischer oder grammatischer Be griff fest zugeordnet ist Im Unterschied zu synthetischeren Sprachen hat das Chine sische allenfalls Ansaumltze zur Affigierung Beispielsweise fungiert die zwei te Silbe toacuteu Kopf des bdquoWortesldquo shiacute + tou Stein als Suffix zu dem eigen staumlndigen bdquoWortldquo shiacute Stein wobei die Suffixsilbe oft mit Neben ton statt mit dem Hauptton (zu den Toumlnen siehe unten) ausgesprochen wird

Das was der deutschen Wortbildung durch Ableitung und Komposition ent spricht erscheint im Chinesischen weitgehend in die Syntax aus gela gert (bdquoSyn tax-Woumlrterldquo) und kann somit eher mit deutschen Syntagmen ver gli-chen werden Beispiel Obwohl das bdquoWortldquo (die Silbe) 男 naacuten eigen staumln-dig fuumlr Mann stehen kann wird es gewoumlhnlich mit einem zu saumltzlichen bdquoKom positions gliedldquo 人 reacuten Mensch versehen das dergestalt zu sam men-gesetzte bdquoWortldquo (Silbensyntagma) 男人 bedeutet ebenfalls nur Mann wird in vielen Faumlllen aber als deutlicher und passender empfunden Die se Er schei-nung ist im Chinesischen uumlberaus haumlufig In viel ge ringe rem Um fange machen von solchen Ver deutlichungs verfahren auch Spra chen mit aus-gepraumlgter Wort bildung Gebrauch islaumlnd karl maethur (woumlrt lich bdquoMann-Menschldquo d i bdquoMannldquo) neben einfach karl bdquoMannldquo aleinn ne ben einn (bei de bdquoalleinldquo) nord dt Bauch nabel statt Nabel suumlddt Ge baumlud lich keit neben Gebaumlude dt Schwieger mutter statt einfach Schwie ger so dann neben dann got thornata bdquodasldquo ver deutlicht aus thornat mit tels deik tischer Par tikel -a nord bair daringodǝ (woumlrt lich bdquoda-daldquo d i bdquodaldquo) ne ben ein fach daringo bdquodaldquo Fer-ner gibt es im Chine sischen reine Funk tions woumlrter die keine lexi ka lische Bedeu tung tragen und nur gram ma ti sche Aufgaben er fuumlllen Ein gutes Bei spiel hierfuumlr ist die nur-neben to ni ge Fragepartikel 嗎 ma Wenn diese Par tikel am Ende eines Indi ka tiv satzes steht macht sie aus ihm eine Janein-Entscheidungsfra ge

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder86

Als Laut-Umschrift der Schriftzeichen wird im vorliegenden Aufsatz Pin-yin (auch Hanyu-Pinyin genannt) anstatt des IPA (International Pho netic Alpha bet d i das Weltlautschrift-Alphabet der Association pho neacute tique inter nationale) benutzt Das Pinyin-System ist eine amtliche Um setzung der Mandarin-Aussprache in Lateinschrift Obschon Pinyin die Zeichen-phonetik nicht ganz getreu wiedergibt verweist es gewissermaszligen auf die laut lichen Aumlhnlichkeiten Im Pinyin-System werden die vier chinesischen Haupt toumlne folgender maszligen bezeichnet (hier am Beispiel des Vokals a) ā Hochton aacute Steigton ǎ Tiefton agrave Fallton der Nebenton bleibt tran -skrip torisch unmarkiert a

Bei der Behandlung der chinesischen Schrift haben wir es immer auch mit Jahr tausenden schriftlicher Uumlberlieferung zu tun geschriebenes Chine-sisch hat ein starkes Eigenleben entwickelt teilweise losgekoppelt vom ge sprochenen Die Systeme von Sprech- und Schrift-Chinesisch und ihre Inter aktion sind geschichtlich gewachsen sie sind wie alles Mensch-liche unter schiedlich konsistent und damit synchron auch unter schied-lich durch sichtig Beispielsweise lassen sich ehemals eher ab bildungs haft ge meinte Aussagen nur grobmaschig klassifizieren wenn wir ein in duk tiv er worbenes theoretisches Raster uumlber den Ist-Zustand legen wir koumlnnen dann nur versuchen die Zahl der bdquoAusreiszligerldquo niedrig und damit die Ein schlaumlgigkeit der Regeln hoch zu halten Wo unsere Betrachtung die hi storische Tiefe behandelt verwenden wir bei Bedarf folgende Sym bole um zu kennzeichnen ob und wie eine bestimmte Groumlszlige in der heu tigen Spra che verwendet wird das Symbol Dagger bezieht sich auf eine Groumlszlige die heute auszliger Gebrauch ist und dagger auf eine welche heute veraltet ist Die Sym bole stehen hochgestellt unmittelbar vor der Groumlszlige auf die sie sich be ziehen

Im Abschnitt uumlber die Zeichenkategorisierung wird der Anteil einer Qua-dratzeichen-Kategorie am Gesamtinventar der Quadratzeichen durch Prozentzahlen angegeben Wuumlrde man die Anteile nach der Vorkommens-haumlufigkeit in Texten rechnen (das heiszligt bei 100 gedruckten Zeichen entfallen soundsoviel Prozent auf diese Kategorie) so saumlhen die Zahlen anders aus

Im Folgenden wird der Aufbau chinesischer Schriftzeichen vorgestellt und zwar ausgehend von den in China traditionell geltenden sechs Kategorien (Ab schnitt 1) Waumlhrend Piktogramme und Ideogramme lediglich einen klei nen Teil des gesamten Quadratzeichen-Inventars ausmachen stellen Ideo phono gramme die groszlige Mehrheit Ideophonogramme verkoumlrpern die we sent lichen zeichenmorphologischen Merkmale chinesischer Quadrat-zei chen aus diesem Grunde betrachten wir ihre Besonderheiten etwa die Laut-Bestandteil-Entsprechung ausfuumlhrlicher (Abschnitt 4) Der Wandel

87Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

der Quadratzeichenbildung (Abschnitt 2) soll einen Einblick vermitteln wie sich die chinesische Schrift im Laufe der Zeit nach dem Prinzip der Schrift-oumlko nomie immer mehr zu einem morphosyllabischen System entwickelt das wiederum mit den morphosyntaktischen Merkmalen der chinesischen Spra che in Wechselwirkung steht Die allmaumlhliche Wandelung der Zeichen-formen uumlbt ebenfalls Einfluss auf die Charakteristika chinesischer Schrift-zeichen aus (Abschnitt 3) Schlieszliglich streifen wir noch die Kombinatorik von Zeichenmorphemen in Quadratzeichen (Abschnitt 5) die Mehr-Zeichen-Komposita sowie einige Eigenschaften des morphologischen Auf-baus chinesischer Texte (Abschnitt 6)

1 Die traditionellen Kategorien In der chinesischen Uumlberlieferung werden die Schriftzeichen nach den Qua drat zeichen-Bildungsarten in folgende sechs Kategorien eingeteilt (in Klam mern stehen Bezeichnungsalternativen)

(1) 象形 = Piktogramme (Bildzeichen)

(2) 指事 = Einfache Ideogramme (Hinweis-Zeichen Indikatoren)

(3) 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

(4) 形聲 = Ideophonogramme (pikto-phonetische Zeichen Determinativ-Lautelement-Zeichen Form-Laut-Zeichen)

(5) 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen (Ableitungszeichen synonyme Zeichen Wandelzeichen)

(6) 假借 = Lautentlehnungszeichen (Leihzeichen Homonyme)

Unsicherheit herrscht bei den Sprachforschern daruumlber ob die Kategorie bdquoana logisch derivierte Quadratzeichenldquo uumlberhaupt bestehe In der folgenden nauml heren Schilderung der traditionellen Kategorien sei sie daher uumlbergangen

11 象形 = Piktogramme

Piktogramme stammen aus urtuumlmlich-einfachen Schriftzeichen die da durch zu stande gekommen sind dass man die aumluszligere Form von in der Wirk lich-keit vor handenen Objekten nachbildete Piktogramme bestehen aus nur ei nem einzigen Grundmorphem und gehoumlren zu der aumlltesten Schicht der (Qua drat-)Zeichen Ihr Anteil an allen Quadratzeichen macht zwischen 2 und 4 aus

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder88

(7) 日 rigrave Sonne urspruumlnglich ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte ndash als Abbild der Sonne

(8) 月 yuegrave Mond urspruumlnglich Abbild eines Halbmondes

(9) 耳 ěr Ohr urspruumlnglich ohraumlhnlich gezeichnet

An den angefuumlhrten Beispielen wird schon deutlich dass diese Piktogramme heut zutage als bdquonaturalistischeldquo Bilder keinen groszligen Aussagewert mehr be sitzen im Piktogramm (7) 日 rigrave Sonne zB laumlsst sich auch bei gutem Wil len keine abgebildete Sonne mehr erkennen Die urspruumlnglichen (Vor gaumlnger-)Formen solcher Quadratzeichen hatten hingegen diesen Er kennungs wert haumlufig noch er ist im Laufe der Zeit durch die verschiedenen Standardisierungen der Zeichenschreibung verunklaumlrt worden

12 指事 = Einfache Ideogramme

Mit einfachen Ideogrammen sind solche Quadratzeichen gemeint die nicht leicht zu malende Dinge oder Sachverhalte symbolisieren Ihr Anteil am Qua drat zeichen-Inventar belaumluft sich auf 05 bis 1

(10) 上 shagraveng oben Urspruumlnglich war dieses Ideogramm recht durch-sichtig aus zwei waagerechten Strichen gestaltet wobei der untere Strich die Bezugsgrundlage bildet und der obere kuumlrzere aumlhnlich einem Zeige pfeil den Hinweis gibt worauf es ankommt auf bdquoobenldquo naumlm lich Der senkrechte Strich ist spaumlter hinzugefuumlgt worden

(11) 下 xiagrave unten nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie (10) Hier ist der Hinweisstrich nur etwas gekippt

(12) 本 běn Wurzel nimmt als Bezugsgrundlage das Allomorph des vor handenen Piktogramms 木 mugrave das urspruumlnglich einen DaggerBaum ab bil dete und heute fuumlr Holz steht Der kleine horizontale Strich unten weist auf diejenige Stelle des Baums hin an welcher sich die Wurzel befindet

(13) 末 mograve Ende urspruumlnglich ein Abbild fuumlr DaggerWipfel Dieses einfache Ideo gramm wurde nach dem gleichen Prinzip gebildet wie das einfache Ideo gramm (12) 本 běn Wurzel nur dass der Hinweisstrich oben steht wo der Baum zu Ende ist

Die einfachen Ideogramme bestanden urspruumlnglich aus zwei Bestand teilen der Bezugsgrundlage und dem Hinweis Waumlhrend der Bezugs grundlage-Bestand teil ein vorhandenes Zeichenmorphem warist bestandbesteht der Hinweis-Bestandteil meist aus einem kleinen Strich der nur gebunden vor-

89Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

kommt Bei manchen einfachen Ideogrammen wie (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave unten sind die zwei Bestandteile (zum Teil durch Umge-stal tung) dermaszligen zu einer Einheit zusammengeschmolzen dass das ganze Quadratzeichen heute eher als ein unauftrennbares Grund mor phem wahr genommen wird Unterstuumltzt wird diese Wahrnehmung dadurch dass wenn man aus den Quadratzeichen (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave un ten den Hinweisstrich tilgt und nur den uumlbrigbleibenden Strich zug-komplex betrachtet dieser heutzutage anderweitig nicht mehr als Zei chen-morphem vorkommt ndash weder frei noch gebunden die ehemalige Ab trenn-moumlglich keit ist synchron mithin verdunkelt

Demgegenuumlber ist der Bezugsgrundlage-Bestandteil bei anderen einfachen Ideo grammen leichter als abtrennbar zu erkennen weil er auch in der Gegen-wart immer noch anderweitig als eigenes Zeichenmorphem er scheint Bei-spiels weise wird der Bezugsgrundlage-Bestandteil in (12) 本 běn Wurzel und (13) 末 mograve Ende naumlmlich das Allomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum auch im gegenwaumlrtigen Gebrauch als freies Zeichen morphem fuumlr Holz verwendet So kann der Kenner des Systems auch synchron der lei einfache Ideogramme in zwei Zeichenmorpheme zer legen den Bezugs-grund lage-Bestandteil (ein frei vorkommendes Zeichen morphem 木 mugrave DaggerBaum in Form seines gebundenen Allomorphs) und den Hinweis-Be-stand teil (den Hinweisstrich als ein nur-gebundenes Grund morphem)

13 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

Durch (gestalterisch aufeinander abgestimmte) Zusammenfuumlgung zweier oder mehrerer bereits vorhandener Zeichenmorpheme zu einem neuen Qua drat zeichen wird ein Ideogramm mit neuer Bedeutung erzeugt Die zu sammen gesetzten Ideogramme bestehen also saumlmtlich aus mehr als nur einem Grundmorphem Jedes Zeichenmorphem als Bestandteil hat seine ei gene Bedeutung (oder hatte sie zumindest zum Zeitpunkt der Zeichen bil-dung) der neue Sinn der sich durch ihre Verbindung ergibt steht in einem Zu sammen hang mit diesen Einzelbedeutungen Bildeweise und Herleitung sind fuumlr heutige Chinesen allerdings nur noch bedingt durchsichtig

In Sprachen mit ausgepraumlgter Wortbildung koumlnnte man diese Zei chen art mit den Wortbilde-Verfahren Komposition oder ggf Ableitung ver glei chen es las sen sich auch bei den Bezuumlgen der Einzelglieder unter ein an der ver-gleich bare Ein teilungen vornehmen Iterativkomposita Deter mi na tiv kom-posita usw Die Angaben zum Anteil zusammengesetzter Ideo gram me am Qua drat zeichen-Gesamtbestand schwanken zwischen 3 und 12

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder90

(14) 牧 mugrave Hirte zeigt links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 牛 niuacute Rind und rechts das Schrumpfallomorph des nur gebunden vor kom menden Grundmorphems 攵 pū Hand mit Stock dh bdquoein Mensch der Rinder beaufsichtigtldquo

(15) 信 xigraven glaub- weist links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 人 reacuten Mensch auf und rechts das Schrumpfallomorph des Ideophonogramms 言 yaacuten Wort dh bdquoein Mensch der sein Wort haumlltldquo

Mit der Bildeweise von (14) und (15) vergleichen lassen sich im Deutschen Kompositionen wie Stein+bruch oder Riesen+schlange im Franzoumlsischen cure-dents (woumlrt lich bdquoPutz-[die]-Zaumlhneldquo d i bdquoZahnstocherldquo) aller dings sind im Deutschen und Franzoumlsischen die Bestandteile viel staumlrker hinsichtlich des Phaumlnomens bdquoWort artldquo ausgerichtet als im Chinesischen

(16) 武 wǔ Militaumlr besteht unten links aus einem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 止 zhǐ das urspruumlnglich fuumlr DaggerFuszligabdruck stand und heute fuumlr aufhoumlr- steht und rechts aus einem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 戈 gē Hellebarde dh bdquoein durch einen Fuszligabdruck sym bolisierter Soldat der mit einer Waffe dastehtldquo

In der Bildlichkeit vergleichbar mit (16) waumlren im Deutschen etwa Bildun-gen wie Waffen+bruder oder Feuer+wehr Bei einer spaumlteren Normierung der Qua drat zeichenform des zusammengesetzten Ideogramms 武 wǔ Mili taumlr wur de der untere von rechts oben nach links unten gezogene Di agonal strich des vom Piktogramm 戈 gē Hellebarde abgeleiteten Al lo morph kuumlr zels aus gekoppelt und als kuumlrzerer waagerechter Strich an die obere lin ke Ecke des Ideogramms 武 wǔ Militaumlr uumlber geschrumpftes 止 zhǐ auf houmlr- ge stellt Dies ist eine Form der Ligaturbildung wie sie auch in Al pha bet schrif ten vorkommt etwa in Lateinschrift ltAgt + ltEgt zu ltAEliggt in Suumltterlin lt $ gt bdquocldquo + lt h gt bdquohldquo zu lt c gt bdquochldquo oder in Devanāgarī ltकgt bdquoka ldquo + ltषgt bdquoṣa ldquo zu ltकषgt bdquokṣa ldquo Sol che gestalterische Aufeinander-Abstimmung ist in der Sprech spra che den Similations-Erscheinungen (AssimilationDissimi la tion) vergleich bar(17) 休 xiū ausruh- enthaumllt links das Allomorphkuumlrzel des Pikto-

gramms 人 reacuten Mensch und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum dh bdquojemand der an einen Baum ge lehnt sitzt und rastetldquo

(18) 林 liacuten Wald ist durch Iterativkomposition entstanden Das Schrumpfallomorph des Piktogramms 木 mugrave Holz das urspruumlnglich fuumlr DaggerBaum stand wird ikonisch gedoppelt

91Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Nach demselben Prinzip wie in (18) ist das zusammengesetzte Ideogramm 森 sēn Urwald entweder durch ikonische Verdreifachung gebildet oder aber durch Komposition aus dem Schrumpfallomorph des schon verdop-pelten Zei chen morphems 林 liacuten Wald mit dem Schrumpfallomorph des ein fachen Piktogramms 木 mugrave DaggerBaum Im Deutschen lassen sich Iterativkomposita wie wort+woumlrt+(lich) vor+vor+(gestern) oder Sing+sang vergleichen vom Begriffsinhalt her auch eine Bildung wie kohl+pech+raben+schwarz in welcher alle Glieder gleicher maszligen fuumlr den Inhalt dunkel stehen ohne indes etymologisch mit einander verwandt zu sein

14 形聲 = Ideophonogramme

In den bisherigen drei Kategorien traumlgt der Gesamtkomplex jedes Quadrat-zei chens zugleich Lautung und Sinn Man muss also die Lau tung des Qua-drat zeichens als solche einmal ganz neu lernen durch keinen Be stand teil er haumllt man einen Hinweis auf sie Piktogramme und einfache Ideo gramme sind Mono morphe zusammengesetzte Ideo gram me sind Di- oder ggf Poly-morphe die in bezug auf ihre Zeichen morpheme homo gen sind Die Sache ver haumllt sich aumlhnlich wie in Alphabet schriften in denen oft Bestand teile mit vergleich barer inhaltlicher Geltung zu Di- bzw Poly gra phen zusam-men gestellt werden die als Gesamtheit dann eine aumlhn lich ge artete neue Geltung bekommen So ist zB der einen einzigen Laut be zeich nende rus-sische Digraph ltльgt [ʎ] als Ein heit zu verstehen und um fasst zwei gleicher-maszligen auf die Laut ebene abzie lende Bestand teile naumlm lich ltлgt [l] und ltьgt (Pala talitaumlts anzeiger) der artige Komplexe nei gen be son ders zu graphi scher Ligierung ltлgt + ltьgt zu ser bisch ltљgt

Diese Homo genitaumlt der Bestandteile wird verlassen wenn sich die zu Di- oder Poly gra phen bzw -morphen zusammengestellten Ele men te nicht mehr auf die selbe Ebene beziehen sondern auf unterschiedlich gear tete Ebe nen ab zie len so bewegen sich in alphabetischer Schreibung Zeichen wie ltgt ltsectgt oder lt5gt jenseits der Lautebene und dienen als Ideogramme fuumlr ihren Be griff Und in der chinesischen Schrift ist es so dass dimorphe Qua drat-zeichen aus heterogenen Zeichenmorphemen deren eines auf die Laut ebene deren an deres auf die Begriffsebene abzielt die Regel bilden Es handelt sich um die sog Ideophonogramme Diese beinhalten wie der Name schon sagt ein Zeichen morphem das auf die Lautung des Quadratzeichens ver weist (Laut traumlger) neben einem das auf den Begriff verweist (Sinntraumlger)

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(19) 吐 tǔ ausspuck- birgt links das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 土 tǔ Erdreich als Lauttraumlger

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des Ideo phono gramms 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach als Laut traumlger

Man sieht hier an beiden Zeichenmorphemen die als Kompositions glie der des Ideophonogramms (20) dienen dass bei dieser Quadratzeichen bil dung wieder um anderweitig und mit anderer Geltung (Lautentlehnungs zei-chen) ent standene Komplexe mit neuer Aufgabe als Zeichenmorpheme in ein neu zusam men gesetztes Quadratzeichen eingegliedert werden koumln nen auch ein be reits bestehendes Ideophonogramm kann von seiner Gel tung als Ideo phono gramm freigestellt und als sinntragender (oder in anderen Faumll-len als laut tragender) Komplex in ein neues Ideophonogramm eingebaut werden

(21) 照 zhagraveo schein- zeigt unten das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 火 huǒ Feuer als Sinntraumlger und oben das Schrumpfallomorph des be reits bestehenden Ideophonogramms 昭 zhāo offenkundig als Laut traumlger

Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist ein Ideophonogramm zeichen-morpho taktisch analysiert bei Aufteilung ersten Ranges zunaumlchst aller-mei stens in zwei erstrangige Zeichenmorpheme zu zerlegen einen Sinn- und einen Lauttraumlger Das sinntragende Zeichenmorphem gibt einen vagen Hin weis auf die Bedeutung und das lauttragende Zeichenmorphem auf die Lautung des Quadratzeichens Des oumlfteren dient ein Zeichenmorphem als Sinn traumlger in mehreren Ideophonogrammen deren jeweilige Gesamt be deu-tung mit der Bedeutung des als freies Quadratzeichen vorkommenden Sinn-traumlgers zusammenhaumlngt man koumlnnte hier von bdquoBegriffssippeldquo sprechen Beispiels weise ist das Piktogramm 手 shǒu Hand ein Zeichenmorphem welches in etlichen Ideophonogrammen die fuumlr Handbewegungsarten stehen als Kompositionsglied dient und dort den Sinntraumlger darstellt

Alle Zeichenmorpheme koumlnnten theoretisch als Lauttraumlger eines Ideo-phono gramms fungieren Beim Ideophonogramm (19) 吐 tǔ ausspuck- ist der Lauttraumlger naumlmlich 土 tǔ Erdreich ein Piktogramm das ei nen Erdklumpen auf dem Felde abbildete Wie erwaumlhnt laumlsst sich auch ein Ideophonogramm als Lauttraumlger in einem anderen komple xe-ren Ideophonogramm einsetzen Beim Ideophonogramm (21) 照 zhagraveo

93Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

schein- ist der Lauttraumlger naumlmlich das freie Zeichenmorphem 昭 zhāo offen kundig schon an sich ein Ideophonogramm Das Ideophono gramm 昭 zhāo offenkundig besteht links aus dem Schrumpfallo morph des Piktogramms 日 rigrave Sonne als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf-allomorph eines Ideophonogramms 召 zhagraveo be or der- als Laut traumlger Das Ideophonogramm 召 zhagraveo beorder- weist unten das Schrumpf allo morph des Piktogramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und oben das Schrumpf-allomorph des Piktogramms 刀 dāo Messer als Lauttraumlger auf

Betrachtet man ein und dasselbe Zeichenmorphem in mehreren Ideo phono-grammen in denen es als Lauttraumlger vorkommt so erweist sich der Lau-tungs hinweis haumlufig als recht unzuverlaumlssig (siehe weiter unten) Alle Lau-tungen fuumlr die ein Lauttraumlger stehen kann koumlnnte man als dessen bdquoLau-tungs sippeldquo oder bdquoLautungsbuumlndelldquo bezeichnen Die Ideophonogramm-Bil dung ist mit 80 bis 90 die mit Abstand haumlufigste Quadratzeichen-Bilde weise

15 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen

Diese umstrittene Gruppe wird wie eingangs erwaumlhnt hier uumlbergangen

16 假借 = Lautentlehnungszeichen

Anteil an allen Quadratzeichen ca 36 Die chinesische Schrift befand sich jetzt in einer Entwicklungsphase in der zwar Quadratzeichen fuumlr kon krete Dinge im Alltag zur Verfuumlgung standen kaum jedoch solche fuumlr Ab strak tes Nun ergab sich die Moumlglichkeit ein bereits existie ren des Qua-drat zeichen fuumlr eine etwas ganz anderes bedeutende zufaumlllig homo phone Sil be der Sprechsprache zu verwenden Solche Analogien sind ja auch auf an derer Ebene uumlblich etwa wenn man im Deutschen ltMausgt nicht nur fuumlr die Maus (als Tier) verwendet sondern auch fuumlr die Rechner maus Aus heu tiger Sicht stellen diese rein lautungsbedingt ent lehnten Quadrat zeichen im chine sischen Schriftsystem eine Verbindung zur Laut um schrift oder zu Alphabet schriften dar (denn auch dort werden ja gleiche Lautbilder durch gleiche oder aumlhnliche Schriftbilder wiedergegeben) Besonders haumlufig nutzt das Chine sische diese Hand habung bei Funk tions woumlrtern und Ab strakta Die Zahl der Funk tions woumlrter ist zwar absolut nicht besonders groszlig er freut sich jedoch hoher Vor kommens haumlufigkeit und solche Woumlrter waumlren sonst in der chine si schen Schrift schrei be risch schwer dar zustellen Wenn in der Sprech sprache zwei homo(io) phone Silben vor liegen eine mit kon kreter und eine mit ab strak ter Be deutung und ein Qua drat zeichen fuumlr die Silbe

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder94

mit konkreter Bedeu tung aber keines fuumlr die mit ab strak ter Bedeutung zur Ver fuumlgung steht so wird gern das vor han dene Qua dratzeichen der erste ren Silbe fuumlr die letztere Silbe ent lehnt

(22) 其 war urspruumlnglich piktographisches Abbild einer DaggerSchaufel steht heu te aber fuumlr ein Pronomen der 3 Person mit der Lautung qiacute

Fuumlr Schaufel wird heutzutage das Ideophonogramm 箕 jī geschrieben das oben das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 竹 zhuacute Bambus als Sinn traumlger und unten das Schrumpf allomorph des seinerseits ein Laut-entlehnungs zeichen darstellenden 其 qiacute Pronomen der 3 Person (siehe hier oben) als Laut traumlger aufweist

(23) 孚 fuacute uumlberzeug- stellte urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideo-gramm dar das mit dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 爪 zhuǎ Klaue oberhalb des Schrumpfallomorphs des Piktogramms 子 zhǐ Kind die Bedeutung DaggerGeisel hatte

Fuumlr Geisel wird heute das gleichlautende Ideophonogramm 俘 fuacute ge schrieben das links aus dem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 人 reacuten Mensch (Sinntraumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Laut-ent lehnungs zeichens 孚 fuacute uumlberzeug- als Lauttraumlger besteht

(24) 須 xū muumlss- war urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideogramm fuumlr DaggerBart wobei links drei Haare abgebildet durch das heute nur-ge bundene Grundmorphem dagger彡 shān auf einem urspruumlnglich durch das Schrumpfallomorph des Piktogramms 頁 yegrave Seite be zeichneten DaggerGesicht sprieszligen

Fuumlr Bart wird heute das homophone Ideophonogramm 鬚 xū geschrie-ben das bei Aufteilung erstes Ranges oben in das Schrumpfallo morph des zu sam mengesetzten Ideogramms dagger髟 biāo Zottelhaar und unten in das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 須 xū muumlss- auf zu-tren nen ist Gebildet ist das Ideogramm dagger髟 biāo Zottel haar durch eine Zu sammensetzung welche links das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 長 chaacuteng lang das urspruumlnglich eine Person mit langen Haaren ab bildete enthaumllt und rechts das gebundene Grundmorphem dagger彡 shān HaareIm gegenwaumlrtigen Gebrauch werden Lautentlehnungszeichen die auf die oben genannte Weise zustande gekommen sind (fast) ausschlieszliglich fuumlr Funk tionswoumlrter benutzt waumlhrend im Laufe der Zeit ausdrucks seitig neue Qua dratzeichen fuumlr die urspruumlnglichen inhaltsseitigen Sinneinheiten dieser ent lehnten Quadratzeichen geschaffen worden sind Man koumlnnte hier von bdquoHomo morphie-Fluchtldquo sprechen

95Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Der Lautentlehnung bedient man sich ferner wenn man bdquoFunktionssilbenldquo nieder schreiben will Aus rhythmischen Gruumlnden haumlngen chine sische Mutter sprachler oft an ein einsilbiges bdquoWortldquo eine zusaumltzliche Silbe an das ist einerseits euphonisch bedingt (wie vielleicht im Deutschen syn chron ge sehen -en- in Sternenhimmel oder -e- Schweinefleisch) zum an dern bdquofuumlt ternldquo solche Silben die phonetischen Wortkoumlrper bdquoaufldquo erweitern (und ver deutlichen dadurch) Silben zu Silbensyntagmen (im anderen Sprachen lie szlige sich vielleicht die Erweiterung sehr kurzer bzw im Laufe der Sprach-ent wicklung kurz gewordener Woumlrter wie mhd ucircr zu nhd Auer ochs oder von Aar zu Adler (mhd ar bzw adel-ar) ver glei chen ggf auch mittels suffi xaler Stammbildungserweiterung wie anord ey zu nisl eyja beide bdquoInselldquo) Zum Beispiel bezeichnen Chinesen heute sprechsprachlich einen Stuhl sel ten mit dem einsilbigen bdquoWortldquo yǐ Stuhl sondern in der Regel mit dem Zwei-Silben-Syntagma yǐ + zi die zusaumltzliche verdeutli chende Sil be wird meistens mit einem Nebenton (siehe Einleitung) ausgespro chen Nach dem Prinzip dass 1 Silbe mit 1 Quadratzeichen geschrieben werden soll (siehe unten) schreibt man fuumlr das nun zweisilbige Silben syntagma dann auch zwei Quadratzeichen hin Dabei fragt es sich freilich welches Qua drat zeichen man denn fuumlr diese zusaumltzliche bdquoAuf fuumltterungs-Silbeldquo schreiben solle Fuumlr die hinzugefuumlgte Silbe sucht man ein Quadrat zeichen aus dessen Lautung dieselbe Silbe haupttonig darstellt und ent lehnt dieses dann fuumlr die Wiedergabe der Silbe des (Quasi-)Suffixes in diesem Fall das Qua dratzeichen des homoiophonen Piktogramms 子 zǐ Kind Fuumlr das Silben syntagma 椅子 Stuhl werden somit folglich zwei Quadrat zeichen das Ideophonogramm 椅 yǐ Stuhl und das Laut ent lehnungs zeichen 子 zi als ein Quasisuffix geschrieben

Bei dieser Handhabung hat man theoretisch sehr viele Wahlmoumlglich kei ten und wiederum ist es eine Frage der Eingebuumlrgertheit welche Silben zeichen wann und wie Verwendung finden Dieselben Fragen tauchen uumlbrigens auf wenn fremde Namen und bdquoFremdwoumlrterldquo im Chinesischen geschrie ben wer-den sollen aber auch dann wenn in Film-Untertiteln die zahl rei chen zu saumltz-lichen Silben umgangssprachlicher Sprechsprache wiederzugeben sind

2 Zur Entwicklung der SchriftzeichenbildungDie ersten Versuche der Chinesen Erinnerungen festzuhalten bestan den darin dass sie in Stricke aus Pflanzenfasern Knoten knuumlpften und sich so eine Art Kalender schufen Spaumlter werden es Einkerbungen auf Holz bret-tern (bdquoKerb houmllzernldquo) gewesen sein die Ernten oder andere Ereignisse fest-

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hiel ten Noch spaumlter wurden mit Holz Steinen oder Knochen bestimm te Zei chen (noch keine bdquoSchriftldquo-Zeichen) in Ton eingeritzt

Bis 3000 v Chr benutzten die Chinesen zunaumlchst einfache Zeichen die ihnen als Gedaumlchtnisstuumltzen dienten Auf ausgegrabenen roten Ton-scher ben erscheinen zwei Arten von Schriftzeichen Die einfach sten sind wahrscheinlich Zahlzeichen andere kompliziertere Schrift zeichen be deuten wohl Namen von Sippen oder Staumlmmen In der Folge wur den Zeich nungen verwandt die konkrete Gegenstaumlnde aus der Umge bung bild-lich darstellen sollten also Piktogramme

Allein mit Piktogrammen fuumlr die leicht abzubildenden Gegenstaumlnde der greif baren Wirklichkeit ist noch kein vollwertiges Schriftsystem entstan-den Ein solches Schriftsystem muss nicht nur uumlber Namen fuumlr kon krete bzw konkret abzubildende Dinge verfuumlgen sondern bedarf daruumlber hin aus gra phischer Ausdrucksmoumlglichkeiten etwa fuumlr Eigenschaften Beziehun gen Bewe gungen Vorstellungen usw Dieser Zweck dem jedes Schrift system ge nuumlgen muss ist in der chinesischen Schrift wahrscheinlich erstmals von den einfachen Ideogrammen erfuumlllt worden

Piktographie und Ideographie zeitigen einfache sprechsprachlich mehr-deutige Schriftzeichen phonologisch-phonetische Aspekte spielen beim Auf bau des Zeicheninventars noch keine Rolle Das ist bdquozeichen wirt schaft-lichldquo betrachtet ein Mangel Tausende von Schriftzeichen fuumlr neu entstan-dene bdquoWoumlrterldquo (Inhalte und ausdrucksseitig zugeordnete Lautbilder) nicht nur zu schaffen sondern auch im Kopfe zu behalten ist dermaszligen unprak-tisch dass die Schrift entweder nur als sehr beschraumlnktes System ange wandt werden koumlnnte oder aber so geschmeidig gestaltet werden muumlsste dass sie in der Lage waumlre sich zu einem brauchbaren System zu ent wickeln Um dieses Pro blem in den Griff zu bekommen mussten die graphische und die laut liche Sei te der verfuumlgbaren Schriftzeichen rekursiv mitein ander ver-knuumlpft werden

Die Methode der ideographischen Zusammensetzung schafft neue Qua drat-zeichen ohne indes das Zeichenmorphem-Inventar der Schrift zu ver meh-ren Dieses Verfahren bezieht die graphische Seite der Schriftzeichen eben so wie ihre Bedeutung mit ein wie die Gestalt des neuen Schriftzeichens sich aus den Gestalten seiner Bestandteile (bereits fertiger Zeichen mor-pheme) er gibt so ergibt der Sinn eines neu zusammengesetzten Ideo-gramms sich aus der Verbindung der Bedeutungen seiner Bestandteile Die Laut seite der Zeichenmorpheme spielt hier wie gesagt noch keine Rolle Durch ideo graphische Komposition entstehen also weiterhin Schrift-

97Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichen welche noch keinerlei Hinweis auf die Lautung der bezeichneten bdquoWoumlrterldquo liefern Dieses Verfahren bietet noch immer nicht die (Zeichen-anzahl-beschraumlnkenden und Aussprache-andeutenden) Vorteile welche durch Einbezug einer ausspracheabhaumlngigen Komponente (zB eines lautungs andeutenden Zeichenmorphems) moumlglich werden

Aus diesem Grunde bemuumlhte man um den Schriftzeichenbestand aus zu-bau en schlieszliglich auch die Lautseite Die einfachste Methode die Laut sei te zu nutzen ist bekanntlich die homographische Schreibung homo(io) pho-ner Silben mit unterschiedlicher Bedeutung (zB Silbe A und Silbe B) Da mit isoliert man die graphische Form des Schriftzeichens von der pri-maumlr zuge ord neten Bedeu tung A der Silbe lehnt dann das inhaltlich bdquoent-kop pelteldquo Schrift zeichen an eine homophone Silbe mit Bedeutung B fuumlr die noch kein Schriftzeichen zur Verfuumlgung steht an Was auf der Aus-sprache-Ebene aumlhnlich ist wird auch auf der Zeichengestalt-Ebene aumlhnlich dar gestellt ndash unabhaumlngig vom Inhalt

Diese Methode die sog Lautentlehnung vermehrt nicht den Bestand chine-si scher Schriftzeichen In dieser Hinsicht stufen die heutigen chinesi schen Zeichen morphologen sie weniger als Quadratzeichen-bdquoBildungldquo ein son-dern eher als Quadratzeichen-bdquoVerwendungldquo Des weiteren bringt die Laut-ent lehnung bei der Entwicklung des chinesischen Schriftsystems ein anderes Problem mit sich Durch die Lautentlehnung kann ein Schriftzeichen bei gleich bleibendem Lautwert semantisch doppelt oder mehrfach besetzt sein Fuumlr die Enkodierung der Bedeutungen und die Wiedergabe der Laute in der Sprache (bdquodas Schreibenldquo) ist diese Methode zweifellos effizient Fuumlr die De ko dierung der Bedeutungen (bdquodas Lesenldquo) stellt die semantisch mehrfache Be setzung eines Qua dratzeichens jedoch eine enorme Belastung dar Auch in der deutschen Rechtschreibung sind deshalb in vielen Faumlllen Homo phone graphisch geschieden Wagen und Waagen arm und Arm usw

Wenn das entlehnte Schriftzeichen in seiner urspruumlnglich zugeordne-ten Be deutung A der Silbe weiterhin in der Sprache vorkommt dh nicht ungebraumluchlich geworden ist dann wetteifern ja beide Bedeu-tun gen nicht nur sprechsprachlich mit dem Lautbild der Silbe sondern nun auch schreibsprachlich mit dem Schriftzeichen Die Lage wird dann oft wie der vereindeutigt indem man das Schriftzeichen auf die sekun-daumlre Silben-Bedeutung B einschraumlnkt und fuumlr die primaumlr zugeordnete Silben-Bedeutung A ein zusaumltzliches Zeichenmorphem in das Schrift-zeichen einfuumlgt um es so von seiner Lehnnehmerform mit der sekundaumlren Bedeutung B zu unterscheiden (Homomorphie-Flucht)

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(25) Das Lautentlehnungszeichen 北 Norden běi stellt urspruumlng lich das zu sammengesetzte Ideogramm fuumlr DaggerRuumlcken dar Heute steht es aus-schlieszlig lich fuumlr Norden

Das Quadratzeichen 北 war urspruumlnglich das zusammenge setzte Ideo-gramm fuumlr DaggerRuumlcken welches zwei Personen Ruumlcken an Ruumlcken zeig te Da die gesprochenen Silben begravei fuumlr Ruumlcken und běi fuumlr Nor den aumlhn liche Lautbilder aufweisen wurde fuumlr die Verschriftlichung der Silbe des schwer lich zeichnerisch darzustellenden Abstraktums běi Nor den das zusammengesetzte Ideogramm 北 DaggerRuumlcken entlehnt Nun hatte das Schrift zeichen 北 zeitgleich zweierlei Bedeutungen die pri maumlre Be deu tung war DaggerRuumlcken und die sekundaumlre Norden Um die zwei Bedeu tungen im schriftlichen Text zu differenzieren wurde spaumlter ein neues Schrift zeichen 背 begravei fuumlr die primaumlre Bedeutung Ruumlcken gebil det und zwar ist dieses neue Ideophonogramm 背 begravei Ruumlcken da durch zu stan de gekom men dass das freie Zeichenmorphem 北 běi (Laut traumlger) un ten um das Allo-morph kuumlrzel des Pikto gramms 肉 Fleisch im Sinne von mensch licher Koumlr per (Sinn traumlger) vermehrt wurde Das Laut ent leh nungs zeichen von 北 běi steht in dem neuen Synchron-Zustand aus schlieszlig lich fuumlr die sekun-dauml re Bedeutung Norden fuumlr die pri maumlre Be deu tung Ruumlcken wird heu te nur noch das Ideophonogramm 背 begravei geschrieben

Die Anwendung der Entlehnungsmethode war fuumlr das chinesi sche Schrift-system der Wendepunkt von einer lediglich die Erinne rung stuumlt zenden Bilderschrift zu einer brauchbaren logosyllabischen Schrift Mit fort-schreitender gesellschaftlicher Entwicklung und der Vertiefung von Wahr-neh mung und Praxis mussten mehr und mehr Dinge und Sach ver halte verfeinert bezeichnet werden Um diesen Beduumlrfnissen gerecht zu werden hat man ndash wiederum mithilfe der Lautentlehnungsmethode ndash den Schrift-zeichen-Bestand durch Ideophonogramme vermehrt

Ein Ideophonogramm ist bei Aufteilung ersten Ranges in zwei Zeichen-mor pheme zu zerlegen den Sinntraumlger und den Lauttraumlger Das eine Zei chen morphem der Sinntraumlger verweist auf die Bedeutung des Ideo-phono gramms das andere Zeichenmorphem der Lauttraumlger auf des sen un gefaumlhre Lautung Den Sinntraumlger fuumlr ein Ideophonogramm ge winnt man dadurch dass man ein vorhandenes Zeichenmorphem nimmt und von seiner Lautung isoliert an ihm bdquoklebenldquo dann nur noch vage Bedeu tungs-Assozia tionen Dieses Zeichenmorphem baut man als Sinn traumlger in ein neu zu erstellendes Ideophonogramm ein Den Lauttraumlger fuumlr ein Ideo phono-gramm gewinnt man dadurch dass man ndash aumlhnlich wie bei der Schoumlp fung von Laut entlehnungs zeichen ndash ein Schriftzeichen mit einer bestimm ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 99

ihm an haftenden Lautung entlehnt und zwecks ungefaumlhrer Andeu tung eben dieser Lautung in ein Ideophonogramm einbaut dessen Silbe phone-tisch dem lehngebenden Quadratzeichen aumlhnlich ist Ideophono gram me sind diesbezuumlglich haumllftig als Lautentlehnungszeichen zu betrachten

Es ist nicht von vornherein festgelegt wie die Zeichenmorpheme als Bestand teile innerhalb eines Ideophonogramms angeordnet werden ndash linksrechts obenunten innenauszligen getrenntverschlungen usw Somit muss man wissen welches Zeichenmorphem auf die Lautung und welches auf den Sinn hinweist Es gibt hier aber gebraumluchliche Muster die sich eingebuumlr-gert haben und die der geuumlbte Leser kennt sodass Sinn- bzw Lauttraumlger der meisten Ideo phonogramme fuumlr gewoumlhnlich leicht auszumachen sind

Die Beispiele in Abbildung 1 moumlgen die geschilderte Entwicklung der Bil-dung chinesischer Schriftzeichen veranschaulichen

(26) Piktogramm 自 zigrave DaggerNase

(27) Piktogramm dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze

(28) Piktogramm 犬 quǎn Hund

(29) Piktogramm 口 kǒu Mund

(30) Zusammengesetztes Ideogramm 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] daggerschnupper- und chograveu = [ʈʰograveu] stinkend

(31) Lautentlehnungszeichen 自 zigrave selbst

(32) Lautentlehnungszeichen dagger畀 bigrave verleih-

(33) Ideo phonogramm 鼻 biacute Nase

(34) Ideophonogramm 嗅 xiugrave = [ɕograveu] schnupper-Das Quadratzeichen (26) 自 zigrave war urspruumlnglich ein Piktogramm das von vorn gesehen eine Nase mit Nasenruumlcken und Nasenfluumlgeln abbildete Aus die sem Piktogramm wurden in zwei Richtungen Quadratzeichen gebildet

In die eine Richtung wurde Dagger自 zu einer Zeit da es noch Nase bedeutete wegen der phonetischen Uumlbereinstimmung bzw Aumlhnlichkeit fuumlr den Sinn selbst entlehnt so entstand das Lautentlehnungszeichen (31) 自 selbst das heute zigrave ausgesprochen wird Von da an hatte man synchron die homo graphen Quadratzeichen 自 (26) und (31) nebeneinander ndash zum einen fuumlr die pri maumlre Bedeutung DaggerNase zum anderen fuumlr die sekundaumlre Bedeu-tung selbst Spaumlter wurde dann zur schriftlichen Disambiguierung dem

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Abbildung 1 Beispiele zur Veranschaulichung der Entwicklung chinesischer Qua drat-zeichen Spalte A Piktogramme Spalte B Zusammengesetzte Ideogramme Spalte C Laut entlehnungszeichen Spalte D Ideophonogramme

101Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

自-Qua dratzeichen wo es DaggerNase bezeichnete ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems (27)(32) dagger畀 hinzugefuumlgt das fuumlr sich allein bigrave lautet In dem so entstandenen Ideophonogramm (33) 鼻 biacute Nase dient es lediglich als Lauttraumlger Fuumlr das heutige muttersprachliche Emp finden ist dieser Lautentlehnungsvorgang allerdings nicht mehr durchschau bar denn entweder hat sich der Anglitt der Aussprache des bdquoWortesldquo selbst im Laufe der Zeit aus irgendwelchen Gruumlnden gewandelt oder der Lautwert des bdquoWor tesldquo Nase ist durch Einfluss des lauttragenden Zeichen morphems (27)(32) dagger畀 bigrave abgeaumlndert worden (Leseaussprache) Das Quadrat zeichen (32) dagger畀 bigrave verleih- uumlbrigens ist seinerseits vermutlich von dem Pikto-gramm (27) dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze lautentlehnt Fuumlr den Begriff verleih- verwendet man heute ein gaumlnzlich anderes Quadratzeichen

In die andere Richtung wurde das Schrumpfallomorph des Pikto gramm (26) 自 zigrave DaggerNase mit dem Allomorphkuumlrzel eines weiteren Pikto gramms naumlm lich (28) 犬 quǎn Hund zu einem zusammengesetzten Ideo gramm vereint Das komponierte Ideogramm (30) 臭 spricht sich daggerxiugrave = [ɕograveu] aus ohne irgendwie lautentlehnt zu sein und bedeutet daggerschnupper- Von der pri maumlren Bedeutung daggerschnupper- ist spaumlter (vielleicht durch pejora tive Be deutungs verengung) die sekundaumlre Bedeutung stinkend ab gelei tet wor den Nun stand das Schriftzeichen (30) 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] synchron fuumlr zwei sinn verwandte aber aus sprache verschiedene Bedeu tungen daggerschnup-per- und stinkend Fuumlr die primaumlre Bedeutung schnupper- wurde dann verdeutlichend das Ideophonogramm (34) 嗅 xiugrave gebildet welches links das Schrumpfallomorph des Piktogramms (29) 口 kǒu Mund (Sinn-traumlger) und rechts das Schrumpfallomorph des zusammen gesetz ten Ideo-gramms (30) 臭 daggerxiugrave (Lauttraumlger) birgt Das Schrift zeichen (30) 臭 mit der Lautung chograveu = [ʈʰ ograveu] beschraumlnkt sich seither ausschlieszlig lich auf die sekundaumlre Bedeutung naumlmlich stinkend Dadurch war die zeit weilige Mehr deutigkeit des Schriftzeichens (30) 臭 wieder beseitigt

Gaumlnzlich unabhaumlngig von der Anzahl der Zeichenmorpheme die es bilden wird ein Qua dratzeichen im gegenwaumlrtigen chinesischen Schriftsystem einer und genau einer Sprechsilbe zugeordnet Alle Quadratzeichen vertreten also je eine Silbe Die Entwicklung geht dahin dass wegen der hohen Silben-Homo phonie und der dadurch bedingten potenziellen Mehrdeutigkeit der zeit genoumlssischen chinesischen Sprechsprache immer mehr verdeutli chende oder zT auch nur rhythmisch als erwuumlnscht betrachtete Silben zu einem Silben syntagma zusammengefuumlgt werden solche Silben syntagmen ent-sprechen im Deutschen ungefaumlhr den Ableitungen oder den Kom po sita Da fuumlr jede Sprechsilbe (mindestens) ein Quadratzeichen vorhanden ist schreibt

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man fuumlr jede einzelne Silbe eines Silbensyntagmas auch genau ein Qua-drat zeichen nieder Gerade bei euphonisch oder eurhythmisch bedingten Silben (im Deut schen ist synchron vielleicht das -e- in Strahlemann ver-gleich bar das -s- in Hochzeitsnacht das -n- in Hoffnung oder das -t- in dt eigentlich im Frz das -t- in a-t-il bdquohat erldquo) die ja keine Eigen be deu-tung haben ist es gelegentlich fraglich welches Quadrat zeichen man fuumlr sie schreiben solle

In einer fruumlhen Entwicklungsstufe der chinesischen Schrift waren die meisten der heutigen Quadratzeichen-Bestandteile freie Zeichenmor-pheme Das heiszligt sie fungierten einerseits als selbstaumlndige Quadrat zeichen und ndash spaumlter ndash zusaumltzlich andererseits als Quadratzeichen-Bestand teile Im Laufe der Zeit kamen mehrere davon nur noch als gebundene Zeichen-morpheme im Bestandteilverbund eines Quadratzeichens vor (aumlhnlich wie im Deutschen heute das Suffix -heit oder das Praumlfix ur- nur noch gebunden vorkommen) Manche entwickelten sich dagegen zu Allomorphen die teils frei teils gebunden sind Manche nur-gebundene Allomorphe sind heute sogar unikal (etwa wie im Deutschen -stuumlber in Nasenstuumlber)

3 Zur Normierung chinesischer SchriftzeichenformenIm Laufe ihrer Entwicklung sind die chinesischen Schriftzeichen mehr mals nor miert worden (vgl Abbildung 2) In antiken Epochen wurde eine amt liche Standardisierung meist zu Beginn einer Dynastie vorgenom men damit sich die Befehle und Maszlignahmen von der zentralen Regierung in er oberten Laumlndern erteilen und ohne Missverstaumlndnis durchsetzen lieszligen Als die jeweilige Dynastie allmaumlhlich zerfiel schwaumlchelte auch ihre Macht und damit ihr Einfluss auf Fuumlrstenlaumlnder und deren Bevoumllkerung Die fest gelegte Schreiblehre wurde dann auch nicht mehr so genau beachtet und irgend welche oumlrtlichen Gelehrten dachten sich neue Quadrat zeichen aus wenn sie sich der vordem zentral vorgegebenen Zeichen nicht mehr er innern konnten Gleichzeitig sind mit dem Fortschreiten der Zivilisa tion Neu heiten (Dinge und Sachverhalte) aufgekommen oder ins Bewusstsein der Men schen geruumlckt fuumlr die gesprochene und geschriebene Bezeich nungen be noumltigt wurden Fuumlr diese ersannen Gelehrte Quadratzeichen und zwar mei stens durch neue Zusammenstellung vorhandener Zeichen mor-pheme Weil es oft genug an einer zentralen Steuerung dieser Entwicklung fehlte ver lief die Zeichenbildungstaumltigkeit haumlufig unsystematisch Kam schlieszlig-lich eine neue Dynastie ans Ruder so vereinheitlichte der neue Herr scher das eine Zeitlang wildgewachsene Schriftsystem dann wieder

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Abbildung 2 Zur Entwicklung chinesischer Schriftzeichenformen (aus Fazzioli 2003 15)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder104

31 Vereinheitlichung in Richtung Vereinfachung

Bei den amtlichen Regelungen welche die Quadratzeichengestalt be treffen han delt es sich nicht nur um Vereinheitlichung Oumlfter wurde zu gleich auch versucht die Schriftzeichen zum leichteren Lernen und Schrei ben zu ver-ein fachen Schon seit fruumlher Zeit in der man noch nicht unbe dingt von bdquoQuadrat zeichenldquo sprechen kann ist zB eine immer wieder ange wandte Aumln derungs art der Abbau zeichen gestalterischer Kom plexitaumlt ent weder wird die Anzahl urspruumlnglich ikonisch vermehrfachter Ele mente oder Element teile wieder vermindert oder die Strichzahl sehr auf wendig auf-gebauter Bestandteile wird anderweitig reduziert auf diese Art sind denn auch die Allomorphkuumlrzel entstanden

(35) 集 jiacute versammel- ein zusammengesetztes Ideogramm besteht oben aus dem Schrumpfallomorph des veralteten Piktogramms dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel und unten aus dem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum

Urspruumlnglich war das Quadratzeichen 木 mugrave Holz das Piktogramm eines DaggerBau mes mit Wurzel und Aumlsten Die urspruumlngliche Form des Zeichens 集 ver sammel- zeigte allerdings drei Voumlgel auf dem Baum dh drei Voumlgel die sich auf einem Baum bdquoversammelnldquo Da das Zeichen morphem dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel bereits strichreich ist laumlsst es sich in drei facher Ausfuumlhrung innerhalb eines neuen Zeichens unvereinfacht kaum unter bringen spaumlter wurde das verdreifachte Zeichenmorphem in dem Zeichen deshalb durch ein einziges ersetzt Dadurch war es zwar weniger bild haft dafuumlr aber besser handhabbar

(36) 塵 cheacuten Staub ein zusammengesetztes Ideogramm zeigt oben das Schrumpf allomorph des Piktogramms 鹿 lugrave Hirsch und unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 土 tǔ Erdreich

Auch das urspruumlngliche zusammengesetzte Ideogramm fuumlr Staub zeig te zu naumlchst drei Hirsche auf dem Erdboden das heiszligt beim Ren nen wirbelt eine Herde Hirsche auf der Erde bdquoStaubldquo auf In der moder ni-sier ten Form des heutigen Quadratzeichens 塵 cheacuten Staub ist da von nur noch ein einziges Zeichenmorphem 鹿 lugrave Hirsch uumlbrig

(37) 豪 haacuteo Stachelschwein ein Ideophonogramm besteht unten aus dem Schrumpfallomorph des Piktogramms dagger豕 shǐ Eber als Sinn-traumlger und oben aus dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 高 gāo hoch als Lauttraumlger welches nur den Oberteil des ihm entsprechenden Voll allo morphs zeigt

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Der Lauttraumlger das Allomorphkuumlrzel des freien Zeichenmor phems 高 gāo hoch oben im Ideophonogramm 豪 haacuteo Stachel schwein ist gegenuumlber dem Vollallomorph gestalterisch um seinen Unterteil geschmaumllert worden Genauer gesagt im Vollallomorph zeigt das Piktogramm 高 gāo noch einen Daggerzwei stoumlcki gen Bau die beiden kleinen Strichkomplexe (in Form eines Vier ecks) sind gewissermaszligen Fenster im ersten bzw zweiten Stock Als Laut sym bol-Allomorphkuumlrzel eingefuumlgt in das Ideophonogramm 豪 haacuteo Sta chel schwein verliert es dann das untere bdquoFensterldquo

Als ein weiterer Punkt ist zu beachten dass chinesische Schrift zeichen oumlfter dadurch vereinheitlicht worden sind dass man Zeichen for men unter-schied lichen etymologischen Ursprungs zusammenfallen lieszlig indem man sie graphisch nicht mehr auseinanderhielt man koumlnnte von bdquoZeichen-morphem-Zusammenfallldquo bdquo-Synkretismusldquo bdquo-Kreuzungldquo oder bdquo-Kon ta-mi nationldquo sprechen So werden die zwei bdquoFensterldquo in dem Pikto gramm 高 gāo hoch mit einem Strichkomplex geschrieben der gestalte risch vom Piktogramm 口 kǒu Mund (bzw von seinem Schrumpf allo morph) nicht zu unterscheiden ist Waumlhrend Fenster und Mund sich immer hin noch unter dem Begriff bdquoOumlffnungenldquo zusammenfassen lassen wird der-selbe Strichkomplex (zT in unverhaumlltnisgerecht geschrumpfter Ge stalt) in anderen Quadratzeichen daruumlber hinaus aber noch fuumlr ganz ande res an ge wandt zB fuumlr Geraumlusch Auge eines Strudels menschli ches Ge sicht menschlichen Kopf Tierkoumlrper Steinmesser Schuumls sel Topf Trommel Behausung von Mauern umgrenzte Stadt oder der Strichkomplex des Vierecks wird ganz abstrakt als ein Zeichen mor phem zur Disambiguierung ansonsten formgleicher Quadrat zeichen ein gesetzt

Betrachtet man die Sache nicht von daher welche Geltungen ein Zeichen-morphem in Quadratzeichen annehmen kann sondern aus der Warte der Bedeu tungen so ist eine aumlhnliche Mehrfachanwendung von Elementen fest-zu stellen bei etlichen Quadratzeichen wird beispielsweise die Bedeu tung Ge raumlusch nicht einheitlich durch den Strichkomplex 口 den wir aus heu-tiger Sicht als das Schrumpfallomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund deu ten be zeichnet sondern manchmal auch durch einen Strichkomplex 日 welcher zumindest synchron aussieht wie das Zeichenmorphem 日 rigrave Son ne und deshalb heute als ein Schrumpfallomorph dieses Zeichen-morphems ge wertet wird Derlei Faumllle gibt es viele und die synchron empfun-dene Mehr deutigkeit von Elementen geht oft auf Entwicklungs vor gaumlnge dieser Art zuruumlck auch solcherart bdquoZusammenlegungs-Standardisie run-genldquo haben demnach die Bedeutung chinesischer Quadratzeichen(bestand-teile) ver dunkelt und belasten heute beim Lernen die Form-Inhalts-Bezie-

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder106

hung Moumlchte man eine Parallele zum Deutschen ziehen so kann man die gra phische Zusammenlegung von ltgraumlulichgt von grau‑artiger Farbe und ltgreu lichgt grauenerregend in ltgraumlulichgt durch die Rechtschreib reform von 199620042006 vergleichen

32 Auswirkungen auf die Quadratzeichengestaltung

Die Standardisierungen der chinesischen Schriftzeichen und ihrer Bestand-teile betreffen weitgehend die Formgebung von Quadratzeichen und diese wie derum bildet die Grundlage fuumlr synchrone zeichenmorpholo gische Ana lysen Da die Zeichenmorpheme durch manche Vereinheitli chungs-schrit te richtiggehend bdquoumgemuumlnztldquo worden sind praumlgen sie entspre chend auch Bewusstsein und Wahrnehmung der Schriftanwender um Im Fol gen-den eroumlrtern wir bei der zeichenmorphologischen Betrachtung von Qua-drat zeichen wie sich solche Zeichenform-Normierungen auf die objektive sprach wissenschaftliche Auswertung und auf die subjektive anwender-seitige Wertung der Quadratzeichengestalt auswirken

Wenn man versucht Quadratzeichen moumlglichst weitgehend aufzutrennen so gelangt man ndash ggf uumlber Zeichenmorpheme unterschiedlicher Komplexi-taumlt ndash letzten Endes zu Zeichenmorphemen welche zwar noch eine morpho-lo gische Bedeutung tragen sich allerdings ndash synchron betrachtet ndash nicht wei ter in ihre Strichzuumlge zerlegen lassen ohne dass sie ihre morpho logi sche Gel tung einbuumlszligen wuumlrden Diese kleinsten Einheiten sind die Grund mor-pheme Zwei oder mehr Grundmorpheme koumlnnen zusammengefuumlgt werden um ein neues komplexeres Zeichenmorphem zu bilden Von da an stehen bei der chinesischen Schriftzeichenbildung nicht nur Grundmorpheme son-dern auch komplexere Morpheme zur Verfuumlgung Das heiszligt als Bestand teile von Schrift zeichen duumlrfen sowohl Zeichenmorpheme die aus bloszlig einem Grund morphem bestehen als auch Zeichenmorpheme die ihrerseits schon aus zwei oder mehr Grundmorphemen zusammengesetzt sind dienen Ein durch Zusammenfuumlgung von zwei oder mehr Zeichenmorphemen gebil-detes Quadratzeichen laumlsst sich wiederum als ein idiomatisierter Kom-plex verwenden und als Zeichenmorphem fuumlr weitere Quadratzeichen-bil dung einsetzen Es werden somit Komplexe aus Zeichenmorphemen immer wieder neu idiomatisiert und als neue Einheiten in houmlhere Komposi-tions-Hier archien uumlbernommen Theoretisch kann so jedes eigen staumln dige Schrift zeichen als Bestandteil fuumlr komplexere Schriftzeichen ver wandt werden Vergleichbar ist hier in der deutschen Morphologie die Ablei-tung von einer Ableitungsbasis Basis Handhabe als nicht mehr auftrenn-barer Komplex abgeleitet zu handhaben dann Basis hand haben als

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nicht mehr auftrennbarer Komplex abgeleitet zu hand hab bar schlieszlig-lich Basis handhab bar als nicht mehr auftrennbarer Komplex abge leitet zu Handhab barkeitOft geht man davon aus dass Piktogramme und einfache Ideo gramme aus lediglich einem einzigen Grundmorphem bestuumlnden Pikto gramme wie sen ur spruumlnglich einen Dinge aus der Natur abbildenden Strich kom-plex auf den man aus heutiger Sicht als das Abbild eines Ganzen werten duumlrfte und das entspraumlche dem was uumlblicherweise in Grund mor phemen vorliegt Waumlhrend bdquoeinfacheldquo Piktogramme tatsaumlchlich immer nur ein ein ziges Grundmorphem enthalten (wie in 日 rigrave Sonne und 月 yuegrave Mond) empfinden Lerner und Benutzer chinesischer Quadrat zeichen es heute so dass besonders strichreiche Piktogramme aus meh reren Grund-morphemen zusammengesetzt seien Diese Erscheinung ist dadurch zustande gekommen dass bei der gestalterischen Normierung von Quadrat zeichen-formen bdquoBestandteileldquo in manchen dieser strichreichen Kom plexe so zu sagen bdquomorphemisiertldquo worden sind aus einem Komplex hat man durch eine Art Morphemspaltung meh rere Bestand teile herausabstrahiert die man nun jeden fuumlr sich wie der in anderen Quadratzeichen-Kompositionen als Kompositionsglieder nut zen kann ndash und umgekehrt

Beispielsweise war das Piktogramm 鹿 lugrave Hirsch urspruumlnglich das Ab bild eines Hirsches mit Geweih Kopf Koumlrper und Beinen (sie he Ab bil dung 2) Bei spaumlteren Normierungen wurden oben Geweih Kopf und Koumlrper zwar weiterhin als ein Strichkomplex belassen (dieser stellt heute ein nur-gebunden vorkommendes Zeichenmorphem dar) der Unter teil indes die abstrakt die vier Beine darstellenden Striche war rein gestalterisch zufaumlllig dem zusammengesetzten Ideogramm 比 bǐ ver-gleich- recht aumlhnlich Und so hat man im Zuge einer Normie rung diese Striche durch ein Schrumpfallomorph des Quadrat zeichens 比 bǐ ver-gleich- ersetzt und dadurch den urspruumlnglichen als zusammengehoumlrig zu be trach tenden Strichkomplex von Hirsch in zwei Bestandteile zerlegt deren jeder heute synchron die Geltung eines Zeichenmorphems besitzt Das zusammengesetzte Ideophonogramm 比 bǐ vergleich- uumlbrigens zeigte urspruumlnglich zwei Menschen im Wettlauf miteinander

Uumlblicherweise werden auch saumlmtliche einfachen Ideogramme als Qua drat-zeichen mit nur einem einzigen Grundmorphem ange se hen Ge schicht lich gesehen bargen allerdings wohl alle einfachen Ideogram me ur spruumlng lich zwei zeichenmorphologische Bestandteile in sich naumlm lich Bezugs grund-lage und Hinweis An dieser Stelle sollte man den Tiefen grad bedenken mit dem man die Zusammenfuumlgung zweier Bestand teile betrach ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder108

moumlchte wenn man zeichenetymologisierend vorgeht kann man Ein-heiten freilich tiefergehend sinnvoll auftrennen als wenn man das syn-chrone Schreiberbewusstsein zugrunde legt Aus heutiger Sicht sind naumlm-lich Bezugsgrundlage- und Hinweis-Bestandteil nicht zuletzt in folge nor mierender Umgestaltung zu einem Zeichen morphem zusam men-geschmolzen das als ein einziges Grundmorphem betrachtet wird und des halb spricht man eben von bdquoeinfachenldquo Ideogrammen Ist der Hin weis-Be stand teil noch durchsichtig vom Grundlage-Bestandteil abzutren nen so sollte man indessen meinen das Ideogramm goumllte als aus zwei (ggf mehr) Grundmorphemen zusammengesetzt Das widerspricht aber der her koumlmm lichen Sichtweise Der Status der einfachen Ideogramme ist in dieser Hinsicht womoumlglich revisionsbeduumlrftig Diese naumlhere Betrach tung hat uns bewogen im vorliegenden Aufsatz zwischen bdquoGrund morphemenldquo und bdquoStrichenldquo zu unterscheiden

Im Gegensatz zu den Piktogrammen und einfachen Ideogrammen beste hen die zusammengesetzten Ideogramme sowie die Ideophonogramme aus zwei oder mehr Zeichenmorphemen sind also Polymorphe Lautent lehnungs-zeichen wieder um haben teils ein und teils mehr als ein Grund morphem je nachdem von wel cher Schriftzeichen-Basis sie entlehnt worden sind

4 Naumlhere Betrachtung der Ideophonogramm-BildungIdeophonogramme herrschen in der chinesischen Schriftzeichenbildung vor und bestimmen somit die Charakteristik der chinesischen Quadratzeichen am meisten sowie das Bewusstsein der Schriftanwender am nachhaltigsten

Zur Bildung eines Ideophonogramms fuumlr eine gesprochene Silbe werden zwei Zeichen morpheme zusammengesetzt ein Sinntraumlger und ein Laut-traumlger Das sind die beiden Zeichenmorphem(komplexe) ersten Ranges Beide muumls sen um fuumlr die Komposition verwendet werden zu koumlnnen abstra hiert wer den Der als Sinntraumlger bestimmte Komplex muss von seiner bis heri gen Lau tung frei gestellt werden um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf das Signifieacute die nen zu koumlnnen (und dabei nicht etwa dadurch zu be irren dass mit ihm zu saumltzlich eine Lautung assoziiert wird) Der als Laut traumlger bestimm te Kom plex muss von seiner Bedeutungs-Assoziation frei ge stellt wer den um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf die unge faumlhre Lau tung die nen zu koumlnnen (und nicht dadurch zu stoumlren dass er zusaumltz liche Bedeu tungs-Assoziationen hervorruft) Die In-etwa-Aussprache auf welche der Laut traumlger verweist muss natuumlrlich zur Silbe des neuen Gesamt kom ple xes des durch die Komposition

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entstandenen Ideophono gramms stimmen ndash zumindest zum Zeitpunkt der Zeichenbildung

Gelegentlich kommt es vor dass in einem Ideophonogramm nicht nur ein son dern zwei Zeichenmorpheme als Sinntraumlger zur Bedeutung des Ideo-pho no gramms beitragen Im Folgenden sei ein besonders verwickelter Fall ge schil dert der aber gut als Beispiel fuumlr diese Zeichenbildungsart dienen kann

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des sei ner seits schon ein Ideophonogramm darstellenden Vollallo morphs 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpfallo morph des Laut ent lehnungszeichens 平 piacuteng flach als Lauttraumlger

Der Sinntraumlger 言 yaacuten Wort des Ideophonogramms 評 piacuteng ein-schaumltz- ist wie erwaumlhnt selbst ein Ideophonogramm das unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund (Sinn trauml ger) und oben ein gebundenes heute unikales Allomorph eines obsole ten Zeichen-mor phems mit der Lautung Daggeryǎn (Laut traumlger) in sich birgt Der Laut-traumlger des Ideo phonogramms 評 piacuteng ein schaumltz- naumlm lich das Zeichen-morphem 平 piacuteng flach stammt ur spruumlng lich von einem Pikto gramm 平 piacuteng DaggerWasserlinse das spaumlter auf grund lautlicher Uumlber ein stim mung fuumlr die sekundaumlre Bedeutung flach laut ent lehnt wurde Fuumlr die pri maumlre Bedeutung Wasserlinse wur de dann ent zwei deutigend das Ideo pho no-gramm dagger苹 piacuteng gebildet das wie der um durch Hinzufuumlgung des Allo-morph kuumlrzels des ver alte ten Zeichen mor phems dagger艸 cǎo Gras ober-halb des Laut ent leh nungs zei chens 平 piacuteng flach zustande gekommen war Weil auch das Ideo pho nogramm dagger苹 piacuteng Wasserlinse heute wiederum ver altet ist wird gegen waumlrtig fuumlr Wasserlinse das Quadrat-zeichen 萍 piacuteng geschrie ben

Das letztentstandene Ideophonogramm 萍 piacuteng Wasser linse nun kann syn chron auf zweierlei Art aufgetrennt werden Einerseits so dass es links aus dem Allomorph kuumlrzel des Pikto gramms 水 shuǐ Was ser (Sinn-traumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Ideophono gramms dagger苹 piacuteng Wasserlinse (Lauttraumlger) besteht Andererseits laumlsst es sich ndash zu mindest rein for ma listisch ndash so ana lysieren dass das Allo morph kuumlr zel des Pikto gramms 水 shuǐ Wasser verdeutlichend hinzugefuumlgt wur de um neben dem bereits vorhandenen Sinntraumlger dagger艸 cǎo Gras einen zu saumltz lichen Hinweis auf die Bedeutung des Ideophono gramms 萍 piacuteng Was ser linse zu geben Waumlhlt man diese Sichtweise so duumlrfte man das Allo morph kuumlrzel des veralteten Zeichenmorphems dagger艸 cǎo Gras so wie

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Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder110

das Allomorph kuumlrzel des Piktogramms 水 shuǐ Wasser beide fuumlr gleich-ran gige Sinntraumlger des Ideophonogramms 萍 piacuteng Wasserlinse und das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach fuumlr den Laut traumlger halten man haumltte hier also schon bei Auftrennung ersten Ran-ges ein dreigliedriges Ideophonogramm

Das ideophonographische Verfahren bewaumlhrt sich seit langer Zeit als eine nuumltz liche Methode chinesischer Quadratzeichenbildung Mit ihr ist das vor erst letz te quadratzeichen morphologische Entwicklungs sta dium des heutigen chine sischen Schrift systems erreicht Das zeichen morphe misch-sylla bi sche Ver fahren ist seit seiner Einfuumlhrung staumlndig ausge baut worden Die aumllte sten bisher gefundenen chinesischen Schrift zeichen sind wie oben bereits an ge deutet wurde in Rinderknochen (vor al lem auf Schul ter blatt-Kno chen so genannte bdquoOrakel knochenldquo) und Schild kroumlten panzer (zur Weissagung von Jagdgluumlck u auml) eingeritzt Bereits in der Orakel kno-chen schrift machen die Ideophonogramme einen betraumlcht lichen Teil des Schriftzeichen-Bestandes aus In der Gegenwart stellen die Ideo phono-gramme bis zu 90 Prozent aller chinesischen Qua drat zei chen Doch heut-zutage ist auch diese Bildeweise zum Erliegen gekommen denn neue Qua-drat zeichen werden praktisch nicht mehr geschaffen Heute ist neben der Hin ter ein anderreihung von Qua dratzeichen zur Wie dergabe von Mehr-Silben-bdquoWoumlrternldquo (man koumlnnte von bdquoSyntax woumlrternldquo sprechen von Silben-syn tagmen welche durch eine Art Sinn-Univerbierung mehr oder minder lexi kali siert sind heute neigt man dazu in der Schriftsprache aus Paral-lelitaumlt zur Sprechsprache mehr Silben fuumlr bdquoWoumlrterldquo zu schreiben) nur noch das Ver fahren der Lautentlehnung produktiv durch dieses aller dings ver-mehrt sich ja der Quadratzeichenbestand nicht weiter Typischer weise ange-wandt wird dieses Verfahren erwaumlhntermaszligen zB wenn die Lau tungen frem der bdquoWoumlr terldquo und fremder Eigennamen ins Chinesische umzusetzen sind

41 Klassenkoumlpfe

bdquoKlassenkopfldquo ist eine rein formalistisch abstrahierte graphische Grouml szlige ohne tie feren sprachlichen Wert nach der ein Quadrat zeichen im chinesi-schen Woumlrter buch klassifiziert ist um es (vergleichbar der Reihen folge der Buch staben im Alphabet) leichter nachschlagen zu koumlnnen Im Deut-schen wird bdquoKlassen kopfldquo oft mit dem Terminus bdquoRadikalldquo wieder-gegeben In jedem Qua dratzeichen ist entweder ein Strichzug ein Zeichen-morphem oder das ganze Quadrat zeichen (wo dieses aus einem einzigen freien Klassenkopf besteht) als Klassenkopf festgelegt Theoretisch koumlnnte also jedes Zeichenmorphem als Klassenkopf festgelegt werden Saumlmt liche

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Quadrat zeichen in einer Zeichenklasse beinhalten somit einen iden tischen Zeichen bestandteil (naumlmlich den Klassenkopf oder eines seiner Allo morphe) Eine Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe bietet Abbildung 3

Abbildung 3 Erste Seite der Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe (aus Couvreur 1911 1063)

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Die Nachschlagmethode mit Klassenkoumlpfen ist aus den Kompositions-eigen schaften chinesischer Quadratzeichen heraus entwickelt wor den und diese wiederum sind am wesentlichsten durch die bei weitem zahlen-staumlrkste Zeichengattung der Ideophonogramme gepraumlgt Die uumlber wiegende Mehr heit chinesischer Quadratzeichen sind Kompositionen von Zeichen-morphemen die sich bei der Zeichenbildung als (ggf zeichen allo morphisch aus ge formte) Bestandteile wiederholen Des weite ren stellen wie erwaumlhnt Ideo phono gramme die weitaus zahlenstaumlrkste Quadrat zeichen gruppe dar Manche sinntragende Zeichenmorpheme treten dermaszligen haumlu fig auf dass sich die von ihnen mitgebildeten Quadratzeichen nach die sen Sinn traumlgern gruppieren lassen Diesen Umstand macht man sich zu nutze um Quadratzeichen in den herkoumlmmlichen chine sischen Woumlrter buumlchern nach einigen hochfrequenten Zeichenmorphemen zu ordnen Das heiszligt es werden Quadratzeichen mit demselben Zeichen mor phem (-Bestand teil) zusam men geordnet Da die meisten Quadrat zeichen mehr als ein Zeichen-morphem beinhalten wird formalistisch aus jedem mehrglied rigen Qua-drat zeichen ein bestimmtes Zeichenmorphem als fuumlr die Woumlrterbuch-Ein-rei hung maszlig geblich festgelegt Dieses Zeichen morphem bezeichnet man als bdquoKlas sen kopf (des Quadrat zeichens)ldquo Unter einem bestimmten Klassen kopf wer den Quadratzeichen weitergehend nach der Strichzahl geordnet

Aus Ideophonogrammen waumlhlen Herausgeber chinesischer Woumlrter buumlcher vor nehmlich den Sinntraumlger als Klassenkopf aus selten den Laut traumlger Die se Handhabung ist der Grund dafuumlr dass im Bewusstsein chinesi scher Schrei ber das Klassenkopf-Prinzip und das ideophonographische Prin zip eng verwoben sind und das wiederum hat uns veranlasst die Er laumlu te-rung von bdquoKlassenkoumlpfenldquo in dem Abschnitt der Ideophono gramme zu be han deln Weiters fungieren als Klassenkoumlpfe pragmatischer weise et liche kom plexere Zeichen morpheme (einschlieszlig lich solcher die ihrer seits von Ideo phono grammen abgeleitet sind) welche haumlufig als Bestand teile von Qua drat zeichen vor kommen bzw deren Bestand teile um staumlndlich zu zer glie dern waumlren Nicht zuletzt gibt es Quadrat zeichen die mit nur sehr duumlrf tigen Strichzuumlgen geschrieben werden und sich schwerlich aus ein-ander trennen lassen (zB das Quadrat zeichen 七 qī fuumlr die Zahl sie ben) Wuumlr den viele solcher Quadratzeichen als Klassen koumlpfe aufge nom men so stuumln den im Woumlrterbuch etliche Klassenkoumlpfe die nur sehr wenige Ein-traumlge unter sich vereinigen wuumlrden Aus derartigen Quadrat zeichen wird des wegen oft ein einziger Strichzug zum Klassenkopf erklaumlrt auch wenn die unter ihm zusammen sortierten bdquoStrichzug-Klassen koumlpfeldquo zeichen-etymo logisch nichts miteinander gemein haben moumlgen (zB steht der

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Strich zug aus dem das freie Zeichen morphem 一 yī eins besteht als Klassen kopf auch fuumlr das Quadratzeichen 七 qī sieben) Die Anzahl der Klassen koumlpfe belaumluft sich heute auf rund 200 Zahlschwankungen sind dar auf zu ruumlck zu fuumlh ren dass zwischen den einzelnen Woumlrterbuch-Herausgebern Mei nungs ver schie den heiten daruumlber herrschen ob einige Strich zuuml ge Strichzug kom plexe oder gar Zeichen morpheme als Klassen-koumlpfe auf zu nehmen seien

42 Laut-Morphem-Entsprechungen in Ideophonogrammen

Waumlhrend die Formen der chinesischen Quadratzeichen seit knapp 2000 Jah ren verhaumlltnismaumlszligig stabil geblieben sind haben sich im Laufe der Zeit Gebrauch und Aus sprache der Silben stark veraumlndert Wenn sich die Laut bilder einer seits eines Ideophono gramms und andrerseits seines als freies Quadrat zeichen auftretenden Lauttraumlgers allmaumlhlich aus einander ent-wickel ten dann hatte das zur unausbleiblichen Folge dass der Lauttraumlger die Lau tung des von ihm mitgebildeten Komplexes (naumlmlich den Lautwert der Silbe des Ideo phono gramms) mit der Zeit immer ungenauer wieder gibt Das laumlsst sich mit der allmaumlhlichen Auseinanderentwicklung von Schrei-bung und Lau tung auch in Kultursprachen mit Alphabetschriften (wie Fran zouml sisch oder in viel geringerem Maszlige Deutsch) vergleichen

Gilt es die Laut-Morphem-Entsprechung in Ideophonogrammen zu be ur-teilen so sollte man folgende zwei Aspekte in Betracht ziehen erstens ob das Ideo phonogramm und sein Lauttraumlger wenn er in freier Stellung als Qua drat zeichen auftritt homo(io)phon seien und zwei tens ob alle Ideo-phono gramme die das gleiche Zeichenmorphem als Laut traumlger auf weisen ho mo(io)phon seien

Die folgenden Beispiele bilden einige Fallgruppen die grob nach diesen zwei Kri terien sortiert sind Geordnet sind sie hier letztlich nach der Komplexi-taumlt ihrer phonetischen Verhaumlltnisse

(38) Freies Zeichenmorphem 皇 huaacuteng Kaiser als Lauttraumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon徨 huaacuteng unsicher 煌 huaacuteng glaumlnzend 蝗 huaacuteng Heu-schrecke 凰 huaacuteng Phoumlnix 遑 huaacuteng geschweige denn 隍 huaacuteng Graben 湟 huaacuteng Sumpf 惶 huaacuteng aumlngst-lich

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Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder114

(39) Freies Zeichenmorphem 番 fān barbarisch als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

翻 fān umwaumllz- 幡 fān schmale haumlngende Fahne 旛 fān Wim pel 蕃 fān exotisch

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon藩 faacuten Zaun

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon播 bograve streu-

(40) Freies Zeichenmorphem 青 qīng dunkelgruumln hellblau als Laut-traumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon清 qīng deutlich 蜻 qīng Wasserjungfer 鯖 qīng Ma krele

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon情 qiacuteng Gefuumlhl 晴 qiacuteng klar (in bezug auf Wetter)

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon請 qǐng bitt-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend精 jīng Extrakt Essenz 菁 jīng Quintessenz 睛 jīng Au ge

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend靖 jigraveng befried-

(41) Freies Zeichenmorphem 需 xū brauch- als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend

儒 ruacute Gelehrte(r) 蠕 ruacute sich schlaumlngel- 孺 ruacute Klein kind 濡 ruacute ein tauch- 嚅 ruacute murmel-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon懦 nuograve feige 糯 nuograve Klebreis

(42) Freies Zeichenmorphem 台 taacutei Podest als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

抬 taacutei aufheb- 跆 taacutei trampel- 邰 taacutei ein bestimmter Nach-name 颱 taacutei Taifun

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon苔 tāi Moos 胎 tāi Foumltus

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c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend怠 dagravei faulenz- 殆 dagravei gefaumlhrlich 迨 dagravei bis

d Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt笞 chī peitsch-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon怡 yiacute froumlhlich 貽 yiacute hinterlass- 飴 yiacute Konfekt

f Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon冶 yě schmied-

g Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon治 zhigrave verwalt-

(43) Freies Zeichenmorphem 出 chū her-hinaus als Laut trauml ger ge bunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon絀 chugrave unterlegen 黜 chugrave amtsentheb-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend und mit aumlhn li-chem An glitt屈 qū beug-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt拙 zhuoacute ungeschickt 茁 zhuoacute gedeih-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon咄 duograve ein bestimmtes lautmalerisches Wort

(44) Freies Zeichenmorphem 且 qǐe und als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit demselben Anglitt

蛆 qū Made b Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt und

demselben Ton狙 jū einen Anschlag veruumlb-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt齟 jǔ sich streit- 沮 jǔ niedergeschlagen 咀 jǔ kau-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon租 zū miet-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon阻 zǔ hinder- 祖 zǔ Ahn 俎 zǔ Schneidbrett 詛 zǔ ver fluch‑ 組 zǔ Satz (bei Maszligangaben)

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Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder116

In den obigen Beispielen liegt das Augenmerk darauf welches lautliche Ver haumllt nis zwischen einem Ideophonogramm und seinem Lauttraumlger wenn er frei vorkommt besteht In aumlhnlicher Weise koumlnnte man das Hauptaugen merk dar auf legen in welchem Verhaumlltnis die Lautungen aller Ideophono gram me wel che ein und denselben Lauttraumlger nutzen zueinander stehen

In unseren Beispielreihen sind saumlmtliche Ideophonogramme einer durch Buch staben gekennzeichneten Reihe homophon und weisen den glei-chen Lauttraumlger auf so ist zum Beispiel bei (42) die Lautung saumlmt li cher Ideo phonogramme in Reihe a taacutei in b tāi in c dagravei in d chī in e yiacute in f yě und in g zhigrave Die Ideophonogramme mit dem sel ben laut-tragenden Zeichenmorphem in a taacutei und b tāi sind homoio phon Die Ideo phonogramme in a taacutei und b tāi reimen sich mit denen in c dagravei und besitzen zumindest aumlhnliche Anglitte (t und d) Die Ideo phono-gramme in d chī e yiacute und g zhigrave reimen miteinander Die Quadrat-zeichen in e yiacute und f yě teilen den gleichen Anglitt y waumlh rend der Anglitt in d ch dem in g zh aumlhnelt (bis auf [aspiriert] in al len phono-logischen Merkmalen gleich)

Augenscheinlich lassen sich die Ideophonogramme mit dem freien Zei chen-morphem 台 taacutei Podest (46) in zwei Gruppen unter gliedern Diejenigen in a taacutei b tāi und c dagravei weisen denselben Reim ai untereinander und mit dem frei auftretenden Lauttraumlger taacutei auf waumlhrend sich die Anglitte t und d (in IPA [t ] und [t]) lediglich in dem phonologischen Merkmal [aspi-riert] unter scheiden Dementgegen zeigen die Ideophonogramme in d chī e yiacute f yě und g zhigrave entweder denselben Reim i oder den gleichen bzw einen aumlhnlichen Anglitt (y bzw ch und zh) weder der Reim i noch die An glitte y ch oder zh klingen nach dem frei vorkommenden Laut-traumlger taacutei Wahrscheinlich ist das laut tragende Zeichenmorphem 台 taacutei Po dest durch einen Zusammenfall (Synkretismus) von zwei zeichen etymo-logisch verschiedenen Zeichenmorphemen zustande gekommen oder aus zwei urspruumlnglich geschiedenen Zeichenmorphemen kon tami niert Auch ist denkbar dass die Lautung des freien Zeichen morphems durch Fremd-einfluss (Fremd lautung oder Uumlber nahme mundartlicher Faumlrbung) oder aus einem uns heute verdunkelten historischen Grund veraumlndert wurde Die von ihm abgeleiteten Lauttraumlger waumlren dann zu unter schiedlichen Zei ten (und entsprechend mit unterschiedlicher Lautung) in Ideophono gram me ein gebaut worden

Aus den obengenannten Beispielen laumlsst sich ersehen dass nicht jeder Lauttraumlger einen zuverlaumlssigen Hinweis auf den Lautwert seines Ideo-

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phono gramms gibt Die Zuverlaumlssigkeit mit der ein laut tragendes Zeichen-morphem an einer bestimmten Lautung (oder einem Lautungs buumlndel) verankert werden kann ndash und umgekehrt ndash ist abhaumlngig ua von a) der Anzahl der Ideophonogramme die den gleichen Lauttraumlger aus weisen und phonetisch miteinander uumlbereinstimmen und b) der Haumlufig keit mit der diese Ideophonogramme im Gebrauch vorkommen und damit als Induk-tions basis fuumlr den Anwender dienen koumlnnen

Beispiels weise weisen die Ideophonogramme 提 tiacute heb- bring- erwaumlhn- auf werf- und 堤 tiacute Damm die sehr haumlufig gebraucht werden den gleichen Laut traumlger 是 shigrave sei- auf Daraus ziehen Lerner und Benutzer chine sischer Quadrat zeichen den vorlaumlufigen Schluss dass Ideophono-gramme die den Laut traumlger 是 shigrave sei- enthalten ungefaumlhr mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden sollten ndash obgleich die Lauttraumlger lautung mit der freien Lautung nur im Silbengipfel (hingegen weder im Anglitt noch im Tone) uumlberein stimmt in seiner Eigenschaft als Lauttraumlger haftet dem Zeichen morphem somit eine andere Lautung an als dort wo es frei auf tritt Diese Schluss folgerung finden Quadrat zeichen benutzer bestaumltigt wenn sie seltenere Ideophono gramme wie 醍 tiacute Butter fett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln und 禔 tiacute Gluumlck kennenlernen Stoszligen sie dann auf die ihnen womoumlglich gaumlnzlich (also auch in der Lautung) unbe-kannten Tier namen 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel so sprechen sie beim Vorlesen die fuumlr sie offenkundig als Ideophono gramme erkenn-baren Quadrat zeichen in Analogie ebenfalls mit der Silbe tiacute aus und in diesem Falle stimmt diese Leseaussprache auch Sehen sie nun aber ein anderes ihnen unbekanntes fuumlr sie nicht minder offensichtlich als Ideo-phono gramm zu deutendes Quadratzeichen 湜 shiacute rein (in bezug auf Was ser) so ordnen sie wiederum in Analogie zur oben geschil derten Erfah rung dem Ideophonogramm gleichermaszligen die Silbe tiacute zu ndash dies-mal aber irriger weise denn im Gegensatz zu dem uumlblichen Muster wonach die den Lauttraumlger 是 enthaltenden Ideophonogramme immer mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden bezieht das Ideophono gramm 湜 shiacute rein (in bezug auf Wasser) ungewoumlhnlicherweise seine Lautung unmittelbar aus dem Lautwert des freien Quadratzeichens 是 shigrave sei- wird folglich zu diesem homoiophon mit der Silbe shiacute ausgesprochen

Zu Verwirrungen kann es nicht nur innerhalb der Kategorie der Ideo phono-gramme kommen sondern es geschieht weil ja im Chinesi schen die Ideo-phono gramme dermaszligen vorherrschend sind gelegentlich auch dass ein Leser zusammengesetzte Ideogramme deren Quadratzeichen er noch nicht kennt als Ideophono gramme missdeutet In solchen Faumlllen kann zweier lei

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder118

geschehen Entweder laumlsst der Leser sich vom bdquoPseudo-Lauttraumlgerldquo der maszligen beeinflussen dass er dem ihm unbekannten Quadrat zeichen als Leseaussprache sekundaumlr eine Lautung beimisst welche er mit dem Pseudo-Lauttraumlger verbindet oder aber ndash und das duumlrfte bedeu tend seltener geschehen ndash erkundigt sich der Leser uumlber die sprech sprach lich richtige Lautung des Quadratzeichens und ordnet in seinem Bewusst sein dem Lautungs buumlndel des Pseudo-Lauttraumlgers dann zusaumltzlich diese neue Lautung zu

5 Zur Kombinatorik von ZeichenmorphemenDie uumlberwiegende Mehrheit der chinesischen Quadratzeichen ist durch Kompo si tion von zwei oder mehr Zeichenmorphemen entstanden Aller-dings sind die Zei chen morpheme eines Quadratzeichens im Schreibquadrat nicht willkuumlrlich son dern nach gewissen zeichenmorphotaktischen Regeln platziert

Die kombinatorischen Eigenschaften eines Zeichenmorphems wo es als Kom posi tions glied im Quadratzeichen auftritt sind von zwei Fakto ren ab haumlngig erstens ob das Zeichenmorphem nur gebunden oder aber auch frei vorkommt und zweitens ob das Zeichenmorphem als Bestand teil eines Qua drat zeichens immer ein und dieselbe Position inner halb des Schreib-qua drates einnimmt (stellungsstarr) oder aber an mehreren Posi tionen vor-kommen kann (mehr-Stellungs-faumlhig)

Ein Zeichenmorphem welches nur gebunden als Kompositionsglied im Qua drat zeichen genutzt werden kann ist in aller Regel stellungsstarr Betrachten wir nachfolgend zunaumlchst diese Faumllle nur-gebundener Allo-morphe

(45) Ehemals freies Piktogramm dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette kommt heut zutage nur mehr gebunden vor und ist stellungs starr

a immer am linken und zugleich oberen Quadratzeichenrande wie in 疾 病 瘋 癲 疲 疼 痛 疚 疤 痕 痊 癒 癱 瘓 瘦 疫 療 癮

(46) Ehemals freies Piktogramm dagger卩 daggerjieacute Daggerknieendersitzender Mensch kommt heutzutage nur mehr gebunden vor und ist stellungsstarr

a immer auf der rechten Seite im Quadratzeichen wie in 卯 印 即 卲 卸 卹 卻

Sofern ein Zeichenmorphem auch als eigenstaumlndiges Quadrat zeichen (in Ge stalt eines Vollallomorphs) vorkommt haumlngt seine Stellungs frei heit inner halb des Schreibquadrates davon ab welcher Allomorphart es ange-

119

houmlrt den Schrumpfallomorphen oder den Allomorphkuumlrzeln In der Regel nimmt ein Allomorph kuumlrzel nur eine einzige Stelle im Schreib qua drat ein ist also stellungsstarr waumlhrend sich ein Schrumpfallomorph nicht auf eine feste Positio nierung beschraumlnken muss (allenfalls kann) mithin poten ziell mehr-Stellungs-faumlhig ist Das ist der Grund dafuumlr warum die Zeichen morphem gattung bdquoAllomorph kuumlrzelldquo im Bewusstsein chinesi scher Schreiber eine besondere Rolle spielt Nachfolgend fuumlhren wir Bei spiele fuumlr die Platzierung von Schrumpf allomorphen und Allomorph kuumlrzeln im Qua dratfeld an

(47) Piktogramm 山 shān Berg kommt auch frei als Vollallomorph vor so wie als

a Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 屹 崎 嶇 峽 嶼

b Schrumpfallomorph an der Oberkante des Quadratzeichens wie in 嶺 崇 岸 崗

c Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 岡 巒 岳 岔 島

d Schrumpfallomorph auf der rechten Seite im Quadratzeichen (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 訕 汕 疝

(48) Piktogramm 手 shǒu Hand kommt auch frei als Vollallomorph vor sowie als

a Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 摩 拳 拿 掌 擎 摯 擊 攀

b Schrumpfallomorph auf der linken und rechten Seite (im Rahmen der seltenen Komposition aus drei gleichrangigen Gliedern) des Quadratzeichens 掰

c Schrumpfallomorph in der Quadratzeichenmitte und dabei oben so wie beidseits uumlberragt wie in 承

d Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 拜 welches rechts mit einem nur-gebundenen unikalen Allo morph be stuumlckt ist das seinerseits wiederum ur spruumlng lich ebenfalls von dem Pikto gramm 手 shǒu Hand abge leitet ist

e Allomorphkuumlrzel (stellungsstarr) zeichenmorphotaktisch nur im mer am linken Quadratzeichenrande wie in 打 扒 扔 扣 扛 拖 抖 扯 把 抓 攪 拌 捕 捉 握 抽 抵 押

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder120

Die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommen den Zeichen-morphem dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette zusammen gesetzter Qua drat-zeichen sind etwa 病 Krankheit 瘋 verruumlckt 疲 muumlde 痛 Schmerz 疤 Nar be 癒 verheil- 癮 Sucht die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommenden Zeichenmorphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersit zen der Mensch sind zB 印 Stempel 即 sofort 卸 entlad- 卹 troumlst- 卻 hingegen die Bedeutungen solcher Quadrat zeichen mit dem auch frei vorkom menden Zeichen morphem 山 shān Berg sind bei spiels-weise 崎 felsig 峽 Tal 嶼 Inselchen 嶺 Gebirgs zug 岸 Ufer 岳 ho her Berg 島 Insel und Qua drat zeichen mit dem auch frei vor kom-menden Zeichen morphem 手 shǒu Hand koumlnnen folgendes be deuten 拜 anbet- 摩 mit der Hand reib- 拳 Faust 拿 hol- 打 schlag- 捉 einfang-Was Ideophonogramme anlangt kann man meistens aus ihren Kompo si-tions struk turen und den Eigenschaften des Zeichenmorphems schlie szligen ob ein als Kompositionsglied genutztes Zeichenmorphem der Sinn- oder aber der Lauttraumlger eines Ideophonogramms sei Diesbezuumlglich ver su chen wir im Fol genden einige brauchbare Richtlinien aufzustellen und diese an hand der oben aufgelisteten Beispiele zu erlaumlutern Zu beachten ist dass nicht alle Quadrat zeichen in (45) (46) (47) und (48) Ideo phonogramme sind Die Er laumluterung bezieht sich ausschlieszliglich auf die ideo phonographi schen unter den angegebenen Quadratzeichen Saumlmtliche Quadratzeichen in (45) (47) a b und d sowie (48) e stellen Ideophono gram me dar In (46) sind zB folgende Quadratzeichen Ideophonogramme 即 卲 卹 in (47) c 巒 島 und in (48) a 摩 擎 摯

Richtlinie 1 Bei bestimmten Kompositionsstrukturen finden sich der Sinn- und der Lauttraumlger jeweils in bestimmten Stellungen In Ideophono-gram men in denen ein Kompositionsglied das andere (teilweise) um saumlumt (bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition) nimmt der Sinntraumlger die Auszligen- und der Laut traumlger die Innen stellung ein wie in (45) In ideophonogra phi schen Kom posita in denen die Kompositionsglieder senkrecht voneinander zu tren nen sind (bdquoLinksrechtsldquo-Komposition) befinden sich der Sinn traumlger links und der Laut traumlger rechts wie in (47) a und d sowie in (48) e Bei Ideo phono grammen in denen die Kompositionsglieder waage recht von-ein ander zu trennen sind (bdquoObenuntenldquo-Komposition) haumlngt die Unter-brin gung der sinn- und lauttragenden Zeichenmorpheme weniger von ab strakt beschreibbaren Regeln ab sondern sie bdquoklebtldquo eher am einzel nen Zeichen morphem In solchen Faumlllen muss man gewissermaszligen zu jedem Zeichen morphem ein Buumlndel Zusatzeigenschaften kennen zu denen auch

121

die eben erwaumlhnte Po sitio nierung im Zeichen quadrat bei bdquoObenuntenldquo-Kom position gehoumlrt (vgl (47) b und c sowie (48) a)

Richtlinie 2 Es gibt eine beschraumlnkte Anzahl haumlufig gebrauchter Zei-chen mor pheme die ausschlieszliglich oder uumlberwiegend nur einer der bei den Funktionen (Sinn- oder Lauttraumlger) dient Beispielsweise handelt es sich in (45) (46) und (48) um Zeichen morpheme die aus schlieszlig lich als Sinn traumlger erscheinen In (47) tritt das Zeichen morphem 山 shān Berg ungleich haumlufiger als Sinn- (wie in (47) a b und c) denn als Laut traumlger (wie in (47) d) auf nicht zuletzt ist es in seiner selteneren Funktion als Laut traumlger aus schlieszliglich auf der rechten Seite im Schreib quadrat auszumachen (wie in (47) d) wobei noch dazu seine Kompositionspartner auf der linken Seite alle samt gebraumluchliche Sinntraumlger sind und somit die obengenannte Stel-lungs regel bei der bdquoLinksrechtsldquo-Komposition eingehalten wird

Richtlinie 3 Stellungsstarre Kompositionsglieder seien es Allomorph kuumlr-zel wie in (48) e oder nur-gebundene Zeichenmorpheme wie in (45) und (46) dienen in ideophonographischen Quadratzeichen in aller Regel als Sinn traumlger In (46) bestehen die Ideophonogramme aus zwei Kom posi tions-gliedern jeweils einem auf der linken und einem auf der rechten Seite Nach Richtlinie 1 sollte ein Leser den linken Bestandteil als Sinn traumlger und den rechten als Laut traumlger deuten koumlnnen Nun werden bei den Ideo phono gram-men in (46) allerdings die jeweils linken Zeichen morpheme erstens selten als Kompositions glieder in Quadrat zeichen eingesetzt und zweitens falls doch dann sind sie fast nie Sinn traumlger Dem gegen uumlber stellt das stellungs-starre Zeichen morphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersitzender Mensch das stets die rechte Stel lung einnimmt einen gebraumluchlichen Sinn traumlger dar der erfah rene LeserSchreiber hat bei diesem (und anderen) Zeichen also nicht nur die Form sondern zugleich auch etwaige an dieser Form bdquoklebendeldquo Eigen schaften wie bdquoSinn traumlgerldquo und bdquoStellung inner halb des Quadrat feldesldquo ver inner licht Diese Kenntnisse fuumlhren ihn dann zur Schluss folge rung dass die Ideo phono gramme in (46) so komponiert worden seien dass ndash im Gegensatz zur gewoumlhnlichen Positionierung ndash der Sinn traumlger auf der rechten Seite und der Lauttraumlger auf der linken Seite stehe

Wenn sie die obengenannten Richtlinien verinnerlicht haben nehmen Lerner und Benutzer chinesischer Schriftzeichen nur selten das sehr haumlu-fige Quadrat zeichen 題 tiacute Aufgabe als Ideophonogramm wahr Zeichen-etymolo gisch betrachtet besteht dieses Quadratzeichen naumlmlich rechtsinnen aus dem Schrumpf allomorph des Laut entlehnungs zeichens 頁 yegrave Seite als Sinn traumlger und linksauszligen aus dem Allomorph des zu sam men-gesetz ten Ideo gramms 是 shigrave sei- als Lauttraumlger Warum aber erkennt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder122

man diesen ideophonographischen Aufbau von 題 tiacute Aufgabe nun aber meist nicht Das Zeichen mor phem 是 shigrave sei- tritt als Laut traumlger in aller Regel auf der rechten Seite von Ideo phono grammen mit bdquoLinksrechtsldquo-Komposition auf diese Eigen schaft des Zeichen mor phems laumlsst sich aus etlichen Beispielen indu zieren 提 tiacute heb- 堤 tiacute Damm 醍 tiacute Butterfett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln 禔 tiacute Gluumlck 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel Aller dings im Qudratzeichen 題 tiacute Aufgabe steht 是 shigrave einzig artiger weise auf der linken Seite obgleich es in dieser Kom position gleicher maszligen Laut traumlger ist auf faumllligerweise wird zu dem der untere Strich des Allo morphs von 是 shigrave sei- nach rechts unten weitergezogen Dieser weiter gezogene Strich veranlasst den Leser das Quadratzeichen 題 tiacute Auf gabe nicht mehr als bdquoLinksrechtsldquo-Komposition sondern eher als eine (auch anderweitig uumlbliche) bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition zu erachten und da mit ist das Allo morph des Zeichen-morphems 是 shigrave sei- als aumlu szligerer Bestand teil und das Schrumpf allo morph des Zeichen morphems 頁 yegrave Sei te als innerer Bestandteil zu wer ten Wie oben erlaumlutert dient bei Ideo phono grammen mit solcher bdquoAu szligenin nenldquo-Komposition in der Regel das aumluszligere Zeichen morphem (hier 是 shigrave sei-) als Sinn- und das innere (hier 頁 yegrave Seite) als Lauttraumlger Im Qua-drat zeichen 題 tiacute Auf gabe in des sen ist es gerade umgekehrt denn hier nimmt der Laut traumlger die sonst fuumlr den Sinn traumlger uumlbliche Stellung ein und umgekehrt Deshalb wertet der Leser wie erwaumlhnt dieses Quadrat-zeichen schwer lich als Ideo phono gramm son dern nimmt es einfach als Ein heit hin ohne es zu ana lysieren Dieser Ver zicht des Anwenders sich den ideophonographischen Zeichenaufbau zu ver durch sich ti gen liegt umso naumlher als es sich beim Ideophonogramm 題 tiacute Auf gabe um ein uumlber-aus gelaumlufiges Qua drat zeichen handelt sehr gelaumlufige sprachliche Grouml szligen idiomatisiert man bekanntlich schneller und nimmt sie dann eher als gege-bene Einheiten wahr ohne dass man das Beduumlrfnis hegte sich ihren Auf-bau bei jedem Auftreten neu zu vergegenwaumlrtigen

6 Mehr-Zeichen-Komposita und chinesische TexteJedes chinesische Einzelschriftzeichen wird unabhaumlngig von der Zahl sei-ner Bestand teile (Zeichen morpheme) und Strichzuumlge zu einem theore tisch gleich groszligen quadratischen Block gestaltet Anlaumlsslich dieser Eigen schaft wird es im vorliegenden Beitrag ein gaumlngig bdquoQuadrat zeichenldquo genannt Die Rege lung dass alle Quadrat zeichen theoretisch ein gleichgroszliges Feld aus fuumlllen wird beim Drucken und beim Lernen streng eingehalten Diese Diszi plinie rung scheint trivial zu sein sie ist fuumlr die Aufrecht erhaltung der

123

Funktions weise der chinesischen Schrift jedoch von nicht zu unter schaumlt-zender Bedeutung Dadurch dass alle Zeichen morpheme eines zusammen-gesetz ten Schrift zeichens in einem gedachten Quadrat bestimmter Groumlszlige ange ordnet werden vermeidet man dass seine Bestandteile gra phisch aus-ein ander fallen

61 Schriftliche Wiedergabe lexikalischer mehrsilbiger Komposita

In klassischen chinesischen Texten steht jedes Quadratzeichen fuumlr einen Be griff Etliche Quadratzeichen repraumlsentieren als Homographe meh rere Bedeu tungen also mehrere bdquoWoumlrterldquo (meist Homonyme) Je nach Kon text wird die angemessenste Bedeutung dahinter verstanden Um diese Mehr-deutigkeit zu mindern wurden zuerst neue Quadrat zeichen konstruiert welche die Begriffe eindeutiger abbilden konnten Wohl gemerkt ein Qua-drat zeichen obgleich (heute) mit einer Silbe ausgesprochen bildete zunaumlchst nicht unbe dingt eine einzige Silbe ab sondern stand damals noch fuumlr ein Abbild des Inhalts fuumlr einen Begriff der Inhaltsseite welcher ausdrucks-seitig durch passende bdquoWoumlrterldquo (Einsilbler oder Silben syntagmen) ausge-druumlckt werden konnte Nach und nach hielt das Tempo der Quadrat zeichen-bildung nicht mehr mit der sprunghaften Vermehrung neuer bdquoWoumlrterldquo Schritt auch wuumlrden zu viele Ein-Begriff-ein-Quadratzeichen-Entspre-chun gen zu Lasten des Gedaumlchtnisses gehen Aus diesem Grund haben sich Gelehrte auf die feste Hinterein ander reihung mehrerer Quadrat zeichen verlegt ndash und jedes dieser Quadrat zeichen entsprach dann nur noch einer ein zigen Silbe Mehr silbige bdquoWoumlrterldquo konnten und mussten nun also mit einer ihrer Silben zahl entsprechenden Reihe von Quadratzeichen geschrie-ben werden Durch den rekursiven Einsatz vorhandener Quadratzeichen lassen sich so nahe zu unbegrenzt neue Einheiten bilden ohne dass man den Bestand der Quadrat zeichen weiter erhoumlhen muumlsste Als Ergebnis ent-stehen Mehr-Zeichen-Komposita aus zwei drei oder mehr Quadratzeichen Im der deutschen Wortbildung lassen sich mehrgliedrige Komposita (und Mehrfach-Ableitungen) vergleichen

Da zu Anfang als die Schrift noch bildhafter war und eher Begriff lichkeiten denn Lautwoumlrter ausdruumlckte und jedes Zeichen einen Begriff dar stellte (hinter dem sich mehrere Sprechwoumlrter vereinen lieszligen) war keine begren-zende Leere zwischen Quadratzeichen in einer Zeile noumltig Auch als spaumlter die genann ten Mehr-Zeichen-Komposita ent standen blieb dieser Zu stand un veraumlndert So gibt es auch heute beim Schreiben keine Markie rung zwi-schen lexikalischen Einheiten zwischen enger und weniger eng Zu sammen-gehoumlren dem Jedes Quadrat zeichen ist vom anderen gleich weit ent fernt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

124

gleich ob ein zwei oder mehr Quadrat zeichen zu einem lexika lischen Kom positum zusammengehoumlren Bis auf Anfuumlhrungszeichen fuumlr bdquoneueldquo bzw erklaumlrungsbeduumlrftige bdquoWoumlrterldquo wird auch niemals ein Binde strich oder ein entspre chendes Verdeutlichungs zeichen angewandt welches die Zusammen gehoumlrigkeit eines Mehr-Zeichen-Kompositums kenn zeichnen wuumlrde

62 Interpunktion im chinesischen Text

Die Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen stellt nicht die einzige Schwierig keit beim Lesen klassischer Texte dar Sind schon die Wort gren-zen nicht markiert (und damit zB die haumlufigen Mehr-Zeichen-Komposita nicht als zusammengehoumlrig kennzeichenbar) so gilt dasselbe in klassi schen Tex ten obendrein fuumlr die Grenzen zwischen Saumltzen Des weiteren wurden klassi sche Schriftwerke wohl schon wegen des teuren Schreib materials in einer sprachlich sehr gedraumlngten Form (einer Art bdquoTelegramm stilldquo) verfasst die sich uns heute ohne Kenntnis der damaligen Umstaumlnde heraus nicht mehr von selbst erklaumlrt Daruumlber hinaus gibt es im Chinesischen als isolie-render Sprache kein Kasussystem welches die Rolle der Satz glieder unter-stuumltzend anzeigen koumlnnte Waumlhrend in der heutigen Schriftsprache (in Ent sprechung zur Sprechsprache) wenig Spielraum hinsichtlich dessen herrscht in welcher Folge man Quadratzeichen im Satz anordnen kann kennt die klassische Schreibung kaum Regeln fuumlr die Anordnung der Qua-drat zeichen die schriftliche Fixie rung des Sinnes ist sehr unscharf und da durch sind viele und oft genug stark unterschiedliche Aus legun gen moumlg-lich bzw noumltig fuumlr alle bdquoWort artenldquo ist theoretisch die syntaktische Rolle in einem Satz jederzeit austauschbar Je nach Interpretationsbedarf werden die passendste Bedeutung und Anwendung gewaumlhltDie Sinn-Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen der Mangel an Wort-grenzen Satzzeichen und Kasus die relativ freie Quadratzeichen=bdquoWortldquo-Stel lung sowie die spaumlrliche Schreibweise ndash und nicht zuletzt auch der im Laufe der Zeit eingetretene Sprachwandel in der Sprech sprache ndash er schweren chinesischen Gelehrten die Ausdeutung klassischer Texte seit Ge nera tionen Der Volksmund nimmt diesen Umstand mit folgender Geschichte aufs Korn Es war einmal ein Mann der als es heftig regnete bei einem Besuch im Hause seines Gastgebers dort auch fuumlr die Nacht unterkam Der Regen indes dauerte und dauerte an so wohnte der Besucher Tag um Tag weiter in dem gastfreien Hause Aus Houmlflichkeit wollte der Gastgeber seinem Besu-

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder

125

cher nicht von Angesicht zu Angesicht mitteilen dass er jetzt langsam denn doch nach Hause zuruumlckkehren sollte also klebte er einen Zettel an die Zimmertuumlr des klettigen Gastes Darauf stand

(49) 下雨天留客天留我不留

a 下 xiagrave herabfall- b 雨 yǔ Regen c 天 tiān Himmel Tag d 留 liuacute (jemanden) halt- e 客 kegrave Besucher f 我 wǒ Pronomen der 1 Person g 不 bugrave nicht bu eine Fragepartikel

Der Gastgeber wollte damit ausdruumlcken

(50) 下雨天留客天留我不留

Es regnet Der Himmel haumllt den Besucher [hier bei mir fest] Der Himmel will [dich] halten ich [aber] nicht

Allerdings hatte der kleine Text (49) klassischerweise keine Interpunktion Der gewitzte Besucher indes fuumlgte eine solche auf folgende Weise hin zu

(51) 下雨天留客天留我不留

Tage an denen es regnet [sind] Tage da der Besucher [im Hau se] behalten [werden sollte] [Sollst du als Gastgeber] mich hal ten oder nicht Jawohl [eigentlich Halten]

Das Quadratzeichen 天 tiān Himmel hat weitere Bedeutungen wie Tag Wet ter und Gott Das Quadrat zeichen 留 liuacute fuumlr das Verb halt- laumlsst sich intran sitiv im Sinne von bleib- verwenden Selbst das Quadrat-zeichen 不 bugrave fuumlr die Ver neinungs partikel nicht findet Anwendung auch als Frage partikel wobei dann beim Sprechen die Silbe nebentonig wird Es ist (vor allem im klassischen Text) nicht erforderlich dass alle Satz glieder wie syntak tisches Subjekt oder Objekt eines Satzes ausgedruumlckt werden Hat sie der Textver fasser nicht hingeschrieben so muss sie der Text leser selbst aus dem Kon text erschlieszligen Je nach Hintergrund oder Bedarf ergeben sich unterschiedliche ggf widerspruumlchliche Inter pretationen des-selben Tex tes

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

63 Laufrichtungen von Quadratzeichenfolgen und Textzeilen

Die Schreibrichtung der chinesischen Quadratzeichen ist traditionell in der Regel senkrecht von oben nach unten und die so entstehenden senkrechten Zeilen sind von rechts nach links angeordnet Seit ca 100 Jahren werden chine sische Texte neben der althergebrachten Schreibrichtung auch in Zeilen von links nach rechts und mit von oben nach unten angeordneten Zeilen geschrieben ndash wie in europaumlischen Buumlchern

Dank der Tatsache dass wegen der Form der Quadratzeichen die Zei-chen eines Textes wie die Kaumlstchen in einem Kreuzwortraumltsel angeord net sind sind bei einem chinesischen geschriebenen Text etliche spieleri sche Lesun gen und Schreibungen moumlglich Solche Spielereien sind bei Chine-sen traditionell uumlblich daher sei ihrer hier erwaumlhnt Nicht nur die Zei-chen an Zeilen anfaumlngen oder Zeilenenden sondern auch zB die jeweils sieben ten Quadrat zeichen aller Zeilen stehen in einer Flucht Sie bilden also quer durch die Zeilen laufende bdquo(Diagonal-)Spaltenldquo Das graphische bdquoAkro syllabonldquo dehnt sich uumlber den ganzen Text hin aus Man kann darin die Leserichtungen wechseln oder geometrische Figuren oder auch Endlos schleifen konstruieren So lassen sich beispielsweise auch die fuumlnf Quadrat zeichen in (52) spielerisch dergestalt niederschreiben dass sie in der ange gebenen Abfolge einen Kreis bilden der ndash das legen wir fest ndash im Uhrzeigersinn gelesen wird

(52) 清 心 也 可 以

a 清 qīng reinig- b 心 xīng Geist c 也 yě auch eine Bestaumltigungspartikel d 可 kě koumlnn- e 以 yǐ mittels eine Art Modalpartikel

Wieder dank der Mehrdeutigkeit und der vielfachen Anwendbarkeit kann jedes Quadratzeichen an den Anfang eines Satzes zu stehen kommen

(53) Die fuumlnf moumlglichen Lesarten der Kette aus fuumlnf Quadratzeichen in (52) sind somit folgende (die syntaktischen Komplexe sind durch zusaumltzliche Binde striche verdeutlichend getrennt)

a 清心也可以 (清心-也-可以) Den Geist zu reinigen [ist hiermit] eben falls moumlglich

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder126

b 心也可以清 (心也-可以-清) Der Geist ndash [er] ebenfalls ndash kann [hier-mit] gereinigt werden

c 也可以清心 (也-可以-清心) Ebenfalls kann [hiermit] der Geist ge rei nigt werden

d 可以清心也 (可以-清心-也) [Hiermit] kann der Geist gereinigt wer den jawohl

e 以清心也可 (以-清心-也可) [Hier]mit den Geist zu reinigen [ist] eben falls moumlglich

Das bdquoWortldquo 可以 in den ersten vier Saumltzen bedeutet koumlnn- wobei das Qua-drat zeichen 以 yǐ als rhythmische Partikel keinen Beitrag zur Bedeu tung leistet Das Quadrat zeichen 也 yě im vierten Satz ist ledig lich eine Bestaumlti-gungs partikel wenn es in klassischen Texten am Satz ende hin zuge fuumlgt wird Dieser etwas spielerische volkstuumlmliche Spruch findet sich auf einer chine sischen Teekanne Mit ihm ist gemeint dass guter Tee nicht nur den Durst stille sondern auch den Geist reinige

127Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder128

7 SchrifttumBlakney Raymond B (1948) A course in the analysis of chinese cha rac-ters Peiping The College of Chinese StudiesCouvreur Seacuteraphin (31911) Dictionnaire classique de la langue chinoise Zhili Ho Kien FouFazzioli Edoardo (2003) Gemalte Woumlrter 214 chinesische Schriftzeichen ndash vom Bild zum Begriff Wiesbaden Fourier-VerlagKarlgren Bernhard (22001) Schrift und Sprache der Chinesen Ber lin Springer-VerlagLin Hsin-Hwa (1996) Der sinnhafte Aufbau der chinesischen Schrift Frank furt am Main Peter LangRudolph Joumlrg-Meinhard (2004a) Das groumlszligte Geheimnis Chinas I Ludwigs hafen Ostasieninstitut der FH LudwigshafenRudolph Joumlrg-Meinhard (2004b) Das groumlszligte Ge heimnis Chinas II Ludwigshafen Ostasieninstitut der FH Lud wigs hafenWang Hongyuan (1997) Vom Ursprung der chinesischen Schrift Peking Sino lingua BeijingWieger Leacuteon SJ (1965) Chinese characters Their origin etymology his tory classification and signification A thorough study from Chinese do cu ments New York DoverYan Zhenjiang (2000) Schriftsystem Literalisierung Literalitaumlt Frank furt am Main Peter Lang

Danksagung Die Verfasser danken herzlich den KorrekturlesernMeike Brehmer Jost Gippert Joshua Kraumlmer und Andreas Schabalin

Dr Chung-Shan KaoDepartement fuumlr PsychologieUniversitaumlt Freiburg im UumlechtlandRue Petermann-Aymon de Faucigny 2CH-1700 FreiburgSchweizchung-shankaounifrch+41 (0)26300 74 94

Thorwald PoschenriederTausendschoumln-Verlag

Dorfstraszlige 39D-17509 LodmannshagenPommernDeutschlandTausendschoen-VerlagT-OnlineDe+49 (0)383 73266 88

Geschichte der Morphologie

Rosemarie Luumlhr1

The present approach to history of morphology centres around a certain term namely syncretism because this term plays a major role in modern linguistics under the name of underspecification In the following the phenomenon of underspecification will be dealt with firstly by means of Latin nominal mor-phology and secondly by reference to Old Indic This is supposed to indicate that the Old Indic grammarians already knew essential aspects of underspeci-fication

EinleitungDie Behandlung der Geschichte der Morphologie erfolgt anhand eines be-stimmten Begriffs naumlmlich anhand des Synkretismus weil dieser Begriff unter dem Terminus Unterspezifikation in der modernen Linguistik eine groszlige Rolle spielt Das Phaumlnomen der Unterspezifikation wird im folgenden erstens anhand der lateinischen nominalen Morphologie erlaumlutert zweitens anhand der altindischen Dabei soll gezeigt werden daszlig die altindischen Grammatiker schon wesentliche Aspekte der Unterspezifikation erkannt haben

Das griechische Substantiv συγκρητισμός Vereinigung von kretischen Ver-baumlndenrsquo dann Vereinigung zweier streitender Parteien gegen einen dritten Feindrsquo wurde von Erasmus von Rotterdam neu belebt im Sinne von Ver-mischung von religioumlsen Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbildrsquo Er hat das Wort volksetymologisch an griech συγκεράννυμι vermischersquo σύγκρατος vermischtrsquo angeschlossen Im 19 Jh erfuhr der Begriff eine Ausdehnung Die Anwendung auf die Sprachwissenschaft stammt von August Pott 18362

Eine uumlbliche Definition von Synkretismus findet sich in Abrahams bdquoTermi-nologie zur neueren Linguistikldquo (Abraham 1988 S 849)

bdquohistor Zusammenfall von urspruumlnglich verschiedenen grammatischen For-men mit verschiedenen Bedeutungen so daszlig sprachgeschichtlich Morphem- oder Phonemhomonymie zustande kommt synchron allerdings ist die Lizenz dieses Wandels daszlig eine der gesonderten Bedeutungen oder grammatischen

1 Herr Dr Bernd Wiese hat mir die das Latein betreffenden Graphiken zur Verfuumlgung gestellt und autorisiert Ich danke ihm herzlich dafuumlr2 BaermanBrownCorbett 2005 S 3f

Rosemarie Luumlhr130

Funktionen aufgegeben wird Dies zeigt sich im altgriech Kasussystem das den aumllteren idg Vokativ im Nominativ den Ablativ im Dativ aufgenommen hat Siehe dagegen das Lateinische wo Vokativ und Ablativ noch als gesonderte Kasus existierenrdquo

Auch das Deutsche zeigt bekanntlich Synkretismen vgl die Flexion des Artikels

(1)

[-pl] [+pl]

[+mask] [+neut] [+fem] [+mask] [+neut] [+fem][+nom] -er -es -e -e -e -e

[+acc] -en -es -e -e -e -e[+dat] -em -em -er -en -en -en[+gen] -es -es -er -er -er -er

Klassifiziert man nach Genus Numerus und Kasus erhaumllt man 24 Kom-binationen Doch verwendet man heute anstelle des Begriffs Synkretis-mus den genannten Terminus Unterspezifikation und versucht homo-nyme Endungen unter einer bdquonatuumlrlichen Klasseldquo zusammenzufassen Eine natuumlrliche Klasse ist dann gegeben wenn man weniger Merkmale braucht um diese Klasse zu spezifizieren als ein einzelnes Element hat das zu dieser Klasse gehoumlrt (Hall 2000 S 122) ZB hat die Endung -em in (1) die Merkmale [+dat +mask -pl] und [+dat +neut -pl] Streicht man die gemeinsamen Merkmale weg bleiben [+mask] und [+neut] uumlbrig Dem-nach bilden Maskulinum und Neutrum eine bdquoKlasseldquo die vom Femininum unterschieden ist In einem naumlchsten Schritt wird das Merkmal [+neut] auf-gegeben und das Neutrum anhand der Merkmale [plusmnmask] und [plusmnfem] defi-niert Demnach steht [+mask -fem] fuumlr das Maskulinum [-mask +fem] fuumlr Femininum [-mask -fem] fuumlr Neutrum Wenn man nun diese Merkmals-klassifikation auf die Endung -em anwendet ist diese durch den Merk-malssatz [+dat -fem -pl] ausgezeichnet und es ergibt sich ein Synkretismus oder eine Unterspezifikation in Hinblick auf die Genusmerkmale

Auch bei den Kasusmerkmalen ist der Begriff Unterspezifikation anwend-bar Fuumlr das Slawische hat zuerst Jakobson (1962) Merkmale wie [+nom] [+acc] [+dat] und [+gen] in die allgemeineren Merkmale [plusmngov(erned)] [plusmnobl(ique)] uumlbergefuumlhrt Eine Kreuzklassifikation fuumlhrt dann fuumlr die einzelnen Kasus zu folgenden Merkmalen Nominativ [-gov -obl] Akku-sativ [+gov -obl] Dativ [+gov +obl] Genitiv [-gov +obl] Auf diese Weise

Geschichte der Morphologie 131

entstehen die natuumlrlichen Klassen Nominativ Akkusativ vs Dativ Genitiv und zwar nicht oblique ([-obl]) vs oblique ([+obl]) Kasus Ein Flexions-marker kann so unterspezifizierte Kasus-Information zum Ausdruck brin-gen zB [+obl -mask +fem -pl] fuumlr -er im Dativ Genitiv Singular Femi-ninum (Muumlller Gunkel Zifonun 2004 S 2 6ff) Nimmt man nun fuumlr die Merkmalsklassifikation nur die positiven Merkmale erhaumllt man ein noch einfacheres Schema

(2)

o=oblique[ ]

Nominativ

o

Genitivg=governed g

Akkusativ

og

Dativ

Man sieht daszlig der Dativ gegenuumlber den anderen Kasus durch zwei Merk-male charakterisiert ist oblique und governed An dieser Stelle kommt die Natuumlrlichkeitstheorie ins Spiel Die These ist daszlig die Flexionsendun-gen partiell ikonisch sind (Gallmann 2004 S 125) Dh die Kasus die die meisten Merkmale haben sollten auch formal am meisten komplex sein In der Tat ist der Nasal -m gegenuumlber -n markiert und die Endung -em so ein bdquoschweres Affixldquo (Wiese 1999 S 14)

Die Frage ist nun ob derartige Analysen auch in der Geschichte der Morphologie eine Rolle spielen Man wird schnell fuumlndig Schon die altindischen Grammatiker haben wesentliche Hinweise zur Analyse der altindischen Nominalflexion gegeben Zunaumlchst einmal ist festzu-halten daszlig die bdquoElsewhere-Bedingungldquo ein uumlbergeordnetes Prinzip in der modernen Linguistik auf den genialen Grammatiker Pāṇini zuruumlckgeht Sie besagt bdquoWenn sowohl eine spezifischersquo Regel als auch eine generellersquo Regel auf eine zugrundeliegende Form angewendet werden koumlnnen dann operiert die spezifische Regel vor der generellen Regelldquo (Hall 2000 S 146) Daszlig der Vorrang deskriptiver Regeln von ihrer relativen Anordnung abhaumlngt sieht man zB an den lateinischen nominalen Endungen im Neu-trum und Maskulinum

Rosemarie Luumlhr132

(3) a NOM SGACC SG = X b X = stem + -um c NOM SG in masculine = stem + -usHier steht die Endung -us des Maskulinums der Default-NominativAkku-sativ-Endung -um gegenuumlber (BaermanBrownCorbett 2005 S 135f)

Bleiben wir zuerst beim Lateinischen und pruumlfen wie die bdquoElsewhere-Bedingungldquo im einzelnen wirkt Eine bemerkenswerte Analyse stammt hier von Bernd Wiese Diese soll nun vorgestellt werden

1 Analyse der lateinischen NominalflexionDie lateinische Nominalflexion ist bekanntlich ein komplexes morpholo-gisches System bdquodas alle Symptome des flektierenden Syndromsrsquo zeigt (homonyme synonyme und kumulative Exponenten Genuseinteilung unterschiedlich strukturierte Deklinationsklassen defektive Paradig-men)ldquo Nach Wiese (2002) helfen bei der morphologischen Beschreibung weder regelbasierte Ansaumltze weiter noch bieten morphembasierte Analysen Einsichten in die sbquoLogikrsquo solcher fusionierender Flexionssysteme da die Auffassung von morphologischen Markern als sbquoSaussuresche Zeichenrsquo bei Paradigmen wie den lateinischen nicht haltbar ist Jedoch hat de Saussure (1976 S 122) am Beispiel der deutschen Pluralbildung Gast Gaumlstersquo einen ent scheidenden Hinweis fuumlr Wieses Analyse solcher Formen gegeben bdquoce nrsquoest pas lsquoGaumlstersquo qui exprime le pluriel mais lrsquoopposition sbquoGast Gaumlstersquordquo Die Funktion morphologischer Markierungen laumlge also in derartigen Faumlllen nicht darin als sbquoExponentenrsquo von sbquoInhaltenrsquo zu fungieren sondern in der Unterscheidung von Formen unterschiedlicher Funktion Es wird eine funktionale Distinktion zum Ausdruck gebracht die mit einer formalen Differenzierung korreliert Folgerichtig stellt Wiese so unabhaumlngig begruumln-dete funktionale und formale Ordnungen der lateinischen Flexionsendun-gen auf und bezieht sie aufeinander Dabei kann er die Feststellung einer diagrammatischen Form-Funktions-Korrelation praumlzisieren und die prima facie verwirrende Vielfalt der bdquoAbhaumlngigkeiten und Querverbindungenldquo so Ernst Risch zur lateinischen Flexion (Risch 1977 S 236) auf eine einfache Abbildungsbeziehung im Sinne Buumlhlers zuruumlckfuumlhren

Zunaumlchst nimmt Wiese eine merkmalsbasierte Analyse vor wobei er sich fuumlr die Ausdifferenzierung obliquer Kasus auf Blakes (1994 S 158) Untersuchun-gen zu Kasussystemen stuumltzt In Systemen mit zwei obliquen Kasus steht der

Geschichte der Morphologie 133

Genitiv gewoumlhnlich in Opposition zu einem allgemeinen multifunktionalen Obliquus den Blake den elsewhere-casersquo im Sinne Pāṇinis nennt

(4)(a) Kasusdifferenzierung im Singular und Plural

(4)(b) Ausdifferenzierung obliquer Kasus Synkretismus im Lateinischen

Das lateinische System findet sich unter (4)(b) an letzter Stelle Bei (5) wird deutlich daszlig im Lateinischen non-oblique und oblique Kasus im allge-meinen gut unterschieden werden In den meisten Teilparadigmen gibt es fuumlr die jeweiligen drei Kasus jedoch nur je zwei verschiedene Formen Dies trifft durchgaumlngig fuumlr den Plural zu wo Vokativ und Nominativ ei-nerseits und Dativ und Ablativ andererseits identisch sind Als Einzelkasus gekennzeichnet sind der Genitiv als Attributskasus und der Akkusativ als Objektskasus Kasus denen als bdquovergleichsweise unspezifische Sammelformldquo der VokativNominativ und DativAblativ gegenuumlbersteht Die bdquoSammel-formldquo faszligt Wiese dabei als unmarkiertes Glied der jeweiligen Opposition auf Gegenuumlber dem Plural wird im Singular zusaumltzlich der Objektskasus Dativ formal gekennzeichnet und im non-obliquen Bereich bdquoder Subjekti-

Rosemarie Luumlhr134

vus also der Nominativldquo Fuumlr die einzelnen Deklinationsklassen ergeben sich so folgende Synkretismus-Felder

(5) Paradigmengliederung (Synkretismusfelder)

V N A Ab D G VPl NPl APl AbPl DPl GPl

ictus u-Dekl (7 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

rēx C-Dekl (8 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

diēs ē-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNAPl AbDPl GPl

capra ā-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNPl APl AbDPl GPl

ignis i-Dekl (8 Felder) VN A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

lupus o-Dekl (8 Felder) V N A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

Wieses naumlchster Analyseschritt ist nun die formale Bestimmung der Formenkategorien

(6) Bau der lateinischen Deklinationen (Uumlberblick)

Streicht man den Themavokal ab enthaumllt man in Spalte 3 zB die Laumlnge als formales Kennzeichen der Endung bei der o- ā- u- und ē-Deklination

135Geschichte der Morphologie

(7)(a) FormentypenMarkerParadigmenfelder in der u- C- und i-Deklination (ohne VNA Pl Ntr)

u-Deklination

Formtyp 0 1 2 3b 4 5b 6+ 7

Marker s m L vL Ls X-s vm

Endung -u -us -um -ū -ūi -ūs -ibus -uum

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

C-Deklination

Formtyp 0 1 2 3a 4 5a 5b 6+ 7Marker s m v vL vs Ls X-s vm

Endung - -s -[e]m -e -ī -is -[ē]s -ibus -um

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

i-DeklinationFormtyp 0 1 2 3b (=4) 5a 5b 6 6+ 7

Marker s m L (=vL) vs Ls vLs x-s vm

Endung -e -is rarrC-Dekl -ī -is rarrC-Dekl -īs -ibus -ium

Felder VNANtr VN A AbD G NPl APl AbDPl GPl

(7)(b) EndungstypenMarkerEndungen (formale Ordnung)

Formtyp 0 1 2 3b 4 5 6 6+ 7 7+Marker s m L vL Ls vLs -X-s vm -X-mu-Dekl -u -us -um -ū -uī -ūs -ibus -uume-Dekl -ēs () -em -ē -ei -ēs -ēbus -ēruma-Dekl -a -am -ā -ae -ās -īs -ārumo-Dekl -e -us -um -ō -ī -ōs -īs -ōrum

u-Dekl VNANtr VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

e-Dekl VN A Ab DG VNAPl AbDP GPl

a-Dekl VN A Ab DG VNPl APl AbDP GPl

o-Dekl V N A AbD G VNPl APl AbDP GPl

a b c d e f g h

Paradigmenfelder (funktionale Ordnung)

Rosemarie Luumlhr136

Wieses Interpretation lautet nun folgendermaszligen

Der houmlchstrangigen Position Genitiv Plural Feld h ist eine Form des Typs 7 eine schwere Nasalform zugeordnet dem Ablativ-Dativ-Plural-Feld g eine Form des Typs 6 eine hochmarkierte sigmatische Form Das in der Hierarchie folgende Synkretismusfeld f ist mit einer Form des Typs 5 besetzt und so fort bis zum Nominativ Singular der hier wie sonst gewisse Unregelmaumlszligigkeiten aufweisen kann In der ē-Deklination ist der Thema-vokal anders als sonst im Nominativ Singular lang In der ā-Deklination fehlt die einfache sigmatische Form in diesem Fall und dort wo eine besondere kasus-unmarkierte Neutrum-Form oder ein besonderer Voka-tiv unterschieden wird kommt die 0-Form oder mit Hermann Hirt zu sprechen der casus indefinitus zum Zuge3

In der Tat stimmen nun formale und funktionale Markiertheit uumlberein So ist der Genitiv Plural mit der schweren Nasalform die markierte Form im obliquen Plural waumlhrend etwa die Endungen auf kurzen Vokal in Spalte 0 die formal am wenigsten charakterisierten Endungen sind sie stehen innerhalb der nicht-obliquen Kasus fuumlr die Nicht-Objekts-Kasus

Wieses Fazit lautet so

bdquoFormtypen nehmen einen Platz in der Endungsordnung ein sie besitzen aber nicht notwendig einen festen Inhalt der etwa durch Angabe einer bestimmten Menge morphosyntaktischer Merkmale zu repraumlsentieren waumlre Erst indem eine Form eine Stelle im Paradigma besetzt gewinnt sie einen definitiven Stellenwert Die Position die eine Form im Paradigma einnimmt bestimmt ihren Funktionswert nicht umgekehrtrdquo

Damit kehrt Wiese das traditionelle Bild um Waumlhrend bdquotraditionelle Darstellungen sich gewoumlhnlich mehr oder minder strikt an ein fuumlr alle Deklinationen einheitliches Zwoumllf-Felder-Schema [halten und sich] die Unterschiede zwischen den Deklinationen hellip dann ganz vorrangig als Divergenzen in der Formenbildung dar[stellen]ldquo bietet seine Darstellung bdquoein einheitliches System von Formkategorienldquo

2 Analyse der altindischen NominalflexionWenn wir uns nun der altindischen Nominalflexion zuwenden so haben die altindischen Grammatiker bereits das wesentliche Organisationsprinzip erkannt Die altindischen Grammatiker haben die Kasus mit den entspre-chenden Ordinalzahlwoumlrtern bezeichnet zB prathamā erstersquo (vibhaktiḥ

3 Vgl etwa Hirt 1925

Geschichte der Morphologie 137

Teilung Unterscheidung Abwandlungrsquo) = Nominativ ṣaṣṭhī sechstersquo = Genitiv und nach der Reihenfolge Nominativ Akkusativ Instrumental Dativ Ablativ Genitiv und Lokativ angeordnet weil dies die einzige Folge ist bei der uumlberall die Kasus mit gemeinsamen Endungen also unterspezi-fizierte Formen beisammen sind Instrumental und Dativ (und Ablativ) im Dual Dativ und Ablativ im Plural (und Dual) Ablativ und Genitiv im Sin-gular Genitiv und Lokativ im Dual Nicht mitgezaumlhlt wurde der Vokativ Dieser Kasus gibt anders als die anderen Kasus keine Beziehung im Satz an sondern ist selbst Satzaumlquivalent Vgl die altindischen a- und ā-Staumlmme

(8)(a) a-Staumlmme Maskulinum

Singular Dual Plural Vok deacuteva deacutevau deacutevāḥ Nom devaacuteḥ devaacuteu devḥ I Akk devaacutem devaacuteu devn II Instr deveacutena devbhyām devaacuteiḥ III Dat devya devbhyām deveacutebhyaḥ IV Abl devt devbhyām deveacutebhyaḥ V Gen devaacutesya devaacuteyoḥ devnām VI Lok deveacute devaacuteyoḥ deveacuteṣu VII

(8)(b) a-Staumlmme Neutrum

Singular Dual Plural Vok yuacutega(m) yuacutege yuacutegāni Nom yugaacutem yugeacute yugni Akk yugaacutem yugeacute yugni(8)(c) ā-Staumlmme Femininum

Singular Dual Plural Vok seacutene seacutene seacutenāḥ Nom seacutenā seacutene seacutenāḥ I Akk seacutenām seacutene seacutenāḥ II Instr seacutenayā seacutenābhyām seacutenābhiḥ III Dat seacutenāyai seacutenābhyām seacutenābhyaḥ IV Abl seacutenāyāḥ seacutenābhyām seacutenābhyaḥ V Gen seacutenāyāḥ seacutenayoḥ seacutenānām VI Lok seacutenāyām seacutenayoḥ seacutenāsu VII

Rosemarie Luumlhr138

Zweitens lassen die altindischen Grammatiker die obliquen Kasus mit dem Instrumental und nicht etwa mit dem Lokativ beginnen denn der Instrumen-tal entspricht beim Passiv dem Subjektsnominativ beim Aktiv (Wackernagel Debrunner 19291930 S 11)

21 Merkmalsbasierte Analyse

Versucht man nun eine merkmalsbasierte Analyse so ergibt sich fuumlr die haumlufigsten Staumlmme im Altindischen die a- und ā-Staumlmme folgendes Bild

(9)(a) +Sg -Pl a-Stamm

(9)(b) +Sg -Pl ā-Stamm

Geschichte der Morphologie 139

(9)(c) -Sg -Pl a- ā-Staumlmme

(9)(d) -Sg +Pl a-Stamm

22 Formanalyse

Wir betrachten zuerst die Genus-Unterspezifikation und dann die Kasus-Unterspezifikation

221 Genus‑UnterspezifikationIm Falle der Genus-Unterspezifikation bleiben der Nominativ Plural Maskulinum devḥ und der NominativAkkusativ Plural seacutenāḥ auszliger Betracht da im Femininum in bestimmten Positionen die Endung -āḥ noch zweisilbig ist (WackernagelDebrunner 19291930 S 123) Einzig und allein die Endung des Genitiv Plural ist bei den a- und ā-Staumlmmen vollkommen identisch [+Pl +obl +Gen] devnām seacutenānām Warum das so ist hat moumlglicherweise folgenden Grund In vielen Sprachen die Genussys-teme haben ist im Plural generell die Genusunterscheidung aufgegeben Daszlig aber speziell im Genitiv Plural keine Genusunterscheidung durchge-fuumlhrt ist liegt wohl an der Funktion Partitiv die der Genitiv haben kann

Rosemarie Luumlhr140

Der Plural ist in dieser Funktion als kollektiver Plural auffaszligbar weshalb kein Bedarf an einer Genusdifferenzierung besteht

Doch sind sonst die Genera Femininum und Nicht-Femininum dh Maskulinum und Neutrum bei den a- und ā-Staumlmmen deutlich geschieden4 Auszligerdem treten bei den a-Staumlmmen Kasusendungen auf die sich in anderen Stammklassen nicht finden Auch dies hat einen einfachen Grund Die maskulinen neutralen a- und femininen ā-Staumlmme haben auch einen wesentlichen Anteil an der Bildung der Adjektiva Wie ai priyaacuteḥ priy priyaacutem liebrsquo griech νέος νέα νέον lat novus nova novum zeigt ist dieser Adjektivtyp indogermanisches Erbe Dh in der altindischen Flexion der a- und ā-Staumlmme sind Kasusformen zu erwarten die speziell der Genusunterscheidung dienen Tatsaumlchlich gibt es solche Endungen wie man schon lange gesehen hat

In der Indogermanistik nimmt man im allgemeinen an daszlig die Uumlber-tragung pronominaler und damit bestimmter Genusendungen auf das Substantiv durch pronominal flektierende Adjektive wie viacuteśva- allersquo also sogenannte Pronominaladjektive zustande kam weil ein Adjektiv naumlher beim Substantiv steht als ein Determinierer In der Tat kann man einen schrittweisen Uumlbergang vom Determinativ uumlber das Adjektiv zum Sub-stantiv annehmen wenn man Seilers (1978) Adjektivklassifikation folgt

(10)

Determinativ Adjektiv SubstantivArtikelklassifikatoren Qualifikativa Nominalklassifikatoren

diediesemeine

erwaumlhnten zehn schoumlnen dicken roten houmllzernen Kugeln

Zahlwoumlrter wie zehn zB sind weit vom substantivischen Pol entfernt und gehoumlren zu den Artikelklassifikatoren Das Zahlwort impliziert zwar Zaumlhlbarkeit der Referenzobjekte gibt aber keine weitere Eigenschaft der in Rede stehenden Objekte an Ein Zahlwort wie zehn sagt vielmehr etwas uumlber die Art der Bezugnahme naumlmlich uumlber die Anzahl der Objekte auf die der Sprecher Bezug nimmt aus Aumlhnliches gilt fuumlr textverweisende Aus-druumlcke wie etwa erwaumlhnt Dies ist der Bereich der Festlegung von Eigen-schaften des Referenzakts wie etwa der Festlegung auf ein bestimmtes Genus hierfuumlr sind aber insbesondere die Determinative im Indogerma-nischen die Demonstrativpronomina zustaumlndig (Wiese 2004) So ist die 4 Zur Sonderstellung des femininen Genus in der Morphologie vgl Wiese 2004a Thieroff 2004

Geschichte der Morphologie 141

Formkategorie worin Sprachen am deutlichsten das Genus ausdruumlcken das Pronomen Selbst Sprachen die keine Genusunterscheidung bei den Substantiven haben haben oftmals beim Pronomen eine solche Differen-zierung Es ist so anzunehmen daszlig solche Woumlrter zunaumlchst die Substan-tive in ihrer Flexion beeinfluszligt haben und erst in einem naumlchsten Schritt erfolgte die Beeinflussung der Adjektive durch die Substantive Damit duumlrfte eine pronominale Endung wie im Falle des Instrumentals -ena bei den a-Staumlmmen also zuerst auf die Substantive uumlbergegangen sein und erst dann auf Adjektive

Geht man nun auf die Unterschiede in der Flexion zwischen Nicht-Femi-nina und Feminina ein so waumlren bei den ā-Staumlmmen etliche Kasusformen bei normaler Entwicklung mit dem Maskulinum zusammengefallen Ein solcher Genus-Synkretismus oder eine solche Genus-Unterspezifikation wurde aber vermieden indem das feminine Substantiv weitgehend umge-staltet wurde und zwar eben zumeist nach dem Demonstrativpronomen

(11)InstrSg seacutenayā anstelle von seacutenā asymp aumllter mask dev vgl taacuteyā vom Pron taacute- dieserrsquo DatSg seacutenāyai anstelle von seacutenai asymp aumllter mask devaacutei vgl taacutesyai vom Pron taacute- LokSg seacutenāyām anstelle von seacutene5 asymp mask deveacute vgl taacutesyām vom Pron taacute-

Eine andere Neubildung ist der VokSg seacutene anstelle von seacutena6 asymp mask deacuteva vgl aksl ženo gr νύμφα

Doch auch das Maskulinum hat Umbildungen nach dem Pronomen erfahren

(12)zB DatAblPl deveacutebhyaḥ anstelle von devaacutebhyaḥ vgl teacutebhyaḥ vom Pron taacute-

Warum bei den altindischen a- und ā-Staumlmmen Genus-Unterspezifikatio-nen weitgehend aufgehoben wurden ist sicher auf die Funktion des Genus als Signal fuumlr syntaktische Kongruenz zuruumlckzufuumlhren7

5 Vgl dazu Luumlhr 19916 Luumlhr 19917 Corbett 1991 S 4 bdquoIf a language distinguishes gender there is always agreement with respect to genderldquo Auszligerdem ist Genus wichtiger als Numerus da bdquogender is inherently fixed for a noun whereas [number] is usually instantiated and gives rise to different word forms in the paradigm of a nounldquo Auf der anderen Seite wird aber Genus arbitraumlr zuge-wiesen (Ortmann 1998 S 62)

Rosemarie Luumlhr142

222 Kasus‑UnterspezifikationNach WackernagelDebrunner (19291930 S 1f) besteht bei der altindischen Deklination bdquofast uumlberall die Neigung Form und Bedeutung eindeutig aufeinander zuzuordnenldquo Dh die Funktionen der nominalen Endungen sind klar erkennbar wodurch sich das Altindische wesentlich vom Latei-nischen unterscheidet Betrachtet man aber die Endungen im Uumlberblick so ist wie in anderen Sprachen auch die Obliquus-Form bei den a- und ā-Staumlmmen stets laumlnger oder schwerer als die entsprechende Nicht-Obli-quus-Form Ohne auf Einzelheiten einzugehen findet man im Maskulin- Paradigma (devaacuteḥ) im Singular im Nicht-Obliquus nur kurze Vokale waumlhrend der Obliquus Langvokale im Ablativ und Lokativ und dreisil-bige Formen im Instrumental Dativ und Genitiv aufweist und zwar teils mit langem Vokal in der Mittelsilbe Entsprechend ist das Verhaumlltnis im Feminin-Paradigma (seacutenā) nur daszlig hier den langvokalischen Formen im Nicht-Obliquus durchaus schwere zweisilbige Endungen im Obliquus entsprechen Auch im Dual und Plural ist der Gegensatz Nicht-Obliquus vs Obliquus deutlich ausgepraumlgt Einsilbigen Endungen mit Langvokal im Nicht-Obliquus stehen zwei- oder dreisilbige Endungen teils wiederum mit Langvokalen im Obliquus gegenuumlber Nun sind in einer Akkusativsprache wie es das Altindische ist die nicht-obliquen Kasus die unmarkierten die obliquen aber die markierten Kasus Demnach laumlszligt sich festhalten daszlig dem Mehr an Form in den obliquen Kasus ein Mehr an Merkmalen entspricht

Damit sind die Endungen der nominalen a- und ā-Staumlmme im Altin-dischen als ikonisch einzustufen Daszlig dies tatsaumlchlich ein Bildeprinzip des altindischen Nomens ist sieht man daran daszlig einsilbige Endungen die sich bei einer regelrechten Entwicklung aus dem Indogermanischen ergeben haumltten im Altindischen umgebildet worden sind vgl zB

(13) InstrSgMask(Neut) deveacutena anstelle des Instr dev DatSgMask(Neut) devya anstelle des Dat devaacutei GenPlMask(Neut) devnām anstelle des Gen devm

Doch ist noch ein Weiteres festzustellen vgl

(14)AblGenSgFem seacutenāyāḥ anstelle des Gen seacutenāḥ vgl griech GenSgf τιμῆς GenPlFem seacutenānām anstelle des Gen seacutenām

Geschichte der Morphologie 143

Die zu erwartende Form seacutenāḥ waumlre synkretistisch mit dem Nicht- Obliquus Plural seacutenāḥ zusammengefallen Ein Genitiv Singular Femini-num seacutenāḥ mit den Merkmalen [+sg +obl +gen] und ein VokativNomina-tivAkkusativ Plural Feminum seacutenāḥ mit den Merkmalen [+pl -obl] bilden jedoch keine bdquonatuumlrliche Klasseldquo weil diese Formen auszliger dem Genus keine Merkmale gemeinsam haben Aumlhnliches gilt fuumlr einen Genitiv Plural Femi-ninum seacutenām da dieser mit dem Akkusativ Singular Femininum seacutenām zusammengefallen waumlre8 Somit bleibt festzuhalten Im altindischen Nomi-nalparadigma der a- und ā-Staumlmme wird Kasus-Unterspezifikation bei Formen die keine natuumlrliche Klasse bilden nicht geduldet Dies ist sicher der Grund weshalb die altindischen Grammatiker die Formen der a- und ā-Staumlmme in die genannte Reihenfolge bringen konnten

FazitWir halten fest Der von August Pott in die Sprachwissenschaft eingefuumlhrte Terminus Synkretismus hat eine lange Tradition Schon die altindischen Grammatiker haben diesen Terminus im Sinne des heutigen Begriffs Unter-spezifikation angewandt um uumlbereinstimmende Kasusformen nebenein-ander anzuordnen Doch sind im Altindischen Unterspezifikationen im Paradigma der a- und ā-Staumlmme relativ wenig ausgepraumlgt weil wegen der Uumlbereinstimmung mit dem Adjektiv und Pronomen hier Genusunter-scheidungen viel deutlicher als bei anderen Stammklassen zum Ausdruck kommen Anders verhaumllt es sich im Lateinischen Es gibt eine Fuumllle von synkretistischen oder unterspezifizierten Kasusformen Gemeinsam ist aber beiden Sprachen daszlig einem Mehr an Merkmalen ein Mehr an Form entspricht Dies wird im Altindischen an der komplexeren Form der Kasus obliqui gegenuumlber den Nicht-Obliqui deutlich Auch im Altindischen koumlnnen also Form und Funktion korreliert werden

8 Luumlhr 2002 S 131f

Rosemarie Luumlhr144

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Rosemarie Luumlhr Universitaumlt Jena RosemarieLuehruni-jenade

Ostgermanische Morphologie

Magnuacutes Snaeligdal

The title of this paper is East-Germanic morphology but as explained in the introduction East-Germanic morphology is in fact Gothic Morphology as our knowledge of other languages in that group is minimal Section 2 deals with the size of the Gothic corpus word number and frequency etc This informa-tion is used in section 3 to discuss what we know about Gothic morphology and section 4 to discuss what we dont know about Gothic morphology Section 5 contains some concluding remarks

1 Einleitung

Ostgermanische Morphologie ist eigentlich gotische Morphologie weil mit Ausnahme des Gotischen die Sprachen der Ostgermanen nur wenig bekannt sind Zu diesen Sprachen gehoumlren die Sprachen der Gepiden Wandalen Burgunder Heruler Rugier und Skiren und es handelt sich dabei fast ausschlieszliglich um Eigennamen die in nicht germanischen Quellen uumlberliefert sind Das sogenannte sbquogotische Epigrammrsquo wird jedoch als wandalisch angesehen

(1) Inter eils Goticum scapia matzia ia drincan non audit quisquam dignos edicere versos

Auf Gotisch waumlre das vermutlich

Hails Skapja Matja jah drigkan sbquoHeil Kellner Essen und Trinkenrsquo

Auch die Formel froia arme die auf Bibel-Gotisch frauja armai lauten sollte dh κύριε ἐλέησονsbquo Herr erbarme dichrsquo ist vielleicht Gotisch durch Wandalen vermittelt (vgl Tiefenbach 1991 S261) Da die Wandalen nicht gerade fuumlr ihre Barmherzigkeit beruumlhmt waren kann man es wohl als einen Anticlimax bezeichnen daszlig von ihrer Sprache fast nur dieses Gebet uumlberliefert ist

Einige Runeninschriften werden als ostgermanisch oder gotisch angesehen Ich nenne an dieser Stelle nur zwei davon (vgl Ebbinghaus 1990 S207 bis 210)

Magnuacutes Snaeligdal148

1 Die Speerspitze von Kowel in der Ukraine Darauf ist die Inschrift tilarids zu lesen (linkslaufend) Doch ist hier die Deutung einiger Runen dunkel und unsicher

2 Der Goldring von Pietroassa Darauf steht die Inschrift gutaniowihailag zu lesen Selbstverstaumlndlich wird es wegen des Anfangs in Verbindung mit den Goten gebracht doch ist keines dieser Worte in den gotischen Bibeltexten uumlberliefert nicht einmal hailags (sondern weihs) Einigkeit uumlber die Deutung dieser Inschrift besteht jedoch nicht

2 Der Umfang des gotischen KorpusDie gotischen Sprachdenkmaumller sind klein und einfoumlrmig Die Gesamtheit der gotischen Uumlberlieferung umfaszligt weniger als 70000 Woumlrter Als minimale Grundlage einer digitalen grammatischen Analyse muumlssen mindestens 70000 Woumlrtern analysiert werden Wenn man also den ganzen gotischen Text analysiert hat reicht dieses Material kaum fuumlr eine digitale Analyse ndash und welche Texte sollten uumlberhaupt damit analysiert werden Die Einfoumlrmigkeit der Sprachdenkmaumller besteht darin daszlig es sich fast nur um eine Uumlbersetzung des Neuen Testaments handelt Der Text der Evangelien ist manchmal aumlhnlich und einige Teile der Paulus-Briefe sind parallel in zwei Handschriften uumlberliefert Deshalb gibt es viele Loumlcher in unserer Kenntnis des gotischen Wortschatzes Wir wissen zB nicht was sbquoPferdrsquo auf Gotisch heiszligt da dies weder in den Evangelien noch in den Briefen vorkommt Das Wort aiƕatundi sbquoβάτος Dornstrauchrsquo enthielt als erstes Glied der Stamm aiƕa- sbquoPferdrsquo (vgl Lat equus Gr ἵππος usw) was auf aiƕs deuten koumlnnte aber dies war nicht notwendigerweise das uumlbliche Wort fuumlr Pferd

21 Woumlrter asymp Tokens und Wortformen asymp Typen

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 ist die erste digitale Bearbeitung des gotischen Textes und baut voumlllig auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 auf1 Das Resultat besteht darin daszlig die Anzahl der Woumlrter (asympTokens) 67438 betraumlgt und die der Wortformen (asympTypen) 9462 Es sei hervorgehoben daszlig sie Faumllle wie zB thornatuthorn-thornan sbquound auch diesrsquo und sumaih sbquound einigersquo als jeweils ein Wort zaumlhlen thornatuh thornan aber als zwei Woumlrter

1 Sie beziehen jedoch das Speyerer Blatt und die neuen Lesarten von Bennetts Skeireins-Ausgabe mit ein und nennen S XI Fn 2 auch W Estabrooks und J W Marchands nicht veroumlffentlichte Computertexte

Ostgermanische Morphologie 149

In dem gotischen Text der Snaeligdal bdquoConcordanceldquo 2005 (CBG) zugrunde liegt (ebenfalls auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 basierend) betraumlgt die Zahl der Woumlrter 68133 und die der Wortformen 9421 (mit einer Zahl von 356506 Buchstaben in Woumlrtern) Hierin werden Faumllle wie zB thornatuthorn thornan und thornatuh thornan als jeweils zwei Woumlrter gezaumlhlt die nachgestellten Partikeln -u (30) und -uh (214 mit Varianten) auch als selbstaumlndige Woumlrter doch nicht von Pronomen und Adverbien getrennt Wenn man diese abzieht betraumlgt die Zahl der Woumlrter noch 67889 die Wortformen werden jedoch etwas zahlreicher (und naumlhern sich der Anzahl bei TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976) Nun kommen auch Wortformen wie bi-thorn-thornan-gitanda vor (1 KorA 1515 εὐρισκόμεθα δὲ καί Wir werden aber auch hellip erfundenrsquo) und es ist vielleicht nur natuumlrlich diese als drei Woumlrter zu zaumlhlen da die Partikeln sonst wie selbstaumlndige Woumlrter gezaumlhlt sind (Solche Woumlrter sind 28 von 24 Typen) Wenn diese eingeschobenen Partikeln mitgerechnet werden muss man folgendes Material hinzufuumlgen

1 -ba1 ƕa1 ni1 nu

12 thornan1 thornau4 -u

20 -uh -h -uthorn -thorn41

Tab 1 Die Zahl der eingeschobenen Partikeln

Das heiszligt also 41 Tokens Der Text umfasst dann 68174 Woumlrter Man muss auch die Wortformenzahl korrigieren und 13 abziehen was zu einem Ergebnis von 9408 fuumlhrt2 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang daszlig in den Paulus-Briefen immer -uh-thornan- (und dessen Varianten

2 Wird -uh- von at-uh-gaf entnommen bleibt atgaf uumlbrig aber diese Wortform ist schon gezaumlhlt worden Wenn dementsprechend auch -h von sumai-h entnommen wird bleibt die Form sumai uumlbrig die ebenfalls gezaumlhlt worden ist Wird dagegen -u- von bi-u-gitai entnommen bleibt bigitai uumlbrig das nicht gezaumlhlt worden ist oder -uh-thornan- von diz-uh-thornan-sat was dizsat ergibt das nicht gezaumlhlt worden ist nur dissat Vergleiche auch solche Beispiele wie usiddja uz-uh-iddja wo us- sich vor -uh- zu uz- aumlndert aber nicht vor iddja Das letzte Beispiel ist dann vergleichbar mit Filippauz-uh Wenn -uh davon entnommen wird bleibt Filippauz uumlbrig und wird neben Filippaus als eine selbstaumlndige Type gezaumlhlt Dieses Beispiel zeigt auch dass Type und Wortform nicht ganz gleichbe-deutend sind

Magnuacutes Snaeligdal150

insgesamt 10 Beispiele) eingeschoben ist auszliger in at-uh-gaf EphA 48 Interessant ist daszlig diese eingeschobenen Formen so selten sind daszlig sie nur in den groumlszligten Handschriften vorkommen dh dem Codex Argenteus und den Codices Ambrosiani A und B

211 Zufuumlgungen und AuslassungenAn diese Stelle muss ein ABER eingefuumlgt werden

Im Text der CBG wurden 148 Woumlrter eingefuumlgt (in spitzen Klammern gedruckt) die nicht in den Handschriften vorkommen von denen aber Streitberg (so wie auch andere Herausgeber vor ihm) meint daszlig sie zwar auf Grund der Ungeschicktheit des Schreibers weggefallen sind sie vom griechischen Text her jedoch erfordert werden Am haumlufigsten handelt es sich dabei nur um ein einzelnes Wort in einigen Faumlllen jedoch auch um mehrere zB wenn der Schreiber vermutlich eine ganze Zeile uumlberspringt Dies macht ungefaumlhr 02 des Textes aus An dieser Stelle sollte auch angefuumlhrt werden daszlig Streitberg 162 Woumlrter aus dem Text streichen will (in eckigen Klammern gedruckt)

Es gibt jedoch auch noch andere Hinzufuumlgungen Hier geht es um die Rekonstruktionen von verschollenen Textstellen die wegen der Beschaumldigung einiger Handschriftenblaumltter verloren sind Insgesamt muumlssen daher weitere 150 Woumlrter weggenommen werden was weitere 02 des Textes ausmacht

Ein stark beschaumldigtes Blatt des Codex Argenteus enthaumllt einen Teil des 11 Matthaumlus-Kapitels der verlorene Text ist jedoch rekonstruiert worden insgesamt 44 komplette Woumlrter (und 37 Wortteile)

Aus den Bruchstuumlcken des 23 und 24 Kapitels des Lukas-Evangeliums im Codex Gissensis wurden 79 komplette Woumlrter rekonstruiert (und 14 Wortteile aus diesem Fragment sind 19 komplette Woumlrter belegt sie enthalten jedoch beschaumldigte Buchstaben)

Im Codex Carolinus wurden die meisten Blaumltter am oberen Blattrand abgeschnitten Deshalb sind 6 Woumlrter in der ersten Zeile beschaumldigt aber 6 sind verloren gegangen und rekonstruiert worden

In 1 TimA 612ndash14 muumlssen 13 Woumlrter abgezogen werden da sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf dem Handschriftenblatt vorhanden sind

Ostgermanische Morphologie 151

Weitere vier Faumllle ergeben 5 rekonstruierte Woumlrter anthornaris lithornus RoumlmC 125 mag 1 TimB 616 im 2 TimB 416 diakuna 4 Unterschrift der Urkunde von Neapel

In Faumlllen wie zB (Mt 1115)

(2) saei habai au[sona hausjandona ga]hausja[i] ὁ ἔχων ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω Wer Ohren hat zu houmlren der houmlre

wo das was in die eckigen Klammern steht rekonstruiert wurde ist nur ein ganzes Wort hinzugefuumlgt worden dh hausjandona Uumlberreste wie au zaumlhlt man als ein Token im Text der Handschrift und stattdessen kommt das rekonstruierte au[sona] das keinen Einfluss auf die Anzahl der Woumlrter hat Die Buchstabenzahl veraumlndert sich dabei allerdings etwas Die Anzahl solcher Wortuumlberreste betraumlgt 96 wovon 5 Wortformen sonst nicht belegt sind Bethorn[saiumldan] Mt 1121 analag[jandans] Lk 1030 [usso]kjands LkG 2314 [qis]teins Mk 144 rahnjai[dau] 2 TimA 416

Der Text ist damit um 298 Tokens oder 04 geschrumpft Das Resultat besteht damit aus 67835 Tokens 9404 Typen und 356649 Buchstaben in Woumlrtern Wenn man mit den eingeschobenen Partikeln gerechnet hat betraumlgt das Ergebnis 67876 Tokens und 9391 Typen Jede Type hat dann im Durchschnitt sieben Tokens Dies ist keine groszlige Abweichung von den urspruumlnglichen Zahlen und das Resultat kann nicht als vollkommen genau angesehen werden ZB werden Buchstaben die einen erhaltenen Wortteil vollenden in die Buchstabenzahl miteinbezogen Einige Konjekturen werden mit eingerechnet aber sie beeinflussen das Resultat nur unwesentlich

212 Die RandglossenWoumlrter in den Randglossen werden in diesen Zahlen mitgerechnet Drei Glossen werden jedoch weggenommen weil ich es fuumlr relativ sicher halte daszlig sie nicht vorhanden sind andwaih RoumlmA 913 salja 2 KorA 616 lustau KolA 35 Insgesamt betragen die Glossen 103 Tokens 96 Typen 741 Buchstaben3 In den Glossen sind 13 ἅπαξ λεγόμενα und 18 Wortformen enthalten die sonst nicht belegt sind In Lk 732 steht die Gl hufum zu gaunodedum und das ist auszliger Mt 1117 huf[um] die einzige belegte Form dieses Verbs (hiufan θρηνεῖν Klagelieder singenrsquo) In der Glosse zu Lk 934

3 Im Codex Ambrosianus A sind es 52 Glossen 81 Woumlrter 609 Buchstaben im Codex Argenteus sind es 15 Glossen 22 Woumlrter 142 Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal152

wird milhmam (drei weitere Beispiele) als Fehlschreibung fuumlr milhman (milhma sbquoνεφέλη Wolkersquo) angesehen aber diese Form ist sonst nicht belegt Die Glossen fuumlgen deshalb unserer Kenntnis von der gotischen Morphologie etwas hinzu

213 Die ZahlzeichenIn diesen Ziffern sind die Zahlzeichen im Text auch enthalten 145 Tokens (78 Typen) oder ungefaumlhr 02 der Tokens Die Zahlzeichen kommen verhaumlltnismaumlszligig am haumlufigsten in Nehemia besonderes in 7 Kapitel 51 (105 der Tokens in Nehemia) im Kalender 40 (506 der Tokens) und im Codex Vindobonensis 12 (40 der Tokens) vor Im Codex Argenteus betragen sie 17 im Codex Ambrosianus A 7 Cod Ambr B 1 Cod Ambr E 6 in der Urkunde von Neapel 8 der Urkunde von Arezzo 1 den Gotica Veronensia 2 Dagegen werden die Zahlen am Rande die die Aufteilung des Textes in Leseabschnitte oder andere Sektionen markieren nicht mitgerechnet

214 Lexeme Fremdwoumlrter NamenIm Gotischen gibt es 3612 NachschlagswoumlrterLexeme 3537 wenn die Zahlzeichen (75) nicht mitgezaumlhlt werden und 3058 wenn auch die Lehnwoumlrter abgezogen werden Dies ist dann der ostgermanische Wortschatz den das Gotische uumlberliefert

Die Lehnwoumlrter (auszliger Namen) und davon abgeleiteten Woumlrter betragen 146 308 Typen die 1102 Tokens ergeben Diese Gruppe ist aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt von alten Lehnwoumlrtern die sich in den Ohren eines gewoumlhnlichen Goten wohl kaum fremdartig anhoumlrten bis hin zu Woumlrtern die unveraumlndert aus dem griechischen Text entnommen wurden Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 53 oder 363 der Lexeme und 48 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich werden die meisten von ihnen der letzten Gruppe zugeteilt Ein gotisches Produkt sind 22 abgeleitete Woumlrter und Komposita mit einem Lehnwort als zweitem Glied Die Verben aiwaggeljan und praufetjan sind in Anlehnung an Gr εὐαγγελίζεσθαι und προφητεύειν gebildet aber sie koumlnnen nicht einfach als Lehnwoumlrter bezeichnet werden Von diesen sind 8 ἅπαξ λεγόμενα Zu den Lehnwoumlrtern kann dann hinzugefuumlgt werden 44 laiktsjo (6)laiktjo (38) lectio Leseabschnittrsquo und peika- in peikabagms sbquoφοίνιξ Palmbaumrsquo Hier sind 4 unvollstaumlndige Woumlrter

Ostgermanische Morphologie 153

anzufuumlhren and[bahtja] 2TB 411 si[ponjans] Mt 101 sipon[jos] Mk 1416 und [praufe]te Neh 614

Personennamen Ortsnamen und davon abgeleitete Nomina die aus der Vorlage entnommen und mit gotischen Buchstaben transkribiert wurden betragen insgesamt 333 Lexeme 569 Typen die 2350 Tokens ergeben Iesus und Xristus stehen fuumlr insgesamt 961 Woumlrter oder 409 Die haumlufigsten dieser Namen waren wohl weit verbreitet andere jedoch eher selten oder unbekannt Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 181 oder 543 der Lexeme und 77 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich sind die meisten von ihnen im 3 Kap Lukas und 7 Kap Nehemia enthalten Ein gotisches Erzeugnis sind fuumlnf Woumlrter die davon abgeleitet sind aber zum Teil mit gotischem Material jedoch mit griechischen Woumlrtern als Vorbild fwnikiskssbquo Φοινίκισσα phoumlnikischrsquo judaiwisks sbquoἰουδαϊκός juumldischrsquo iudaiwisko sbquoἰουδαϊκῶς auf juumldische Weisersquo iudaiwiskon sbquoἰουδαΐζειν juumldisch lebenrsquo und galiugaxristus sbquoψευδόχριστος falscher Christusrsquo Diese sind hier gezaumlhlt und ergeben 6 Woumlrter Hierunter gibt es auch 8 unvollstaumlndige Woumlrter Aze[ris] Neh 745 Bethorn[saiumldan] Mt 1121 Iohan[nes] Jh 1118 Kafarna[um] Mt 1123 [Iairu]salem LkG 2413 [Herode]s LkG 2312 [Peilata]u LkG 2311 und [Seidon]e Mt 1121

Insgesamt umfassen die Fremdwoumlrter 475 Lexeme 869 Typen und 3447 Tokens Das ist 131 der Lexeme 925 der Typen und 5 der Tokens

Zur Uumlbersicht diene folgende Tabelle

Tokens Typen LexemeTollenaere Jones 67438 9462CBG 68174 9408 3613Ohne Hinzufuumlgungen

67876 9391 3612

Tab 2 Vergleich von Tollenaere Jones CBG und Text ohne Hinzufuumlgungen

22 Der Umfang einzelner Handschriften

Die oben behandelten Zahlen sind im Vergleich mit den Handschriften nicht ganz genau da darin einige Konjekturen mitgerechnet sind wie bereits erwaumlhnt wurde Es ist jedoch auch nicht einfach die Woumlrter und Buchstaben in Handschriften zu zaumlhlen Ist ƕa|ƕazuh ein Wort oder zwei Besteht der Fehler darin daszlig der Schreiber erst die ersten Silbe ƕa geschrieben hat und dann das ganze Wort ƕazuh oder hat er erst das Wort ƕa und dann das Wort ƕazuh geschrieben Wie viele Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal154

sind in sīd (= sind) erhalten Ist der Nasalstrich ein selbstaumlndiger Buchstabe oder sollte er als eine Variante von n (und m) angesehen werden Dazu kommen auch die Ligaturen und die Abkuumlrzungen von nomina sacra Wenn die Woumlrter in den Paralleltexten nur einmal gezaumlhlt werden betraumlgt das Resultat 59623 Tokens 9363 Typen und 311498 Buchstaben

Die Zahlen in Tab 3 gelten fuumlr den Umfang des editierten Textes aus einzelnen Handschriften Nasalstriche Ligaturen und nomina sacra sind aufgeloumlst

Tokens Typen Bstaben Tok BstCod Arg (incl F Spir) 35338 5673 178777 520 503Cod Ambr A (incl Kal) 15247 3978 82126 224 231Cod Ambr B 13649 3519 74478 201 209Cod Ambr E (Skeireins) 1957 867 10764 29 30Cod Carolinus (Rom) 597 338 3102 09 09Cod Ambr D (Nehemia) 483 286 2730 07 08Cod Ambr C (Matth) 346 202 1728 05 05Urkunde von Neapel 113 31 689 02 02Gotica Veronensia 62 43 299 009 008Cod Gissensis 33 32 188 005 005Cod Vindobonensis 30 25 135 004 004Urkunde von Arezzo 21 19 126 003 003

67876 355142 9991 100Tab 3 Tokens Typen und Buchstaben in einzelnen Handschriften

Hier kann man sehen daszlig die Texte von Codex Argenteus Codices Ambrosiani AndashE und Codex Carolinus zusammen 996 des gotischen Textes ausmachen unabhaumlngig davon ob man von der Woumlrter- oder Buchstabenzahl ausgeht aber die Buchstabenzahl ist ein bisschen zu hoch (die Nasalstriche und Ligaturen sind aufgeloumlst) Dann wird auch klar daszlig der Teil der Codices Ambrosiani A und B etwas ansteigt wenn man von der Buchstabenzahl ausgeht (die Briefe haben ein bisschen laumlngere Woumlrter) Die letzen fuumlnf Bruchstuumlcke sind geradezu erstaunlich klein sie machen nur 04 aus

Ostgermanische Morphologie 155

In Tab 3 wird das Folium Spirense als ein Teil des Codex Argenteus gezaumlhlt Es enthaumllt 142 Woumlrter und 110 Wortformen sowie 819 Buchstaben Um diese Zahl wurde der gotische Text im Jahre 1970 vermehrt Von diesen Wortformen sind 18 nicht anderswo belegt Davon sind drei ἅπαξ λεγόμενα aber nur ein neues Morphem farw sbquoGestaltrsquo

Neue Lexeme Neue Wortformenagljai Mk 1618 (agljan sbquoβλάπτω schadenrsquo) farwa Mk 1612 (farw n sbquoμορφή Gestaltrsquo) ingibe Mk 1618 (ingif n ingifs m sbquoθανάσιμον toumldliches Giftrsquo)

afargaggandeins Mk 1620 afargaggithorn Mk 1617 afdomjada Mk 1616 drigkaina Mk 1618 gasaiƕandam Mk 1614 gaskaftai Mk 1615 gawaurstwin Mk 1620 idweitida Mk 1614 niujaim Mk 1617 tulgjandin Mk 1620 ufdaupithorns Mk 1616 ungalaubein Mk 1614 uslagjand Mk1618 usnumans Mk 1619 waurmans Mk 1618

Tab 4 Neue Lexeme und Wortformen im Folium Spirense

Mit dem Codex Ambrosianus A (und Taurinensis) ist der Kalender gezaumlhlt Darin sind 79 Tokens (meistens Zahlzeichen) 65 Typen und 426 Buchstaben Dies macht 05 des Textes in A aus wenn man von Tokens oder Buchstaben ausgeht aber 15 von den Typen aus gesehen Die ἅπαξ λεγόμενα sind meistens Namen Bairaujai 1911 (Bairauja) Batwin 2910 (Batwins) bilaif 2910 (bileiban oder was) Daurithornaius 611 Frithornareikeis 2310 Jiuleis inc11 Kustanteinus 311 Naubaimbair inc11 und Werekan 2910 (Wereka) Einige Wortformen kommen nur hier vor aipisks 611 auszliger wenn man es als aipiskaupaus oder -us aufgeloumlst ist das einzige Beispiel fuumlr den GSg von aipiskaupus (zwar hat der Kalender -us im GSg von u-Staumlmmen auszliger bei Filippaus 1511) althornjono (1911 Konjektur fuumlr althornjano) fullaizos 2910 gabrannidai 2910 papan 2910 Nicht belegt ist weiter Gutthorniuda 23 2910 An dieser Stelle steht auch Andriiumlns 2911 aber Andraiiumlns in Mk 129 und DSg Jairupulai 1511 im Vergleich mit Iairaupaulein KolAB 413

Magnuacutes Snaeligdal156

Die Urkunde von Arezzo enthaumllt die ἅπαξ λεγόμενα frabauhtaboka und husis (hus Konjektur fuumlr hugsis) aber gudhus ist im Codex Argenteus beleget auszligerdem die Namen Gudilub Alamoda und Kaballarja Die einzigen eigentlichen ἅπαξ λεγόμενα in der Urkunde von Neapel sind die Namen Ufitahari Sunjafrithornas Merila und Wiljarithorn die Urkunde ist zugleich das einzige Dokument das alamothorns (alamoda) sbquoVertreterrsquo hat und die Wortformen andnemum saiwe wairthorn und das Lehnwort kawtsjo sbquocautiorsquo sind nicht in anderen Dokumenten vorhanden Den beiden Urkunden gemeinsam sind die Wortformen ufmelida (ufmeljan sbquounterschreibenrsquo) und skilliggans (skilliggs sbquosolidus Schillingrsquo) Die Morpheme sind doch weitgehend bekannt

Die Gotica Veronensia enthalten als einzige Quelle die Wortform blothornarinnandin (fuumlr -ein 713) aber der NSg ist in Mt 920 belegt Die Formen horans und motarjans (1930) sind Konjekturen und die belegten Formen horos und motarjos sind aus einigen Beispielen bekannt Interessant ist auch die Form martwrans (2769) die es wahrscheinlich macht daszlig man in Kal 23 2910 marwtre in martwre korrigieren sollte

Nur im Codex Vindobonensis 795 ist die Form libaida sbquoἔζησε lebtersquo erhalten aber am interessantesten ist hier vielleicht das Zahlzeichen uarr fuumlr 900

Der Codex Gissensis enthaumllt als einziger die Wortformen bairhtaim (LkG 2311) und ufkunthornedeina (LkG 2416) ein neues Wort ist dort jedoch nicht zu finden

Diese kleinen Bruumlckstuumlcke stellen keine groszligen Zusaumltze zu unserer Erkenntnis der gotischen Morphologie dar aber etwas ist nur dort belegt Da die gotischen Quellen so eingeschraumlnkt sind muss man immer beachten was belegt ist und was nicht

23 Die am haumlufigsten vorkommenden Woumlrter

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 S335 und 337 erstellen auch eine Liste der 6 Woumlrter die eine so groszlige Frequenz aufweisen daszlig jedes von ihnen mehr als 1 des gesamten Textes ausmacht Diese 6 Woumlrter sind jah in ni du izwis und ithorn Sie gehen von Typen aus aber wenn man von Lexemen und deren Varianten ausgeht (zB jah jab jad jag jal jam jan jar jas jathorn) und Flexionsformen zusammenstellt ergibt dies 14 Lexeme

Ostgermanische Morphologie 157

TollenaereJones MSn 2006Type Zahl Lexem Zahl Typen

jah 4429 65 jah 4479 66 (10)sa 3090 45 (17)

in 2315 34 in 2340 34is 2162 32 (17)

wisan 1947 29 (49)ni 1507 22 ni 1527 225 (2)

qithornan 1195 176 (39)izwis 873 13 jus 1094 16 (4)

du 1061 16 du 1058 156saei 1040 15 (18)

ik 970 14 (4)alls 728 11 (14)guthorn 690 10 (3)

ithorn 688 10 ithorn 685 10Tab 5 Die haumlufigsten Woumlrter im Vergleich mit TollenaereJones

Diese 14 am haumlufigsten vorkommenden Lexeme ergeben insgesamt 23997 Tokens oder 353 des ganzen Textes Zwar macht izwis fuumlr sich genommen noch 13 des Textes aus (867 Beispiele) die Form hat jedoch zwei Funktionen Akkusativ und Dativ und unterscheidet sich deswegen von den anderen Woumlrtern in der Liste von TollenaereJones Es stuumlnde zwischen ik und alls Die flektierten Woumlrter werden unten weiter eroumlrtert

Solche Informationen zur Wortfrequenz muumlssten miteinbezogen werden falls die Absicht darin bestuumlnde einem Computer Gotisch beizubringen Ich habe jedoch die Tatsache nicht beruumlcksichtigt daszlig einige dieser Flexionsformen eines Lexems haumlufig vorkommen waumlhrend andere nur sehr selten vorkommen oft nur einmal Es ist auch so daszlig das was im gotischen Text vorkommt von der griechischen Vorlage bestimmt ist Diese Informationen sagen uns jedoch etwas daruumlber wie der gotischen Text zusammengesetzt ist

3 Was wissen wir von gotischer MorphologieDie gotischen Quellen ermoumlglichen es uns trotz ihrer oben diskutierten Eingeschraumlnktheit das morphologische System des Gotischen relativ gut zu kennen Es ist den Systemen der anderen uns bekannten altgermanischen

Magnuacutes Snaeligdal158

Sprachen weitgehend aumlhnlich wobei es allerdings altertuumlmlicher ist und Kategorien bewahrt die in den anderen germanischen Sprachen verloren gegangen sind

31 Die Substantive

Das am haumlufigsten vorkommende Nomen ist guthorn sbquoGottrsquo was fuumlr einen biblischen Text natuumlrlich nicht erstaunlich ist Eigentlich geht es hier um 4 Typen guthorn guthorna guthorns und guda Die Substantive weisen drei Genera auf und werden in vier Kasus und zwei Numeri dekliniert Der fuumlnfte Kasus der Vokativ faumlllt meistens mit dem Nominativ zusammen hat aber in einigen Deklinationsklassen im Singular dieselbe Form wie der Akkusativ (aiund-Staumlmme) Der Vokativ als selbstaumlndiger Kasus ist in den anderen germanischen Sprachen nicht uumlberliefert Ein Substantiv im Gotischen kann also houmlchstens acht verschiedene Kasusformen aufweisen wobei viele im Vokativ nicht belegt sind (und aus semantischen Gruumlnden nicht zu erwarten waumlren) Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen sind 23 (9 Maskulina 8 Neutra 6 Feminina) Diese werden hier aufgefuumlhrt und dabei zeigen skalks und sunus den Vokativ

Maskulinum Neutrum Femininum

manna ndash 350 Mann sunus ndash 295 Sohn atta ndash 252 Vater dags ndash 198 Tag ahma ndash 193 Geist brothornar ndash 176 Bruder hlaifs ndash 74 Brot skalks ndash 58 Knecht praufetus ndash 50 Prophet

waurd ndash 210 Wort waurstw ndash 102 Werk hairto ndash 93 Herz barn ndash 84 Kind namo ndash 81 Name mel ndash 70 Zeit waldufni ndash 67 Gewalt frathorni ndash 17 Verstand

managei ndash 143 Menge mahts ndash 94 Macht frawaurhts ndash 90 Suumlnde thorniuda ndash 59 Volk aikklesjo ndash 58 Gemeinde qino ndash 46 Weib

Tab 6 Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen nach der Frequenz geordnet

Auch sollten in diesem Zusammenhang Beispiele wie aba (29) sbquoEhemannrsquo genannt werden wo der APl nicht belegt ist obgleich die Form abans einmal als NPl vorkommt Es ist eindeutig daszlig es keine direkte Beziehung gibt zwischen der Zahl der Beispiele und dem was von dem Paradigma belegt ist Von frathorni gibt es zB nur 17 Beispiele aber von frauja sbquo(der)

Ostgermanische Morphologie 159

Herrrsquo 450 doch ist der GPl fraujane nicht belegt Von guthorn fehlen der D und GPl

32 Die Adjektive

Die Adjektive werden stark und schwach dekliniert wie in den anderen altgermanischen Sprachen auch Fuumlr kein Adjektiv ist das komplette Paradigma uumlberliefert Das Pronominaladjektiv alls sbquoallrsquo zeigt die starken Formen wird aber nicht schwach dekliniert Es fehlt hier der GSgm da von den 33 Tokens des Types allis 6 zum GSgn und 27 zur Konjunktion allis gehoumlren

33 Die Pronomina

Alle 24 Flexionsformen des Demonstrativpronomens sa sbquoder dieserrsquo sind belegt Wegen des Synkretismus wuumlrde man 15 verschiedene Formen erwarten es tauchen jedoch 17 auf Die zwei zusaumltzlichen Formen sind die Variante thornizei (11) im GPlm amp n fuumlr thornize (122) und thornat- (17) im N amp ASgn fuumlr thornata (485) in thornatist und thornatain

Die Flexionsformen des Relativpronomens saei sbquoderrsquo betragen 23 wobei der GPlf nicht belegt ist (thornizoei) Von dieser Form abgesehen waumlren 14 verschiedene Formen zu erwarten es tauchen jedoch 18 auf Die 4 zusaumltzlichen Formen sind thornane (1) im ASgm fuumlr thornanei (69) thornize (9) im GSgm amp n fuumlr thornizei (39) thornizeiei (1) im GPlm fuumlr thornizeei (18) und thornoze (1) im APlf fuumlr thornozei (13) Von den Tokens von thornatei houmlren 206 zum Relativpronomen saei und weitere 443 zur Konjunktion thornatei sbquodaszligrsquo von den 109 Tokens von thornammei gehoumlren 92 zum Pronomen aber 17 zur Konjunktion von den 51 Tokens von thornizei gehoumlrt ein zur Konjunktion die anderen wurden bereits oben behandelt Die Konjunktion thornatei thornammei thornizei weist damit 461 Tokens auf

Die Flexionsformen des Personalpronomens issiita sbquoersieesrsquo betragen 22 der APln ist nicht belegt sollte aber mit dem N uumlbereinstimmen ija das gleiche gilt fuumlr den NPlf der dem A entsprechen sollte ijos Zu erwarten waumlren 15 verschiedene Formen es tauchen jedoch 17 auf Die zusaumltzlichen Formen sind imm- (2) im DSgm fuumlr imma (595) in immuh und izei (3) im GPlm fuumlr ize (115) Von den 23 Tokens von izei gehoumlren dann 20 zu dem Relativpronomen izei sbquoderrsquo mit 14mal ize von 129 Mit den 48 Tokens von sei betragen die Tokens von diesem Pronomen 82 Von den 514 Tokens von is sind 139 NSgm 320 GSgm sowie 7 GSgn und 48 sind die 2PSg

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von wisan Von den 479 Tokens von im sind 341 DPlm 17 DPln sowie 9 DPlf und 112 sind die 1PSg von wisan

Zu jus sbquoihrrsquo (176 + juz 1) werden izwis (867) und 50 Tokens von izwara gezaumlhlt weitere 66 gehoumlren zum Pron izwar Die Formen der 2PSg betragen 414 und die des Du 8 insgesamt fuumlr die Pronomina der zweiten Person 1516 (22)

Zu ik sbquoichrsquo (324) werden mik (271) mis (360) und 15 Tokens von meina gezaumlhlt weitere 64 houmlren zum Pron meins Die Formen der 1PDu sind 8 und der Pl 368 insgesamt fuumlr die Pronomina der ersten Person 1346 (2)

34 Die Verben

In der Konjugation hat das Gotische zwei Kategorien bewahrt die sonst in den germanischen Sprachen nicht vorkommen Diese Kategorien sind der Dual und das Passiv (nur im Praumlsens auch sollte hier die dritte Person Singular und Plural Imperativ genannt werden) Dualformen gibt es nur wenige ndash 32 Tokens von 24 Typen ndash und sie kommen am meisten im Lukas- und Markus-Evangelium vor Es fehlen verschiedene Formen zB der Optativ Praumlteritum Das Passiv wird jedoch haumlufig gebraucht Dafuumlr gibt es insgesamt 331 Tokens (05) von 190 Typen (2) von 144 Verben Die Verben die am haumlufigsten im Passiv vorkommen sind bigitan sbquofindenrsquo (10 Tokens 3 Typen 5 Kategorien) und haitan sbquonennenrsquo (25 Tokens 5 Typen 6 Kategorien) Die Beispiele sind folgendermaszligen auf Personen Numeri und Modi verteilt

1 2 3IndSg 11 4 142 Pl 14 10 36

OptSg 13 6 60 Pl 10 8 17

Tab 7 Die Anzahl und Distribution der Passivformen

Fuumlr kein Verbum ist das komplette Paradigma uumlberliefert aber die haumlufigsten sind wisan sbquoseinrsquo und qithornan sbquosagenrsquo

Von wisan sind 49 Typen belegt die 40 Stellen im Paradigma ausmachen Dabei gibt es wie man sieht verschiedene Varianten Wenn wir vermuten daszlig dieses Verb kein Passiv keinen Imperativ und kein Partizip Praumlteritum gehabt hat fehlen auf jeden Fall 7 finite Dualformen Vorhanden sind dann 25 Formen von 32 wegen des Synkretismus (was) sollten sie 31 sein Im Partizip

Ostgermanische Morphologie 161

Praumlsens sind 15 Stellen von 24 gefuumlllt Dort gibt es 11 (12) verschiedene Formen die jedoch 14 betragen sollten Dazu kommt dann noch der Infinitiv Insgesamt sind 40 Stellen von 57 (70) abgedeckt oder 36 Wortformen von 46 (78)

1 wisan svInf wisan

pers 1 2 3Prindsg im is ist nist

du siju sijutspl sijum sium sijuthorn siuthorn siud sind

optsg sijau siau sijais siais sijai siaidu sijaiwa sijaitspl sijaima sijaithorn sijaid sijaina

Ptindsg was wast wasdu wesu wesutspl wesum wisum wesuthorn wesun weisun

optsg wesjau weisjau weseis weiseis wesidu weseiwa weseitspl weseima weseithorn weseina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSgm wisands -a wisandan wisandin wisandinsPlm wisandans wisandans wisandam wisandaneSgn wisando wisando wisandin wisandinsPln wisandona wisandona wisandam wisandaneSgf wisandei wisandein wisandein-din wisandeinsPlf wisandeins wisandeins wisandeim wisandeino

Tab 8 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von wisan

In dem Paradigma von qithornan gibt es 124 Stellen (wenn man die 1PDuImp mitzaumlhlt vermutlich qithornos) Es waumlre auch moumlglich die 1 amp 2PDu amp Pl nicht mitzuzaumlhlen da diese immer gleich dem Indikativ sind Die Paradigmastellen betruumlgen dann 120 Doch ist auch die Variante qithornanata im PzPtNASgn moumlglich und vielleicht die schwache Form qithornanda im PzPrNSgm Belegt sind 39 Typen die 39 Stellen abdecken (man beachte jedoch die Konjektur qithornando die eigentlich zu qithornano gezaumlhlt werden sollte) Ungefaumlhr 32 der Stellen sind gefuumlllt Mit Komposita koumlnnen weitere

Magnuacutes Snaeligdal162

sieben Stellen gefuumlllt werden insgesamt 37 Von dem zweithaumlufigsten Verb sind also nur ungefaumlhr ein Drittel der Formen belegt

qithornan sv5Inf qithornan

Pers 1 2 3Pr Ind Sg qithorna qithorn- qithornis qithornithorn

Du qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornid qithornand

Opt Sg qithornau qithornais qithornaiDu qithornaiwa qithornaitsPl qithornaima qithornaithorn qithornaina

Imp Sg qithorn qithornadauDu qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornandau

Pass Ind Sg qithornada qithornaza qithornadaPl qithornanda qithornanda qithornanda

Opt Sg anaqithornaidau qithornaizau qithornaidauPl qithornaindau qithornaindau qithornaindau

PtIndSg qathorn qast qathornDu qethornu qethornutsPl fauraqethornum qethornuthorn qethornun

Opt Sg qethornjau qethorneis qethorniDu qethorneiwa qethorneitsPl qethorneima qithorneithorn qethorneina qithorneina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSg m qithornands -a qithornandan qithornandin qithornandinsPl m qithornandans fraqithornandans qithornandam qithornandaneSg n qithornando qithornando qithornandin qithornandinsPl n qithornandona qithornandona qithornandam qithornandaneSg f qithornandei qithornandein qithornandein qithornandeinsPl f qithornandeins qithornandeins qithornandeim qithornandeino

Ostgermanische Morphologie 163

PzPt

Sg m sw

qithornans qithornana

faurqithornanana qithornanan

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl m sw

fraqithornanai fraqithornanans

qithornanans qithornanans

qithornanaim fraqithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg n sw

qithornan -ata qithornano

qithornan -ata qithornano

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl n sw

qithornana qithornanona

qithornana qithornanona

qithornanaim qithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg f sw

qithornana qithornano

qithornana qithornanon

qithornanai qithornanon

qithornanaizos qithornanons

Pl f sw

qithornanos qithornanons

qithornanos qithornanons

qithornanaim qithornanom

qithornanaizo qithornanono

Tab 9 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von qithornan

4 Was wir nicht wissenAn dieser Stelle moumlchte ich Folgendes einfuumlgen Wenn ich einen islaumlndischen Text analysiere dann kenne ich zB den ASg aethgang und ich weiszlig daszlig der NSg aethgangur heiszligt (bdquoZutrittldquo) Auch kann ich jemanden fragen oder in einem Woumlrterbuch nachschlagen falls ich im Zweifel bin Wenn ich einen gotischen Text analysiere kann ich nicht wissen welchen Nominativ der ASg atgagg hat wenn er nicht im Text vorkommt ist er atgagg n oder atgaggs m Die erste Form stuumltzt sich auf gagg DSgAPl gagga Die zweite Form ist auch moumlglich vgl Isl aber wenn so wie war das Wort dann eigentlich dekliniert War es ein a- oder ein i-Stamm In solchen Faumlllen stuumltzt man sich auf die anderen germanischen Sprachen wenn das Wort dort belegt ist Das kann jedoch problematisch sein Im Gotischen findet man zB DSg sinthorna und DPl sinthornam Ist der NSg sinthorn n wie Isl sinn oder sinthorns m wie Ahd sind sbquoMalrsquo Weiter kann man an einem Beispiel wie wahtwom (Lk 28) nicht sehen ob es ein ō-Stamm oder ein ōn-Stamm ist NSg wahtwa oder wahtwo sbquoWachersquo Schlieszliglich nenne ich ein Beispiel wie gards sbquoHausrsquo Im Gotischen liegt ein i-Stamm vor aber garethur ist ein a-Stamm im Islaumlndischen und Westgermanischen was wahrscheinlich urspruumlnglicher ist Gotisch bewahrt nicht immer das Aumllteste Man kann sagen daszlig wir das Deklinationssystem der Gotischen im Groszligen und Ganzen kennen Die Schwierigkeit besteht eher darin daszlig

Magnuacutes Snaeligdal164

wir wegen der begrenzten Quellen nicht ohne weiteres sagen koumlnnen wie jedes gotisches Wort dekliniert wurde

Es ist auch ein gewisses Problem daszlig der Text meistens nur in einer Handschrift uumlberliefert ist Deswegen ist es oft unmoumlglich zu sehen ob ein Schreibfehler vorliegt oder nicht vgl(3) ἰδοὺ ἐξῆλθεν ὁ σπείρων τοῦ σπεῖραι Mk 43 (CA) sai urrann sa saiands du saian Ver 2235 bi thornatei qithornithorn sai urrann saianltdsgt du saltigtan Luther Siehe es ging ein Saumlmann aus zu saumlen Elberfelder Siehe der Saumlmann ging aus um zu saumlen Lk 85 urrann saiands du saian

In diesem Fall waumlre der Artikel in Gotischen nicht zu erwarten da der Saumlmann hier zum ersten Mal genannt wird (vgl Lk 85) Vielleicht bewahrt die veronesische Randglosse (Gotica Veronensia) hier die urspruumlngliche Form aber der Schreiber des Codex Argenteus hat einen Fehler gemacht Er schrieb erst sa und dann das ganze Wort saiands Im Zweifelsfall kann sa auch ein selbstaumlndiges Wort sein Ist dies die Silbe sa oder das Morphem sa

Noch ein Beispiel(4) Joh 1816ndash17 16 hellip thornaruh usiddja ut sa siponeis anthornar saei was kunthorns thornamma gudjin jah qathorn daurawardai jah attauh inn Paitru 17 thornaruh qathorn jaina thorniwi so daurawardo du Paitrau

16 hellip ἐξῆλθεν οὖν ὁ μαθητὴς ὁ ἄλλος ὃς ἦν γνωστὸς τῷ ἀρχιερεῖ καὶ εἶπεν τῇ θυρωρῷ καὶ εἰσήγαγεν τὸν Πέτρον 17 λέγει οὖν ἡ παιδίσκη ἡ θυρωρός τῷ Πέτρῳ

16 hellip Da ging der andere Juumlnger der dem Hohenpriester bekannt war hinaus und sprach mit der Tuumlrhuumlterin und fuumlhrte Petrus hinein 17 Da spricht die Magd die Tuumlrhuumlterin zu Petrus

Hier ist es wahrscheinlich daszlig daurawardo ein Schreibfehler fuumlr daurawarda ist von so verursacht aber selbstverstaumlndlich ist es nicht ausgeschlossen daszlig beide Formen im Gotischen uumlblich waren Aber da wir hier nur eine Handschrift haben ist es schlichtweg unmoumlglich ein endguumlltiges Urteil zu faumlllen Im Fall des jan-Stamms waurstwja sbquoἐργάτης Arbeiterrsquo der 17 Mal vorkommt gibt es auch aber nur einmal den reinen n-Stamm waurstwa (1 TimA 518) Bevor man dies als Schreibfehler

Ostgermanische Morphologie 165

verurteilt sollte man gawaurstwa (13) sbquoσυνεργός Mitarbeiterrsquo und die Moumlglichkeit von wrakja (8) wraka (5) sbquoδιωγμός Verfolgungrsquo uumlberlegen Hier leben anscheinend ein jō-Stamm und ein ō-Stamm Seite an Seite vgl die folgenden Parallelstellen(5) 2 Tim 311ndash12

2 TimA 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakjos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

2 TimB 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

In einigen wenigen Faumlllen gibt es unverstaumlndliche Formen die in Morpheme zerlegbar sind aber deren Wurzeln ganz isoliert sind ZB

(6) a Phlm 22

bijandzuthorn thornan manwei mis salithornwos ἅμα δὲ καὶ ἑτοίμαζέ μοι ξενίαν Zugleich aber bereite mir auch eine Herberge

b 2 ThessB 32

jah ei uslausjaindau af gastojanaim jah ubilaim mannam καὶ ἵνα ῥυσθῶμεν ἀπὸ τῶν ἀτόπων καὶ πονηρῶν ἀνθρώπων und daszlig wir errettet werden von den schlechten und boumlsen Menschen

Im ersten Fall ist die Form bijands problematisch Sie scheint ein Partizip Praumlsens zu sein aber wie kann ein solches Partizip das griechische ἅμα uumlbersetzen Zu erwarten waumlre das Adverb samana sbquozusammen zugleichrsquo Dieses bij- ist ganz isoliert auszliger falls es ein Schreibfehler fuumlr bidjandz- ist das bliebe ebenfalls eine merkwuumlrdige Uumlbersetzung

Im zweiten Fall geht es um gastojanaim Eigentlich scheint es ein starkes Partizip Praumlteritum des schwachen Verbs (ga)stojan sbquo(be- ver-) urteilenrsquo zu sein Semantisch waumlre dies wieder eigentuumlmlich Das griech Adj ἀτόπος ist sonst zweimal im Neuen Testament belegt (Lk 2341 und Apg 286) aber beide Stellen sind im gotischen Korpus verloren gegangen

Zum Schluss nenne ich das Beispiel des Verbs kaurjan βαρεῖν druumlckenrsquo wo die Quellen die Frage nicht beantworten koumlnnen ob der Stamm lang oder

Magnuacutes Snaeligdal166

kurz ist Die entscheidenden Formen kaurjiskaureis kaurjithornkaureithorn sind nicht belegt (vgl Snaeligdal 2002 S37) Die Konjugationsklasse einiger Verben ist auch unsicher

In der Lemmatisierung der CBG habe ich diese Probleme bdquogeloumlstldquo indem ich einfach die Form die ich als die wahrscheinlichste dachte als Grundform gewaumlhlt habe Dabei ist immer klar ob die Form belegt ist oder nicht

5 Zum SchlussIm Project Wulfila (httpwwwwulfilabegothicbrowse) kann man durch Anklicken die grammatische Analyse jedes Wortes haben Es waumlre wuumlnschenswert einen annotierten Text herzustellen denn dann koumlnnte man nach grammatischen Kategorien suchen hier zum Beispiel fuumlr Phlm 11ndash134

(7) Phlm 11hellip ithornltCgt nultDgt thornusltRP DS thornugt jahltCgt misltRP DS ikgt bruksltA NSM bruksgt THORNanuhltRD ASM sahgt insandida ltV XAI1S insandjan gt Phlm 12 ithornltCgt thornultRP NS thornugt inaltRP ASM isgt thornat-ltRD NSN sagt istltV PAI3S wisangt meinosltA APF meinsgt brustsltN APF brustsgt meinaltA APN meinsgt h[air]thornraltN APN hairthornragt andnimltV PAD2S andnimangt Phlm 13 thornaneiltRR ASM saeigt ikltRP NS ikgt wildaltV XAI1S wiljangt atltPgt misltRP DS ikgt gahabanltV PAN gahabangt eiltCgt faurltPgt thornukltRP AS thornugt misltRP DS ikgt andbahtidediltV XAO3S andbahtjangt inltPgt bandjomltN DPF bandigt aiwaggeljonsltN GSF aiwaggeljogt

Am besten sollte ein solcher Text mit dem annotierten Text der griechischen Vorlage kombinierbar sein

(8) Phlm 11 hellip νυνὶ ltDgt δὲ ltCgt σοὶ ltRP DS σύgt καὶ ltCgt ἐμοὶ ltRP DS ἐγώgt εὔχρηστον ltA ASM εὔχρηστοςgt Phlm 12 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἀνέπεμψα ltV AAI1S ἀναπέμπωgt σὺ ltRP NS σύgt δὲ ltCgt αὐτόν ltRP ASM αὐτόςgt τοῦτrsquo ltRD NSN οὗτοςgt ἔστιν ltV PAI3S εἰμίgt τὰ ltRA APN ὁgt ἐμὰ ltA APN ἐμόςgt σπλάγχνα ltN APN σπλάγχνονgt προσλαβοῦ ltV AMD2S προσλαμβάνομαιgt Phlm 13 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἐγὼ ltRP NS ἐγώgt ἐβουλόμην ltV IMI1S βούλομαιgt πρὸς ltPgt ἐμαυτὸν ltRP ASM ἐμαυτοῦgt κατέχειν ltV PAN κατέχωgt ἵνα ltCgt ὑπὲρ ltPgt σοῦ ltRP GS σύgt μοι ltRP DS ἐγώgt διακονῇ

4 Erklaumlrung der Abkuumlrzungen ltCgt = Konjunktion ltDgt = Adverb ltPgt = Praumlposition ltRP DSgt = Personalpronomen Dativ Singular ltRD ASMgt = Demonstrativpronomen Akkusativ Singular Maskulinum ltA NSMgt = Adjektiv Nominativ Singular Maskulinum ltN DPFgt = Nomen Dativ Plural Femininum ltV XAI1Sgt = Verb Praumlteritum Aktiv Indikativ erste Per-son Singular usw im Griechischen zB ltV AAI1Sgt = Verb Aorist Aktiv Indikativ erste Per-son Singular ltV AMD2Sgt = Verb Aorist Medium Imperativ zweite Person Singular usw

Ostgermanische Morphologie 167

ltV PAS3S διακονέωgt ἐν ltPgt τοῖς ltRA DPM ὁgt δεσμοῖς ltN DPM δεσμόςgt τοῦ ltRA GSN ὁgt εὐαγγελίου ltN GSN εὐαγγέλιονgt

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Snaeligdal Magnuacutes (2002) lsquoGothic kaurus lsquoheavyrsquo and its cognates in Old Norsersquo in NOWELE 2002 (Band 41) Odense University Press of Southern Denmark S 31-43

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Streitberg Wilhelm (61971) Die gotische Bibel Erster Teil Der gotische Text und seine griechische Vorlage Mit Einleitung Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleineren Denkmaumllern als Anhang Sechste unveraumlnderte Auflage Zweiter Teil Gotisch‑Griechisch‑Deutsches Woumlrterbuch Heidelberg Carl Winter Universitaumltsverlag

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Magnuacutes Snaeligdal Professor of General Linguistics School of Humanities University of Iceland Saeligmundargoumltu 2 IS-101 Reykjaviacutek Iceland hreinnhiis

Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology

Luděk Vaciacuten

The present paper studies the status and role of the sun-god in Mesopotamian royal ideology It scrutinizes the development of the sun-godrsquos image from Early Dynastic times until the Old Babylonian period and discusses its depen-dence on current ideological schemes The focus of the paper is the Ur III image of the sun-god in this period the deification of kings resulted in a merge of king and sun-god with the former replacing the latter Since this merge was a by-product of the notion of divine kingship it was abandoned during the Old Babylonian period together with the concept of royal divinity as a whole in favour of traditional ideology

Ancient Near Eastern royal ideology is one of the most complex important and interesting issues for any scholar in the field as it sheds light on the ways used in that region for millennia to justify the rule of peoples by a single man the monarch1 The fundamental importance of legitimacy for a ruler is amply documented in a wealth of written and material sources which record various ideas of kingship and its sacred basis eg royal inscriptions date formulae ideologically charged literary compositions statues reliefs stelae etc Thus the theme of royal ideology offers a wide range of topics to focus on This brief paper deals with the relationship between the king and the sun-god specifically with the attribution of some of the sun-godrsquos features to the king in Ur III Mesopotamia2 Its basic substance is much indebted to a more general article by Claudia Fischer at the end of which the author states that one of the aims of her paper was lsquoto provide impetus for other researchers to explore the themes presented here or to offer their

1 Despite a number of studies on the royal ideologies of ancient Near Eastern cultures their changes over the time and their adaptation to the needs of certain dynasties or even individual rulers the only monograph attempting to cover this huge theme in all its com-plexity is still Henri Frankfortrsquos seminal but outdated book (Frankfort 1978) 2 I am grateful to D Schwemer for suggesting this topic to me For a general characteri-sation of early Mesopotamian royal ideology see Postgate 1995 395-403 407 Cf Edzard 1972-5 Krecher 1976-80 Caplice - Heimpel 1976-80 Edzard 1980-3a Edzard 1980-3b Cf further the recent volume containing several illuminating articles on divine kingship Brisch 2008

Luděk Vaciacuten172

own interpretationsrsquo3 The present article is a response to that call refining several points Fischer made and discussing some additional ones

First we shall review the most important aspects and functions of the sun-god in general The solar god (Utu in Sumerian and Šamaš in Akkadian) is attested in tandem with another astral deity the moon-god (Nanna in Sumerian and Sursquoen in Akkadian) already in archaic texts from Uruk and Ur and subsequently in all the later god lists But despite the importance of the object that he represented the sun-god did not attain the kind of prominence in myth and ritual enjoyed by the moon-god in the third mil-lennium Perhaps this can be explained by the significance of the moon for the calendar the influence of moon phases on ebb and flow and fertility of crops and livestock (sowing crops and mating animals were by preference done during moon waxing) on the mental state of humans (especially women during menstruation) and possibly also by the similarity of moon phases with the course of human life Thus unlike the Egyptian one the early Mesopotamian sun-god stood in the shadow of the moon-god but it does not mean at all that he was always seen as subordinate to the moon-god

He was venerated in the majority of Mesopotamian cities for millennia the centres of his cult being his temple complexes in Larsa and Sippar both called Ebabbar (lsquoThe Shiny Housersquo) His aspects and functions were deter-mined by the obvious features and activities of the solar disc The sun dis-pels darkness and thus wards off danger and evil Its rays reach every corner of the world Accordingly UtuŠamaš was the omniscient god who saw and knew everything while tirelessly roaming the universe day and night he was the guardian and overseer of cosmic order These two capacities made him the natural guarantee of justice the divine supreme judge and the patron of travellers This basic picture of the Mesopotamian sun-god is present in a number of literary compositions which often elaborate on it sometimes over several hundred lines Among the most telling examples are a Sumerian incantation to Utu and the Akkadian Šamaš Hymn4 We will briefly summarize the characteristics of the sun-god described in these texts as it is important for our subsequent discussion of royal ideology

The initial (and lengthy) part of the Sumerian incantation to the sun-god invokes him as the source of light and juridical authority It proceeds to extol him as a protector of animals and humans He inspects the universe and guards orphans and widows Without him there would be no justice

3 Fischer 2002 133 4 For an edition of the former see Alster 1991 For the latter see Lambert 1960 121-38

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no river ordeal no regalia no kingship the cultic personnel would not be selected wild animals would not catch their prey people would not get their sustenance fowlers and fishermen would not catch anything weavers would not make cloth people would not be able to live and die they would not be able even to recognize each other it would not be pos-sible to wage war there would be no order in Sumer no one would take care of the poor Significantly this section ends with an image of the poor and homeless as well as widows and orphans again directing their eyes towards Utu and seeking assistance (cf Alster 1991 30f)

The Akkadian Šamaš Hymn represents the most comprehensive summary of Mesopotamian solar theology It praises the sun-god as the provider of light who brings blessings to the fields and illumines the mountains He herds all breathing creatures he is the guardian of all above and below crossing the skies unceasingly All mankind bows low to him and longs for his radiance His words are righteous decrees he stands by pilgrims walking difficult roads protects merchants from storms shows shelter to refugees and supports captives His ultimate juridical authority is glorified by the examples of a remorseless judge whom he punishes and a prudent judge whom he makes oversee the palace and live among princes Another example is that of a deceitful merchant whose fraudulence loses him his assets and an honest merchant whose fairness gains him everything in a good measure Šamaš is futher extolled as a protector of those who are away from their homes and therefore weakened hunters travellers even highwaymen

The above functions of the sun-god are apparently a sum of an ideal kingrsquos features Hence already some Old Sumerian semi-legendary as well as historical rulers strove for Utursquos support and called him lsquotheir lordrsquo Meskiaĝgašer of Uruk was the lsquoson of Utursquo according to the Sumerian King List5 Similarly the ruler of Uruk Enmerkar (Meskiaĝgašerrsquos son in the SKL) is the lsquoson of Utursquo in several literary compositions6 He is even referred to as the lsquosun-god of the landrsquo in lsquoEnmerkar and the Lord of Arattarsquo (line 309) The sun-god further acts as a protector and helper of Lugalbanda and Gilgameš in literature pertaining to them7 He also helps his brother-in-law

5 For the sake of brevity we refer only to the ETCSL treatment of the majority of Sumerian texts discussed in this paper The reader will find references to the respective critical edi-tions there See ETCSL 211 lsquoThe Sumerian King Listrsquo lines 96f 6 See ETCSL 1823 lsquoEnmerkar and the lord of Arattarsquo passim 1822 lsquoLugalbanda and the Anzud birdrsquo passim 1821 lsquoLugalbanda in the mountain caversquo passim 7 For the tales of Lugalbanda see the previous note Concerning the Sumerian tales of Bilgames see especially ETCSL 1815 lsquoGilgameš and Huwawa (version A)rsquo passim 18151

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Dumuzi escape the netherworld demons8 However it must be stressed that we do not know the extent to which Old Sumerian compositions might have been altered by the time of the manuscripts on which they are extant today Indeed some of them show signs of the moon-godrsquos superiority over the sun-god not ascertainable in texts from earlier times9 Therefore literary texts dealing with the above rulers cannot be taken as a reflection of the relationship between an Old Sumerian ruler and the sun-god with-out due caution Finally king Lugalzagesi who unsuccessfully attempted to create the first territorial state in Mesopotamia called himself the one lsquonamed by Utursquo and the lsquomilitary governorrsquo of Utu stressing the sun-godrsquos warlike aspect also present in the first section of the Sumerian incantation summarized above (cf Fischer 2002 130f with references)

As we have seen in Early Dynastic times the sun-god played the usual roles of divine father guardian and helper for the king Such functions were ful-filled by many major as well as minor deities throughout Mesopotamian history But in this case the sun-godrsquos capacity to take care of those far from home on dangerous missions and his heroic aspect came to the fore10 However apart from the unique attestation concerning Enmerkar no one seems to have attempted to appropriate that aspect for himself and thus become an lsquoearthly sun-godrsquo dispossessing the heavenly one

The situation changed fundamentally when the Old Akkadian king Narāmsursquoen held sway over Mesopotamia His deification meant that he himself became a heroic god and protective deity of Akkad His reign is the likely point of time when the sun-god became the moon-godrsquos son and thus

lsquoGilgameš and Huwawa (version B)rsquo passim 1814 lsquoGilgameš Enkidu and the nether worldrsquo passim For the Akkadian Gilgameš Epic see George 2003 8 See ETCSL 143 lsquoDumuzidrsquos dreamrsquo passim 141 lsquoInanarsquos descent to the nether worldrsquo lines 368-83 9 Particularly the father-son relationship referred to in line 152 (lsquohero Ningalrsquos sonrsquo) of lsquoLugalbanda in the Mountain Caversquo line 238 (lsquoyoung warrior Utu the son born by Ningalrsquo) of lsquoBilgames Enkidu and the Netherworldrsquo and Utursquos obvious subordination to Nanna in line 206 (lsquoFather Nanna gives the direction for the rising Utursquo) of lsquoLugalbanda in the Moun-tain Caversquo are typical features of the post-Sargonic solar theology The notion that the sun-god was a son of the moon-god seems to have originated during the reign of Narāmsursquoen Further the fact that the sun-god was regarded as a lsquominorrsquo deity in Sargonic and Ur III times speaks for itself See Fischer 2002 130 with nn 37 and 39 10 With regard to the kingrsquos person these two features can be seen as closely connected because war was definitely one of the dangerous missions in which the king would have needed the sun-godrsquos protection as well as his military prowess Hence it is not surprising that Utu was the divine father of adventurous rulers of the heroic age and that he should have chosen Lugalzagesi a king with imperial aspirations

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the superiority of Nanna-Sursquoen over UtuŠamaš was established11 The sun-god was suppressed precisely because his characteristics perfectly fitted the image of an ideal king now a deity The most striking act of Narāmsursquoenrsquos displacement of the sun-god was the erection of his famous victory stela depicting the king as a martial god climbing a mountain (a posture used for astral deities in visual art mainly glyptic) in the sun-godrsquos city Sippar (perhaps even in his temple) in celebration of the kingrsquos new status the victorious sun-god of his land (Fischer 2002 131)

One might surmise that the act of assuming features proper to a deity could be a way of glorifying that deity rather than suppressing it The logic would more or less be that lsquoimitation is the sincerest form of flatteryrsquo This does not seem to apply to our case however Imitation might function as a form of glorification when the imitator was human (as in the case of Hammurāpi and other later kings see below) But Narāmsursquoen was divine He not only took over functions from the sun-god but also presented him-self in a posture normally reserved to the latter Thus what he did amounts to the substitution of one deity (the sun-god) with another (himself)

The kings of the Ur III dynasty adopted many measures formerly used by Old Akkadian monarchs to create and sustain an empire and this one was no exception In fact it was only natural for rulers coming from the moon-godrsquos city to turn Nanna into the most important astral deity and con-versely apply the sun-godrsquos features to the king at the expense of Utursquos cult Accordingly the old tradition of Nanna as Enlilrsquos son was revived and fixed in myth12 whereas Utursquos heroic and juridical aspects were appropriated by the king While the former event took place during the reign of Urnamma the second occurred under Šulgi in connection with his deification and was

11 See Fischer 2002 128 and n 19 130 and n 37 Note that in pre-Sargonic tradition the sun-god was regarded as Anrsquos or Enlilrsquos son12 See Krebernik 1993-7 364 for evidence of the Abū Ṣalābīkh tradition of Enlil and Ninlil as Nannarsquos parents (ref courtesy AR George) For a detailed discussion of the Ur III genealogy of Nanna see Klein 2001 especially 283f where he deals with the myth lsquoEnlil and Ninlilrsquo (ETCSL 121) describing the rape of the virgin goddess by Enlil which resulted in the birth of Nanna-Sursquoen as the first-born son of Enlil Klein states (2001 284) lsquoWe get the impression that the theologians of Urnammu or Šulgi who composed this piquant myth were at utmost pain to prove the firstborn status of Suen probably to refute a contradicting theological traditionrsquo Note however that Klein missed the ancient tradi-tion regarding Nanna as a son of Enlil when he ascribed the lsquoearliest explicit references to NannaSuen as Enlilrsquos sonrsquo (2001 280 see also 289ff 296 n 93) to Urnamma It is clear that Urnamma merely revived the old genealogy very suitable for his political goals indeed and developed it accordingly

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fully developed by the end of Amarsursquoenarsquos reign13 Although the king is never equated with Utu in royal hymns the sun-godrsquos inferiority is made clear by calling him the kingrsquos lsquobrother and friendrsquo (like Gilgameš)14 That is the result of the kingrsquos identity with Dumuzi on the mythological level which made him the husband of Inana and thus the brother-in-law of Utu The kingrsquos intimate relationship with Utursquos sister was undoubtedly responsible for Utursquos regular cult in the palace along with Inanarsquos and Nin-egalrsquos (a hypostasis of Inana) while his cult at Ur beyond the palace was only marginal and he was never worshipped along with his father in Ur III times (Fischer 2002 130 cf Sallaberger 1993 223 n 1061 tab 75 in vol 2) Utursquos lower status and the kingrsquos takeover of his functions are further apparent in a hymnal simile comparing Šulgi to the rising sun15 Utu is otherwise referred to in the Šulgi hymns as a provider of martial prowess and strength in battle often in his capacity of the kingrsquos companion and constable of the gods16 a further sign of his ancillary status Interestingly Šulgi seems to have appropriated Utursquos juridical aspect only indirectly The king as supreme judge was identified with Ištarān17 not with Utu but his characteristics are the same as Utursquos given in compositions pertaining to 13 The place name dŠulgi-dUtuki (lsquoŠulgi is the sun-godrsquo) given by Fischer (2002 132) as evi-dence for the kingrsquos explicit identification with Utu already by the time of Šulgi is inconclu-sive for we know of a site called dŠulgi-dNannaki as well See Edzard - Farber 1974 18414 Šulgi A line 79 Šulgi B lines 40 123 See Klein 1981 198f ETCSL 24202 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi B)rsquo Although the bulk of Ur III royal hymns is preserved on Old Babylonian tablets and therefore the possibility that the original Ur III traditions were dis-torted by Old Babylonian traditions always has to be reckoned with it does not seem that the tradition with which we are dealing here was subject to any distortion The hymnal evidence is corroborated not only by a piece of Ur III visual evidence (see n 16 below) but also by Ur III administrative texts coupling the offerings brought to Utu in the palace to those delivered on behalf of Inana and Ninegal for an interpretation of which see above Further divine Amarsursquoena was called lsquothe sun-god of his landrsquo in a royal inscription (see below) surely intact by any later tradition15 Šulgi C line 25 iri-ĝu10 dutu-gin7 ba-ta-egrave-egraven (lsquoI rose over my city like Utursquo) ETCSL 24203 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi C)rsquo 16 The bestowal of glory in battle and even of kingship in the land is the main theme of the fragmentary adab () hymn to Utu (Šulgi Q) ETCSL 24217 lsquoAn adab () to Utu for Šulgi (Šulgi Q)rsquo Could this hymn have been composed for use in the palace cult mentioned above Note also that Šulgi is depicted on a seal given by him to his consort Gemeninlila in the posture taken up by Narāmsursquoen on his victory stela and therefore as a victorious divine king in an astral dimension For a drawing of the seal see Mayr - Owen 2004 167 no 2 Noteworthy is also that Šulgi lsquoascended to heavenrsquo upon his death according to a contemporary administrative record and that there was a lsquostar of Šulgirsquo in Old Babylonian lexical tradition See Horowitz - Watson 1991 410f 413 17 This could have resulted from political considerations because Ištarān a deity of foreign origin (perhaps Elamite) was the city-god of Dēr a strategic centre at the unstable north-eastern fringe of the statersquos core territory Thus the king may have attempted to

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 177

the sun-god18 The final step in this development was taken by Šulgirsquos suc-cessor Amarsursquoena who called himself explicitly lsquothe righteous god the sun-god of his landrsquo (see Frayne 1997 263 E321316)

The concept of the king taking over some of the sun-godrsquos functions con-tinued after the demise of the Ur III kingdom in the Isin-Larsa period but as it was closely tied to the deification of kings it gradually disappeared together with divine kingship itself Although eg Hammurāpi called him-self the lsquosun-god of Babylonrsquo the lsquosun-god of his peoplersquo and the one desig-nated lsquoto rise like Šamaš over the black-headed ones to illuminate the landrsquo (Fischer 2002 132 Beckman 2002 39f with references) these references should be taken as metaphorical for the Old Babylonian king was not dei-fied In other words he imitated the sun-god in his capacity of a protec-tor of the people and supreme judge but unlike Narāmsursquoen and some of the Ur III kings he did not and could not strive to replace him because he lacked the necessary precondition to do so ie he did not consider himself a divine being Thus in stark contrast to the depictions of divine kings Narāmsursquoen and Šulgi on his famous law code stela Hammurāpi was depicted as a respectful servant of the sun-god The textual references to Hammurāpi as sun-god can be interpreted as a form of flattery for a human king imitating a deity undoubtedly glorifies the latter This is also the case with similar passages in the inscriptions of later Mesopotamian kings because though they also adopted the idea of the rulerrsquos close bond with the sun-god they never attempted to replace him

Thus the post-Ur III period kings were just earthly reflections of the great astral deity symbolizing stability harmony justice and order ie the values inherent in the sun-godrsquos daily and immutable movement across the sky (cf Fischer 2002 132f)

show his desired unequivocal sovereignty over that area by means of identifying himself with Ištarān in his propagandistic texts 18 The most telling example comes from Šulgi X lines 142-9 lsquoHe the Ištaran of Sumer the omniscient one from birthfor the land he renders a firm judgementfor the land he obtains firm decisions(so that) the strong does not oppress the weakthe mother says pleas-ing (words) to her sonthe son speaks truth to his fatherunder him Sumer is filled with abundanceUr abounds in prosperityrsquo Klein 1981 144f

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Luděk Vaciacuten Department of the Near and Middle East Faculty of Languages and Cultures School of Oriental and African Studies University of London ludekvacinseznamcz

ERRATA ET CORRIGENDAIm Artikel bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo von Šaacuterka Velhartickaacute im Chatreššar 2006 wurden ohne Absprache und Zustimmung der Autorin zahl-reiche Aumlnderungen vorgenommen Der Korrektor hatte vor allem den urspruumln-glichen Titel des Artikels geaumlndert (zu bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) womit der Eindruck entsteht es gaumlbe mehrere Versionen dieses Rituals Die Autorin behaumllt sich vor den Artikel unter seinem urspruumlnglichen und kor-rekten Titel in Zukunft zu zitierenEin weiterer Fehler besteht darin dass der Korrektor in allen Faumlllen den Deter-minativ vor dem Wettergott statt bdquoDldquo auf bdquoDUldquo aumlnderte (in zwei Faumlllen auf DIM S 83) wodurch die Transkription unverstaumlndlich wurde An vielen Stellen kam es zu Veraumlnderungen bei der Schreibung der Kursive und umgekehrt und es gibt auch Fehler bei den Hochschreibungen In dem Kommentar zur Uumlbersetzung des hethitischen DUGpahhunalli- hatte der Korrektor willkuumlrlich die Uumlberset-zung der Autorin veraumlndert Daneben wurden auch mehrere Saumltze veraumlndert

Die Redaktion bedauert die oben genannten Veraumlnderungen Die Autorin stellt die korrekte und urspruumlngliche Version des Artikels allen Interessenten gern zur Verfuumlgung (velhartickacentrumcz) Diese ist auch unter httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf zu finden

V člaacutenku bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo Šaacuterky Velhartickeacute v Chat-reššaru 2006 byly bez vědomiacute a souhlasu autorky učiněny četneacute korektury Korektor pozměnil předevšiacutem titul člaacutenku (na bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) čiacutemž vznikaacute dojem že existuje viacutece verziacute tohoto rituaacutelu Autorka si vyhrazuje praacutevo citovat v budoucnu tento člaacutenek pod jejiacutem původ-niacutem a spraacutevnyacutem naacutezvem

Dalšiacute chyba spočiacutevaacute v tom že korektor ve všech přiacutepadech pozměnil determi-nativ před bohem bouřky z bdquoDldquo na bdquoDUldquo (ve dvou přiacutepadech na DIM s 83) čiacutemž se transkripce stala nesrozumitelnou Na mnoha miacutestech došlo ke změ-naacutem ve psaniacute kurziacutevy a opačně a vyskytly se chyby v psaniacute horniacuteho indexu V komentaacuteři k překladu chetitskeacuteho DUGpahhunalli- pozměnil korektor sveacutevolně autorčin překlad Vedle toho byly pozměněny i četneacute věty

Redakce vyslovuje politovaacuteniacute nad zmiacuteněnyacutemi uacutepravami Autorka poskytne raacuteda spraacutevnou a původniacute verzi člaacutenku k dispozici všem zaacutejemcům (velhar-tickacentrumcz) Tu je možneacute vyhledat i na straacutenkaacutech Uacutestavu srovnaacutevaciacute jazykovědy (httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf)

Chatreššar 2009

Edited by the Institute of Comparative Linguistics

Charles University in Prague Faculty of Arts

ISSN 1803-005X

EDITORIAL BOARDJost Gippert Goethe University Frankfurt aMHans Christian Luschuumltzky University of ViennaPetr Vavroušek Charles University PragueMartin Worthington University of CambridgeAndrzej Zaborski University of CracowPetr Zemaacutenek Charles University Prague

EXECUTIVE EDITORSJan Bičovskyacute Pavel Čech

PROFILE

Chatreššar is a scholarly peer-reviewed journal dedicated to publishing original research in the fields of Indo-European and Semitic linguistics and philology especially for ancient languages Areas of interest include comparative linguistics cultural history sociolinguistics electronic corpora and computational linguistics lexicography and other subjects Chatreššar is published in the form of a printed book selected articles will be accessible on-line depending on the authorsrsquo consent English summaries will be available on-line along with information on the contributors Chatreššar has been published yearly since 1997

More details on the journal including the journals policy information on the submission procedure as well as the purchase possibility can be found at httpenlilffcuniczchatressar

Page 3: Chatreššar 2009 - Univerzita Karlovausj.ff.cuni.cz/system/files/chatrssar2009.pdfJan Bičovský Pavel Čech Published by the Charles University in Prague, Faculty of Arts. Printed

Chatreššar 2009

copy The editors and contributors

Executive editorsJan BičovskyacutePavel Čech

Published by the Charles University in Prague Faculty of Arts Printed in the Czech Republic by BCS sro Pořiacutečany

The Chatreššar is edited by the Institute of Comparative Linguistics Charles University PragueThe members of the Editorial Board are Jost Gippert (Frankfurt aM) Hans-Christian Luschuumltzky (Vienna) Petr Vavroušek (Prague) Martin Worthington (Cambridge) Andrzej Zaborski (Cracow) and Petr Zemaacutenek (Prague)

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ISSN 1803-005XISBN 978-80-7308-297-0

Contents

International Conference on Morphology and Digitisation

Preface 9

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 11 Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

Sprachliche Morphologie digitalisiert 35 Jost Gippert

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre Verbalstammbildung und das Kausativ 63 Hans Henrich Hock

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 81 Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Geschichte der Morphologie 129 Rosemarie Luumlhr

Ostgermanische Morphologie 147 Magnuacutes Snaeligdal

Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 171 Luděk Vaciacuten

Errata et corrigenda

Errata in Šaacuterka Velhartickaacute Chetitskyacute Chutušiho rituaacutel 180 (Chatreššar 2006)

Acknowledgments

The publication of the Journal has been financially supported by the project MSM 0021620823 ldquoČeskyacute naacuterodniacute korpus a korpusy dalšiacutech jazykůrdquo [The Czech National Corpus and Corpora of Other Languages] of the Ministry of Education of the Czech Republic

International Conference on Morphology and Digitisation

Free University of Berlin7 and 8 July 2007

Preface

International Conference on Morphology and Digitisation

On the 7 and 8 July 2007 an International Conference on Morphology and Digitisation was held at the Free University of Berlin covering several scientific fields in addition to linguistics in which the concept of morphology plays an important role The topics of the papers ranged from basic linguistic subjects to the structure of clouds The interdisciplinary character of the conference together with the innovative combination of morphology and digitisation enabled the participants to launch test baloons without the obligation of submitting articles for publication The result of this liberty was that many of the high fliers disappeared from the screen whilst others kept on mdash and keep on mdash growing and a few participants have finally submitted a printable text Six articles that have been received by Phillip Chilson Jost Gippert Hans Henrich Hock Chung-Shan Kao and Thorwald Poschenrieder Rosemarie Luumlhr and Magnus Snaeligdal are published in the following pages of Chatreššar Our thanks are due to Petr Vavroušek and his team who fostered the publication of the articles in the journal and Thorwald Poschenrieder who co-organized the conference in Berlin

Matthias Fritz Jost Gippert

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie

Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

How does one understand the concept of morphology in the field of meteorology It depends upon whom you ask The Glossary of Meteorology published by the American Meteorological Society (AMS 2000) simply states bdquoA study of the structure form or shape of meteorological phenomena such as clouds or ice crystalsrdquo Here we explore morphology not only in this context but also in the context of the dynamical evolution that brings about these structures How one perceives structure is critically dependent upon the spatial and temporal scales of interest For example it is possible to describe the structures in clouds over 100lsquos of kilometers as seen from satellites or the fractal dimensionality of clouds over scales of 100lsquos of meters or even the distribution of individual cloud particles over scales of 100lsquos of millimeters The same principle holds for atmospheric dynamics Large-scale atmospheric motions eventually release their energy to smaller and smaller scales in a cascade effect until all that remains is the thermal motions of molecules in the form of heat These concepts are discussed while drawing upon several examples taken from actual meteorological phenomena such as fine-scale turbulence the formation of snowflakes atmospheric waves and the atmospheric boundary layer

KurzfassungWie ist der Begriff der bdquoMorphologierdquo im Rahmen der Meteorologie zu verstehen Nun da kommt es darauf an wen man fragt Das bdquoGlossary of Meteorologyrdquo (herausgegeben von der Amerikanischen Meteorologischen Gesellschaft AMS 2000) nennt schlicht folgendes Morphologie ist die Untersuchung des inneren Aufbaus der Anordnung oder der aumluszligeren Gestalt von meteorologischen Erscheinungen wie beispielsweise Wolken oder Eiskristalle In diesem Beitrag soll die Morphologie nicht allein in diesem Zusammenhang erkundet werden als vielmehr auch im Hinblick auf die dynamischen Entwicklungsvorgaumlnge welche zu diesen Erscheinungen fuumlhren Wie man eine Erscheinung wahrnimmt haumlngt entscheidend davon ab welche raumlumlichen und zeitlichen Ausdehnungen betrachtet werden So lassen sich beispielsweise Wolken-Formationen die sich uumlber hunderte von Kilometern erstrecken so beschreiben wie man sie vom Satelliten aus wahrnimmt oder die fraktalen Dimensionen in den Wolken uumlber hunderte von Metern oder gar die Verteilung einzelner Wolkenteilchen im 100-

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson12

Millimeter-Bereich Dasselbe gilt im Grunde fuumlr die Bewegungen in der Atmosphaumlre Die Energie groszligraumlumiger atmosphaumlrischer Bewegungen wird in einer Art Kaskade an nachfolgende Bewegungen von immer kleineren Maszligstaumlben abgegeben bis schlieszliglich alles in die Bewegungsenergie von Molekuumllen in Form von Waumlrme umgewandelt ist Solche Betrachtungen werden in diesem Beitrag vorgestellt dazu werden reichlich Beispielfaumllle beigezogen die von echten Wetter-Phaumlnomenen stammen wie die Turbulenz im kleinen Maszligstab die Formation von Schneeflocken die atmosphaumlrischen Wellen und die atmosphaumlrische Grenzschicht

1 Einfuumlhrung Bevor wir uns dem Thema der Morphologie in der Meteorologie widmen soll uns zuerst ein kurzer geschichtlicher Ruumlckblick uumlber die Verbundenheit des Menschen mit Wetter und Natur darauf vorbereiten Schon seit jeher wohnt dem Menschen ein ungemeines Interesse fuumlr das Wetter und die damit verbundenen Vorgaumlnge inne Das ist natuumlrlich keine Uumlberraschung wenn man bedenkt wie eng sein Uumlberleben und Wohlbefinden an die natuumlrlichen Gegebenheiten wie Hitze und Kaumllte Regen und Duumlrre sowie stuumlrmisches und ruhiges Wetter gebunden sind Gewisse sich wiederholende Vorgaumlnge des Wetters sind sicherlich schon sehr fruumlhzeitig erkannt worden und zwar nicht nur die taumlglichen Zyklen betreffend sondern auch jene die nur nach einem laumlngerem Zeitraum wiederkehren So folgten den kalten und unfruchtbaren Monaten des Winters die warmen und fruchtbaren Zeitraumlume des Fruumlhjahrs In bestimmten Gegenden mit erheblichen jaumlhrlichen Niederschlaumlgen folgte die mit Sehnsucht erwartete Regenzeit den Duumlrreabschnitten Durch das Beobachten und Wahrnehmen dieser Vorgaumlnge wurde es dem Menschen moumlglich sich den Bedingungen des Wetters anzupassen So erkannte er beispielsweise die Notwendigkeit in klimatisch mildere Gegenden zu ziehen oder sich im Lande auf das Kommen des Winters vorzubereiten Wahrscheinlich wurde durch die langjaumlhrig gesammelten Beobachtungen auch eine gewisse Erwartung oder Vorfreude auf das Wiederkehren bestimmter natuumlrlicher Vorgaumlnge erweckt wie zum Beispiel auf das Kommen des Fruumlhlings einer Regenzeit oder den Segen einer fruchtbaren Ernte In vielen Kulturen waren diese Ereignisse mit groszligen Feierlichkeiten verbunden

Nachdem der Mensch die der Natur innewohnenden Vorgaumlnge lange beobachtet hatte richtete er nun sein Interesse darauf die Naturkraumlfte welche solche Schauspiele bereiteten zu verstehen Er fragte sich nach den Hintergruumlnden der rhythmischen Veraumlnderungen in seiner Umgebung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 13

Gewoumlhnlicherweise wurde das Geschehen in der Natur irgendeinem uumlbernatuumlrlichen Wesen zugeschrieben welches auszligerdem meist noch als launenhaft oder sogar rachbegierig wahrgenommen wurde Diese Auffassung war im Einklang mit den unberechenbaren und oft verheerenden Geschehnissen in der Natur Wurden die Goumltter nicht bei guter Laune gehalten dann lieszligen sie ihren Zorn in der Form von schlechtem Wetter oder Naturkatastrophen an den Menschen aus Infolgedessen strebten jene fruumlhgeschichtlichen Voumllker danach mit den Goumlttern in Harmonie und Ausgeglichenheit zu leben So wurden den Goumlttern Gebete und Opfer dargebracht um sie zu besaumlnftigen und bei Laune zu halten Auszligerdem wurden feierliche Rituale durchgefuumlhrt mit dem Ziele guumlnstiges Wetter herbeizufuumlhren

Mit der Zeit verstand man dass viele Vorkommnisse in der Atmosphaumlre von denen man vorher annahm dass sie zufaumlllig waumlren durchaus erklaumlrbar waren So erkannte man die entsprechenden Vorboten fuumlr viele verschiedene Wetterverhaumlltnisse Man koumlnnte eigentlich sagen dass die Wetterkunde nichts weiter ist als eine gruumlndliche Untersuchung von erkennbaren sich wiederholenden Verhaltensmustern und Erscheinungen Der Bauer wie auch der Seemann der den Himmel scharf beobachtete konnte Wetterentwicklungen anhand von Wolkenformationen und Windverhaumlltnissen voraussagen Die erworbene Weisheit wurde an die naumlchste Generation weitergegeben und bildete somit die Grundlage fuumlr eine umfangreiche Geschichte der Wetterfolklore Diese Tradition hat eine lange Liste von Wetterweisheiten hervorgebracht Hier nur einige Beispiele

Bei rotem Mond und hellem Sterne sind Gewitter gar nicht fernebull Abendrot ndash Gutwetterbotrsquo ndash Morgenrot mit Regen drohtbull Hof um den Mond bedeutet Regen Hof um die Sonne groszlige Stuumlrmebull Steigt der Rauch ganz gerade nach oben bleibt das Wetter lange schoumlnbull Geht die Sonne feurig auf folgen Wind und Regen draufbull Je weiszliger die Schaumlfchen am Himmel gehrsquon je laumlnger bleibt das Wetter schoumlnbull

Natuumlrlich sind solche Weisheiten nicht immer oumlrtlich uumlbertragbar Sie entsprechen nicht unbedingt der absoluten Wahrheit sind aber oft eine gute Annaumlherung daran und basieren auszligerdem auf meteorologisch bewiesenen Grundsaumltzen

Manchmal wurden jenen Leuten die die Faumlhigkeit besaszligen Naturgeschehen richtig zu deuten groszlige Bedeutung beigelegt Nehmen wir Aumlgypten als Beispiel Die Zivilisation konnte in dieser Gegend wegen des nahrhaften

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson14

Bodens auf Grund der alljaumlhrlichen Uumlberflutung des Nils gut gedeihen Dieses Geschehen war von solch groszligem Stellenwert dass man es dem Gott Hapi der fuumlr Fruchtbarkeit stand zuschrieb Die Priester dieser Zeit erkannten dass das abendliche Erscheinen des Sterns Sirius mit dem Beginn der Uumlberschwemmung des Nils zusammentraf Sie waren Priester aufgrund der Bedeutsamkeit ihrer Beobachtungen aber heute wuumlrde man sie als Gestirnforscher beschreiben

Obwohl die zuvor erwaumlhnten Bauern Seeleute und Priester in der Lage waren Verhaltensmuster in der Natur zu erkennen und diese meteorologischen Phaumlnomenen zuzuschreiben verstanden sie doch nicht unbedingt die dahinterliegenden Mechanismen und waren sich nicht im Klaren daruumlber inwieweit wirkliche Verbindungen bestanden So deuteten sie also die Ursachen und Wirkungen nicht immer richtig Im Falle der Uumlberschwemmung des Nils war die eigentliche Ursache nicht der Erscheinen des Sirius sondern der Einbruch der Regenzeit im aumlthiopischen Hochland Mit der Zeit hing die Deutung von Verhaltensmustern im Wetter immer weniger vom Zufall ab und es gelang immer mehr die zugrundeliegenden Verhaumlltnisse zu verstehen In diesem Zusammenhang werden wir nun mit der Untersuchung der Morphologie in der Meteorologie beginnen

2 Qualifizierende Wetter-Verhaltensmuster Die griechische Sehensweise Viele Zivilisationen haben erstaunliche Geschichten daruumlber wie sie begannen beobachtete Verhaltensmuster in der Natur zu quantifizieren Allerdings wollen wir hier nur auf eine einzige solche Zivilisation naumlher eingehen naumlmlich die der Griechen Es bietet sich an die Griechen hierfuumlr auszuwaumlhlen zumal sie ja die Grundsteine fuumlr die heutigen westlichen Zivilisationen gelegt haben Die alten Griechen begannen schon im Jahre 800 v Chr die Zusammenhaumlnge innerhalb ihrer eigenen Umgebung sehr genau zu uumlberdenken Man muumlsste allerdings einschraumlnken dass ein systematisches Herangehen an diese Sache erst in der Zeit des Aristoteles (384 ndash 322 v Chr) stattfand Aristoteles ist fuumlr viele bedeutende Erkenntnisse beruumlhmt geworden Fuumlr unsere Eroumlrterung hier ist vor allem sein groszliges Werk die Meteorologica von entscheidender Bedeutung In diesem Werk versuchte er verschiedene atmosphaumlrische Phaumlnomene wie beispielsweise Blitz Wolken Wind Regenboumlgen und auch Meteore zu quantifizieren Aristoteles argumentierte so wie andere Griechen vor ihm dass jegliche Materie aus folgenden vier Grundelementen bestehe Feuer Luft Wasser und Erde Eigentlich glaubte man noch an ein fuumlnftes Element naumlmlich den Aumlther der der Baustoff der himmlischen Materie sei Den Aumlther verstand

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 15

man als ein Medium in dem alles vorhanden sein konnte denn man glaubte nicht daran dass die Natur aus einem Vakuum bestehen koumlnnte

Aristoteles glaubte dass alle meteorologischen Erscheinungen mit den vier Elementen erklaumlrt werden koumlnnten Sein Verstaumlndnis der Meteorologie ging weit uumlber das Wetter hinaus Es schloss alles ein was von oben auf die Erde kam oder uumlber der Erdehingldquo Jedes der vier Elemente wurde mit zwei der folgenden vier Eigenschaften in Verbindung gebracht heiszlig kalt nass und trocken (siehe Abbildung 1 zur Veranschaulichung) Auszligerdem glaubte man dass alle Elemente umwandelbar seien was durch Ablaumlufe der Kondensation und Verduumlnnung bewirkt werde Die Umwandlungen wuumlrden sich an bestimmte Richtlinien halten So wuumlrde sich also verduumlnnte Luft in Feuer umwandeln kondensierte Luft wiederum in Wind Wolken und Wasser Wasser koumlnnte sich dann weiter verfestigen und zu Erde werden Schlieszliglich gebe es eine klare Rangordnung der Elemente die dazu diente alles in Bewegung zu halten Feuer wuumlrde uumlber andere Elemente aufsteigen und Erde wuumlrde hinuntersinken Wasser wuumlrde uumlber Erde aufsteigen aber nicht uumlber Luft die Luft wiederum wuumlrde uumlber Wasser aufsteigen aber nicht uumlber Feuer Aus diesem Grunde wuumlrden sich die Wolken uumlber der Erde bilden und ebenso die Luftblasen im Wasser

Abbildung 1 Wechselbeziehungen zwischen den Elementen der Materie gemaumlszlig Aristoteles

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson16

Aristoteles gemaumlszlig konnte sich die Luft zu Wasser kondensieren und dann als Regen auf die Erde fallen Das gleiche galt fuumlr den Tau der allerdings nicht herunterfallen musste Diese Ansichten erklaumlrten die verschiedenen Phasen von Wasser aber uumlber das Vorkommen von Hagel im Sommer war Aristoteles etwas verbluumlfft Seine Auffassungen waren gewiss sehr erfin-derisch und schoumlpferisch auch wenn sie letztendlich falsch waren Diese Anschauungen herrschten noch 2000 Jahre nach seinem Tod vor und behinderten sogar die Entwicklung der atmosphaumlrischen Wissenschaft Erst durch Galileo Galilei wurden die aristotelischen Ansichten verdraumlngt und durch ein neues Wissenschaftsverstaumlndnis ersetzt

3 Wetterverhaltensmuster uumlber raumlumliche und zeitliche SkalenUm eine vollstaumlndige Einsicht uumlber die Rolle der Morphologie innerhalb von Wettersystemen zu erzielen ist es notwendig zuerst uumlber die unglaublich weitreichenden raumlumlichen und zeitlichen Ausmaszlige nachzudenken Zum Beispiel muss man fuumlr weite raumlumliche und lange zeitliche Skalen atmosphaumlrische Bewegungen ins Auge fassen deren Laumlngen mit dem Durchmesser der Erde vergleichbar sind und deren Zeiten in der Groumlszligenordnung von Tagen stehen Zu den wesentlichen Einfluumlssen in diesem Bereich gehoumlren die Erdumdrehung die ungleichmaumlszligige Erhitzung der Erde und die Verteilung von Landmassen und groszligen orographischen Erscheinungen Im anderen Extrem wenn man sich mit Vorgaumlngen im Millimeterbereich und mit Laufzeiten im Sekundenbereich beschaumlftigt wird es noumltig die molekularen Wechselbeziehungen der einzelnen atmosphaumlrischen Teilchen mit in Erwaumlgung zu ziehen Es gibt nicht nur eine Vielzahl von atmosphaumlrischen Prozessen sondern es muss auch beachtet werden dass diese sich gegenseitig beeinflussen

Anfangs hat es den Anschein dass es fast unmoumlglich sei die Atmosphaumlre in solch einem Ausmaszlig zu eroumlrtern Um Fortschritte im Verstehen der Atmosphaumlre und der dazugehoumlrigen Morphologie zu machen ist es entscheidend den Fragebereich in kleinere uumlberschaubare Untereinheiten zu zerlegen Dann besteht die endguumlltige Herausforderung darin die relative Bedeutung der einzelnen Faktoren die diese Untereinheiten beeinflussen richtig einzuschaumltzen Wenn man beispielsweise versucht die Staumlrke und Lage des Jetstreams in Europa waumlhrend der naumlchsten 24 Stunden vorherzusagen koumlnnte man auch den Einfluss der Getreidefelder in Bayern auf den niedrigen Wind mit einbeziehen aber dies waumlre nur

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ein minimale Beeinflussung Allerdings bietet es sich schon an die Oberflaumlchenerwaumlrmung der gleichen Getreidefelder zu beachten wenn man die allgemeinen Strukturen von konvektiven Wolken wie sie sich im Sommer bilden eroumlrtertBeim Unterteilen der Atmosphaumlre in Untereinheiten fanden es die Meteorologen zweckmaumlszligig mehrere allgemeine raumlumliche Skalen zu definieren Diese sind in Tabelle 1 aufgefuumlhrt Die vier Haupt- gruppierungen sind die planetarische Skala die synoptische Skala die Mesoskala und die Mikroskala aber wie man schon aus der Tabelle ersehen kann koumlnnen auch diese wiederum in weitere Untereinheiten zerlegt werden Um ein besseres Gefuumlhl fuumlr die raumlumlichen und zeitlichen Skalen zu bekommen und einige der damit verbundenen atmosphaumlrischen Erscheinungen zu erklaumlren haben wir Abbildung 2 eingefuumlgt Diese Abbildung wurde von Dr Czeckowsky am Max-Planck-Institut fuumlr Aeronomie (heute Max-Planck-Institut fuumlr Sonnensystemforschung) bereitgestellt Wie wir daraus ersehen koumlnnen haben kleine raumlumliche Erscheinungen entsprechende kurze zeitliche Skalen und umgekehrt Es waumlre nicht sinnvoll allgemeine Gleichungen zu erstellen die man uumlber den ganzen Bereich dieser Skalen verwenden wuumlrde Im Grunde formen jene verschiedenen Arbeitsgebiete die fundamentalen Bausteine der atmosphaumlrischen Analyse und die Grundlage fuumlr die Morphologie in der Meteorologie

Groumlszliger als Skala Name20000 km Planetarische Skala2000 km Synoptische Skala

200 km Meso-α Mesoskala20 km Meso-β Mesoskala

2 km Meso-γ Mesoskala200 m Mikro-α Turbulenz in der Grenzschicht

20 m Mikro-β Turbulenz in der Bodenschicht2 m Mikro-γ Turbulenz im Traumlgheitsbereich

2 mm Mikro-δ Kleinskalige TurbulenzLuftmolekuumlle Molekular Viskoser Dissipations-Teilbereich

Tabelle 1 Die raumlumlichen Groumlszligenordnungen bzw Skalenbereiche zum Beschreiben atmosphaumlrischer Phaumlnomene

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Im Folgenden zeigen wir zwei Beispiele in denen ein bestimmtes atmosphaumlrisches Phaumlnomen in der passenden Groumlszligenordnung analysiert wird Erwaumlgen wir zuerst die Entstehung und Ausbreitung eines Systems von Gewittern Gewitter koumlnnen erzeugt werden wenn warme feuchte Luft durch irgendeinen Vorgang nach oben gefuumlhrt wird Dieser Vorgang koumlnnte Oberflaumlchenerwaumlrmung oder die Einfuhr eines kalten dichten Luftstroms sein Wenn die Bedingungen richtig sind dann werden diese aufstroumlmenden Luftmassen durch Auftriebkraumlfte weiter nach oben gezogen Des Weiteren kuumlhlen sich die Luftmassen beim Aufsteigen wesentlich ab was zur Kondensation des verfuumlgbaren Wasserdampfes fuumlhrt Die Abgabe von Waumlrme bei diesem Vorgang erwaumlrmt die Luft noch weiter und foumlrdert die Aufwaumlrtsbewegung der Luftmassen Das Ergebnis ist ein starker Aufwind und eine rasche Kondensierung des Wasserdampfes was wiederum zur Praumlzipitation und zur Trennung elektrischer Ladungen fuumlhrt An der Erdoberflaumlche entsteht durch den Niederschlag ein Gebiet kalter Luftmassen welches aus dem Gewitter herausstroumlmt Wenn die vorherrschenden Bedingungen richtig sind dann kann dieser kalte Luftschub weitere Gewitter hervorrufen Alle soeben beschriebenen dynamischen und thermodynamischen Vorgaumlnge spielen sich innerhalb des Mesoskalenbereichs ab Wenn es jedoch notwendig wird die gesamten meteorologischen Bedingungen die fuumlr ein Gewitter bedeutsam sind zu erwaumlgen dann muumlssen wir auch auf Erscheinungen im synoptischen Skalenbereich zuruumlckgreifen Die zugrundeliegende atmosphaumlrische Physik ist in beiden Faumlllen die gleiche aber die analytischen Werkzeuge sind dem jeweiligen Skalenbereich angepasst Als zweites Beispiel betrachten wir die Staumldte-Meteorologie Man muss vielleicht vorhersehen koumlnnen wie ein Windfeld auf Gebaumlude oder Straszligenschluchten einwirkt aber es ist nicht einfach solche Wechselbeziehungen im Kleinskalenbereich zu ermessen Allerdings koumlnnen die gesamten im Mesoskalenbereich vorhergesagten Windfelder als Eingabe-Parameter fuumlr den erwuumlnschten Mikroskalenbereich verwendet werden Es koumlnnen sozusagen Vorgaumlnge die in verschiedenen Skalenbereichen ablaufen synergistisch uumlber ihre eigenen Grenzen hinaus miteinander verbunden werden

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Abbildung 2 Darstellung von gewoumlhnlichen Phaumlnomenen in der Atmosphaumlre innerhalb uumlblicher zeitlicher und raumlumlicher Skalen

Als ein Beispiel wie eine Kopplung sich uumlber Skalen hinaus in der Atmosphaumlre offenbart betrachten wir nun die Wechselbeziehungen zwischen dynamischen Vorgaumlngen wie sie innerhalb der planetarischen Grenzschicht uumlblich sind Wenn wir von der Grenzschicht sprechen meinen wir jenen Teil der Atmosphaumlre welcher in starker Beziehung zur Erdoberflaumlche steht und von Reibung und Waumlrmeeinwirkungen beeinflusst wird Uumlblicherweise ist die Dicke der Grenzschicht uumlber Land ungefaumlhr 100-200 m waumlhrend des Abends und ungefaumlhr 1-2 km waumlhrend des Tages Diese Werte haumlngen letztendlich von den allgemeinen atmosphaumlrischen Bedingungen und den Oberflaumlchen-Gegebenheiten ab Natuumlrlich ist die Grenzschicht ein houmlchst bedeutender Bereich der Atmosphaumlre wenn man bedenkt dass sie unser Lebensraum ist

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Besonders waumlhrend des Tages sind atmosphaumlrische Luftbewegungen innerhalb der Grenzschicht stark von der Turbulenz beeinflusst Die Turbulenz umfasst die chaotischen stochastischen Bewegungen in Fluumlssigkeiten und steht mit einer schnellen Aumlnderung von Druck Temperatur und Geschwindigkeit in Verbindung Die Geschwindigkeit der Fluumlssigkeit ist zu einem beliebigen Zeitpunkt bestaumlndig unregelmaumlszligigen Schwankungen ausgesetzt Aus diesem Grunde wird die Atmosphaumlre in der Meteorologie als eine Fluumlssigkeit betrachtet Wenn wir die atmosphaumlrische Turbulenz sehen koumlnnten dann wuumlrden wir eine Ansammlung von Wirbeln sehen die innerhalb eines raumlumlichen und zeitlichen Skalenbereichs angesiedelt sind Es waumlre offensichtlich dass diese Wirbel nebeneinander bestehen und bestaumlndig aufeinander einwirken Eine Darstellung dieser Wechselwirkungen von Wirbeln ist in Abbildung 3 zu sehen

Abbildung 3 Veranschaulichung atmosphaumlrischer Turbulenz

Stochastische Systeme wie sie in Turbulenzen vorkommen sind von Natur aus nicht deterministisch aber es koumlnnen trotzdem sinnvolle Parameter errechnet werden Da es unmoumlglich ist die Bewegungsablaumlufe von einzelnen Teilchen in einer Fluumlssigkeit zu berechnen haben sich Wissenschaftler zu einer statistischen Vorgehensweise entschlossen Nehmen wir an wir haben eine bestimmte Menge von Gas in einem festen Behaumllter von gleichbleibendem Volumen eingeschlossen Man hat herausgefunden dass hier die Waumlrmeenergie der gesamten Gasteilchen in einer Beziehung zur Temperatur des Gases steht Deshalb kann man zusammenfassend sagen dass die zufaumllligen Zusammenstoumlszlige der Teilchen mit der Wand des Behaumllters statistisch als Druck quantifiziert werden koumlnnen Tatsaumlchlich ist in diesem Beispiel der Druck einzig von der Temperatur abhaumlngig Die unmoumlgliche

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Aufgabe die Lage und die Geschwindigkeit der Gasteilchen zu verfolgen ist somit auf eine ganz einfache Gleichung zuruumlckgefuumlhrt worden naumlmlich P = ρ R T wobei P der Druck ist ρ die Dichte des Gases und R eine Konstante die sich auf das jeweilige Gas bezieht Wenn man sich diese taumluschend einfache Gleichung ein bisschen genauer ansieht dann laumlsst sich daraus eine reichhaltige Vielfalt statistischer Physik erschlieszligen

Die Auswirkungen der Turbulenz und stochastischer Vorgaumlnge findet man uumlberall in der Natur und sie waren und sind noch immer das Thema langer Reihen von Erkundungen Allerdings ist die Turbulenz trotz dieser Bemuumlhungen eines der am wenigsten verstandenen Gebiete in der klassischen Physik geblieben Warum ist das so Schon 1755 gelang es dem Schweizer Mathematiker Euler ein System von Gleichungen aufzustellen das die Bewegungen von Fluumlssigkeiten beschrieb Er hatte jedoch die Auswirkungen der Viskositaumlt welche ein Maszligstab fuumlr den Widerstand einer Fluumlssigkeit ist nicht miteinbezogen Das mathematische Bezugssystem das heute haumlufig gebraucht wird um zaumlhfluumlssige und waumlrmeleitende Fluumlssigkeiten zu beschreiben nennt man die Navier-Stokes-Gleichungen sie wurden zwischen 1822 und 1845 von dem Franzosen Navier und dem Briten Stokes formuliert Diese Gleichungen sind das Herz und die Seele aller hydrodynamischen Modelle mit denen man newtonsche Fluide wie Wasser Luft oder Oumll beschreibt jedoch werden auch sie der Verflochtenheit der Turbulenz nicht gerecht Ein halbes Jahrhundert nach dem Werk von Navier und Stokes wurden Wissenschaftler wegen des Mangels an neuen Erfolgen in ihrem Verstaumlndnis der Turbulenz wieder entmutigt Waumlhrend einer Ansprache vor der britischen Gemeinschaft fuumlr wissenschaftlichen Fortschritt (British Association for the Advancement of Science) im Jahre 1932 soll der bekannte und geschaumltzte britische Physiker Horace Lamb folgendes gesagt haben bdquoI am an old man now and when I die and go to Heaven there are two matters on which I hope for enlightenment One is quantum electrodynamics and the other is the turbulent motion of fluids And about the former I am really rather optimisticrdquo (Heute bin ich ein alter Mann und wenn ich einst sterbe und in den Himmel komme moumlchte ich dort gerne zwei Fragen beantwortet haben die eine uumlber die Quanten-Elektrodynamik und die andere uumlber die Turbulenz von Fluumlssigkeiten Hinsichtlich der ersten Frage bin ich noch recht optimistisch)

Ein gewisser Erfolg kam endlich als der russische Wissenschaftler Komogrov im Jahre 1950 in der Lage war die Turbulenz teilweise zu charakterisieren Komogrov zufolge kommt der groumlszligte Teil der kinetischen Energie in einem Fluid (wir meinen hier die Atmosphaumlre) in groumlszligeren

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Skalen vor Diese Energie wird dann an kleinere und noch kleinere Skalen weitergegeben Die kinetische Energie wird also von den groumlszligeren Wirbeln an kleinere Wirbel abgegeben und zwar durch eine Reihe von Vorgaumlngen die man als Energiekaskade bezeichnet Die Energie wird bestaumlndig an kleinere Skalen abgegeben bis die turbulenten Wirbel so klein sind dass molekulare diffusive Kraumlfte eine wichtige Rolle spielen und die Energie in Form von Waumlrme abgegeben wird Eine graphische Darstellung des Kaskadenvorgangs ist in Abbildung 4 zu sehen Die y-Achse des Diagramms bezeichnet den Betrag der kinetischen Energie pro Wirbel fuumlr eine bestimmte Groumlszlige Die Wellennummer befindet sich auf der x-Achse Fuumlr unsere gegenwaumlrtige Eroumlrterung kann man sich die Wellennummer k als die inverse charakteristische Groumlszlige der turbulenten Wellen denken und zwar innerhalb der Grenzschicht Dies ist aumlhnlich wie die Beziehung zwischen Zeit und Frequenz Eine Erhoumlhung der Wellenzahl entspricht also einer Abnahme der Groumlszlige Den Bereich der Wellenzahlen (Groumlszligen) fuumlr welche der Kaskadenvorgang stattfindet nennt man Traumlgheitsbereich (inertial subrange) und dieser ist sehr wichtig fuumlr die atmosphaumlrische Dynamik In der atmosphaumlrischen Grenzschicht werden kinetische Energien in der Groumlszligenordnung von 100-200 m angeregt und eine Erwaumlrmung tritt ungefaumlhr dann auf wenn die Wirbel 1 mm groszlig sind Die Energiekaskade beschreibt die Umwandlung von turbulenter kinetischer Energie innerhalb raumlumlicher Skalen die sich um fuumlnf Groumlszligenordnungen bzw Zehnerpotenzen voneinander unterscheiden

Abbildung 4 Darstellung des Energiegehalts turbulenter Stroumlmungen als eine Funktion der Wellenzahl

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4 Fruumlhzeitige Wettervorhersage-ModelleIm Jahre 1904 wies der Norweger Bjerknes darauf hin dass es moumlglich sein sollte quantitative und objektive Wettervorhersagen zu machen die auf der deterministischen Theorie der atmosphaumlrischen Bewegung und den Navier-Stokes Gleichungen basieren Er behauptete also dass es moumlglich sei das Wetter anhand analytischer Modelle vorherzusagen Diese Vorgehensweise gleicht also nicht den Vorhersagen von erfahrenen Leuten die sich auf Wetterkarten beobachtete Daten und den Himmel verlieszligen Die Aussicht auf eine Erstellung von objektiven Wettervorhersagen fuumlhrte den Begriff der Morphologie in ein neues Zeitalter Nun wurde es zum ersten Male sinnvoll nach den zugrunde liegenden Beziehungen zwischen den Verhaltensmustern die man jahrhundertelang beobachtet hatte zu suchen Es ist allerdings fraglich ob Bjerknes eine starke Hoffnung auf das Zustandekommen solcher Vorhersagen hatte Weitere 30 Jahre mussten vergehen bis Konrad Zuse den ersten binaumlren Rechner in Deutschland entwickelte Das erste Geraumlt wurde noch mechanisch betrieben und erst einige Jahre spaumlter wurde daraus der erste elektronische Rechner bzw Computer

Zu Beginn des 20 Jahrhunderts begann Lewis Fry Richardson mit einem Plan fuumlr objektive Wettervorhersagen welche auf den Ergebnissen von Bjerknes beruhten und zwar ohne mechanischen oder elektronischen Rechner Er veroumlffentlichte diese wegweisenden Vorstellungen im Jahre 1922 Weil es zu der Zeit noch keine physikalischen Rechner gab stellte sich Richardson menschliche Rechner vor Nach seinen Berechnungen braumluchte man 64000 Menschen die rund um die Uhr arbeiteten um angemessene Wettervorhersagen zu erstellen Er stellte sich vor dass diese Personen zusammen in einer groszligen Halle arbeiten wuumlrden wobei jeder einzelne eine relativ kleine Aufgabe der Gesamtarbeit uumlbernaumlhme Laumlufer wuumlrden dann die Ergebnisse zwischen den menschlichen Rechnern uumlbermitteln Ein Hauptleiter wuumlrde die einzelnen Vorgaumlnge uumlberwachen und die Arbeitsablaumlufe aufeinander abstimmen Richardson schrieb in dem Buch Weather Prediction by Numerical Processes folgendes (Richardson 2007) bdquoImagine a large hall like a theater except that the circles and galleries go right round through the space usually occupied by the stage The walls of this chamber are painted to form a map of the globe hellip From the floor of the pit a tall pillar rises to half the height of the hall It carries a large pulpit on its top In this sits the man in charge of the whole theatrerdquo (Stellen wir uns eine groszlige Halle vor etwa so wie ein Theater aber die Kreise und Emporen gehen ganz herum auch da wo normalerweise der

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Schauplatz ist Die Waumlnde sind so bemalt wie unsere Weltkugel Vom Boden des Parketts erstreckt sich eine hohe Saumlule bis zur halben Houmlhe der Halle Auf der ist obendrauf eine groszlige Kanzel Hier sitzt der Mann der das ganze Theater leitet) Richardson war sich wohl bewusst dass es zu seiner Zeit fast unmoumlglich gewesen waumlre dieses Vorhaben durchzufuumlhren Im Vorwort zu seinem Buch schrieb er (Richardson 1922) bdquoPerhaps some day in the dim future it will be possible to advance the computations faster than the weather advances and at a cost less than the saving to mankind due to the information gained But that is a dreamrdquo (Vielleicht wird es eines Tages in ferner Zukunft moumlglich sein die Berechnungen schneller zu beschleunigen als die Fortschritte der Wetterforschung und um einen Preis der geringer ist als die Gewinne die die neuen Erkenntnisse fuumlr die Menschheit erbringen Aber das ist ein Traum) Vielleicht war es nur ein Traum aber einer den er ernsthaft in Betracht zog In seinem Buch legte Richardson systematisch die Grundlage fuumlr ein neues Gebiet der Wetterforschung naumlmlich die numerische Wettervorhersage die auch noch heute betrieben wird Lewis Fry Richardson wird von vielen sogar als der Urheber dieses Forschungsgebietes angesehen

Mit der Entwicklung des ENIAC (Elektrischer und Numerischer Integrator und Rechner) im Jahre 1946 durch eine Gruppe von amerikanischen Ingenieuren der Elektrotechnik geleitet von Mauchly und Eckert konnte Richardsons Traum endlich Wurzel fassen und beginnen Wirklichkeit zu werden Mit der Abloumlsung mechanischer Relais und Schalter durch die Vakuumroumlhre wurde der ENIAC tausendmal schneller als die zeitgenoumlssischen Rechner Der ENIAC wurde vom Militaumlr fuumlr die Aufgabe entwickelt aufwendige ballistische Flugbahnen auszurechnen John von Neumann ein Mathematiker an der Universitaumlt Princeton erkannte sofort dass der ENIAC auch fuumlr die Modellierung von Wettervorhersagen gut geeignet sein wuumlrde Er nahm die Hilfe des amerikanischen Meteorologen Jule Charney in Anspruch und die beiden lieferten im Jahre 1950 die erste numerische Wettervorhersage mittels des ENIAC Es dauerte noch ein Jahrzehnt bis die numerischen Modelle fuumlr die Wettervorhersagen besser wurden und in der Lage waren Vorhersagen zu liefern die sich mit den subjektiven Analysen menschlicher Meteorologen messen konnten

Heutzutage sind Computermodelle eine Hauptquelle fuumlr die Meteorologie und die Wettervorhersage Es gibt allerdings noch kein Modell das alle phaumlnomenologischen und morphologischen Skalen der Atmosphaumlre behandeln wuumlrde Deshalb ist der Grundsatz die Umgebung in uumlberschaubare Skalen (wie in Tabelle 1 aufgefuumlhrt) zu unterteilen bestehen geblieben In

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der raumlumlichen Skala von ungefaumlhr 1 mm bis zu hunderten von Metern kann man turbulente Stroumlmungsmuster mit einem groszligen Genauigkeitsgrad mittels direkter numerischer Simulation (DNS) ausrechnen Fuumlr groumlszligere Skalen verwendet man die Groszlig-Wirbel-Simulation (LES = large eddy simulation) Mit dieser Herangehensweise werden alle Vorgaumlnge von kleineren Skalen von mehreren 10 Metern mit Parametern versehen (nicht direkt berechnet) und dafuumlr verwendet fluumlssige Stroumlmungen innerhalb einer Skala von mehreren 10 Kilometern zu untersuchen Zusaumltzlich zur DNS und LES gibt es auch noch mesoskalige Modelle synoptische Modelle erdumfassende Umlauf-Modelle usw Wenn der Bereich in dem ein Modell verwendet wird an Groumlszlige zunimmt dann nimmt auch die Groumlszlige der kleinsten Einheit des Modells zu Deshalb wird es immer wichtiger das gewonnene Wissen uumlber die kleinen Skalen (von Simulationen) zu nuumltzen um Parameter-Systeme fuumlr die Verwendung in Modellen groumlszligerer Skalen zu entwickeln

5 Die Geburt des ChaosIn den spaumlten fuumlnfziger und fruumlhen sechziger Jahren gerade als die elektronische Computertechnologie sich eingebuumlrgert hatte und die Zukunft von numerischen Wettervorhersagen rosig aussah kam es in den Hallen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu einer unerwarteten Wendung Ein Meteorologe mit dem Namen Ed Lorenz entwickelte seine eigenen Modelle fuumlr die Wettervorhersage an einem geraumluschvollen Computer in seiner Amtsstube Weil Lorenz nur eine beschraumlnkte Auswahl von Hilfsmitteln zur Verfuumlgung hatte hielt er sein Modell sehr schlicht Seine simulierte Atmosphaumlre enthielt nur 12 Gleichungen und die Variabeln (Regelgroumlszligen) die errechnet werden konnten waren lediglich einzelne Groumlszligen wie Druck Temperatur und Windvektoren Mit jeder Wiederholung in simulierter Zeit erstellte der Computer eine groszlige Menge von Zahlen die Werte der errechneten Parameter anzeigten Lorenzrsquo Wettersimulationen gaben Aufschluss uumlber gewisse Beziehungen von atmosphaumlrischen Erscheinungen und seine Ergebnisse gaben ihm die noumltigen Einsichten um Verhaltensmuster im Wetter zu suchen

Eines Tages waumlhrend seine Simulationen liefen machte Lorenz eine Entdeckung die spaumlter zu einem voumlllig neuen Zweig der Mathematik fuumlhren sollte An jenem Tage versuchte er eine Simulation zu wiederholen

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die er schon vorher durchgefuumlhrt hatte Jedoch wollte er das Modell mit der neuen Simulation uumlber einen laumlngeren Zeitraum laufen lassen Um den Vorgang zu beschleunigen entschied sich Lorenz fuumlr eine Abkuumlrzung Er initialisierte die neue halbwegs fertig gelaufene Simulation dadurch dass er die ausgedruckten Parameter die also schon erstellt waren eingab Er tippte die Zahlen in sein Programm schaltete den Computer ein und verlieszlig seine Amtsstube um sich eine Tasse Kaffee zu holen Als er eine Stunde spaumlter zuruumlckkam bemerkte er etwas Uumlberraschendes Die Ergebnisse der neuen Simulation waren voumlllig anders als was er zuvor errechnet hatte

Nachdem er sicherstellte hatte dass kein Fehler vorlag kam Lorenz zur Schlussfolgerung dass der Unterschied der Ergebnisse ein Rundungsfehler sein muumlsste der durch das Eintippen der Parameter in der Mitte der Simulation entstanden war So wurde zum Beispiel ein Wert von 05783214 als 0578 ausgedruckt Konnte denn ein Rundungsfehler in den Tausender Dezimalstellen zu solch tiefgreifenden Abweichungen in den simulierten Ergebnissen fuumlhren Dieser Rundungsfehler war doch kleiner als die Fehler in den zahlreichen meteorologischen Beobachtungen die fuumlr das Wettervorhersage-Modell benutzt wurden Es bleib jedoch unuumlbersehbar dass die Ergebnisse der beiden Simulationen enorme Abweichungen zeigten Welche Folgen wuumlrde dies fuumlr die Zukunft der numerischen Wettervorhersagen haben

Als geschickter Mathematiker verstand Lorenz dass diese neue Art der Unvorhersehbarkeit irgendwo in den Zahlen verborgen lag Man nennt diese Erscheinung die bdquoEmpfindlichkeit gegenuumlber den Anfangsbedingungenldquo (sensitive dependance on initial conditions) Das bedeutet dass kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen das langfristige Verhalten eines Verfahrens wesentlich veraumlndern koumlnnen Heute nennt man das den Schmetterlingseffekt da man sich vorstellen kann dass das Schwingen eines Fluumlgels eines Schmetterlings grundsaumltzlich einen tiefgreifenden Einfluss auf das Wetter nehmen kann das zu spaumlterer Zeit beobachtet wird Hieraus entwickelte sich spaumlter die Chaosforschung

Um diese Auswirkung besser zu verstehen versuchte Lorenz seine Vorhersage-Modelle so weit wie moumlglich zu vereinfachen ohne jedoch die empfindsamen Abhaumlngigkeiten der Anfangsbedingungen zu

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vernachlaumlssigen Es gelang ihm die Gleichungen die die Konvektion bestimmen auf drei zu beschraumlnken diese wurden dazu benutzt um Werte von drei verschiedenen physikalischen Parametern vorherzusagen Das erweckt den Anschein dass die endguumlltigen Gleichungen allzu simpel seien aber die Verhaltensmuster die diese vorhersagen sind keineswegs einfach zu verstehen Abbildung 5 zeigt ein Beispiel Die drei vorhergesagten Parameter sind als x y und z gekennzeichnet und in einem dreidimensionalen Raum eingetragen Die Lage des Punktes der von x y und z bestimmt ist bewegt sich in unvorhersehbarer Weise zwischen den Iterationen Allerdings wird die Gesamtheit aller Punkte vom Raum begrenzt und daraus bildet sich ein gewisses Verhaltensmuster Solch ein Verhalten veranschaulicht ein deterministisches Chaos und wird ein seltsamer Attraktor genannt Das besondere Beispiel in Abbildung 5 zeigt den sogenannten Lorenz-Attraktor

Abbildung 5 Der Lorenz Attraktor veranschaulicht die verschiedenen Muster die bei chaotischem Verhalten vorkommen

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Wie wir wissen hat die Entdeckung chaotischer Systeme in der Atmosphaumlre numerische Wettervorhersagen nicht abgeloumlst Wissenschaftler wussten schon Hunderte von Jahren vor der Lorenzschen Chaostheorie von den zufaumllligen Bewegungen der Turbulenz Allerdings hat diese Entdeckung die Hoffnung der Meteorologen auf genaue langfristige Vorhersagen auch groumlszligere Skalen betreffend etwas gedaumlmpft Dennoch koumlnnen wir darauf zaumlhlen dass die heutigen Grenzen der Vorhersagen fuumlr Wetterentwicklungen in der Zukunft weiter hinausgeschoben werden koumlnnen Durch eine Verbesserung der Rechenleistungen fortschrittlicher Computer durch eine feinere Einstellung der Modelle und durch die Entwicklung atmosphaumlrischer Geraumlte die genauere Messungen zulassen wird dies moumlglich sein Man muss sich natuumlrlich bewusst sein dass verstrickte chaotische Geschehen immer die Oberhand haben werden

6 Selbst-Aumlhnlichkeit in der AtmosphaumlreEine weitere fesselnde Erscheinungsform von Chaos in der Natur und in der Atmosphaumlre ist die sogenannte Selbstaumlhnlichkeit Einen Gegenstand oder eine Gestalt nennt man selbst-aumlhnlich wenn ersie aumlhnlich (oder bei mathematisch erzeugten Gegenstaumlnden gleich) erscheint unabhaumlngig davon in welcher Groumlszligenordnung ersie betrachtet wird Ein Beispiel dafuumlr sind die Fensterbilder die das Eis an kalten Wintertagen hinterlaumlsst Die Muster erscheinen aumlhnlich (wenn auch nicht deckungsgleich) wenn man sie mit einem Vergroumlszligerungsglas oder auch mit dem bloszligen Auge ansieht

Selbstaumlhnliche Gegenstaumlnde besitzen in rein rechnerischem Sinne viele fesselnde Eigenschaften Wir sprachen soeben von der Skalen-Invarianz In manchen Faumlllen kann man kaum sagen wo der Beruumlhrungsbereich eines Gebildes beginnt und wo er endet Vielleicht ist eine der sonderbarsten Eigenschaften solcher Gestalten ihre fraktionale Dimensionalitaumlt (weiter unten erklaumlrt) Wegen dieser Eigenschaft nennt man selbst-aumlhnliche Gebilde oft Fraktale Man kann sich daruumlber streiten ob die Selbst-Aumlhnlichkeit der Kern der Morphologie in der Meteorologie ist

Zugleich muss zwischen rein rechnerischen Selbst-Aumlhnlichkeiten und der Annaumlherung von Selbst-Aumlhnlichkeit in der Natur unterschieden werden Offenkundig ist der Begriff der Skalen-Invarianz in der Natur raumlumlich beschraumlnkt Turbulente Stroumlmungen koumlnnen zum Beispiel als selbst-aumlhnlich beschrieben werden wenn man nur die Skalen innerhalb des Traumlgheitsbereichs betrachtet In diesem Fall kann man nicht zwischen groszligen und kleinen Wirbeln unterscheiden ohne eine Art von Bezugs-

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Skala heranzuziehen Weitere klassische Beispiele fuumlr die Selbst-Aumlhnlichkeit beziehen sich auf Wolkenstrukturen Gebilde von Schneeflocken Wechselbeziehungen zwischen der Grenzschicht und der freien Atmosphaumlre (Entrainment) usw In vielen dieser Faumllle koumlnnen durch rein rechnerische Modelle Annaumlherungen an diese Erscheinungen gefunden werden

Wir wollen die Selbst-Aumlhnlichkeit am Beispiel von Schneeflocken die als Fraktale betrachtet werden koumlnnen veranschaulichen Wir beginnen dies damit indem wir ein einziges Streckenstuumlck wie es in der oberen linken Ecke von Abbildung 6 zu sehen ist betrachten Das mittlere Drittel dieser Strecke wird durch zwei Streckenabschnitte (die beide ebenfalls ein Drittel der Gesamtlaumlnge einnehmen) in abgewinkelter Weise entsprechend einem gleichseitigen Dreieck ersetzt Aus einer Strecke sind also vier geworden und so haben wir vier deckungsgleiche Abbildungen Die Groumlszlige dieser neuen Strecken ist zur urspruumlnglichen um den Faktor drei verschieden Man sagt der Vergroumlszligerungsfaktor ist drei Wenn dieser Vorgang wiederholt wird dann werden die daraus entstehenden Gegenstaumlnde zunehmend unuumlberschaubar (siehe Abbildung 6) Es ist offensichtlich dass man wenn wenn man einen beliebigen Teil der ganzen Gestalt vergroumlszligern wuumlrde wieder aumlhnliche Formen (in diesem Fall sogar deckungsgleiche) vorfinden wuumlrde und zwar ungeachtet der jeweiligen Vergroumlszligerung Auszligerdem wird diese Strecke unendlich lang und bleibt nur vom Raum begrenzt Dies ist die sogenannte Koch-Kurve (nach dem schwedischen Mathematiker Koch benannt) und sie gehoumlrt zur Familie der Fraktale Wie gesagt kann man solche Muster an vereisten Fenstern finden Mit dem gleichen Vorgang koumlnnen wir eine vernuumlnftige Darstellung einer Schneeflocke hervorbringen Diesmal benutzen wir aber ein Dreieck anstelle einer Strecke als Ausgangspunkt Nach nur drei Wiederholungen werden die entstehenden Muster den echten Schneeflocken wie sie in Wolken beobachtet werden bereits aumlhnlich Dies ist allerdings nur ein Beispiel fuumlr Veranschaulichungs-Zwecke Mittels Fraktalen koumlnnen weitaus echter aussehende Schneeflocken gebildet werden

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Abbildung 6 Entstehung der Koch-Kurve und der Kochrsquoschen Schneeflocke

Was bedeutet es zu sagen dass selbst-aumlhnliche Gegenstaumlnde eine fraktale Dimension haben Nun wir wissen schon dass ein Punkt nulldimensional ist eine Strecke eindimensional eine Ebene zweidimensional und ein Wuumlrfel dreidimensional aber was bedeutet der Begriff der Dimensionalitaumlt wirklich Einfachheitshalber arbeiten wir in den nachfolgenden Beispielen mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei Das bedeutet eine selbstaumlhnliche Abbildung der naumlchsten Groumlszlige ist um den Faktor zwei verschieden Nehmen wir zwei gleiche Streckenstuumlcke der Laumlnge eins Aneinandergefuumlgt bilden diese ein selbst-aumlhnliches Streckenstuumlck der Laumlnge zwei Mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachtet finden wir also zwei selbst-aumlhnliche Streckenstuumlcke vor Genauso koumlnnen wir ein Quadrat aus vier gleichgroszligen Quadraten bilden Wenn wir das groumlszligere Quadrat mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachten dann sehen wir vier selbst-aumlhnliche Abbildungen (2x2) Schlieszliglich koumlnnen wir diesen Vorgang fuumlr einen Wuumlrfel wiederholen In diesem Fall liefert ein Vergroumlszligerungsfaktor von zwei genau acht (2x2x2) selbst-aumlhnliche Abbildungen Wir bemerken die Entwicklung eines Musters das wir mathematisch auf folgende Weise beschreiben koumlnnen

Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile = (Vergroumlszligerungs-Faktor)D

D steht dabei die Dimension zB ist die Dimension fuumlr einen Wuumlrfel drei Im Fall der Koch-Kurve ist der Vergroumlszligerungsfaktor drei und die Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile vier Aus diesen beiden Groumlszligen koumlnnen wir nun die Dimensionalitaumlt berechnen Aus 3 = 4D folgt D = 1262 Das gilt fuumlr die

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Koch-Kurve und fuumlr die kochsche Schneeflocke Ein sehr bemerkenswertes Ergebnis aber kann man es in der Natur anwenden

Meteorologen beschaumlftigen sich immer haumlufiger mit der Selbst-Aumlhnlichkeit Wenn wir verstehen warum und wie fraktale Muster in der Natur vorkommen dann koumlnnen wir auch die zugrundeliegende Physik und die gegenseitigen Wechselbeziehungen der dazugehoumlrenden Kraumlfte besser verstehen Die fraktale Dimension von Eisteilen koumlnnte eine wichtige Einsicht geben wie diese sich formen und wie sie wachsen vorausgesetzt wir beachten bestimmte Umgebungsbedingungen wie Auszligentemperatur Wasserdampfgehalt fluumlssiger Wassergehalt und turbulente Betriebsamkeit Die sogenannte Kalte-Wolken-Mikrophysik ist oft schwierig zu verstehen aber sie ist besonders wichtig fuumlr Niederschlagsvorhersagen Die gleichen Aussagen gelten fuumlr die Analyse von Wolken welche ebenfalls selbst-aumlhnliche Gebilde sind Bei einem Versuch wurde durch das Auswerten von Lichtbildern erkannt dass die fraktalen Dimensionen von Wolkenquerschnitten dem Wert 43 neigen Wir koumlnnen hier nicht naumlher auf die Gruumlnde eingehen doch folgt weil die Wolken als selbst-aumlhnliche Gebilde angenommen werden koumlnnen fuumlr die fraktale Dimension volumetrischer Wolken D = 43 +1 oder D = 73 Nun fragt man sich ob dies als allgemeiner Parameter gelten kann Die Antwort ist wahrscheinlich nein weil die fraktale Dimension von der Umgebung in der sich die Wolken bilden abhaumlngt und folglich von der Wolkenart

7 ZusammenfassungDie Atmosphaumlre ist fortwaumlhrend in einem Zustand des Uumlbergangs und der Bewegung begriffen da sie nach einem Zustand der Ausgeglichenheit zwischen den einzelnen Kraumlften die auf sie einwirken strebt Ebenso wie fuumlr den vom Schicksal getroffenen Tantalos in der griechischen Mythologie bleibt der Zustand der Ausgewogenheit fuumlr unsere Atmosphaumlre unerreichbar Die kreisende Erde wird ungleichmaumlszligig erhitzt Oberflaumlchengegebenheiten fuumlhren zu Reibungsaumlnderungen das Strahlungsgleichgewicht wird durch die An- oder Abwesenheit von Wolken veraumlndert und die Menschheit erschuumlttert die Ausgeglichenheit der Atmosphaumlre durch Umwelteinfluumlsse Das Ergebnis dieser verschiedenen Einfluumlsse ist ein wundervoll vielschich-tiges dynamisches System das sich uumlber einen weiten Bereich zeitlicher und raumlumlicher Skalen offenbart Die Aussicht darauf unsere Atmosphaumlre gruumlndlich zu verstehen und eine angemessene Wettervorhersage zu machen bleibt dennoch eher duumlster Je mehr man in die Tiefe geht um die verwickelten Wechselbeziehungen des Wettergeschehens zu verstehen

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson32

desto schlechter scheinen die Aussichten auf Erfolg zu sein Die Rettung kommt durch die Verhaltensmuster die hinter dem zugrunde liegenden Chaos zum Vorschein kommen

So wird aus der Kunde vom Wetter die Kunde der statistischen Analyse und der geschickten Erkennung von Verhaltensmustern Auf grundlegender Ebene ist es wichtig die Grenzen der Theorie der Turbulenz weiter zuruumlckzuschieben und ein verlaumlssliches Modell zur Beschreibung atmosphaumlrischer Selbst-Aumlhnlichkeit zu erstellen Fortschritte auf diesem Gebiet sind entscheidend um einen klaren Gesamteindruck der Natur zu erhalten Letztendlich muumlssen wir uns damit abfinden dass immer Luumlcken in unserem Verstaumlndnis der Atmosphaumlre bestehen bleiben werden Ferner schraumlnkt die den atmosphaumlrischen Stroumlmungen innewohnende chaotische Natur unsere Moumlglichkeiten ein deterministisches System mit Gleichungen die das Wetter beschreiben zu schaffen erheblich ein Aus diesem Grunde muumlssen die Meteorologen noch immer auf ihr Gespuumlr vertrauen wenn sie die verfuumlgbaren Beobachtungen zusammen mit den Ergebnissen numerischer Wettervorhersagen auswerten Obwohl wir einsehen muumlssen dass wir nicht immer wissen koumlnnen wie die Atmosphaumlre sich verhaumllt koumlnnen wir das Wetter von morgen oder uumlbermorgen doch schon mit groszliger Wahrscheinlichkeit voraussagen Dies setzt oft ein gruumlndliches Verstehen bestimmter morphologischer Muster und von deren Bezug zum Wetter voraus Am liebsten wuumlrden wir diese Erkenntnisse wissenschaftlich eingliedern und fuumlr objektive Wettervorhersagen verwenden aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das menschliche Mitwirken noch immer eine wichtige Zutat in der Einschaumltzung der Witterung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 33

LiteraturverzeichnisAmerican Meteorological Society (22000) Glossary of Meteorology Todd S Glickman managing editor Boston

Richardson Lewis Fry (1922) Weather Prediction by Numerical Process Cambridge Cambridge University Press

Prof Dr Phillip B Chilson School of Meteorology Christa Chilson Department of Modern Languages Literatures and Linguistics University of Oklahoma Norman OK USA

Sprachliche Morphologie digitalisiert

Jost Gippert (Frankfurt)

The article discusses the question how and to what extent the digitisation of morphological features of natural languages is able to support linguists in both teaching and research Within the scope of applied linguistics it focusses on the impact of digitised morphological data on optical character recognition speech recognition spell and grammar checking machine translation and teaching sce-narios The implementation of digitised means in linguistic research is thema-tised with respect to lexicography and grammar writing as well as diachronic investigations of various kinds The perspectives of applying digitisation to linguistic morphology can be summarised in two theses a) the more linguistic data are provided with a thorough morphological (and beyond that syntacti-cal semantical pragmatical metrical etc) analysis the more reliable the basis for theoretical investigations will be both in synchronical-descriptive and in diachronical-comparative linguistics b) the digital preparation of large data sets is an urgent methodological prerequisite for the verification and falsification of linguistic hypotheses

Fuumlr manch einen Auszligenstehenden hat die Sprachwissenschaft spaumltestens mit dem Strukturalismus eine Ausrichtung angenommen die Goethe und Schiller in ihren Xenien schon lange vorher andeuteten als sie den bdquoSprach-forscherldquo so apostrophierten1

Anatomieren magst du die Sprache doch nur ihr Cadaver Geist und Leben entschluumlpft fluumlchtig dem groben Scalpell

Mit dem Einsatz digitaler Verarbeitungsverfahren duumlrfte sich das Schreckensbild einer immer tiefergehenden bdquoanatomistischenldquo Zerlegung sprachlicher Aumluszligerungen in den Augen vieler eher noch weiter verfestigt haben Im folgenden soll gezeigt werden daszlig eine digital basierte Morphologie natuumlrlicher Sprachen im Gegensatz zur Einschaumltzung unserer Klassiker durchaus nicht mit Geist- und Leblosigkeit einherzugehen braucht sondern

1 Xenie Nr 141 Goethe Werke 1889-1896 I Abtlg Bd V 1 Abtlg 1893 S 225 Schiller Werke 1943ndash Bd I 1943 S 326 Ob das Distichon von Goethe oder Schiller verfaszligt wurde scheint nicht sicher geklaumlrt Corkhill 1991 S 248 schreibt es offensichtlich Goethe zu der damit bdquodie klinisch anmutende fachliche Sprachbetrachtung persiflieren wollteldquo

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gerade dazu dienen kann sprachliche Inhalte genauer zu beleuchten und den Umgang mit Sprache in unterschiedlichen Bereichen zu unterstuumltzen

1 Anwendungsbezogene Zielsetzungen digital basierter MorphologieFuumlr eine digital basierte sprachwissenschaftliche Morphologie kommen im wesentlichen fuumlnf anwendungsbezogene Zielsetzungen in Betracht naumlmlich die Unterstuumltzung von Texterkennung (bdquoOCRldquo = bdquoOptical Character Recognitionldquo) Spracherkennung Rechtschreibung (bdquoSpell-checkingldquo) automatische Uumlbersetzung sowie Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht In verschiedenen dieser Anwendungsbereiche wird digitalisierte Morphologie seit laumlngerem bereits mit stetig steigendem Erfolg eingesetzt Einige wenige Grunduumlberlegungen verdienen es dennoch hier kurz abgehandelt zu werden

11 Texterkennung

Digitale Texterkennung dh die retrograde Umwandlung bereits gedruck-ter oder geschriebener Textmaterialien in eine digitale Form zum Zwecke der Weiterverarbeitung setzt typischerweise den folgenden Ablauf voraus Nach dem Einscannen einer Druckseite als Rasterbild muumlssen in diesem zunaumlchst die groben Einheiten des Schriftbilds herausisoliert werden dies geschieht durch die Erfassung von Zonen ohne schwarze Bildpunkte (bdquoPixelldquo) durch die Abstaumlnde zwischen Zeilen Woumlrtern Buchstaben Satzzeichen etc gekennzeichnet sind sowie umgekehrt durch die Erfas-sung zusammenhaumlngender Pixelstrukturen die Buchstaben Satzzeichen etc repraumlsentieren Letztere muumlssen dann mit Mustern verglichen werden um die repraumlsentierten Zeichen im einzelnen zu bestimmen Hierbei ist immer mit einer gewissen Fehlerquote zu rechnen die zB von der druck-technischen Qualitaumlt der Vorlage oder den in ihr benutzten Zeichenformen und -saumltzen abhaumlngt Eine Reduzierung der Fehlerquote die auch heute nach rund 20 Jahren fortschreitender Entwicklung von OCR-Verfahren2

2 Seit 1987 habe ich kontinuierlich kommerzielle OCR-Programme getestet und mit mehr oder weniger groszligem Erfolg sowohl auf lateinschriftliche als auch auf andere Quellen ange-wendet Erwaumlhnen moumlchte ich SPOT 31 (Flagstaff Engineering 1989) ein auf Zeichenfor-men bdquotrainierbaresldquo DOS-basiertes Programm das ich sehr erfolgreich an die georgische Schrift anpassen konnte und dessen Leseergebnisse die Grundlage fuumlr zahlreiche uumlber den TITUS-Server (su Fn 9) verfuumlgbare elektronische Texteditionen darstellen das Kurzweil Scanner-System in den fruumlhen 90er Jahren das Non-Plus-Ultra der PC-basierten OCR mit dem verschiedene lateinschriftlich gedruckte TITUS-Texte eingelesen wurden sowie den Fine Reader (ABBYY) der sich in den letzten Jahren als die leistungsfaumlhigste OCR-Software fuumlr multilinguale Anwendungen herausgestellt hat (derzeit verfuumlgbar in Version

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noch immer betraumlchtlich sein kann3 setzt verschiedene Arten von Plausi-bilitaumltspruumlfungen voraus bei denen das Leseresultat auf seine sprachliche Korrektheit hin getestet wird Ein typisches Beispiel waumlre die bdquoVerlesungldquo der deutschen Wortform Muumlndern (DatPl) als Mundem sowohl die Igno-rierung des Diakritikums die auf der Diskontinuitaumlt des Buchstabenbildes ltuumlgt beruht als auch die irrige Zusammenlesung der Buchstabenfolge rn als m sind charakteristische Probleme von OCR-Anwendungen Um die gelesene Wortform Mundem nun auf ihre Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen bieten sich zwei Verfahren an Das in kommerziellen OCR-Programmen meist genutzte Verfahren ist rein bdquolexikalischldquo Zum Abgleich wird eine (mehr oder weniger umfangreiche) Wortformenliste der betr Sprache benutzt in der natuumlrlich neben Lemmaformen auch flektierte Formen aller Art enthalten sein muumlssen Die der gelesenen Form am naumlchsten kom-mende wird dann vorschlagsweise eingesetzt im gegebenen Fall duumlrfte dies die Form Munden sein die sich von Mundem nur in einem Buchstaben unterscheidet damit freilich aber noch nicht bdquokorrektldquo ist und somit bereits die Grenzen eines rein lexikalischen Abgleichs aufzeigt Es kommt hinzu daszlig keine Wortformenliste des Deutschen jemals vollstaumlndig sein kann da insbesondere die Moumlglichkeiten der Komposition das deutsche Lexikon unendlich groszlig gestalten

Um eine bessere Lesegenauigkeit zu erzielen ist deshalb ein anderes mehrstufiges Verfahren vonnoumlten das neben einer lexikalischen Daten-basis auch andere Vorinformationen darunter morphologische verar-beiten kann Ein solches Verfahren das ich bdquogemischtldquo nennen wuumlrde muumlszligte neben einem Basislexikon der Wortstaumlmme zunaumlchst die gramma-tischen Regeln der Morphologie dh der Formen- und Wortbildung der betr Sprache beruumlcksichtigen daruumlber hinaus bdquographischeldquo und bdquographo-

9) Die spezifischen Beduumlrfnisse von Sprachwissenschaftlern (va in Bezug auf transkriptive Sonderzeichen) sind allerdings bis heute nirgends zufriedenstellend beruumlcksichtigt 3 Eine Fehlerquote von 2 bedeutet zB zwei Fehler innerhalb von zwei normalen Druckzeilen eines Buches Welche Schwaumlchen oberflaumlchlich angewandte OCR-Verfahren nach wie vor haben und zu welchen Irrtuumlmern sie fuumlhren koumlnnen zeigt deutlich das ehrgeizige Projekt bdquoGoogle Booksldquo (httpbooksgooglecom) Sucht man hier nach SCHLEICHERs Compendium so werden verschiedene Eintraumlge aus Kuhns Zeitschrift fuumlr Vergleichende Sprachwissenschaft ausgegeben in denen das Werk ua als bdquoCompendium tier vergleichenden grammatikldquo und sein Band I als ein bdquoKurzer abrilldquo einer lautlehre der indogermanischen ldquo erscheint entsprechend liefert eine Suche nach bdquoCompendiumldquo und bdquoTierldquo genau den erstgenannten Eintrag zuerst noch vor zoologischen Werken (Stand 2532007 1751h) [Korrekturzusatz Der gleiche Eintrag lautet am 8102009 1319h wie folgt August Schleicher compendium der vergleichenden grammatik der indogermanischen sprachen Bd I Kurzer abrifs einer lautlehrc der Die Ergebnisse der (fortschreitenden) Texterkennung bei Google Books bleiben also unzuverlaumlssig]

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taktischeldquo Regeln Gehen wir wieder von unserem Beispiel der Wortform Muumlndern aus die sich als Dativ Plural von Mund in drei Morpheme das Lexem Mund das Pluralsuffix er und die Dativendung n zerlegen laumlszligt und gleichzeitig das Phaumlnomen des bdquoUmlautsldquo von u zu uuml aufweist das im morphologischen Sinne als ein Ablautphaumlnomen aufzufassen ist Ein bdquogemischtesldquo Analyseverfahren muumlszligte die eingelesene Form Mundem nun von hinten beginnend schrittweise verkuumlrzen bis eine Uumlbereinstimmung mit einem im Basislexikon enthaltenen Wortstamm gegeben ist dies waumlre der vierbuchstabige Stamm Mund Daraufhin waumlre zu uumlberpruumlfen ob der verbleibende Rest em im Morpheminventar verankert ist ndash dies ist zwar der Fall da die deutsche Nominalflexion ein solches postlexematisches Mor-phem kennt (vgl gutem schoumlnem) es ist jedoch nicht mit dem gefundenen Basisstamm Mund kompatibel da dieser kein Adjektiv darstellt Dasselbe Verfahren muumlszligte dann iterativ weiter durchgefuumlhrt werden (Mun ndashdem etc) kaumlme aber allein noch zu keinem Ergebnis An dieser Stelle nach nega-tivem erstem Durchlauf waumlre das Leseresultat (Mundem) dann auf seine graphische Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen wobei zunaumlchst bdquountypischeldquo Zeichenfolgen zu eruieren waumlren solche sind im gegebenen Beispiel nicht vorhanden laumlgen aber zB in einer Verlesung IVIund vor die aufgrund allgemeinen Vorwissens uumlber Zeichenformen der Lateinschrift und ihre Verteilung in Wortformen unmittelbar plausibel in Mund zu korrigieren waumlre Bei bdquogelesenemldquo Mundem muumlszligten umgekehrt die graphotaktisch unproblematischen aufgrund desselben Vorwissens fuumlr Verlesungen jedoch als besonders anfaumlllig geltenden Buchstaben ltmgt und ltugt versuchsweise durch ihre naumlchstaumlhnlichen bdquoPartnerldquo ltrngt und ltuumlgt ersetzt und die sich so ergebenden Wortformen wieder der iterativen Analyse unterzogen werden Dies wuumlrde bereits fuumlr Mundern die moumlgliche Verknuumlpfung eines Lexems (Mund) mit bdquopassendenldquo Flexionsmorphemen er-n ergeben jedoch noch keine korrekte Wortform da der Plural von Mund eben Umlaut aufweist Erst ein dritter Durchlauf mit der Abaumlnderung von ltugt zu ltuumlgt ergibt dann das richtige Resultat Vorausgesetzt ist dabei daszlig auch die Information uumlber das Umlaut- bzw Ablautverhalten der Staumlmme im lexikalischen und morphologischen Basiswissen verankert sein muszlig

Hinsichtlich der bdquographotaktischenldquo Wissensbasis auf die ein solches Ver-fahren zwingend zuruumlckgreifen muszlig sei noch einmal festgehalten daszlig diese sowohl schriftspezifische dh durch die Aumlhnlichkeiten von Buch-stabenformen gegebene Probleme als auch sprachspezifische Regelun-gen umfassen muszlig die jeweils statistisch erfaszligt werden koumlnnen Zu den ersteren gehoumlren zB in der Lateinschrift neben den bereits behandel-

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ten Verwechslungspaaren solche bei denen sich Buchstaben und Ziffern gegenuumlberstehen wie zB ltSgt und lt5gt oder ltOgt und lt0gt (null) Eine Plausi-bilitaumltspruumlfung kann in diesen Faumlllen ohne weiteres davon ausgehen daszlig eine lt1gt (eins) die mitten in einem bdquoWortldquo und von sicher gelesenen Klein-buchstaben umrankt zu stehen scheint eher ein kleines ltLgt repraumlsentieren duumlrfte waumlhrend eine Folge von lt7gt und dreimaligem Buchstaben ltOgt eher bdquosiebentausendldquo meinen wird4 Entsprechende Vorhersagen werden fuumlr andere Schriften wie zB die Kyrillische nicht unbedingt zutreffen hier wird zB eher eine Verwechslung der Buchstaben ltлgt (asymp ltlgt) ltпgt (asymp ltpgt) ltнgt (asymp ltngt) und ltиgt (asymp ltigt) untereinander anzunehmen sein

Der sprachspezifische Anteil der Wissensbasis kann zB allgemeine statistische Erkenntnisse uumlber die Verteilung von Graphemen in Wortformen der betr Sprache verwenden danach wuumlrde etwa ein gelesenes ltsehoumlngt im Deutschen ohne weiteres zu schoumln nicht aber zu sehen zu korrigieren nahegelegt da das ltoumlgt aufgrund seiner Seltenheit gewissermaszligen eine lectio difficilior gegenuumlber ltegt darstellt (und schwerlich fuumlr dieses verlesen sein kann) waumlhrend von den beiden Zeichenfolgen ltsehgt und ltschgt die letztere eine klare statistische Praumlponderanz fuumlr sich hat Im gleichen Sinne koumlnnten Regelungen der Groszlig- und Kleinschreibung beruumlcksichtigt werden die ihrerseits mit der morphologischen Bestimmung einhergehen sollten so haumlngt zB bei einer Verlesung von Guumltern als Gutem die Plausibilitaumlt der letzteren Form davon ab ob sie ndash als Adjektiv ndash in einer Umgebung erscheint die einen initialen Groszligbuchstaben erwarten laumlszligt oder nicht

Damit ist bereits angedeutet daszlig eine wirklich zuverlaumlssige Texterken-nung bei der Plausibilitaumltsanalyse noch einen Schritt weiter gehen muszlig naumlmlich bis hin zu einer syntakto-semantischen Uumlberpruumlfung Gutem ist ja eine vollkommen korrekte Wortform des Deutschen kommt allerdings im Vergleich zu Guumltern obwohl ebenfalls ein Dativ mit groszligem ltGgt in nur sehr reduzierten syntaktischen Konstellationen vor naumlmlich entweder satzeinleitend als Adjektiv ohne vorangehenden Artikel (etwa Gutem Brauch folgend schlieszligt sich der Landrat)5 oder als substantiviertes Adjektiv ebenfalls ohne Artikel (etwa bdquoob er nach Gutem oder Boumlsem

4 Erstaunlicherweise werden in den meisten kommerziellen OCR-Programmen nicht einmal derartig banal anmutende Regelungen beruumlcksichtigt Auch lassen sie sich nicht in die von den Programmen verwendete Wissensbasis integrieren da selbst bdquotrainierbareldquo Programme normalerweise nur Zeichenformen zu speichern erlauben nicht jedoch spezi-fische distinktive Merkmale von Zeichen oder graphotaktische Regeln5 S httpwwwodenwaldkreisdeindexpfunktion=presseartikelphpampselected =1ampid=848 (1912007)

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jagtldquo)6 Eine Entscheidung zwischen Guumltern und Gutem setzt also eine syntaktische Analyse voraus die zumindest die umgebenden Wortfor-men mit beruumlcksichtigen muszlig hierbei koumlnnen statistische Angaben uumlber sog bdquoKollokationenldquo Entscheidungshilfen bilden7 In anderen Faumlllen wie etwa bei dem ndash graphisch minimalen ndash Unterschied zwischen Tochter und Toumlchter wird nicht einmal durch Informationen aus der syntaktischen Umgebung immer eindeutig geklaumlrt werden koumlnnen ob eine gegebene bdquoLesungldquo richtig ist man vgl zB die Lesungen ltdie juumlngere Tochtergt und ltdie juumlngeren Tochtergt wo die Endungen der attributiven Adjektive im Verbund mit den Artikelformen Eindeutigkeit herstellen waumlhrend in gelesenem ltIch sehe seine Tochtergt (gegenuumlber ltIch sehe seine Toumlchtergt) ohne Kenntnis des Kontextes keine Entscheidung fuumlr die Singular- oder die Pluralform moumlglich ist Wie sehr die morphologische Bestimmung von syn-takto-semantischen Vorgaben abhaumlngen kann zeigt sich nicht zuletzt bei homonymen Wortformen die unterschiedlichen morphologischen Klas-sen zugehoumlren man vgl zB das Verb zugreifen gegenuumlber dem Komposi-tum Zugreifen = Zug + Reifen oder das Partizipialadjektiv vereinzelt gegenuumlber dem Kompositum Vereinzelt = Verein + Zelt

Auch das bdquogemischt-morphologischeldquo Verfahren zur Unterstuumltzung der Texterkennung hat also Grenzen die auch mit groszligen Datenmengen nicht leicht zu uumlberbruumlcken sein werden Hier duumlrften auf laumlngere Sicht Verfahren der statistischen Untermauerung durch Kollokationen eine entscheidende Rolle spielen Morphologisches Wissen bleibt dabei aber mit Sicherheit ein unverzichtbarer Bestandteil

12 Spracherkennung

Der Einsatz morphologischer Verfahren unterliegt bei der Spracherkennung ganz aumlhnlichen Bedingungen wie bei der Texterkennung Auch hier geht es um eine eindeutige Bestimmung sprachlicher Formen bei der digitalen

6 Goethe Werke I Abtlg Bd II 1888 S 246 ndash Theoretisch sollte ein gut fundiertes bdquogemischtesldquo System auch in der Lage sein Druckfehler stillschweigend zu korrigieren dies duumlrfte jedoch immer dann ausgeschlossen sein wenn das verdruckte Wort eine morphologisch bdquokorrekteldquo Form darstellt wie etwa im Falle von fuumlr ltVerballhornungengt verdrucktem ltVerbalhornungengt = VerbalHornungen Hier mag selbst eine kollokationsbasierte semantische Analyse scheitern wenn der Druckfehler in einem sprachwissenschaftlichen Kontext auftritt der ua auch Woumlrter wie Verbalflexion aufweist (so bei Hoffmann Altiranisch S 10 = Aufsaumltze I S 67 Z 6 vu bzw S 16 73 Z 11)7 Vgl hierzu das Projekt bdquoKollokationen im Woumlrterbuchldquo der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften s httpwwwbbawdebbawForschungForschungspro-jektekollokationendeueberblick

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Erfassung von Aumluszligerungen Ein Unterschied zur Texterkennung besteht nur darin daszlig die graphische Komponente entfaumlllt da die zugrundelie-genden Daten nicht schriftlich dh zeichenkettenbasiert sondern muumlndlich (und als akustisches Signal digitalisiert) vorliegen An die Stelle der bdquographo-taktischenldquo Entscheidungshilfen muumlszligten hier wenn man ein bdquogemischtesldquo Verfahren anstrebt deshalb phonotaktische Statistiken treten Die Not-wendigkeit einer Einbindung morphologischer Analyseverfahren bleibt davon unberuumlhrt

13 Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung

Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Anwendungsbereichen setzt die Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung eine Stufe spaumlter an naumlmlich bei einem schon existierenden digital vorliegenden Text Unabhaumlngig davon ob dieser von Hand eingegeben oder via OCR oder Spracherkennung generiert wurde geht es hier jedoch wieder um genau dieselbe Art von Plausibilitaumltspruumlfung wie sie oben als Bestandteil des Erkennungsprozesses beschrieben wurde Ein klarer Unterschied besteht gegenuumlber der Texterkennung lediglich in der Hinsicht daszlig bei von Hand eingegebenen Texten nicht dieselben bdquographotaktischenldquo Vorgaben gelten da beim bdquoTippenldquo systematisch andere Buchstaben verwechselt werden als beim optischen Einlesen naumlmlich typischerweise die auf der Tastatur benachbarten Zeichen (etwa ltigt und ltogt oder ltbgt und ltvgt) Die Einsetzbarkeit morphologischer Verfahren der og Art ist von diesem Unterschied nicht betroffen und solche Verfahren werden von gaumlngigen Textverarbeitungsprogrammen heute bereits weitgehend wenn auch nicht immer zufriedenstellend ausgenutzt8

14 Automatische Uumlbersetzung

Noch eine Stufe spaumlter setzt der Einsatz digitaler Morphologie bei der automatischen Uumlbersetzung an Anders als bei den Plausibilitaumltspruumlfun-gen zur Etablierung eines bdquokorrektenldquo Texts wird hier ein solcher bereits vorausgesetzt bei der morphologischen Analyse geht es dann statt dessen um die Herstellung der Basis fuumlr eine adaumlquate Uumlbersetzung Es entfallen somit grapho- und phonotaktische Begleitverfahren die Probleme rund um

8 So ergibt zB die Uumlberpruumlfung des fehlerhaften Satzes bdquoDas Wortform sbquoMundemrsquo ist unsinigldquo in MS-Word 2003 lediglich die Zuruumlckweisung von bdquoMundemldquo sowie von bdquounsinigldquo der Artikel das wird nicht als falsch erkannt

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Homonymien etc bleiben jedoch bestehen und auch hier muumlssen syntakto-semantische Verfahren vorrangig einbezogen werden

15 Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht

Daszlig die Morphologie ein unabdingbarer Bestandteil des Fremdsprachen-unterrichtsund mehr noch der sprachwissenschaftlichen Ausbildung ist duumlrfte keinem Zweifel unterliegen Digitale Verfahren koumlnnen hier in zweierlei Weise unterstuumltzend eingesetzt werden naumlmlich bei der Analyse fremdsprachiger Textmaterialien im Hinblick auf gegebene Wortformen und umgekehrt bei der Erzeugung von Wortformen Die hierfuumlr zu schaffenden Datenbasen sind im Prinzip dieselben wie die bereits oben beschriebenen Fuumlr weniger anspruchsvolle Anwendungen wird man zunaumlchst mit einem bdquostatischenldquo rein lexikalischen Verfahren operieren koumlnnen das lediglich eine bestimmte (aber erweiterbare) Menge von manuell vordefinierten Wortformen umfaszligt um eine morphologische Analyse beliebiger Wortformen zu ermoumlglichen wird hingegen wieder ein bdquogemischtesldquo Verfahren eingesetzt werden muumlssen bei dem neben Listen lexematischer und nicht-lexematischer Morpheme auch deren Verknuumlpfungsregeln (gegebenenfalls unter Einschluss von Um- und Ablautsphaumlnomenen) verarbeitet sind Beide Verfahren seien kurz an Implementationsbeispielen aus der TITUS-Textdatenbank9 illustriert

151 TocharischWie auch andere TITUS-Texte sind diejenigen des A-tocharischen Corpus10 mit einer relationalen Datenbank verknuumlpft die die Belegstellen jeder einzelnen Wortform umfaszligt und somit einen unmittelbaren Zugriff auf die Beleglage derselben ermoumlglicht dies geschieht durch einfaches Anklicken der betreffenden Wortform im Text oder durch Eingabe in eine Suchmaske Daruumlber hinaus ist das A-tocharische Corpus bereits mit morphologischen Informationen versehen die die Bestimmung von Verbalformen betreffen Klickt man zB auf die in Abb 1 enthaltene Verbalform kumsentildecauml11 so

9 Die Textdatenbank des TITUS-Projekts (bdquoThesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialienldquo) ist online uumlber httptitusuni-frankfurtdetextetexte2htm verfuumlgbar10 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcstochtochatochahtm11 Da der Unicode-Standard noch nicht alle fuumlr die traditionelle Transkription des Tochar-ischen erforderlichen Zeichen umfaszligt sind die toch Texte in der TITUS-Datenbank vorerst in einer Behelfsumschrift wiedergegeben hier vertritt zB ein Majuskel-ltAumlgt das bdquostummeldquo ltaumlgt neben Virāma im Auslaut

Sprachliche Morphologie digitalisiert 43

erfolgt ein Datenbankaufruf der die Analyse der Form ausgibt (s Abb 2) Die Einbettung der Form in ihren paradigmatischen Zusammenhang (sowie ihr Verhaumlltnis zu den entsprechenden B-tocharischen Formen) kann durch ein weiteres Anklicken der Wurzel (kaumlm) abgerufen werden (s Abb 3) Das dahinter stehende Verfahren ist im Sinne der obigen Definition rein bdquolexikalischldquo da jede Verbalform mit ihrer Bestimmung sowie mit dem Verweis auf das jeweilige Lemma (Wurzel) fuumlr sich bereits in der Datenbank abgelegt ist eine eigentliche morphologische Analyse findet also nicht beim Aufruf statt sondern ist bereits vorher (manuell) in die Datenbank eingeflossen (lediglich gewisse graphische Alternationen werden beim Aufruf automatisch bdquoabgefangenldquo)12 Dieses Verfahren empfiehlt sich bei einer Corpussprache mit begrenztem Wortformenvorrat wie dem Tocharischen durchaus zumal wenn die verbale Formenbildung wie in dieser Sprache in erheblichem Maszlige durch ablautbedingte und andere Stammvariationen gekennzeichnet ist und viele Irregularitaumlten aufweist

152 VedischWaumlhrend die bdquohalbautomatischeldquo Analyse im Falle des Tocharischen noch auf das Verbum beschraumlnkt ist steht fuumlr die vedischen Texte in der TITUS-Kollektion bereits ein weitergehendes morphologisches Retrievalsystem zur Verfuumlgung das zumindest die Wortformen der Rgveda-Samhitā voll-staumlndig erfaszligt Auch diese Datenbank ist bdquolexikalischldquo indem saumlmtliche Wortformen in ihr vorab bestimmt und auf ihr jeweiliges Lemma bezo-gen enthalten sind13 lediglich die durch Sandhi entstehende Variation wird durch einen eigenen Regelmechanismus beim Aufruf abgeglichen Dieser kann wiederum durch einfaches Anklicken einer im Text gegebenen Wort-form erfolgen (vgl Abb 4 mit RV 111andashc) ausgegeben wird dann zunaumlchst eine morphologische Bestimmung mit Bedeutungsangabe wie in Abb 5 fuumlr agnim14 Daruumlber hinaus steht bereits eine lemmabezogene Suchmaschine zur Verfuumlgung die fuumlr ein Lexem wie agni- bdquoFeuerldquo saumlmtliche bezeugten

12 Dies betrifft generell den Wechsel zwischen den sog bdquoFremdzeichenldquo und den eigentli-chen Brāhmī-Akṣaras aber auch zB das oe bdquostummeldquo ltaumlgt im In- und Auslaut13 Grundlage ist die RV-Konkordanz von A Lubotsky Bedeutungsangaben greifen zusaumltzlich auf ein von P Schreiner (Zuumlrich) erarbeitetes Digitalisat des Sanskrit-Woumlrter-buchs von K Mylius (mit Ergaumlnzungen des Autors) zuruumlck Die Programmierarbeit wurde im Rahmen des Projekts bdquoAvesta und Rgveda Elektronische Analyseldquo (AUREA 1995-1998 cf httptitusuni-frankfurtdecurricaureaaureahtm) von R Gehrke erbracht14 Die morphologische Bestimmung ist (auch abgesehen von unklaren Wortformen) noch nicht in allen Einzelfaumlllen endguumlltig verifiziert die Retrievalergebnisse sind deshalb als noch nicht verlaumlszliglich gekennzeichnet

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Formen abzurufen gestattet vgl Abb 6 die den Aufruf des bdquoThesaurus-Sucheldquo ausgehend von der Akkusativ-Form agnim zeigt15 und Abb 7 die das mit der Nominativ-Form agniḥ beginnende Suchresultat darstellt Es versteht sich von selbst daszlig eine Datenbank die allein die in der Rgveda-Samhitā auftretenden Wortformen umfaszligt den kompletten vedischen For-menbestand nicht erschlieszligen kann eine Ausweitung im Sinne eines ge-mischten bdquolexikalisch-morphologischenrdquo Verfahrens ist also unumgaumlnglich wenn man die altindische Uumlberlieferung in groumlszligerem Umfang abdecken will Dies gilt umso mehr als eine Ausdehnung auf das epische buddhis-tische und klassische Sanskrit durch die Moumlglichkeiten der Wortkomposi-tion praktisch wieder lexikalische Unendlichkeit mit sich bringt

153 Alt- und NeugeorgischEin bdquogemischtesldquo lexikalisch-morphologisches Verfahren ist in der TITUS-Datenbank zB fuumlr das umfangreiche altgeorgische Textmaterial implementiert worden und zwar fuumlr dessen nominale Bestandteile Hierzu wurde zunaumlchst der Wortbestand der Sammlungen von I Abuladze Z Sarjveladze und H Faumlhnrich16 als Lemmaliste mit deutschen Uumlbersetzungen digitalisiert dann wurden saumlmtliche in der nominalen Formenbildung auftretenden Morpheme (Suffixe Endungen) mit ihren Kombinationsmoumlglichkeiten in einer eigenen Datentabelle erfaszligt Ruft man diesen Datenverbund nun uumlber das Anklicken einer Form wie ġaġadebisay in Mk 13 innerhalb der altgeorg bdquoProtovulgataldquo ab (s Abb 8)17 so erhaumllt man die korrekte Analyse wie in Abb 9 dargestellt ausgegeben Dabei ist zu beachten daszlig bei der Ruumlckfuumlhrung auf das Lemma ġaġadeba‑y bdquoRufenrdquo zunaumlchst die Nominativ-Endung -y und das stammauslautende -a- dieses Verbalnomens (bdquoMasdarrdquo) durch den Endungskomplex -isay verdraumlngt sind und letzterer seinerseits in drei Morpheme zerfaumlllt naumlmlich die Genetivendung is deren sog bdquoemphatischerdquo Erweiterung a sowie die Nominativendung i die nach a als ltygt = [j] repraumlsentiert ist Daszlig die Genetivendung ihrerseits um eine Nominativendung erweitert ist ist im Altgeorgischen durch die Regeln der sog bdquoSuffixaufnahmerdquo bedingt der Genetiv bdquodes Rufensrdquo ist an der gegebenen Stelle von dem im Nominativ

15 S httptitusfkidg1uni-frankfurtdesearchqueryhtm16 Abulaʒe Masalebi 1973 Sarǯvelaʒe Masalebi 1995 Sardschweladse Faumlhnrich Woumlrter-buch 1999 Zugrunde liegt eine elektronische Fassung des letzteren Woumlrterbuchs das die Materialien der beiden erstgenannten mit umfaszligt fuumlr die Bereitstellung sei H Faumlhnrich und Z Sarǯvelaʒe auch an dieser Stelle herzlich gedankt 17 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcacaucageontcinantcinanhtm

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erscheinenden qmay bdquodie Stimmerdquo als Attribut abhaumlngig18 und diesem nachgestellt und erfordert deshalb die zusaumltzliche Markierung fuumlr den Kasus seines Bezugsworts Die einzelnen Analyseelemente seien noch einmal zusammengefaszligt

Lemmaform ltġaġadebaygt ġaġadebai bestehend aus Verbal-Wz bull +Praumls-Stammbildungssuffix+Masdar-Suffix+Nom-Endung

zu analysierende Form ltġaġadebisaygt ġaġadebaisai bestehend aus bull Verbal-Wz+Praumls-St+Masdar-S+Gen-E+bdquoemphldquo El+Nom-E

Regel Masdar-Suffix gt Oslash_Gen-Endung | Instr-Endungbull

Daszlig ein entsprechendes Analyseverfahren fuumlr das altgeorg Verbum noch nicht entwickelt wurde liegt an der enormen Formenfuumllle durch die dieses gekennzeichnet ist wobei Praumlfixe Suffixe Infixe und Ablaut involviert sind Auch ein solch komplexes System kann jedoch als Regelapparat pro-grammiert werden wie die von Paul Meurer (Bergen) implementierte Verbalformenanalyse des Neugeorgischen beweist19 Man vgl zB die in Abb 10 wiedergegebene Ausgabeseite die die paradigmatische Einbettung der Wortform daumalavs zeigt Die Form ist in korrekter Weise doppelt erfaszligt naumlmlich a) als Futurform bdquoersiees wird ihnsieessie vor ihmihr verbergenldquo und b) als Perfektform bdquoersiees soll ihnsiees sie (Sachen) verborgen habenldquo Dabei ist zu beruumlcksichtigen daszlig sich die beiden For-men allein dadurch unterscheiden daszlig die Markierung des handelnden Subjekts (Agens) in ersterer in der Endung -s steckt in letzterer jedoch in dem praumlradikalen -u- das in der Futurform ein indirektes (bdquoversionalesldquo) Objekt bdquovor ihmihrihnenldquo bezeichnet

Futur daumalavs bull Praumlv+indObjV3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +Subj3Sg

Perfekt daumalavs bull Praumlv+Subj3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +dirObj3Sg

18 Mit der bdquoStimme des Rufens in der Wuumlsteldquo (statt bdquodes Rufersldquo griech τοῦ βοῶντος) zeigt die altgeorg Bibel an der gegebenen Stelle einem Zitat aus Is 403 im uumlbrigen eine bemerkenswerte Uumlbereinstimmung mit der armen Bibel (jayn barbary wtl bdquoStimme des Sprechensrdquo) die auf eine syrische Vorlage weist 19 Die Analyse beruht auf einer Implementierung der morphologischen Angaben in K Tschenkelis Woumlrterbuch s httpmaximosaksisuibnoAksis-wikiGeorgian _ Gram-mar _ Project

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Es sei noch hinzugefuumlgt daszlig auf der Basis eines derartigen umfassenden morphologischen Formengenerators auch eine tiefgehende syntaktische Analyse programmierbar ist ein Prototyp fuumlr das Georgische ist von Paul Meurer als Finite-State-Anwendung auf der Basis der bdquoLexical-Functional Grammarldquo (LFG)20 entwickelt worden (vgl Abb 11)

2 Linguistische Zielsetzungen digital basierter MorphologieAlle bisher behandelten Anwendungsbeispiele setzen linguistisches Wissen voraus fuumlhren jedoch selbst allenfalls in begrenztem Maszlige zu einer Wei-terentwicklung unseres Wissens uumlber einzelne Sprachen oder menschliche Sprache im allgemeinen Dennoch kann die Digitalisierung morpholo-gischer Strukturen auch ihrerseits in erheblichem Maszlige zu linguistischem Kenntnisgewinn beitragen Die betreffenden Einsatzbereiche seien im fol-genden kurz umrissen

21 Einsatzbereich Lexikographie

Elektronische Textcorpora schaffen eine hervorragende Basis fuumlr lexiko-graphische Untersuchungen aller Art bis hin zur Erstellung vollstaumlndi-ger Konkordanzen Um das Textcorpus einer Sprache mit reichhaltiger Flexionsmorphologie lexikographisch in konsistenter Weise auszuwerten bedarf es einer Lemmatisierung die nur dann automatisch erfolgen kann wenn eine korrekte Bestimmung saumlmtlicher Wortformen gewaumlhrleistet ist21 Hierfuumlr ist es erforderlich Verfahren zu implementieren wie sie oben am Vedischen und weitergehend am Georgischen illustriert wurden

22 Einsatzbereich Grammatikographie

Auf der Basis von Textcorpora kann eine Digititalisierung morpholo-gischer Strukturen praktisch in allen Bereichen zur Unterstuumltzung einer grammatischen Beschreibung der betr Sprache eingesetzt werden Dies betrifft zum einen die Morphologie der Sprache selbst insofern je nach Umfang des Corpus mehr oder weniger erschoumlpfende Aussagen zur Gestal-tung und Distribution von Morphemen moumlglich werden Daruumlber hinaus ist

20 S dazu zB Kroeger Approach 200421 Vgl den 1994 publizierten Wortformenindex zu den Schriften Galens (Gippert Index Galenicus) bei dessen Erarbeitung noch nicht auf eine automatische Lemmatisierung des Altgriechischen zuruumlckgegriffen werden konnte Heute 15 Jahre nach der Erarbeitung dieser Wortformenkonkordanz wuumlrden geeignete Mittel fuumlr eine automatische Lemma-tisierung bereitstehen

Sprachliche Morphologie digitalisiert 47

die Syntax betroffen insofern sie (als Morphosyntax) die funktionale Ver-wendung von Morphemen zum Gegenstand hat Auch fuumlr die Phonologie kann digitalisierte Morphologie Erkenntnisse bringen soweit sie zB die lautliche Auspraumlgung von Allomorphen und phonotaktische Phaumlnomene an Morphemgrenzen zu untersuchen erlaubt

Dabei ist es zweckmaumlszligig zwei Verfahren zu unterscheiden Das erste das ich bdquointrinsischldquo nennen wuumlrde basiert wieder auf der digitalen Grundstruktur von Text naumlmlich der bdquoZeichenketteldquo (String) ein darauf aufbauendes Auswertungsverfahren (bdquozeichenkettenbasierte Sucheldquo) wird allerdings nur bei (nahezu) eindeutiger Form dh variantenloser Schreibung und bei (nahezu) eindeutigem klar definierbaren Zeichenkontext zufriedenstellende Ergebnisse zeitigen Dies sei am Beispiel gotischer Passivformen illustriert

221 Gotisches PassivDie (wenigen) synthetischen Passivformen des Gotischen sind bekanntlich durch spezifische Endungen gekennzeichnet naumlmlich im Praumlsens Indikativ -za fuumlr die 2PsSg -da fuumlr die 1 und 3PsSg und -nda fuumlr die Pluralpersonen Will man diese Endungen als solche abfragen so muszlig zunaumlchst sichergestellt werden daszlig sich die Abfrage nur auf wortfinales -za bzw -(n)da bezieht diese Einschraumlnkung kann in der TITUS-Suchmaschine durch die Eingabe eines Sternchens als Stellvertreterzeichen fuumlr eine beliebige Zeichenfolge markiert werden das den Wortkoumlrper repraumlsentiert (bdquoWildcardldquo vgl Abb 12 mit der Eingabe fuumlr die Endung -za in der Form za) Die daraufhin ausgegebene Wortformenliste zeigt auf den ersten Blick (s den Ausschnitt in Abb 13) die Unzulaumlnglichkeit dieses Verfahrens auf denn neben den (zwei) gewuumlnschten Passivformen (haitaza bdquodu wirst genannt (werden)ldquo Lk 17622 und us-maitaza bdquodu wirst abgehauen (werden)ldquo Roumlm 1122) finden sich hier in weitaus groumlszligerer Zahl andere Formen die auf -za auslauten wie zB die Komparative maiza und minniza bdquogroumlszliger mehrldquo und bdquokleiner minderldquo (Mt 1111 uouml) oder die substantivischen Dativformen riqiza bdquoder Finsternisldquo (Mt 1027 uouml) und Moseza bdquo(dem) Moseldquo (2Tim 38) Noch weitaus diffuser ist die Liste die bei der Abfrage nach da ausgegeben wird (s den Ausschnitt in Abb 14) denn hier erscheinen insbesondere Praumlteritalformen auf -da (wie zB gaweihaida bdquoer hat geheiligtldquo Jo 1036) in groszliger Zahl

22 Im intr heiszligen = bdquogenannt werdenldquo (gegenuumlber trans jdn (etw tun) heiszligen) mani-festiert sich im Deutschen offensichtlich noch eine Reminiszenz an die fruumlhere Existenz eines (Medio-)Passivs des gotischen Typs

Jost Gippert48

222 Annotative VerfahrenAngesichts solcher Ergebnisse ergibt sich die Notwendigkeit ein besser geeignetes Verfahren anzuwenden nahezu von selbst Als ein bdquoextrinsischesldquo Verfahren das bereits weithin genutzt wird bietet sich die durchgehende Annotation von Textdaten an Hierbei werden durch ein sog bdquoTaggingldquo vorzugsweise auf der Basis der sog bdquoExtended Markup Languageldquo (XML) die fuumlr eine gezielte Abfrage erforderlichen Daten (Formenbestimmungen Lemmaangaben) in den Text eingebunden so daszlig sie fuumlr gezielte Abfragen verfuumlgbar sind Der Vorteil eines derartigen Verfahrens besteht in der rel frei definierbaren und anpassungsfaumlhigen Informationsstruktur Das Tagging kann in nahezu beliebiger Weise explizit (dh als lesbarer bdquoKlartextldquo) oder implizit (in Form von Abkuumlrzungen Siglen etc) gehalten werden nur Konsistenz muszlig gewahrt bleiben Abb 15ndash16 zeigen zur Illustration eines maximal expliziten Taggings einen Ausschnitt aus dem Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus23 in verschiedenen Darstellungsformen24 Als Beispiel fuumlr ein besonders wenig explizites Annotationsverfahren kann man denselben Ausschnitt aus der urspruumlnglichen Fassung des Corpus (Abb 17) oder den von Han Steenwijk aufbereiteten Slovenischen (Resischen) Katechismus (Abb 18) vergleichen Eines muszlig natuumlrlich klargestellt werden Wie explizit auch immer das Tagging ist ndash es reflektiert auf jeden Fall bereits vorher akkumuliertes linguistisches Wissen

Inwiefern kann ein annotationsbasiertes Retrieval dann uumlberhaupt selbst zum linguistischen Erkenntnisgewinn beitragen Eine ganz wesentli-che Funktion liegt in der Verifikation und Falsifikation von Hypothesen die das Verfahren erlaubt Dabei geht es insbesondere um eine statistische Untermauerung dh die Frage nach der Stringenz linguistischer Annah-men im Hinblick auf in Corpora enthaltene Daten Warum ein Retrieval auf der Basis von Annotationen dabei einer einfachen Suche nach objekt-sprachlichen Zeichenketten uumlberlegen ist sei wiederum an einem Beispiel illustriert

23 S httpwwwikpuni-bonndedtforschfnhd24 Die Ausgabe von XML-Strukturen haumlngt von dem jeweiligen Verarbeitungspro-gramm ab hier dargestellt sind die frei verfuumlgbaren XML-Editoren von firstobject (httpwwwfirstobjectcomdn _ editorhtm) und XMLFox (httpwwwxmlfoxcomdownloadhtm) Auf der Seite httptitusuni-frankfurtdeldlinkshtm sind online verfuumlgbare XML-Werkzeuge zusammengestellt

Sprachliche Morphologie digitalisiert 49

223 Echofragen im KaukasusWer die georgische Sprache erlernt wird sich uumlber kurz oder lang wundern daszlig Echofragen in dieser Sprache in spezifischer Weise ausgepraumlgt sind insofern sie mit den auf sie folgenden Antworten durch die Konjunktion da bdquoundldquo verbunden werden man vgl das folgende Beispiel25

Frage ras aḳetebt axla tkven bdquoWas tut ihr geradeldquo

Echofrage+Antwort čven ras vaḳetebt da meored motibul tivas vparcxavt bdquoWas wir tun sbquoUndrsquo ndash wir rechen die zweite Mahd zusammenldquo

Wollte man derartige Konstellationen nun in einem groumlszligeren Corpus des (gesprochenen) Georgischen abfragen so wuumlrde man mit einer rein zeichenkettenbasierten Suche schwerlich in vertretbarer Zeit zum Erfolg kommen da eine Suche nach selbstaumlndigem da sowohl saumlmtliche Belege fuumlr die Konjunktion (und damit das haumlufigste Wort uumlberhaupt) als auch solche fuumlr das homonyme da bdquoSchwesterldquo (NomSg) erbringen wuumlrde Noch schwieriger wuumlrde sich die entsprechende Suche im Svanischen einer der Schwestersprachen des Georgischen gestalten das einen genau entsprechenden Gebrauch der Konjunktion bdquoundldquo kennt Diese lautet hier normalerweise i wie in der woumlrtlichen Entsprechung des obigen Beispiels

Frage im xašdbad atxe sgaumly Echofrage+Antwort nauml im xwašdbad i mēris xwipcxidIn der Position nach vokalischem Auslaut wird das i nun aber als [j] real-isiert und sofern svanische Texte niedergeschrieben werden als solches an das vorhergehende Wort angehaumlngt so daszlig eine Suche nach (selbstaumlndigem) i diese Faumllle nicht erbringen wuumlrde

Frage si zurāl im xašdba bdquoDu Frau was tust du (gerade)rdquo Echofrage+Antwort im xwašdbay ulyāks xwaumlpšwde bdquoWas ich tue lsquoUndrsquo ndash ich schere ein Schafrdquo

25 Die folgenden Beispiele sind dem im Rahmen des Projekts bdquoEndangered Caucasian Languages in Georgialdquo (s httptitusfkidg1uni-frankfurtdeeclingeclinghtm) gesammelten originalsprachlichen Material entnommen Die Beispiele wurden nicht gezielt eruiert sondern sind jeweils Bestandteil ungesteuerter Konversation

Jost Gippert50

Noch komplexer ist die Sachlage in einer zweiten ihrerseits nicht ver-wandten Nachbarsprache des Georgischen dem Tsova-Tuschischen oder Batsischen Auch hier koumlnnen moumlglicherweise unter georgischem Einfluszlig Echofragen mit den folgenden Antworten durch bdquoundrdquo verbunden sein die Konjunktion liegt dabei jedoch nicht als eigenstaumlndiges Wort (und somit als eindeutig abgrenzbare Zeichenkette) vor sondern manifestiert sich jeweils unterschiedlich in der Laumlngung des auslautenden Vokals des vorangehenden Wortes der seinerseits in anderen Konstellationen getilgt sein kann man vgl das folgende Beispiel

Frage men yar o psṭuyn bdquoWer war diese Fraurdquo Echofrage+Antwort men yarē xaxabuyren bdquoWer sie war (lsquoUndrsquo) ndash sie war aus Xaxabordquo

Es kommen jedoch auch Echofragen ohne eine derartige Laumlngung vor

Frage qēn nānas vux dīen bdquoWas tat (seine) Mutter dannrdquo Echofrage+Antwort nānas vux dīen ndashnān korlacyīen bdquoWas (seine) Mutter tat (Seine) Mutter wurde verhaftetrdquo

Die sich hieraus unmittelbar ergebende Frage nach der Konsistenz des Gebrauchs kann durch eine Zeichenkettensuche in keiner Weise beant-wortet werden da eben kein zu suchendes Zeichen gegeben ist Man wird also um das Phaumlnomen der Echofragen im Kaukasus im Hinblick auf seine Regelhaftigkeit weiter zu untersuchen nicht umhin koumlnnen eine Anno-tation vorzusehen die nicht nur die morphologischen Elemente sondern sogar syntaktische Einheiten (eben Echofragen als solche) markiert

23 Digitale Morphologie und diachrone Untersuchungen

Einen weiteren Einsatzbereich digitalisierter Morphologie innerhalb der Linguistik stellen diachrone Untersuchungen dar Dabei gilt wieder das Grundprinzip daszlig der Einsatz digitaler Verfahren va zur Verifizierung bzw Falsifizierung von an Einzelfaumlllen erarbeiteten Hypothesen dienen kann Auch dies sei durch ein Anwendungsbeispiel aus dem kaukasischen Raum illustriert

Das Svanische faumlllt unter den kartvelischen oder suumldkaukasischen Sprachen insbesondere dadurch auf daszlig es in mehrere Dialekte mit houmlchst unterschied-licher phonologischer Struktur zerfaumlllt Die historischen Veraumlnderungspro-

Sprachliche Morphologie digitalisiert 51

zesse die diese Diversitaumlt herbeigefuumlhrt haben umfassen houmlchst komplexe Umlautungen Assimilationen sowie Syn- und Apokopeerscheinungen So wuumlrde man etwa die Form aumlǯhīdx bdquosie sind uumlber euch gekommenldquo des ober-balischen Dialekts auf eine historisch zugrundeliegende Form adǯihīdex zuruumlckfuumlhren die sich uumlber die folgenden vier chronologisch aufeinander-folgenden an das Altirische erinnernden Schritte veraumlndert haben duumlrfte

Umlautung aumldǯihīdex Apokope (Tilgung des Vokals der Auslautssilbe) aumldǯihīdx Synkope (Tilgung kurzer Vokale in geraden Silben) aumldǯhīdx Clustervereinfachung aumlǯhīdxDabei ist zu bemerken daszlig ein anderer Dialekt der lenṭechische die Syn-kope noch nicht vollzogen hat und in aumllteren svanischen Volksliedtexten sogar noch Formen ohne Apokope begegnen

Die historisch anzusetzende bdquoursvanischeldquo Grundform ist nun zugleich auch diejenige die man bei einer morphologischen Analyse von aumlǯhīdx zugrundelegen muszlig Tatsaumlchlich zerfaumlllt diese Form in insgesamt sechs morphologische Elemente naumlmlich das Praumlverb ad bdquoherldquo das Zeichen eines Objekts der 2 Person verbunden mit dem Zeichen der bdquoobjektiven Versionldquo ǯ+i bdquoin Bezug auf dich euchldquo die Verbalwurzel hīd bdquokommenldquo das Suf-fix des Aorists e sowie das Zeichen fuumlr ein Subjekt der 3 Person Plural x von denen aber eben nicht mehr alle in der heutigen oberbal Form als solche bdquosichtbarldquo sind Schematisch

I II III IV V VIad + ǯ + i + hīd + e + xPraumlv + 2PsObj + ObjV + Wz + AorSuff + 3PlSubjaumlǯhīdx

Wie in diesem Fall ist zu erwarten daszlig eine konsistente morphologische Analyse regelmaumlszligig Formen liefern wird die den mutmaszliglichen historischen (ursvanischen) Ausgangsformen zumindest nahekommen Sie koumlnnen damit als Inputformen fuumlr eine (automatische) Verifizierung der postulierten lautgesetzlichen Entwicklungen vom Ursvanischen zu den einzelnen heutigen Dialekten wie auch fuumlr die postulierten interdialektalen Lautentsprechungen dienen26

26 Vgl bereits Gippert Divergences 2000 mit einigen Fallbeispielen

Jost Gippert52

3 ResuumlmeeDie Perspektiven die die Anwendung digitaler Morphologie in der Sprach-wissenschaft eroumlffnet lassen sich auf der Grundlage der oben behandelten Fallbeispiele in zwei Thesen zusammenfassen

These I Je mehr sprachliche Daten mit morphologischer (und daruumlber hinaus syntaktischer semantischer pragmatischer metrischer) Analyse digital aufbereitet sind auf desto sichererem Boden steht die Theo-riebildung in synchron-deskriptiver und diachron-vergleichender Linguis-tik

These II Durch die Digitalisierung groszliger Datenmengen wird eine (statistische) Verifizierung bzw Falsifizierung sprachwissenschaftlicher Hypothesen nicht nur moumlglich sondern geradezu als methodisches Postu-lat erzwungen

Durch eine entsprechende Aufbereitung sprachlicher Daten die Voraus-setzungen hierfuumlr zu schaffen sehe ich als eine der vorrangigen Aufgaben der heutigen Linguistik an

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Jost Gippert54

Abbildungen

Abb 1 A-tocharischer Textausschnitt (THT 634r 1-3)

Abb 2 Aufruf der Datenbank

Sprachliche Morphologie digitalisiert 55

Abb 3 Paradigma-Ausgabe

Abb 4 Vedischer Textausschnitt (RV 111a)

Jost Gippert56

Abb 5 Bestimmung der Form agnim

Abb 6 Aufruf der Thesaurus-Suchmaschine

Sprachliche Morphologie digitalisiert 57

Abb 7 Ausgabe der Thesaurus-Suche

Abb 8 Mk 12ndash3 in der altgeorgischen bdquoProtovulgataldquo

Jost Gippert58

Abb 9 Bestimmung der altgeorg Wortform ġaġadebisay

Abb 10 Verbformengenerator fuumlr das Neugeorgische (Paul Meurer)

Sprachliche Morphologie digitalisiert 59

Abb 11 Georgische Syntaxanalyse (Paul Meurer)

Abb 12 Abfrage der gotischen Endung -za

Jost Gippert60

Abb 13 Ausgabeliste von Wortformen auf -za

Abb 14 Ausgabeliste von Wortformen auf -da

Sprachliche Morphologie digitalisiert 61

Abb 15 Annotation (Tagging) im Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus

Abb 16 Dasselbe in systematischer Darstellung

Jost Gippert62

Abb 17 Dasselbe in nicht explizitem Tagging

Abb 18 Implizites Tagging Slovenischer Katechismus

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre

Verbalstammbildung und das Kausativ

Hans Henrich Hock

Since the time of Whitney (1889) western scholarship generally assumes that lsquosecondaryrsquo verb inflections of Sanskrit such as the causative are based on derived stems which are not available in all tense categories while lsquoprimaryrsquo verbs based on roots are not restricted in this way (with certain idiosyncratic exceptions) This approach contrasts with that of Pāṇini according to which lsquosecondaryrsquo formations are based on derived roots rather than stems and these roots behave just like ordinary roots being inflectable in all tense categories I show that Pāṇinirsquos approach provides a more satisfactory account of the Sanskrit facts even though the notion lsquoderived rootrsquo is unorthodox from the present-day perspective and thus constitutes a certain challenge to modern linguistics In addition my paper demonstrates that in the investigation of Sanskrit grammar the work of the indigenous Indian grammarians must be regarded as earlier scholarship on a par with that of western scholars such as Whitney

0 EinleitungSeit Whitney (1889) wird im Allgemeinen angenommen daszlig im Sanskrit (oder Altindoarischen) ein Unterschied besteht zwischen bdquoprimaumlrerrdquo und bdquosekundaumlrerrdquo Verbalstammbildung Etwas vereinfachend kann der Unterschied so dargestellt werden daszlig Sekundaumlrverben (Kausative Desiderative Intensive und Passive) abgeleitete Verbalstaumlmme und daher nicht in allen Tempuskategorien verwendbar sind waumlhrend Primaumlrverben mit gewissen idiosynkratischen Ausnahmen dieser Beschraumlnkung nicht unterliegen Im Gegensatz dazu analysiert Pāṇinis Generativgrammatik (Pāṇini bdquoGrammatikrdquo) die Sekundaumlrverben als nicht auf abgeleiteten Staumlmmen basiert sondern auf abgeleiteten Wurzeln

In diesem Aufsatz versuche ich darzustellen daszlig Pāṇinis Ansatz fuumlr die synchronen Tatsachen eleganter aufkommt und bessere Verallgemeinerungen macht obwohl er mdash und das muszlig zugegeben werden mdash aus heutiger Sicht bdquounorthodoxrdquo anmutet und daher eine gewisse Herausforderung fuumlr die moderne Morphologie darstellt In diesem Zusammenhang ist das Kausativ von besonderer Bedeutung da es den besten Beweis zu liefern scheint fuumlr

Hans Henrich Hock64

die Ansicht daszlig Sekundaumlrkonjugationen sich von der Primaumlrkonjugation grundlegend unterscheiden Mein Aufsatz zielt daher im allgemeinen nur das Kausativ an1

Zusaumltzlich zu der Verteidigung von Pāṇinis Ansatz sollten meine Ausfuumlhrun-gen klar stellen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker keineswegs vernachlaumlssigt werden duumlrfen sondern genauso wie die Arbeiten von Gelehrten wie Whitney als fruumlhere Forschungsansaumltze beruumlcksichtigt wer-den muumlssen

1 Die traditionelle westliche Standard-AnsichtWie bekannt hat das Sanskrit eine Reihe von bdquosekundaumlrenrdquo Verbal- formationen naumlmlich Kausativ Desiderativ und Intensiv zu denen haumlufig auch das Passiv gefuumlgt wird (s aber weiter unten) Vergleiche die Uumlbersicht der von der Wurzel bhr- abgeleiteten Praumlsensflexionen in [1]

[1] a bdquoPrimaumlr-Flexionrdquo bhaacuter-a-ti und biacute-bhar-ti2 traumlgtrsquo b Kausativ bhār-aacutey-a-ti laumlszligt tragenrsquo c Desiderativ buacute-bhūr-ṣa-ti will tragen ist dabei zu tragenrsquo d Intensiv bhaacuteri-bhr-ati sie tragen immer wiederrsquo e Passiv bhri-yaacute-te wird getragenrsquo

Seit Whitney (1889) wird das Verhaumlltnis zwischendiesen Formatio-nen allgemein dahingehend erklaumlrt daszlig die in [1a] Primaumlrverben und die in [1b-e] Sekundaumlrverben seien und daszlig diese Sekundaumlrverben auf einem abgeleiteten Verbalstamm basieren siehe [2]

[2] bdquoSecondary conjugations are those in which a whole system of forms like that already described as made from the simple root [dh die bdquoPrimaumlrformationenrdquo] is made with greater or less com-pleteness from a derivative conjugation-stem and is also usually connected with a certain definite modification of the original radi-cal sensersquo (Whitney 1889 S 360-361)

1 Damit die Darstellung nicht all zu spezialisiert und kompliziert wird beschraumlnke ich mich im allgemeinen auf die Finitformen des Verbums die wichtigste Nicht-Finitform ist das ta-Partizip manchmal auch faumllschlich als Passiv-Partizip des Perfekts bezeichnet (bei Intransitiven ist es aktiv und im fruumlhen Sanskrit hat es eher Gemeinsamkeiten mit dem Aorist)2 Im Unterschied zu den meisten anderen Verbalwurzeln hat bhr- zwei verschiedene bdquoprimaumlrerdquo Praumlsensbildungen

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 65

Whitneys Ansicht wird weitgehend geteilt Zum Beispiel behandeln ThumbHauschild (1959 S 330-357) Mayrhofer (1978 S 93-95) und Renou (1984 S 463-490) alle unter [1b-e] angefuumlhrten Formationen zusammen aber getrennt von der Primaumlrflexion wobei ThumbHauschild und Mayrhofer explizit den Terminus bdquoabgeleitete Konjugationenrdquo verwenden

Eine Variante findet sich bei Macdonell (1916 S 195-207 vs 178-180) Sten-zler (1970 S 52-54 vs 51) und Gonda (1966 S 73-74 vs 72-73) die das Pas-siv separat behandeln (Die Einstellung von Morgenroth (1973 S 158-168) ist in dieser Beziehung ambig)

Waumlhrend in den meisten Faumlllen die Behandlung der Verben in [1b-e] (oder [1b-d]) als Sekundaumlrkonjugationen ohne weitere Diskussion als selbstver-staumlndlich angesehen wird stellt Morgenroth (1973 S 185) bei der Bespre-chung des Kausativs ausdruumlcklich fest daszlig diese Formation bdquozu den sekundaumlren Verben [gehoumlrt] dh zu Verben deren Staumlmme von Verbal-wurzeln abgeleitet sind und eine spezielle Bedeutung habenrsquo

Bevor wir uns weiteren Folgen der westlichen Standard-Ansicht zuwenden ist es vielleicht angebracht kurz die Variante zu besprechen die das Passiv separat behandelt Explizite Ausfuumlhrungen fehlen in den zitierten Veroumlffentlichungen aber es lassen sich wenigstens zwei solcher Begruumlndungen anfuumlhren Die erste hat mit der Tatsache zu tun daszlig das Passiv im Unterschied zu den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo morphologisch auf das Praumlsenssystem und die dritte Person Singular Aktiv des Aorists beschraumlnkt ist auszligerhalb dieser Formationen kann das Passiv nur durch das Medium dargestellt werden das aber auch andere Funktionen erfuumlllt In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert daszlig sich dieses Argument auch bei Whitney findet der sich aber dann doch entscheidet das Passiv bei den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo einzuordnen

[3] bdquoThe passive is classed here as a secondary conjugation because of its analogy with the others in respect to specific value and free-dom of formation although it does not like them make its forms outside the present system from its present-stemrsquo (Whitney 1889 S 361)

Eine weitere Begruumlndung waumlre die folgende Die einheimische indische Grammatik erlaubt Desiderative und Kausative von Intensiven [4a] Kau-sative von Desiderativen [4b] und Desiderative von Kausativen [4c] und die meisten dieser Formation sind auch in Texten bezeugt Kausative von Desiderativen und Desiderative von Kausativen relativ haumlufig die anderen

Hans Henrich Hock66

Formation eher selten3 Zu jeder dieser Formationen kann im Prinzip auch ein Passiv gebildet werden [4arsquo-4crsquo] aber vom Passiv koumlnnen keine anderen bdquoSekundaumlrformationenrdquo abgeleitet werden

[4] a Wurzel vid- wissenrsquo Intensiv ve-vid- Desid des Int ve-vid-i-ṣa-ti Kaus des Int ve-vid-aya-ti b Wurzel āp- erreichenrsquo Desiderativ īp-sa-ti Kaus des Des īp-s-aya-ti c Wurzel pā- trinkenrsquo Kausativ pāy-aya-ti Des des Kaus pi-pāy-ayi-ṣa-ti arsquo Pass des Int ve-vid-ya-te brsquo Pass des Desid īp-s-ya-te crsquo Pass des Kaus pāy-ya-teDiese Verhaumlltnisse sprechen daher fuumlr eine Trennung des Passivs von den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo

2 Empirische Begruumlndung der traditionellen westlichen Standard-AnsichtDie Begruumlndungen fuumlr die separate Einstufung der bdquoSekundaumlrformationenrdquo in der traditionellen westlichen Sanskrit-Grammatik sind eher duumlrftig Wie schon vorher angedeutet ist ein Hauptargument daszlig diese Verbfor-mationen eine spezielle semantische Bedeutung haben die sich von der (unmarkierten) Bedeutung der bdquoPrimaumlrverbenrdquo unterscheidet Wie schon gesehen wuumlrden auf Grund dieses Arguments das Passiv und die anderen bdquoSekundaumlrverbenrdquo zusammen gegliedert obwohl das Passiv in der Deriva-tion ein ganz anderes Verhalten zeigt

Das einzige weitere haumlufiger angebrachte Argument ist historischer Art Es beruht auf der Ansicht daszlig die sogenannten Sekundaumlrverben urspruumlnglich auf das Praumlsenssystem (Praumlsens Imperfekt und vom Praumlsens abgeleitete Partizipen) beschraumlnkt waren und erst sekundaumlr auf andere Tempussysteme ausgedehnt wurden Siehe z B das folgende Zitat von Whitney

3 Beispiele von Whitney 1889 S 372 377 386

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 67

[5] bdquoIn these [secondary or derivative conjugations] a conjugation stem instead of the simple root underlies the whole system of inflection Yet there is clearly to be seen in them the character of a present-system expanded into a more or less complete conjuga-tion and the passive is so purely a present-system that it will be described in the chapter to that part of the inflection of the verbrsquo (Whitney 1889 S 203-204)

Indirekt wird diese Ansicht unterstuumltzt durch das besondere Verhaumlltnis des dem Kausativ zugehoumlrigen reduplizierten Aorists der dem Anschein nach nicht vom Kausativstamm gebildet wird sondern suppletiv direkt von der Wurzel Siehe zB das Verhaumlltnis zwischen [6a-d] und [6e]

[6] a Praumlsens bhārayati b Futur bhārayiṣyati c Passiv bhāryate d ta-Partizip bhārita- e Perfekt bhārayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist abībharat (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Vergleiche in dieser Hinsicht die Ausfuumlhrungen von Whitney und Macdonell wobei die letztere durch ihre historische Begruumlndung besonders auffaumlllt

[7] bdquoThe aorist of the causative conjugation is the reduplicated which in general has nothing to do with the causative stem but is made directly from the rootrsquo (Whitney 1889 S 383)

[8] bdquoThough (with a few slight exceptions) unconnected in form with the causative it has come to be connected with the causative in sense helliprsquo (Macdonell 1916 S 173)

Ein weiteres historisches Argument wird von ThumbHauschild angedeutet naumlmlich daszlig das periphrastisch gebildete Perfekt [6e] erst sekundaumlr dem Kausativsystem zugefuumlgt ist

[9] bdquohellip und somit ist das periphrastische Perfekt nur das Ergebnis einer sprachlichen Auslese welche es ermoumlglichte zu abgeleiteten Verben (wie den Causativstaumlmmen) hellip ein besonderes Perfekt zu bildenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 295)

Ein aumlhnlicher Vorschlag findet sich wiederum bei ThumbHauschild in Bezug auf das Passiv [6c] das zwar dieselbe Wurzelform wie die anderen

Hans Henrich Hock68

nicht-aoristischen Formen hat bei dem aber das normale Suffix -aya- fehlt4

[10] bdquoDaszlig es sich auch hier hellip um junge Neubildungen handelt ergibt sich schon aus der Chronologie dieser Formen sie beginnen erst in den Brāhmaṇas gelegentlich aufzutretenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 344)

3 Probleme des traditionellen westlichen AnsatzesObwohl die historischen Erklaumlrungen fuumlr die verschiedenen Formen im groszligen Ganzen stimmen sind solche historischen Begruumlndungen synchron belanglos Die synchrone Grammatik sollte nur fuumlr die synchronen Tatsachen- verhaumlltnisse aufkommen

Sehen wir uns also kurz an was der traditionelle westliche Ansatz uumlber diese Verhaumlltnisse auszusagen hat und welche Probleme sich dabei herausstellen

Um die Futurformen [6b] und aumlhnliche Formationen wie den Infinitiv zu erklaumlren wird allgemein angenommen daszlig das -a- des Praumlsenssuffixes -aya- abgeworfen wird und zwischen das -ay- und das Futursuffix der sogenannte Bindevokal (bdquounion vowelrdquo) eingeschoben wird der sich fakul-tativ oder obligat in vielen anderen Formen findet

Wie schon oben angedeutet nimmt man fuumlr das Passiv [6c] an daszlig das ganze Praumlsenssuffix abgeworfen wird so daszlig das Passivsuffix direkt an die Kausativwurzel angefuumlgt wird Die Analyse ist aumlhnlich fuumlr das ta-Partizip [6d] nur daszlig hier der Bindevokal vor das ta-Suffix eingeschoben wird

Die Tatsache daszlig das Perfekt periphrastisch gebildet wird mit dem urspruumlnglichen Akkusativ Singular eines vom Praumlsensstamm abgeleiteten deverbalen Nomens plus Auxiliar [6e] wird in manchen Veroumlffentlichungen (zB Whitney und ThumbHauschild) verglichen mit aumlhnlichen aber etwas selteneren Formationen die direkt von der Wurzel gebildet werden wie zB die in [11] angefuumlhrten

[11] vid- wissenrsquo (Praumls vetti5) Perf vidāṁ cakāra īkṣ- schauenrsquo (Praumls īkṣate) Perf īkṣāṁ cakre

4 Fuumlr das ta-Partizip [6d] siehe Sektion 35 Neben dem unreduplizierten Perfekt veda das wie vetti Praumlsensfunktion hat

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 69

Die Formation die die groumlszligten Schwierigkeiten verursacht ist der redu-plizierte Aorist [6f] Waumlhrend beim Passiv und ta-Partizip die Gestalt der Wurzel die gleiche ist wie im Praumlsensstamm (zB bhār- wie in bhārayati) scheint die Wurzelform des reduplizierten Aorists (abībharat mit Voll-stufe bhar) voumlllig verschieden zu sein von der Wurzel des Praumlsensstamms (bhārayati mit Dehnstufe bhār) Das Verhaumlltnis scheint also suppletiv zu sein und die synchrone Analyse scheint daher mit der historischen Inter-pretation uumlbereinzustimmen

Dieser Anschein aber truumlgt Wie aus Daten wie denen in [12] erhellt sind gewisse Wurzelveraumlnderungen des Praumlsensstammes6 nicht nur in den For-men zu finden die allgemein als vom Praumlsensstamm abgeleitet angesehen werden [12a-e] sondern auch im reduplizierten Aorist [12f]

[12] a Praumlsens sthā-p-aya-ti (Wurzel sthā ῾stehenrsquo) b Futur sthā-p-ayi-ṣya-ti c Passiv sthā-p-ya-te d ta-Partizip sthā-p-i-ta e Perfekt sthā-p-ayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist a-ti-ṣṭhi-p-a-t (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Die allgemeine Antwort auf dieses Problem liegt in der Annahme daszlig diese Form des Aorists synchron anomal und irgendwie aus dem Praumlsens-stamm uumlbertragen ist siehe zB [13] (Aumlhnliches bei Gonda 1966 S 65 und Stenzler 1970 S 47)

[13] bdquoIn a few cases where the root has assumed a peculiar form before the causative sign mdash as by the addition of a p or ṣ hellip mdash the redu-plicated aorist is made from this form instead of the simple root thus atiṣṭhipam from sthāp (stem sthāpaya) for sthā hellip the only other example from the older language is bībhiṣa from bhīṣ for bhīrdquo (Whitney 1889 S 384)

Die Folgen dieser Anschauung sind am deutlichsten in der Organisation von Whitneyrsquos (1885) zu erkennen wo bdquoregelmaumlszligigerdquo Formen wie [6f] als normale Aoristformen angefuumlhrt werden waumlhrend Formen wie [12f] unter dem Kausativeintrag erscheinen7 Siehe [14a] vs [14b] wo die relevan-ten Aoristformen durch (von mir zugefuumlgten) Fettdruck gekennzeichnet sind

6 Die meisten dieser Veraumlnderungen haben die Wurzelerweiterung -p- aber es gibt auch andere (zB -ṣ- fuumlr die Wurzel bhī fuumlrchtenrsquo)7 Siehe Whitney 1885 svv

Hans Henrich Hock70

[14] a Formen der Wurzel bhr tragenrsquo Pres [3] biacutebharti biacutebhrati hellip mdash [1] hellip bhaacuterati ndashte hellip mdash [2] bharti hellip Perf babhāra hellip Aor 1 bhartaacutem hellip mdash 3 bībharas hellip mdash 4 abhārṣīt hellip Fut 1 bhariṣyaacuteti hellip mdash 2 bhartā hellip hellip Sec Conj hellip Caus bhārayati

b Formen der Wurzel sthā stehenrsquo Pres [1] tiacuteṣṭhati hellip Perf tasthāuacute hellip Aor 1 aacutesthāt hellip mdash [4] [sthāsīṣṭa] hellip Fut 1 sthāsyaacuteti hellip mdash 2 sthātā hellip hellip Sec Conj hellip Caus sthāpayati hellip (aacutetisthipat etc VB hellip sthāpyate hellip -sthāpayiṣyati B)

Nur bei ThumbHauschild und Macdonell finden sich etwas bessere Beschrei-bungen siehe [15] Dabei wird aber vernachlaumlssigt daszlig die dem -p- vorangehende Wurzelform eben nicht mit der des Praumlsensstamms uumlbereinstimmt Auszligerdem werden die Konsequenzen der Annahme daszlig der Aorist den Praumlsensstamm oder einen Teil des Praumlsenssuffixes enthaumllt nicht durchgesprochen

[15] a bdquohellip der reduplizierte Aorist von p-Causativa hellip wird nicht von der Wurzel sondern von dem Causativstamm gebildetrsquo (ThumbHauschild 1959 S 343)

b bdquoThe initial of the suffix is retained from the causative stems jntildeā-paya hellip thus a-ji-jntildeip-at helliprsquo (Macdonell 1916 S 175)

Als Fazit laumlszligt sich also sagen daszlig der traditionelle westliche Ansatz zwar irgendwie fuumlr die synchronen Tatsachen aufkommt aber keine konse-

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 71

quenten grammatischen Verallgemeinerungen liefert die es ermoumlglichen koumlnnten die Aoristformen mit Wurzelerweiterung (Typus [12f]) zu erklaumlren

4 Der juumlngste westliche Versuch (Stump 2005)Obwohl der kuumlrzlich erschienene Aufsatz von Stump (Delineating 2005) als Hauptthema die theoretische Frage hat ob das Kausativsuffix -aya- Flexionsklasse oder Derivation markiert bespricht er auch noch einmal eingehend die verschiedenen Formationen des Kausativs und bietet zudem eine Alternativanalyse von -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassen-marker -a- an

Wie im tradionellen westlichen Ansatz sieht Stump den reduplizierten Aorist als suppletiv an Zusaumltzlich interpretiert er das Fehlen des Kausativ- suffixes -aya- im Passiv und im ta-Partizip als Anzeichen dafuumlr daszlig die-ses Suffix nur Flexionsklasse markiert (fuumlr die Formationen in denen es erscheint) und nicht der Ableitung dient Wie die meisten traditionellen westlichen Forscher behandelt er in diesem Verfahren die bdquoroot modifica-tionsrdquo (Dehnstufe der Wurzel und Wurzelerweiterung -p-) als im Effekt nebensaumlchlich Soweit der Hauptteil seines Artikels der sich also nicht wesentlich von dem traditionellen westlichen Ansatz unterscheidet

In einer Art Anhang aber erwaumlgt Stump eine Alternativloumlsung die wenig-stens das Potential zu einem neuen Ansatz hat Dies ist der Vorschlag daszlig -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassenmarker -a- analysiert wer-den kann Der Vorteil dieses Ansatzes ist daszlig die Futurform des Typus bhārayiṣyati [6b] leichter erklaumlrt werden kann naumlmlich als Kausativ-stamm bhār-ay- plus Futursuffix -syaṣya- (mit vorhergehendem Binde-vokal) Zusaumltzlich kann nun das ta-Partizip des Typus bhārita- [6d] vom Stamm bhār-ay- abgeleitet werden unter der Annahme daszlig das dem -ta- vorausgehende -i- die Nullstufe des Suffixes -ay- darstellt da Nullstufe vor dem ta-Suffix vorherrscht

Man koumlnnte sogar einen Schritt weitergehen und das Passiv bhār-ya-te [6c] vom Stamm bhār-ay-ableiten unter der Annahme daszlig auch hier das Kau-sativsuffix -ay- in der Nullstufe -i- erscheint da auch vor dem Passivsuffix Nullstufe vorherrscht Der Schwund dieses -i- koumlnnte dann erklaumlrt werden

Hans Henrich Hock72

als Parallelerscheinung zum Schwund des -i- der sogenannten seṭ-Wurzeln das auch im Passiv schwindet aber nicht im ta-Partizip8 siehe [16]

[16] Kausativ mit Suffix in Nullstufe seṭ-Wurzel Grundform bhār-i- pat-i-fliegen fallenrsquo ta-Partizip bhār-i-ta- pat-i-ta- Passiv bhār-ya-te pat-ya-teVom theoretischen Standpunkt ist aber Stumps Alternativloumlsung schwierig da er annimmt daszlig sowohl das Suffix -ay- als auch das fol-gende -a- Flexionsklassenmarker sind Eine solche Serialisierung von zwei Flexionsklassenmarkern scheint ziemlich ungewoumlhnlich und sollte durch eingehendere Argumente begruumlndet werden

Letzten Endes leidet Stumps Analyse also unter denselben Schwierigkeiten wie der traditionelle westliche Ansatz vor allem dadurch daszlig die im Aorist erscheinende Wurzelerweiterung -p- nicht motiviert ist

5 Die bdquoWurzelrdquo-Analyse von Pāṇini9

In manchen Gesichtspunkten beruumlhrt sich Pāṇinis Grammatik mit der Alternativloumlsung Stumps in anderen mit dem traditionellen westlichen Ansatz aber in Bezug auf die theoretische Perspektive ist sie grundver-schieden dadurch daszlig sie statt eines Kausativstamms eine abgeleitete Kausativwurzel postuliert

Pāṇinis Grammatik ist generativ und operiert mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen die oft grammatische Marker enthalten die nur dazu dienen gewisse Regeln in Kraft zu setzen oder zu steuern (wie zB Regeln uumlber Ablaut) die fuumlr viele phonetische Prozesse unsichtbar sind und die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Um das Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten zu erleichtern gebe ich im Folgenden statt Pāṇinis Sūtras (dh Regeln) Zusammenfassungen der durch diese Sūtras gemachten Verallgemeinerungen mit Hinweis auf Buch Kapitel und Sūtra

Pāṇini fuumlhrt verschiedene abgeleitete Verbalformationen in 315-3131 ein Diese schlieszligen das Desiderativ (315-7) Intensiv (3122-24) und fuumlr uns wichtig das Kausativ (3126) ein Das letztere wird eingefuumlhrt unter der

8 In Wurzeln mit Resonant vor dem seṭ -i finden sich im ta-Partizip kompliziertere Alternationen 9 Mit gewissen Veraumlnderungen findet sich Pāṇinis Ansatz in den meisten modernen indischen Grammatiken des Sanskrit wie zB Kale 1894

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 73

Bedingung daszlig ein bdquoVerursacherrdquo des Kausativs (hetu) vorliegt und die Formation enthaumllt einen Pratyaya (asymp Suffix10) ṇic wobei ṇ und c gram-matische Marker sind Der Pratyaya ist daher nur i das auf Grund des Ablautsystems mit e vorvokalisch ay alterniert11

Die Sūtras die diese Formationen einfuumlhren werden direkt gefolgt durch 3132 wonach all diese Formationen Wurzeln (dhātus) sind

Schlieszliglich fuumlhrt 7336 die Erweiterung -p- nach gewissen Wurzeln ein Wichtig ist dabei daszlig die Erweiterung zwischen die Wurzel und den Kausativ- Pratyaya i eingefuumlgt wird so daszlig der ganze dabei entstehende Komplex (zB sthā-p-i) nach 3132 als Wurzel gilt

Dieser Ansatz ist aus mehrerer Hinsicht nuumltzlich Erstens erklaumlrt er daszlig zB Desiderative von Kausativen gebildet werden koumlnnen genau wie von bdquoPrimaumlrwurzelnrdquo (s [4] oben) Zweitens wird dadurch daszlig das Praumlsenssuffix des Passivs in anderem Zusammenhang eingefuumlhrt wird (3167) die Tat-sache erklaumlrt daszlig Desiderative Kausative usw nicht vom Passiv abgeleitet werden koumlnnen Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste erlaubt es die Formation von reduplizierten Aoristen mit Wurzelerweiterung (-p- usw) zu erklaumlren wie weiter unter dargestellt werden soll

Dem Pratyaya des Kausativs folgt im aktiven Praumlsenssystem das bdquoDefaultrdquo-Suffix śap (Implikation von Sūtra 3168) wobei ś und p wiederum gram-matische Marker sind und das p auf Grund anderer Sūtras den Pratyaya i zu ay verstaumlrkt12 Dadurch kommt das -ay-a- des Praumlsenssystems zustande Die Tatsache aber daszlig das abschlieszligende -a- Praumlsenssuffix ist erklaumlrt dann seine Abwesenheit in auszligerpraumlsentischen Formationen wie dem Futur (zB bhāray-iṣya-ti)13 Interessanterweise macht Pāṇini nicht von der Moumlglichkeit Gebrauch das Fehlen des Pratyaya i im Passiv (zB bhār-ya-te) durch Vergleich mit

10 Im Folgenden wird das Sanskrit-Wort Pratyaya gebraucht um einer Fehlinterpreta-tion als Suffix im westlichen Sinne vorzubeugen11 Da fuumlr gegenwaumlrtige Zwecke nur die vorvokalische Variante von Belang ist wird in den folgenden Ausfuumlhrungen nur diese genannt12 In Pāṇinis Grammatik gilt im allgemeinen die Nullstufe (wie zB i) als Grundform und Vollstufe (zB eay) und Dehnstufe (zB aiāy) werden als bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo abge-leitet Zum leichteren Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten gebrauche ich den Terminus bdquoVer-staumlrkungrdquo fuumlr die fuumlr uns wichtige Guṇierung und bdquoNicht-Verstaumlrkungrdquo fuumlr den Gebrauch der Grundform13 Das periphrastische Perfekt wird erklaumlrt nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Eine Endung -ām wird an die Kausativwurzel mit vollstufigem Pratyaya (ay) angefuumlgt und darauf folgt dann die angemessene Perfektform der Wurzel kr tun machenrsquo

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dem Fehlen des i in seṭ-Wurzeln (zB pat-ya-te s [16] oben) zu erklaumlren Statt dessen fuumlhrt er ein besonderes Sūtra ein (6451) wonach das i des Kausativs vor dem Passiv-Suffix -ya- getilgt wird wie auch vor anderen zT nominalen Suffixen einschlieszliglich des Aorist-Suffixes caṅ (s unten) Der Grund dafuumlr ist wohl die Tatsache daszlig Pāṇini die seṭ-Wurzeln nicht als besondere Klasse anerkennt sondern das bei ihnen regelmaumlszligig vor Konsonanten (auszliger y) vorkommende -i nicht von dem oft nur fakultativen i unterscheidet welches nachkonsonantisch vor fast allen konsonantisch anlautenden Suffixen eingeschoben werden kann wie zB in rakṣ-i-tum Infinitiv der Wurzel rakṣ- behuumlten kontrollierenrsquo14 (Dieser i-Einschub der Bindevokal der westlichen Tradition ist unter anderem fuumlr das -i- des Futurs bhāray-i-ṣya-ti und aumlhnlicher Formen verantwortlich) Fuumlr Pāṇini ist daher bei Formen wie pat-ya-te kein Grund zur Annahme einer i-Tilgung diese ist nur noumltig fuumlr das Kausativ Andererseits ist aber bei Pāṇini das Prinzip der Tilgung von Suffixen und anderen Element so fest verankert daszlig die i-Tilgung im Passiv des Kausativs (und aumlhnlichen Formen) keineswegs ad hoc ist Eine Uumlbersicht der relevanten Regel- anwendungen findet sich in [17] weiter unten

Auch im Falle des ta-Partizips nimmt Pāṇini nicht die Gelegenheit wahr das -i- in Formen wie bhār-i-ta- als das nicht verstaumlrkte -i- des Kausativ-Pratyayas zu interpretiern Statt dessen operiert er mit der Annahme eines i-Einschubs nach der Kausativ-Wurzel und vor der Endung -ta- Vor diesem i erleidet dann das Kausativ-i- dieselbe Art von Tilgung (in diesem Fall nach 6452) wie vor dem Passiv-Suffix -ya- Der Grund hierfuumlr mag zum Teil der sein daszlig auf diese Weise die Formation des ta-Partizips vom Kausativ parallel ist zu der entsprechenden Formation des Desiderativs und anderer abgeleiteter Wurzeln bei denen ebenfalls ein i vor dem ta-Suffix eingeschoben wird (Siehe die Illustration der Regelan-wendungen in [17] unten)

Zum Teil aber mag der Grund auch darin liegen daszlig die Annahme eines regelmaumlszligigen i-Einschubs vor mit t anlautenden Suffixen es ermoumlglicht fuumlr die Form des Absolutivs (oder Konverbs) des Kausativs aufzukommen wie zB bhāray-i-tvā getragen habend nach dem Tragenrsquo Das Schwierige an dieser Form ist daszlig das Suffix -tvā normalerweise die unverstaumlrkte Form der vorhergehenden Wurzel verlangt (wie z B in i-tvā gegangen seiend nach dem Gehenrsquo von der Wurzel i-) Das verstaumlrkte -ay- von bhāray-i-tvā verlangt daher nach einer besonderen Erklaumlrung Diese liegt bei Pāṇini in der Annahme daszlig eine Form mit -i-Einschub zu Grunde liegt (also

14 Die zustaumlndigen Sūtras sind 7235-100 mit 724-34

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 75

bhāri-i-tvā) und daszlig in dieser Konfiguration der normale Effekt des -tvā aufgehoben ist (1218) bhāri-i-tvā erleidet daher Verstaumlrkung des Kausativ-Pratyayas i zu -ay- wodurch bhāray-i-tvā zu Stande kommt Siehe die Zusammenfassung in [17]

[17] ta-Partizip Passiv Absolutiv bhāri-ta- bhāri-ya-te bhāri-tvā i-Einschub bhāri-i-ta- bhāri-i-tvā Verstaumlrkung bhāray-i-tvā i-Tilgung bhār-i-ta- bhār-ya-teAuf jeden Fall sollte bemerkt werden daszlig bei Pāṇini die Aumlhnlichkeit zwischen dem i-Pratyaya das Kausativs und dem -i- des ta-Partizips nur zufaumlllig ist

Bis zu diesem Punkt leistet Pāṇinis Grammatik ungefaumlhr dasselbe wie der traditionelle westliche Ansatz und vor allem wie Stumps Alternativloumlsung auszliger natuumlrlich der Tatsache daszlig er mit Wurzeln statt Staumlmmen arbeitet

Wenn wir uns der Erklaumlrung des reduplizierenden Aorists zuwenden koumlnnen wir sehen daszlig sich Pāṇinis Grammatik von westlichen Ansaumltzen grundlegend unterscheidet und daszlig die bdquoWurzeltheorierdquo erklaumlren kann was die bdquoStammtheorierdquo nicht erklaumlrt

Der Flexionsmarker des reduplizierten Aorists caṅ wobei c und ṅ gramma-tische Marker sind wird in 3148 nach dem Kausativ-Pratyaya und gewissen primaumlren Wurzeln eingefuumlhrt Die diesem Flexionsmarker vorausgehende Wurzel wird nach 6111 redupliziert und der Vokal der Reduplikations-silbe wird unter gewissen Umstaumlnden gelaumlngt (7493-94) Fuumlr uns wichtig ist was mit der zwischen Reduplikationssilbe und Flexionsmarker -a-15 stehenden Kausativwurzel geschieht

Erstens verliert die Wurzel ihr -i- nach 6451 derselben Regel die das i vor dem Passiv-Suffix -ya- tilgt (s oben) Zweitens wird ein Wurzelvokal gekuumlrzt dem nur ein Konsonant folgt (741) Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste lehrt das Sūtra 745 daszlig das ā der Wurzel sthā- unter denselben Umstaumlnden dh wenn nur ein Konsonant folgt durch i ersetzt wird Diese Regel kann aber nur dann zur Anwendung kommen wenn die Wurzel die Erweiterung -p- enthaumllt da nur unter diesen Umstaumlnden dem ā der Wurzel noch ein Konsonant folgt (Siehe die Darstellung in [18])

15 Das heiszligt caṅ ohne die grammatischen Marker c und ṅ

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[18] Wurzel Wurzel ohne p-Erweiterung mit p-Erweiterung (bhr) (sthā) Aorist Einsatzform16 bhāri-a- sthāpi-a-i-Tilgung bhār-a- sthāp-a-Reduplikation bi-bhār-a- ti-ṣṭhāp-a-Wurzelschwaumlchung bi-bhar-a- ti-ṣṭhip-a-Oberflaumlchenform17 a-bī-bhar-a-t a-ti-ṣṭhip-a-t

Wir koumlnnen daher folgern daszlig im Gegensatz zu westlichen Ansaumltzen Pāṇinis Grammatik eine elegante und system-konsequente Erklaumlrung fuumlr das Vorkommen der kausativen Wurzelerweiterung p im reduplizierten Aorist bietet und daszlig in dieser Beziehung die bdquoWurzeltheorierdquo produktiv ist

6 Zusammenfassung und ImplikationenWie wir gesehen haben liefert Pāṇinis bdquoWurzeltheorierdquo eine methodische Erklaumlrung des kausativen Aorists die traditionellen westlichen bdquoStammtheorierdquo-Ansaumltzen bisher nicht gelungen ist Gleichzeitig aber muszlig betont werden daszlig die Annahme von abgeleiteten bdquoWurzelnrdquo aus der Perspektive der westlichen grammatischen Tradition(en) aumluszligerst ungewoumlhn- lich ist Es fragt sich daher ob und wie weit sich die Einsichten von Pāṇinis Ansatz in einer bdquoStammtheorierdquo replizieren lassen Ich uumlberlasse etwaige Antworten auf diese Frage anderen Forschern und wende mich nur kurz einigen weiteren Implikationen zu

Erstens erhebt sich die Frage inwieweit sich Pāṇinis Ansatz veraumlndern lieszlige so daszlig zB die Aumlhnlichkeit zwischen dem -i- des ta-Partizips und dem -iay- des Kausativs nicht zufaumlllig sondern signifikant waumlre Da Pāṇinis Grammatik im wahrsten Sinne des Ausdrucks ein Gebilde ist in dem bdquotout se tientrdquo wuumlrde ein Versuch die Erklaumlrung des ta-Partizips zu aumlndern dazu fuumlhren daszlig die gesamte Struktur der Grammatik uumlberdacht und umgeaumlndert werden muumlszligte Ein solches Unterfangen waumlre fuumlr normale Sterbliche unerreichbar

16 Zur Vereinfachung der Darstellung wird hier angenommen daszlig gewisse andere Regeln (wie die Tilgung der grammatischen Marker) schon eingetreten sind17 Dritte Person mit Anwendung weiterer Regeln

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 77

Zweitens wirft Pāṇinis Ansatz die Frage auf inwieweit die weit verbreitete Ansicht aufrecht zu erhalten ist daszlig Primaumlr- und Sekundaumlrflexion sich grundlegend unterscheiden In dieser Hinsicht ist beachtenswert daszlig selbst Whitney sich in dieser Hinsicht nicht so ganz sicher war wie das Zitat in [19] erhellt

[19] bdquohellip Nor is there any distinct division-line to be drawn between tense-systems and derivative conjugations the latter are present-systems which have been expanded into conjugations by the addi-tion of other tenses and of participles infinitives and so on hellip rsquo (Whitney 1889 S 361)

Schlieszliglich hoffe ich daszlig meine Ausfuumlhrungen zu der Einsicht verhelfen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker unter allen Umstaumlnden beruumlcksichtigt und als fruumlhere Forschung betrachtet werden muumlssen genau so wie die Arbeiten von Forschern wie Whitney oder Stump In allen Faumlllen haben wir natuumlrlich nicht nur das Recht sondern die Aufgabe fruumlhere Ansichten kritisch zu betrachten und mdash hoffentlich mdash mit neuen besseren Loumlsungen aufzuwarten Aber eine Vernachlaumlssigung der indischen grammatischen Tradition sollte im Grunde genommen nicht mehr zu rechtfertigen sein

In diesem Zusammenhang waumlre es natuumlrlich fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der indischen grammatischen Tradition hilfreich wenn Werke wie Pāṇinis Grammatik digital in einem geeigneten Format zur Verfuumlgung stuumlnden Zwar gibt es schon mindestens zwei digitale Ver-sionen dieser Grammatik die uumlber GRETIL (Goumlttingen Register of Elec-tronic Texts in Indian Languages httpwwwsubuni-goettingende ebene _ 1fiindologretilhtm) abgerufen werden koumlnnen Wie aber schon angedeutet arbeitet Pāṇini mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen und noch abstrakteren grammatischen Markern die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Dazu kommt daszlig die verschiedenen Regeln (oder Sūtras) thematisch ein-geordnet sind und nicht in der Anordnung in der sie bei bestimmten Formen zur Anwendung kommen Selbst wenn wir die vielen in den obigen Ausfuumlhrungen nicht weiter besprochenen Regeln vernach- laumlssigen (wie zB die fuumlr bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo [s Fn 12]) ist es leicht ersichtlich daszlig die Regeln fuumlr die Bildung der verschiedenen Kausativ-formen weit uumlber Pāṇinis Grammatik verstreut sind So findet sich die Einfuumlhrung des Kausativ-Pratyayas in 3126 und die Definition der resultierenden Formation als Wurzel in 3132 Die Wurzelerweiterung

Hans Henrich Hock78

-p- wird durch 7336 eingefuumlhrt Das auf Wurzel samt Erweiterung folgende Praumlsenssuffix wird auf Grund von 3168 angefuumlgt das Aorist-Suffix nach 3148 die Formation des Perfekts nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Die Reduplikation des Aorists wird durch 6111 festgelegt und weitere Konsequenzen werden in 7493-94 und 741745 behandelt Das -i- der Kausativwurzel wird nach 6452 vor gewissen Suffixen getilgt Und so weiter

Selbst wenn Pāṇinis Grammatik mit guten Indices versehen ist wuumlrde es Nicht-Experten auf diesem Gebiet schwer fallen all diese verschiedenen Regeln ausfindig zu machen und auf die richtige Art und Weise fuumlr die Derivation zusammenzubringen Traditionell ausgebildete Experten vollziehen diese Aufgaben im Kopfe sie haben den ganzen Text nicht nur auswendig gelernt sondern ihn auf solche Weise gespeichert daszlig sie gezielte Suchen durchfuumlhren und die Resultate wiederum im Gedaumlchtnis zusammen- bringen koumlnnen Wie mein Freund und Kollege Madhav Deshpande (Uni-versity of Michigan) berichtet wird dies dadurch ermoumlglicht daszlig das Auswendiglernen der Grammatik in taumlglichen Portionen von je 20 Sūtras stattfindet und die dadurch entstehende Division des Texts in kleinere Subdomaumlnen zur Suche verwendet werden kann Wenn man zB nach einem gewissen Sūtra in sagen wir Buch 3 Kapitel 2 sucht (welches 188 Sūtras enthaumllt) und weiszlig daszlig dieses ungefaumlhr im dritten Viertel zu finden waumlre braucht man nicht muumlhselig die Sūtras vom Anfang des Kapitels durchzusuchen sondern kann sofort auf die Zwanziger-Gruppe in der Naumlhe von Sūtra 140 peilen und diese durchsuchen Falls diese Suche nicht das Richtige erreichte peilt man die unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Zwanziger-Gruppen an Auf diese Weise bei der man die im Gedaumlchtnis gespeicherte Information wie eine Computerdatei behandelt kommt man schnell zum Erfolg

Fuumlr die von uns die einem solchen Auswendiglernen und einer solchen Text- manipulierung nicht gewachsen sind bestuumlnde die beste Annaumlherung an die traditionelle Arbeitsweise in einer relationalen Datei die bei jedem Sūtra Links zu den verschiedenen anderen Regeln bietet die bei der Ableitung anzubringen sind Soweit mir bekannt ist hat der amerikanische For-scher George Cardona 1990-1994 mit seinem damaligen Studenten Peter M Scharf an einem Projekt mit diesem Ziel gearbeitet und der letztere hat als Nachfolgeprojekt eine relationale Datei herausgebracht (Scharf 2001) die uumlber httpsanskritlibraryorg abgerufen werden kann Eine Antwort auf die Frage wie weit diese Datei fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 79

indischen grammatischen Tradition hilfreich sein kann steht meines Wis-sens noch aus

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Hans Henrich Hock University of Illinois at Urbana-Champaign hhhockuiucedu

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Keeping with the Chinese linguistic tradition Chinese writing characters are categorized into six groups by their composition or their development Whereas picto grams and ideograms contribute merely to a small portion of the entire character inventory ideophonograms comprise the substantially large majority of Chinese characters The change in character constitution should shed light on how the Chinese characters pursuing the principle of writing economy have been evolving into a morphosyllabic writing system which bears to a cer-tain extent on the morphosyntactic features of the Chinese language Further-more the gradual remodelling of character forms also exerts influences on the characteristics of Chinese characters The present paper notably outlines the gra pho (no)tactics of character constituents as well as the phonetic connections be tween ideophonograms and their phonetic constituents

0 EinleitungZiel des vorliegenden Aufsatzes ist es einen Uumlberblick uumlber die wichtigsten Zuuml ge der chinesischen Schrift aus dem Blickwinkel der Zeichenbildungs-Mor phologie und -Morphotaktik zu geben Sein Wert duumlrfte weniger in neu en Erkenntnissen bezuumlglich Einzelfragen liegen sondern eher darin dass versucht ist die herkoumlmmliche chinesische Auf fassung von dem Gegen stand aus zeichenmorphologischer Sicht zu vermitteln und dabei gleich zeitig eine feingliedrige Terminologie zu bieten Grundsaumltzlich ist an gestrebt einen moumlglichst repraumlsentativen Querschnitt darzustellen durch den das Wesenhafte im Vordergrund Stehende gut herauskommt

周禮八歲入小學保氏教國子先以六書一曰指事指事者視而可識察而見意上下是也二曰象形象形者畫成其物隨體詰詘日月是也三曰形聲形聲者以事為名取譬相成江河是也四曰會意會意比類合誼以見指撝武信是也五曰轉注轉注者建類一首同意相受考老是也六曰假借假借者本無其事依聲託事令長是也

Dieses Zitat ist ein Auszug aus dem Vorwort zum ersten chinesischen Woumlrterbuch herausgegeben vom Gelehrten Shen Xu im Jahre 100 n Chr Mit diesen Worten erklaumlrt er wie chinesische Schriftzeichen nach ihrer Kom positions methode in sechs Kategorien eingestuft werden sollen

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder82

Im chinesischen Text stellt die eigenstaumlndige SchreibDruck- und Wahr neh-mungs einheit ein Quadrat dar Unabhaumlngig von Anzahl und Anordnung der das Einzelschriftzeichen bildenden Bestandteile und Strichzuumlge wird grund saumltzlich angestrebt bei jedem Einzelschriftzeichen die Form eines an naumlherungs weise quadratischen Rechtecks einzuhalten Dieses Feld nun ist nicht immer voll und gleichmaumlszligig mit Schrift-Elementen ausgefuumlllt doch der Platz bleibt an unbeschriebenen Stellen leer sodass man sich ein un sicht bares Quadratfeld um das Geschriebene herum zu mindest denken kann Beispielsweise ist das Feld des Quadratzeichens 冊 cegrave Band (eines Buches) weitgehend ausgefuumlllt Spaumlrlicher hingegen ist zB die Ausfuumlllung des Zeichenfeldes der Quadratzeichen 一 yī eins und 止 zhǐ bis Ein Quadratzeichen entspricht im gesprochenen Chinesischen der Sprech-sprache also genau einer Silbe Chinesische bdquoWoumlrterldquo (zu bdquoWortldquo siehe weiter unten) bestehen heutzutage haumlufig aus mehreren Silben und werden dann mit einer der Silbenzahl entsprechenden Anzahl Quadratzeichen geschrieben

Die Wurzel morph (gewonnen aus griechisch μορφή bdquoGestaltldquo) ist in der sprach wissenschaftlichen Terminologie von der bdquoGestaltldquo an sich abstrahiert und auf einen gewissen Aspekt der Wort-bdquoGestaltldquo von Sprache uumlbertragen wor den namentlich auf den Bereich von Stamm- und Formenbildung Dar-auf hat man mit der Zeit eine terminologische Sippe aufgebaut Morphem Mor pho logie Morphotaktik usw Diese terminologische Sippe wenden wir im vorliegenden Aufsatz nun wieder auf eine konkrete bdquoGestaltldquo an und zwar auf die Bestandteile der chinesischen Quadratzeichen Im Ge gen satz zu Alphabetsprachen in denen die (ein Morphem bildenden) Buch staben-ketten weitgehend nur eins zu eins den Lautwert abbilden (ein Morphem ent spricht ausdrucksseitig also einer Buchstaben=Laut-Kette) sind die chi ne sischen Strichzugkomplexe wenn sie auch rein schriftgestalterisch ab strakt wirken viel bildlicher und stellen in sich aufteilbare bdquoGestaltldquo-Groumlszligen dar - viel mehr als Buchstaben(ketten) es tun Diese graphischen Kom plexe aus denen chinesische Quadratzeichen aufgebaut sind sind es die wir in diesem Beitrag als unsere bdquoMorphemeldquo ansehen Zur Unterscheidung von sprachlichen bdquoMorphemenldquo im herkoumlmmlichen Sinne nennen wir sie Zeichen morpheme

Ein Zeichenmorphem kann frei oder gebunden sein Ein freies Zeichen-morphem erscheint als eigenstaumlndiges Quadratzeichen das (zumindest) einen festgelegten Lautwert hat Dementgegen dient ein gebundenes Zei-chen morphem ausschlieszliglich als Bestandteil zum Komponieren von Qua-drat zeichen fuumlr ein Zeichenmorphem das heute nur gebunden und nie mals (mehr) frei als Quadratzeichen vorkommt wird im Woumlrterbuch um es sprech-

83Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

sprach lich benennen zu koumlnnen ein behelfsmaumlszligiges Lautbild angegeben das aber ggf von Woumlrterbuch zu Woumlrterbuch variiert Ein Quadratzeichen birgt ein oder mehrere Zeichenmorpheme Ein Zeichenmorphem das einen Kom plex bildet kann immer wieder als Komplex in eine houmlherrangige Qua drat zeichen-Komposition eingebaut werden und zaumlhlt darin als ein ein ziger Bestandteil

Allomorphe sind gemeinhin ausdruckssprachliche Auspraumlgungen eines Morphems In der chinesischen Schrift finden wir auch wenn wir Duktus-Erschei nungen (wie relative Strichdicke oder Zierabschluumlsse an den Strich-Enden) ver nachlaumlssigen und uns auf die Skelettform eines Quadratzeichens (also die allernoumltigsten Strichzuumlge welche die typische Form eines Morphems erken nen lassen) beschraumlnken drei voneinander abgrenzbare Gruppen von Allomorphen eines Zeichenmorphems vor

Ein Vollallomorph ist die unverschlankte Auspraumlgung eines Zeichen-mor phems Bei einem freien Zeichenmorphem tritt sein Vollallomorph in der Regel in Form eines eigenstaumlndigen Quadratzeichens auf zB bei 火 huǒ Feuer In der Komposition mit anderen Zeichenmorphemen bil den Vollallomorphe zwei Arten von Tochter-Allomorphen aus naumlmlich Schrumpf allomorphe und Allomorphkuumlrzel

Schrumpfallomorphe Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Schrumpfallomorph ist die entweder lediglich in der Laumln ge gestauchte oder nur in der Breite gestauchte oder aber ver haumllt nis gerecht ver kleinerte Auspraumlgung eines Vollallo morphs Die Groumlszligen veraumlnde rungen wer den vorgenommen damit das Zeichen morphem zusaumltzlich zu einem oder mehreren ande ren Zeichen morphemen im Quadratfeld Platz finde Vom Voll allomorph 火 huǒ Feu er etwa gibt es ein waagerecht gestauch tes Schrumpfallomorph wel ches im Quadratzeichen 燒 shāo brenn- auf der lin ken Seite unter ge bracht ist Die Form eines Schrumpfallomorphs weicht selten von der seines Voll allomorphs ab houmlchstens wird ein Strich der zB im Vollallomorph waage recht ist im Schrumpfallomorph leicht gekippt Des weiteren be schraumlnkt sich ein Schrumpfallomorph meistens nicht auf eine feste Stel lung in Quadratzeichen das heiszligt es kann an mehreren Posi-tionen im Qua dratfeld auftreten und ist damit mehr-Stellungs-faumlhig

Allomorphkuumlrzel Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Allomorphkuumlrzel stellt eine Auspraumlgung mit veraumlnderter Skelett form dar die aus einem Vollallomorph vereinfacht ist um im Zeichen morpho-tagma eines Quadratzeichens leichter Platz zu finden und besser ver bindbar zu sein So wird zB das aus dem Vollallomorph 火 huǒ Feu er auf vier

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder84

hintereinander folgende kleine Striche zusammengestutzte Allo morph-kuumlrzel unten in das Quadratzeichen 焦 jiāo verbrannt eingebaut Die Form eines Allomorphkuumlrzels weicht immer vom Vollallomorph ab die Gestalt vereinfachung darf nicht nur aus einer (ggf unproportionalen) Ver-kleine rung bestehen sondern mindestens ein Strich im Vollallomorph muss merklich anders gestaltet sein (etwa erscheint er schraumlg statt zuvor waagerecht oder aber er wird ganz weggelassen) Nicht zuletzt erscheint das Allomorphkuumlrzel eines Zeichenmorphems in der Regel immer an ein und derselben Position innerhalb des Schreibquadrates ist damit stellungsstarr

Bei nur-gebunden vorkommenden Zeichenmorphemen ist es nicht sinnvoll zwischen den einzelnen Allomorphgattungen zu unterscheiden

Bestimmte Zeichenmorpheme stufen wir als Grundmorpheme ein Ein Grund morphem ist synchron betrachtet die kleinste Einheit bei der Qua-drat zeichenbildung der im zeichenmorphotaktischen Zusammenhang eine Geltung zugemessen werden kann Ein Grundmorphem laumlsst sich mit hin nicht in kleinere zeichenmorphemische Elemente zerlegen ohne dass es seinen Status verloumlre Aufgebaut ist der Strichzugkomplex des Grund mor-phems aus einem oder einigen (wenigen) Strichen allerdings ist nicht jeder be liebige Strich als Grundmorphem zu werten Im Rahmen der vor liegenden Ana lyse stellt ein (nicht als Grundmorphem zu wertender) Strich (zug) einen Schrift zug dar den wir nicht hinsichtlich seiner Geltung als Grundmorphem defi nieren eine unklassifizierte Verbindung aus Strichzuumlgen nennen wir ent-spre chend Strich(zug)komplex Ein Zeichenmorphem als Bestandteil von Quadratzeichen kann aus einem oder mehreren Grundmorphemen be stehen

Zu beachten sind Abweichungen von Quadratzeichenformen in manchen Rech ner schriften Zum Beispiel birgt das Quadratzeichen 臭 chograveu stin-kend zwei Bestandteile einen oberen und einen unteren Der untere Be stand teil soll ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems 犬 quǎn Hund sein Allerdings fehlt der rechts oben vorhandene Strich die ses Zeichenmorphembestandteils auf faumllligerweise in manchen typo gra-phi schen Auspraumlgungen des Quadratzeichens 臭 chograveu stinkend Damit unter scheidet sich dieser untere Bestandteil nicht mehr vom Schrumpf allo-morph des Quadratzeichens 大 dagrave groszlig Zeichenmorphemisch hat solch eine Abweichung indes nichts zu besagenEine Kultursprache lebt von der Ungebrochenheit ihrer Uumlberlieferung ndash auch ihrer schriftlichen Fixierung Saumlmtliche Quadratzeichen die wir im Text dieses Aufsatzes behandeln weisen die Form der sog bdquoLangzeichenldquo auf Sog bdquoKurzzeichenldquo wie sie ab dem Jahre 1956 bei der amtlichen Schrift-

85Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichenreform in China entstanden sind bzw festgelegt wurden werden im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht beruumlcksichtigt Die hier zur Ver anschaulichung verwendeten Quadratzeichen-Formen sind dem-nach allesamt unvereinfachte Langzeichen Der sprachwissenschaftliche Grund fuumlr diese Handhabung ist folgender Viele zeichenetymologische Zu sammen haumlnge sind in Kurzzeichen verunklaumlrt worden In einer Ab hand-lung wie der vorliegenden welche sich auch mit der geschichtlichen Ent-wick lung von Zeichen und ihrer Morphologie befasst ist es tunlicher ein ein deutigeres System in welchem mehr nuumltzliche Unterscheidungen be wahrt sind als Grundlage zu verwenden

Aus chinesischer Sicht ist ein bdquoWortldquo ein Lautbild (eine Silbe oder ein seman-tisch stark lexikalisiertes Silbensyntagma) welchem als kleinster selbstaumln di-ger Sprach einheit inhaltsseitig ein semantischer oder grammatischer Be griff fest zugeordnet ist Im Unterschied zu synthetischeren Sprachen hat das Chine sische allenfalls Ansaumltze zur Affigierung Beispielsweise fungiert die zwei te Silbe toacuteu Kopf des bdquoWortesldquo shiacute + tou Stein als Suffix zu dem eigen staumlndigen bdquoWortldquo shiacute Stein wobei die Suffixsilbe oft mit Neben ton statt mit dem Hauptton (zu den Toumlnen siehe unten) ausgesprochen wird

Das was der deutschen Wortbildung durch Ableitung und Komposition ent spricht erscheint im Chinesischen weitgehend in die Syntax aus gela gert (bdquoSyn tax-Woumlrterldquo) und kann somit eher mit deutschen Syntagmen ver gli-chen werden Beispiel Obwohl das bdquoWortldquo (die Silbe) 男 naacuten eigen staumln-dig fuumlr Mann stehen kann wird es gewoumlhnlich mit einem zu saumltzlichen bdquoKom positions gliedldquo 人 reacuten Mensch versehen das dergestalt zu sam men-gesetzte bdquoWortldquo (Silbensyntagma) 男人 bedeutet ebenfalls nur Mann wird in vielen Faumlllen aber als deutlicher und passender empfunden Die se Er schei-nung ist im Chinesischen uumlberaus haumlufig In viel ge ringe rem Um fange machen von solchen Ver deutlichungs verfahren auch Spra chen mit aus-gepraumlgter Wort bildung Gebrauch islaumlnd karl maethur (woumlrt lich bdquoMann-Menschldquo d i bdquoMannldquo) neben einfach karl bdquoMannldquo aleinn ne ben einn (bei de bdquoalleinldquo) nord dt Bauch nabel statt Nabel suumlddt Ge baumlud lich keit neben Gebaumlude dt Schwieger mutter statt einfach Schwie ger so dann neben dann got thornata bdquodasldquo ver deutlicht aus thornat mit tels deik tischer Par tikel -a nord bair daringodǝ (woumlrt lich bdquoda-daldquo d i bdquodaldquo) ne ben ein fach daringo bdquodaldquo Fer-ner gibt es im Chine sischen reine Funk tions woumlrter die keine lexi ka lische Bedeu tung tragen und nur gram ma ti sche Aufgaben er fuumlllen Ein gutes Bei spiel hierfuumlr ist die nur-neben to ni ge Fragepartikel 嗎 ma Wenn diese Par tikel am Ende eines Indi ka tiv satzes steht macht sie aus ihm eine Janein-Entscheidungsfra ge

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Als Laut-Umschrift der Schriftzeichen wird im vorliegenden Aufsatz Pin-yin (auch Hanyu-Pinyin genannt) anstatt des IPA (International Pho netic Alpha bet d i das Weltlautschrift-Alphabet der Association pho neacute tique inter nationale) benutzt Das Pinyin-System ist eine amtliche Um setzung der Mandarin-Aussprache in Lateinschrift Obschon Pinyin die Zeichen-phonetik nicht ganz getreu wiedergibt verweist es gewissermaszligen auf die laut lichen Aumlhnlichkeiten Im Pinyin-System werden die vier chinesischen Haupt toumlne folgender maszligen bezeichnet (hier am Beispiel des Vokals a) ā Hochton aacute Steigton ǎ Tiefton agrave Fallton der Nebenton bleibt tran -skrip torisch unmarkiert a

Bei der Behandlung der chinesischen Schrift haben wir es immer auch mit Jahr tausenden schriftlicher Uumlberlieferung zu tun geschriebenes Chine-sisch hat ein starkes Eigenleben entwickelt teilweise losgekoppelt vom ge sprochenen Die Systeme von Sprech- und Schrift-Chinesisch und ihre Inter aktion sind geschichtlich gewachsen sie sind wie alles Mensch-liche unter schiedlich konsistent und damit synchron auch unter schied-lich durch sichtig Beispielsweise lassen sich ehemals eher ab bildungs haft ge meinte Aussagen nur grobmaschig klassifizieren wenn wir ein in duk tiv er worbenes theoretisches Raster uumlber den Ist-Zustand legen wir koumlnnen dann nur versuchen die Zahl der bdquoAusreiszligerldquo niedrig und damit die Ein schlaumlgigkeit der Regeln hoch zu halten Wo unsere Betrachtung die hi storische Tiefe behandelt verwenden wir bei Bedarf folgende Sym bole um zu kennzeichnen ob und wie eine bestimmte Groumlszlige in der heu tigen Spra che verwendet wird das Symbol Dagger bezieht sich auf eine Groumlszlige die heute auszliger Gebrauch ist und dagger auf eine welche heute veraltet ist Die Sym bole stehen hochgestellt unmittelbar vor der Groumlszlige auf die sie sich be ziehen

Im Abschnitt uumlber die Zeichenkategorisierung wird der Anteil einer Qua-dratzeichen-Kategorie am Gesamtinventar der Quadratzeichen durch Prozentzahlen angegeben Wuumlrde man die Anteile nach der Vorkommens-haumlufigkeit in Texten rechnen (das heiszligt bei 100 gedruckten Zeichen entfallen soundsoviel Prozent auf diese Kategorie) so saumlhen die Zahlen anders aus

Im Folgenden wird der Aufbau chinesischer Schriftzeichen vorgestellt und zwar ausgehend von den in China traditionell geltenden sechs Kategorien (Ab schnitt 1) Waumlhrend Piktogramme und Ideogramme lediglich einen klei nen Teil des gesamten Quadratzeichen-Inventars ausmachen stellen Ideo phono gramme die groszlige Mehrheit Ideophonogramme verkoumlrpern die we sent lichen zeichenmorphologischen Merkmale chinesischer Quadrat-zei chen aus diesem Grunde betrachten wir ihre Besonderheiten etwa die Laut-Bestandteil-Entsprechung ausfuumlhrlicher (Abschnitt 4) Der Wandel

87Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

der Quadratzeichenbildung (Abschnitt 2) soll einen Einblick vermitteln wie sich die chinesische Schrift im Laufe der Zeit nach dem Prinzip der Schrift-oumlko nomie immer mehr zu einem morphosyllabischen System entwickelt das wiederum mit den morphosyntaktischen Merkmalen der chinesischen Spra che in Wechselwirkung steht Die allmaumlhliche Wandelung der Zeichen-formen uumlbt ebenfalls Einfluss auf die Charakteristika chinesischer Schrift-zeichen aus (Abschnitt 3) Schlieszliglich streifen wir noch die Kombinatorik von Zeichenmorphemen in Quadratzeichen (Abschnitt 5) die Mehr-Zeichen-Komposita sowie einige Eigenschaften des morphologischen Auf-baus chinesischer Texte (Abschnitt 6)

1 Die traditionellen Kategorien In der chinesischen Uumlberlieferung werden die Schriftzeichen nach den Qua drat zeichen-Bildungsarten in folgende sechs Kategorien eingeteilt (in Klam mern stehen Bezeichnungsalternativen)

(1) 象形 = Piktogramme (Bildzeichen)

(2) 指事 = Einfache Ideogramme (Hinweis-Zeichen Indikatoren)

(3) 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

(4) 形聲 = Ideophonogramme (pikto-phonetische Zeichen Determinativ-Lautelement-Zeichen Form-Laut-Zeichen)

(5) 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen (Ableitungszeichen synonyme Zeichen Wandelzeichen)

(6) 假借 = Lautentlehnungszeichen (Leihzeichen Homonyme)

Unsicherheit herrscht bei den Sprachforschern daruumlber ob die Kategorie bdquoana logisch derivierte Quadratzeichenldquo uumlberhaupt bestehe In der folgenden nauml heren Schilderung der traditionellen Kategorien sei sie daher uumlbergangen

11 象形 = Piktogramme

Piktogramme stammen aus urtuumlmlich-einfachen Schriftzeichen die da durch zu stande gekommen sind dass man die aumluszligere Form von in der Wirk lich-keit vor handenen Objekten nachbildete Piktogramme bestehen aus nur ei nem einzigen Grundmorphem und gehoumlren zu der aumlltesten Schicht der (Qua drat-)Zeichen Ihr Anteil an allen Quadratzeichen macht zwischen 2 und 4 aus

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(7) 日 rigrave Sonne urspruumlnglich ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte ndash als Abbild der Sonne

(8) 月 yuegrave Mond urspruumlnglich Abbild eines Halbmondes

(9) 耳 ěr Ohr urspruumlnglich ohraumlhnlich gezeichnet

An den angefuumlhrten Beispielen wird schon deutlich dass diese Piktogramme heut zutage als bdquonaturalistischeldquo Bilder keinen groszligen Aussagewert mehr be sitzen im Piktogramm (7) 日 rigrave Sonne zB laumlsst sich auch bei gutem Wil len keine abgebildete Sonne mehr erkennen Die urspruumlnglichen (Vor gaumlnger-)Formen solcher Quadratzeichen hatten hingegen diesen Er kennungs wert haumlufig noch er ist im Laufe der Zeit durch die verschiedenen Standardisierungen der Zeichenschreibung verunklaumlrt worden

12 指事 = Einfache Ideogramme

Mit einfachen Ideogrammen sind solche Quadratzeichen gemeint die nicht leicht zu malende Dinge oder Sachverhalte symbolisieren Ihr Anteil am Qua drat zeichen-Inventar belaumluft sich auf 05 bis 1

(10) 上 shagraveng oben Urspruumlnglich war dieses Ideogramm recht durch-sichtig aus zwei waagerechten Strichen gestaltet wobei der untere Strich die Bezugsgrundlage bildet und der obere kuumlrzere aumlhnlich einem Zeige pfeil den Hinweis gibt worauf es ankommt auf bdquoobenldquo naumlm lich Der senkrechte Strich ist spaumlter hinzugefuumlgt worden

(11) 下 xiagrave unten nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie (10) Hier ist der Hinweisstrich nur etwas gekippt

(12) 本 běn Wurzel nimmt als Bezugsgrundlage das Allomorph des vor handenen Piktogramms 木 mugrave das urspruumlnglich einen DaggerBaum ab bil dete und heute fuumlr Holz steht Der kleine horizontale Strich unten weist auf diejenige Stelle des Baums hin an welcher sich die Wurzel befindet

(13) 末 mograve Ende urspruumlnglich ein Abbild fuumlr DaggerWipfel Dieses einfache Ideo gramm wurde nach dem gleichen Prinzip gebildet wie das einfache Ideo gramm (12) 本 běn Wurzel nur dass der Hinweisstrich oben steht wo der Baum zu Ende ist

Die einfachen Ideogramme bestanden urspruumlnglich aus zwei Bestand teilen der Bezugsgrundlage und dem Hinweis Waumlhrend der Bezugs grundlage-Bestand teil ein vorhandenes Zeichenmorphem warist bestandbesteht der Hinweis-Bestandteil meist aus einem kleinen Strich der nur gebunden vor-

89Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

kommt Bei manchen einfachen Ideogrammen wie (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave unten sind die zwei Bestandteile (zum Teil durch Umge-stal tung) dermaszligen zu einer Einheit zusammengeschmolzen dass das ganze Quadratzeichen heute eher als ein unauftrennbares Grund mor phem wahr genommen wird Unterstuumltzt wird diese Wahrnehmung dadurch dass wenn man aus den Quadratzeichen (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave un ten den Hinweisstrich tilgt und nur den uumlbrigbleibenden Strich zug-komplex betrachtet dieser heutzutage anderweitig nicht mehr als Zei chen-morphem vorkommt ndash weder frei noch gebunden die ehemalige Ab trenn-moumlglich keit ist synchron mithin verdunkelt

Demgegenuumlber ist der Bezugsgrundlage-Bestandteil bei anderen einfachen Ideo grammen leichter als abtrennbar zu erkennen weil er auch in der Gegen-wart immer noch anderweitig als eigenes Zeichenmorphem er scheint Bei-spiels weise wird der Bezugsgrundlage-Bestandteil in (12) 本 běn Wurzel und (13) 末 mograve Ende naumlmlich das Allomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum auch im gegenwaumlrtigen Gebrauch als freies Zeichen morphem fuumlr Holz verwendet So kann der Kenner des Systems auch synchron der lei einfache Ideogramme in zwei Zeichenmorpheme zer legen den Bezugs-grund lage-Bestandteil (ein frei vorkommendes Zeichen morphem 木 mugrave DaggerBaum in Form seines gebundenen Allomorphs) und den Hinweis-Be-stand teil (den Hinweisstrich als ein nur-gebundenes Grund morphem)

13 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

Durch (gestalterisch aufeinander abgestimmte) Zusammenfuumlgung zweier oder mehrerer bereits vorhandener Zeichenmorpheme zu einem neuen Qua drat zeichen wird ein Ideogramm mit neuer Bedeutung erzeugt Die zu sammen gesetzten Ideogramme bestehen also saumlmtlich aus mehr als nur einem Grundmorphem Jedes Zeichenmorphem als Bestandteil hat seine ei gene Bedeutung (oder hatte sie zumindest zum Zeitpunkt der Zeichen bil-dung) der neue Sinn der sich durch ihre Verbindung ergibt steht in einem Zu sammen hang mit diesen Einzelbedeutungen Bildeweise und Herleitung sind fuumlr heutige Chinesen allerdings nur noch bedingt durchsichtig

In Sprachen mit ausgepraumlgter Wortbildung koumlnnte man diese Zei chen art mit den Wortbilde-Verfahren Komposition oder ggf Ableitung ver glei chen es las sen sich auch bei den Bezuumlgen der Einzelglieder unter ein an der ver-gleich bare Ein teilungen vornehmen Iterativkomposita Deter mi na tiv kom-posita usw Die Angaben zum Anteil zusammengesetzter Ideo gram me am Qua drat zeichen-Gesamtbestand schwanken zwischen 3 und 12

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(14) 牧 mugrave Hirte zeigt links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 牛 niuacute Rind und rechts das Schrumpfallomorph des nur gebunden vor kom menden Grundmorphems 攵 pū Hand mit Stock dh bdquoein Mensch der Rinder beaufsichtigtldquo

(15) 信 xigraven glaub- weist links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 人 reacuten Mensch auf und rechts das Schrumpfallomorph des Ideophonogramms 言 yaacuten Wort dh bdquoein Mensch der sein Wort haumlltldquo

Mit der Bildeweise von (14) und (15) vergleichen lassen sich im Deutschen Kompositionen wie Stein+bruch oder Riesen+schlange im Franzoumlsischen cure-dents (woumlrt lich bdquoPutz-[die]-Zaumlhneldquo d i bdquoZahnstocherldquo) aller dings sind im Deutschen und Franzoumlsischen die Bestandteile viel staumlrker hinsichtlich des Phaumlnomens bdquoWort artldquo ausgerichtet als im Chinesischen

(16) 武 wǔ Militaumlr besteht unten links aus einem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 止 zhǐ das urspruumlnglich fuumlr DaggerFuszligabdruck stand und heute fuumlr aufhoumlr- steht und rechts aus einem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 戈 gē Hellebarde dh bdquoein durch einen Fuszligabdruck sym bolisierter Soldat der mit einer Waffe dastehtldquo

In der Bildlichkeit vergleichbar mit (16) waumlren im Deutschen etwa Bildun-gen wie Waffen+bruder oder Feuer+wehr Bei einer spaumlteren Normierung der Qua drat zeichenform des zusammengesetzten Ideogramms 武 wǔ Mili taumlr wur de der untere von rechts oben nach links unten gezogene Di agonal strich des vom Piktogramm 戈 gē Hellebarde abgeleiteten Al lo morph kuumlr zels aus gekoppelt und als kuumlrzerer waagerechter Strich an die obere lin ke Ecke des Ideogramms 武 wǔ Militaumlr uumlber geschrumpftes 止 zhǐ auf houmlr- ge stellt Dies ist eine Form der Ligaturbildung wie sie auch in Al pha bet schrif ten vorkommt etwa in Lateinschrift ltAgt + ltEgt zu ltAEliggt in Suumltterlin lt $ gt bdquocldquo + lt h gt bdquohldquo zu lt c gt bdquochldquo oder in Devanāgarī ltकgt bdquoka ldquo + ltषgt bdquoṣa ldquo zu ltकषgt bdquokṣa ldquo Sol che gestalterische Aufeinander-Abstimmung ist in der Sprech spra che den Similations-Erscheinungen (AssimilationDissimi la tion) vergleich bar(17) 休 xiū ausruh- enthaumllt links das Allomorphkuumlrzel des Pikto-

gramms 人 reacuten Mensch und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum dh bdquojemand der an einen Baum ge lehnt sitzt und rastetldquo

(18) 林 liacuten Wald ist durch Iterativkomposition entstanden Das Schrumpfallomorph des Piktogramms 木 mugrave Holz das urspruumlnglich fuumlr DaggerBaum stand wird ikonisch gedoppelt

91Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Nach demselben Prinzip wie in (18) ist das zusammengesetzte Ideogramm 森 sēn Urwald entweder durch ikonische Verdreifachung gebildet oder aber durch Komposition aus dem Schrumpfallomorph des schon verdop-pelten Zei chen morphems 林 liacuten Wald mit dem Schrumpfallomorph des ein fachen Piktogramms 木 mugrave DaggerBaum Im Deutschen lassen sich Iterativkomposita wie wort+woumlrt+(lich) vor+vor+(gestern) oder Sing+sang vergleichen vom Begriffsinhalt her auch eine Bildung wie kohl+pech+raben+schwarz in welcher alle Glieder gleicher maszligen fuumlr den Inhalt dunkel stehen ohne indes etymologisch mit einander verwandt zu sein

14 形聲 = Ideophonogramme

In den bisherigen drei Kategorien traumlgt der Gesamtkomplex jedes Quadrat-zei chens zugleich Lautung und Sinn Man muss also die Lau tung des Qua-drat zeichens als solche einmal ganz neu lernen durch keinen Be stand teil er haumllt man einen Hinweis auf sie Piktogramme und einfache Ideo gramme sind Mono morphe zusammengesetzte Ideo gram me sind Di- oder ggf Poly-morphe die in bezug auf ihre Zeichen morpheme homo gen sind Die Sache ver haumllt sich aumlhnlich wie in Alphabet schriften in denen oft Bestand teile mit vergleich barer inhaltlicher Geltung zu Di- bzw Poly gra phen zusam-men gestellt werden die als Gesamtheit dann eine aumlhn lich ge artete neue Geltung bekommen So ist zB der einen einzigen Laut be zeich nende rus-sische Digraph ltльgt [ʎ] als Ein heit zu verstehen und um fasst zwei gleicher-maszligen auf die Laut ebene abzie lende Bestand teile naumlm lich ltлgt [l] und ltьgt (Pala talitaumlts anzeiger) der artige Komplexe nei gen be son ders zu graphi scher Ligierung ltлgt + ltьgt zu ser bisch ltљgt

Diese Homo genitaumlt der Bestandteile wird verlassen wenn sich die zu Di- oder Poly gra phen bzw -morphen zusammengestellten Ele men te nicht mehr auf die selbe Ebene beziehen sondern auf unterschiedlich gear tete Ebe nen ab zie len so bewegen sich in alphabetischer Schreibung Zeichen wie ltgt ltsectgt oder lt5gt jenseits der Lautebene und dienen als Ideogramme fuumlr ihren Be griff Und in der chinesischen Schrift ist es so dass dimorphe Qua drat-zeichen aus heterogenen Zeichenmorphemen deren eines auf die Laut ebene deren an deres auf die Begriffsebene abzielt die Regel bilden Es handelt sich um die sog Ideophonogramme Diese beinhalten wie der Name schon sagt ein Zeichen morphem das auf die Lautung des Quadratzeichens ver weist (Laut traumlger) neben einem das auf den Begriff verweist (Sinntraumlger)

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(19) 吐 tǔ ausspuck- birgt links das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 土 tǔ Erdreich als Lauttraumlger

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des Ideo phono gramms 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach als Laut traumlger

Man sieht hier an beiden Zeichenmorphemen die als Kompositions glie der des Ideophonogramms (20) dienen dass bei dieser Quadratzeichen bil dung wieder um anderweitig und mit anderer Geltung (Lautentlehnungs zei-chen) ent standene Komplexe mit neuer Aufgabe als Zeichenmorpheme in ein neu zusam men gesetztes Quadratzeichen eingegliedert werden koumln nen auch ein be reits bestehendes Ideophonogramm kann von seiner Gel tung als Ideo phono gramm freigestellt und als sinntragender (oder in anderen Faumll-len als laut tragender) Komplex in ein neues Ideophonogramm eingebaut werden

(21) 照 zhagraveo schein- zeigt unten das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 火 huǒ Feuer als Sinntraumlger und oben das Schrumpfallomorph des be reits bestehenden Ideophonogramms 昭 zhāo offenkundig als Laut traumlger

Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist ein Ideophonogramm zeichen-morpho taktisch analysiert bei Aufteilung ersten Ranges zunaumlchst aller-mei stens in zwei erstrangige Zeichenmorpheme zu zerlegen einen Sinn- und einen Lauttraumlger Das sinntragende Zeichenmorphem gibt einen vagen Hin weis auf die Bedeutung und das lauttragende Zeichenmorphem auf die Lautung des Quadratzeichens Des oumlfteren dient ein Zeichenmorphem als Sinn traumlger in mehreren Ideophonogrammen deren jeweilige Gesamt be deu-tung mit der Bedeutung des als freies Quadratzeichen vorkommenden Sinn-traumlgers zusammenhaumlngt man koumlnnte hier von bdquoBegriffssippeldquo sprechen Beispiels weise ist das Piktogramm 手 shǒu Hand ein Zeichenmorphem welches in etlichen Ideophonogrammen die fuumlr Handbewegungsarten stehen als Kompositionsglied dient und dort den Sinntraumlger darstellt

Alle Zeichenmorpheme koumlnnten theoretisch als Lauttraumlger eines Ideo-phono gramms fungieren Beim Ideophonogramm (19) 吐 tǔ ausspuck- ist der Lauttraumlger naumlmlich 土 tǔ Erdreich ein Piktogramm das ei nen Erdklumpen auf dem Felde abbildete Wie erwaumlhnt laumlsst sich auch ein Ideophonogramm als Lauttraumlger in einem anderen komple xe-ren Ideophonogramm einsetzen Beim Ideophonogramm (21) 照 zhagraveo

93Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

schein- ist der Lauttraumlger naumlmlich das freie Zeichenmorphem 昭 zhāo offen kundig schon an sich ein Ideophonogramm Das Ideophono gramm 昭 zhāo offenkundig besteht links aus dem Schrumpfallo morph des Piktogramms 日 rigrave Sonne als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf-allomorph eines Ideophonogramms 召 zhagraveo be or der- als Laut traumlger Das Ideophonogramm 召 zhagraveo beorder- weist unten das Schrumpf allo morph des Piktogramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und oben das Schrumpf-allomorph des Piktogramms 刀 dāo Messer als Lauttraumlger auf

Betrachtet man ein und dasselbe Zeichenmorphem in mehreren Ideo phono-grammen in denen es als Lauttraumlger vorkommt so erweist sich der Lau-tungs hinweis haumlufig als recht unzuverlaumlssig (siehe weiter unten) Alle Lau-tungen fuumlr die ein Lauttraumlger stehen kann koumlnnte man als dessen bdquoLau-tungs sippeldquo oder bdquoLautungsbuumlndelldquo bezeichnen Die Ideophonogramm-Bil dung ist mit 80 bis 90 die mit Abstand haumlufigste Quadratzeichen-Bilde weise

15 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen

Diese umstrittene Gruppe wird wie eingangs erwaumlhnt hier uumlbergangen

16 假借 = Lautentlehnungszeichen

Anteil an allen Quadratzeichen ca 36 Die chinesische Schrift befand sich jetzt in einer Entwicklungsphase in der zwar Quadratzeichen fuumlr kon krete Dinge im Alltag zur Verfuumlgung standen kaum jedoch solche fuumlr Ab strak tes Nun ergab sich die Moumlglichkeit ein bereits existie ren des Qua-drat zeichen fuumlr eine etwas ganz anderes bedeutende zufaumlllig homo phone Sil be der Sprechsprache zu verwenden Solche Analogien sind ja auch auf an derer Ebene uumlblich etwa wenn man im Deutschen ltMausgt nicht nur fuumlr die Maus (als Tier) verwendet sondern auch fuumlr die Rechner maus Aus heu tiger Sicht stellen diese rein lautungsbedingt ent lehnten Quadrat zeichen im chine sischen Schriftsystem eine Verbindung zur Laut um schrift oder zu Alphabet schriften dar (denn auch dort werden ja gleiche Lautbilder durch gleiche oder aumlhnliche Schriftbilder wiedergegeben) Besonders haumlufig nutzt das Chine sische diese Hand habung bei Funk tions woumlrtern und Ab strakta Die Zahl der Funk tions woumlrter ist zwar absolut nicht besonders groszlig er freut sich jedoch hoher Vor kommens haumlufigkeit und solche Woumlrter waumlren sonst in der chine si schen Schrift schrei be risch schwer dar zustellen Wenn in der Sprech sprache zwei homo(io) phone Silben vor liegen eine mit kon kreter und eine mit ab strak ter Be deutung und ein Qua drat zeichen fuumlr die Silbe

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mit konkreter Bedeu tung aber keines fuumlr die mit ab strak ter Bedeutung zur Ver fuumlgung steht so wird gern das vor han dene Qua dratzeichen der erste ren Silbe fuumlr die letztere Silbe ent lehnt

(22) 其 war urspruumlnglich piktographisches Abbild einer DaggerSchaufel steht heu te aber fuumlr ein Pronomen der 3 Person mit der Lautung qiacute

Fuumlr Schaufel wird heutzutage das Ideophonogramm 箕 jī geschrieben das oben das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 竹 zhuacute Bambus als Sinn traumlger und unten das Schrumpf allomorph des seinerseits ein Laut-entlehnungs zeichen darstellenden 其 qiacute Pronomen der 3 Person (siehe hier oben) als Laut traumlger aufweist

(23) 孚 fuacute uumlberzeug- stellte urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideo-gramm dar das mit dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 爪 zhuǎ Klaue oberhalb des Schrumpfallomorphs des Piktogramms 子 zhǐ Kind die Bedeutung DaggerGeisel hatte

Fuumlr Geisel wird heute das gleichlautende Ideophonogramm 俘 fuacute ge schrieben das links aus dem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 人 reacuten Mensch (Sinntraumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Laut-ent lehnungs zeichens 孚 fuacute uumlberzeug- als Lauttraumlger besteht

(24) 須 xū muumlss- war urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideogramm fuumlr DaggerBart wobei links drei Haare abgebildet durch das heute nur-ge bundene Grundmorphem dagger彡 shān auf einem urspruumlnglich durch das Schrumpfallomorph des Piktogramms 頁 yegrave Seite be zeichneten DaggerGesicht sprieszligen

Fuumlr Bart wird heute das homophone Ideophonogramm 鬚 xū geschrie-ben das bei Aufteilung erstes Ranges oben in das Schrumpfallo morph des zu sam mengesetzten Ideogramms dagger髟 biāo Zottelhaar und unten in das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 須 xū muumlss- auf zu-tren nen ist Gebildet ist das Ideogramm dagger髟 biāo Zottel haar durch eine Zu sammensetzung welche links das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 長 chaacuteng lang das urspruumlnglich eine Person mit langen Haaren ab bildete enthaumllt und rechts das gebundene Grundmorphem dagger彡 shān HaareIm gegenwaumlrtigen Gebrauch werden Lautentlehnungszeichen die auf die oben genannte Weise zustande gekommen sind (fast) ausschlieszliglich fuumlr Funk tionswoumlrter benutzt waumlhrend im Laufe der Zeit ausdrucks seitig neue Qua dratzeichen fuumlr die urspruumlnglichen inhaltsseitigen Sinneinheiten dieser ent lehnten Quadratzeichen geschaffen worden sind Man koumlnnte hier von bdquoHomo morphie-Fluchtldquo sprechen

95Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Der Lautentlehnung bedient man sich ferner wenn man bdquoFunktionssilbenldquo nieder schreiben will Aus rhythmischen Gruumlnden haumlngen chine sische Mutter sprachler oft an ein einsilbiges bdquoWortldquo eine zusaumltzliche Silbe an das ist einerseits euphonisch bedingt (wie vielleicht im Deutschen syn chron ge sehen -en- in Sternenhimmel oder -e- Schweinefleisch) zum an dern bdquofuumlt ternldquo solche Silben die phonetischen Wortkoumlrper bdquoaufldquo erweitern (und ver deutlichen dadurch) Silben zu Silbensyntagmen (im anderen Sprachen lie szlige sich vielleicht die Erweiterung sehr kurzer bzw im Laufe der Sprach-ent wicklung kurz gewordener Woumlrter wie mhd ucircr zu nhd Auer ochs oder von Aar zu Adler (mhd ar bzw adel-ar) ver glei chen ggf auch mittels suffi xaler Stammbildungserweiterung wie anord ey zu nisl eyja beide bdquoInselldquo) Zum Beispiel bezeichnen Chinesen heute sprechsprachlich einen Stuhl sel ten mit dem einsilbigen bdquoWortldquo yǐ Stuhl sondern in der Regel mit dem Zwei-Silben-Syntagma yǐ + zi die zusaumltzliche verdeutli chende Sil be wird meistens mit einem Nebenton (siehe Einleitung) ausgespro chen Nach dem Prinzip dass 1 Silbe mit 1 Quadratzeichen geschrieben werden soll (siehe unten) schreibt man fuumlr das nun zweisilbige Silben syntagma dann auch zwei Quadratzeichen hin Dabei fragt es sich freilich welches Qua drat zeichen man denn fuumlr diese zusaumltzliche bdquoAuf fuumltterungs-Silbeldquo schreiben solle Fuumlr die hinzugefuumlgte Silbe sucht man ein Quadrat zeichen aus dessen Lautung dieselbe Silbe haupttonig darstellt und ent lehnt dieses dann fuumlr die Wiedergabe der Silbe des (Quasi-)Suffixes in diesem Fall das Qua dratzeichen des homoiophonen Piktogramms 子 zǐ Kind Fuumlr das Silben syntagma 椅子 Stuhl werden somit folglich zwei Quadrat zeichen das Ideophonogramm 椅 yǐ Stuhl und das Laut ent lehnungs zeichen 子 zi als ein Quasisuffix geschrieben

Bei dieser Handhabung hat man theoretisch sehr viele Wahlmoumlglich kei ten und wiederum ist es eine Frage der Eingebuumlrgertheit welche Silben zeichen wann und wie Verwendung finden Dieselben Fragen tauchen uumlbrigens auf wenn fremde Namen und bdquoFremdwoumlrterldquo im Chinesischen geschrie ben wer-den sollen aber auch dann wenn in Film-Untertiteln die zahl rei chen zu saumltz-lichen Silben umgangssprachlicher Sprechsprache wiederzugeben sind

2 Zur Entwicklung der SchriftzeichenbildungDie ersten Versuche der Chinesen Erinnerungen festzuhalten bestan den darin dass sie in Stricke aus Pflanzenfasern Knoten knuumlpften und sich so eine Art Kalender schufen Spaumlter werden es Einkerbungen auf Holz bret-tern (bdquoKerb houmllzernldquo) gewesen sein die Ernten oder andere Ereignisse fest-

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder96

hiel ten Noch spaumlter wurden mit Holz Steinen oder Knochen bestimm te Zei chen (noch keine bdquoSchriftldquo-Zeichen) in Ton eingeritzt

Bis 3000 v Chr benutzten die Chinesen zunaumlchst einfache Zeichen die ihnen als Gedaumlchtnisstuumltzen dienten Auf ausgegrabenen roten Ton-scher ben erscheinen zwei Arten von Schriftzeichen Die einfach sten sind wahrscheinlich Zahlzeichen andere kompliziertere Schrift zeichen be deuten wohl Namen von Sippen oder Staumlmmen In der Folge wur den Zeich nungen verwandt die konkrete Gegenstaumlnde aus der Umge bung bild-lich darstellen sollten also Piktogramme

Allein mit Piktogrammen fuumlr die leicht abzubildenden Gegenstaumlnde der greif baren Wirklichkeit ist noch kein vollwertiges Schriftsystem entstan-den Ein solches Schriftsystem muss nicht nur uumlber Namen fuumlr kon krete bzw konkret abzubildende Dinge verfuumlgen sondern bedarf daruumlber hin aus gra phischer Ausdrucksmoumlglichkeiten etwa fuumlr Eigenschaften Beziehun gen Bewe gungen Vorstellungen usw Dieser Zweck dem jedes Schrift system ge nuumlgen muss ist in der chinesischen Schrift wahrscheinlich erstmals von den einfachen Ideogrammen erfuumlllt worden

Piktographie und Ideographie zeitigen einfache sprechsprachlich mehr-deutige Schriftzeichen phonologisch-phonetische Aspekte spielen beim Auf bau des Zeicheninventars noch keine Rolle Das ist bdquozeichen wirt schaft-lichldquo betrachtet ein Mangel Tausende von Schriftzeichen fuumlr neu entstan-dene bdquoWoumlrterldquo (Inhalte und ausdrucksseitig zugeordnete Lautbilder) nicht nur zu schaffen sondern auch im Kopfe zu behalten ist dermaszligen unprak-tisch dass die Schrift entweder nur als sehr beschraumlnktes System ange wandt werden koumlnnte oder aber so geschmeidig gestaltet werden muumlsste dass sie in der Lage waumlre sich zu einem brauchbaren System zu ent wickeln Um dieses Pro blem in den Griff zu bekommen mussten die graphische und die laut liche Sei te der verfuumlgbaren Schriftzeichen rekursiv mitein ander ver-knuumlpft werden

Die Methode der ideographischen Zusammensetzung schafft neue Qua drat-zeichen ohne indes das Zeichenmorphem-Inventar der Schrift zu ver meh-ren Dieses Verfahren bezieht die graphische Seite der Schriftzeichen eben so wie ihre Bedeutung mit ein wie die Gestalt des neuen Schriftzeichens sich aus den Gestalten seiner Bestandteile (bereits fertiger Zeichen mor-pheme) er gibt so ergibt der Sinn eines neu zusammengesetzten Ideo-gramms sich aus der Verbindung der Bedeutungen seiner Bestandteile Die Laut seite der Zeichenmorpheme spielt hier wie gesagt noch keine Rolle Durch ideo graphische Komposition entstehen also weiterhin Schrift-

97Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichen welche noch keinerlei Hinweis auf die Lautung der bezeichneten bdquoWoumlrterldquo liefern Dieses Verfahren bietet noch immer nicht die (Zeichen-anzahl-beschraumlnkenden und Aussprache-andeutenden) Vorteile welche durch Einbezug einer ausspracheabhaumlngigen Komponente (zB eines lautungs andeutenden Zeichenmorphems) moumlglich werden

Aus diesem Grunde bemuumlhte man um den Schriftzeichenbestand aus zu-bau en schlieszliglich auch die Lautseite Die einfachste Methode die Laut sei te zu nutzen ist bekanntlich die homographische Schreibung homo(io) pho-ner Silben mit unterschiedlicher Bedeutung (zB Silbe A und Silbe B) Da mit isoliert man die graphische Form des Schriftzeichens von der pri-maumlr zuge ord neten Bedeu tung A der Silbe lehnt dann das inhaltlich bdquoent-kop pelteldquo Schrift zeichen an eine homophone Silbe mit Bedeutung B fuumlr die noch kein Schriftzeichen zur Verfuumlgung steht an Was auf der Aus-sprache-Ebene aumlhnlich ist wird auch auf der Zeichengestalt-Ebene aumlhnlich dar gestellt ndash unabhaumlngig vom Inhalt

Diese Methode die sog Lautentlehnung vermehrt nicht den Bestand chine-si scher Schriftzeichen In dieser Hinsicht stufen die heutigen chinesi schen Zeichen morphologen sie weniger als Quadratzeichen-bdquoBildungldquo ein son-dern eher als Quadratzeichen-bdquoVerwendungldquo Des weiteren bringt die Laut-ent lehnung bei der Entwicklung des chinesischen Schriftsystems ein anderes Problem mit sich Durch die Lautentlehnung kann ein Schriftzeichen bei gleich bleibendem Lautwert semantisch doppelt oder mehrfach besetzt sein Fuumlr die Enkodierung der Bedeutungen und die Wiedergabe der Laute in der Sprache (bdquodas Schreibenldquo) ist diese Methode zweifellos effizient Fuumlr die De ko dierung der Bedeutungen (bdquodas Lesenldquo) stellt die semantisch mehrfache Be setzung eines Qua dratzeichens jedoch eine enorme Belastung dar Auch in der deutschen Rechtschreibung sind deshalb in vielen Faumlllen Homo phone graphisch geschieden Wagen und Waagen arm und Arm usw

Wenn das entlehnte Schriftzeichen in seiner urspruumlnglich zugeordne-ten Be deutung A der Silbe weiterhin in der Sprache vorkommt dh nicht ungebraumluchlich geworden ist dann wetteifern ja beide Bedeu-tun gen nicht nur sprechsprachlich mit dem Lautbild der Silbe sondern nun auch schreibsprachlich mit dem Schriftzeichen Die Lage wird dann oft wie der vereindeutigt indem man das Schriftzeichen auf die sekun-daumlre Silben-Bedeutung B einschraumlnkt und fuumlr die primaumlr zugeordnete Silben-Bedeutung A ein zusaumltzliches Zeichenmorphem in das Schrift-zeichen einfuumlgt um es so von seiner Lehnnehmerform mit der sekundaumlren Bedeutung B zu unterscheiden (Homomorphie-Flucht)

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(25) Das Lautentlehnungszeichen 北 Norden běi stellt urspruumlng lich das zu sammengesetzte Ideogramm fuumlr DaggerRuumlcken dar Heute steht es aus-schlieszlig lich fuumlr Norden

Das Quadratzeichen 北 war urspruumlnglich das zusammenge setzte Ideo-gramm fuumlr DaggerRuumlcken welches zwei Personen Ruumlcken an Ruumlcken zeig te Da die gesprochenen Silben begravei fuumlr Ruumlcken und běi fuumlr Nor den aumlhn liche Lautbilder aufweisen wurde fuumlr die Verschriftlichung der Silbe des schwer lich zeichnerisch darzustellenden Abstraktums běi Nor den das zusammengesetzte Ideogramm 北 DaggerRuumlcken entlehnt Nun hatte das Schrift zeichen 北 zeitgleich zweierlei Bedeutungen die pri maumlre Be deu tung war DaggerRuumlcken und die sekundaumlre Norden Um die zwei Bedeu tungen im schriftlichen Text zu differenzieren wurde spaumlter ein neues Schrift zeichen 背 begravei fuumlr die primaumlre Bedeutung Ruumlcken gebil det und zwar ist dieses neue Ideophonogramm 背 begravei Ruumlcken da durch zu stan de gekom men dass das freie Zeichenmorphem 北 běi (Laut traumlger) un ten um das Allo-morph kuumlrzel des Pikto gramms 肉 Fleisch im Sinne von mensch licher Koumlr per (Sinn traumlger) vermehrt wurde Das Laut ent leh nungs zeichen von 北 běi steht in dem neuen Synchron-Zustand aus schlieszlig lich fuumlr die sekun-dauml re Bedeutung Norden fuumlr die pri maumlre Be deu tung Ruumlcken wird heu te nur noch das Ideophonogramm 背 begravei geschrieben

Die Anwendung der Entlehnungsmethode war fuumlr das chinesi sche Schrift-system der Wendepunkt von einer lediglich die Erinne rung stuumlt zenden Bilderschrift zu einer brauchbaren logosyllabischen Schrift Mit fort-schreitender gesellschaftlicher Entwicklung und der Vertiefung von Wahr-neh mung und Praxis mussten mehr und mehr Dinge und Sach ver halte verfeinert bezeichnet werden Um diesen Beduumlrfnissen gerecht zu werden hat man ndash wiederum mithilfe der Lautentlehnungsmethode ndash den Schrift-zeichen-Bestand durch Ideophonogramme vermehrt

Ein Ideophonogramm ist bei Aufteilung ersten Ranges in zwei Zeichen-mor pheme zu zerlegen den Sinntraumlger und den Lauttraumlger Das eine Zei chen morphem der Sinntraumlger verweist auf die Bedeutung des Ideo-phono gramms das andere Zeichenmorphem der Lauttraumlger auf des sen un gefaumlhre Lautung Den Sinntraumlger fuumlr ein Ideophonogramm ge winnt man dadurch dass man ein vorhandenes Zeichenmorphem nimmt und von seiner Lautung isoliert an ihm bdquoklebenldquo dann nur noch vage Bedeu tungs-Assozia tionen Dieses Zeichenmorphem baut man als Sinn traumlger in ein neu zu erstellendes Ideophonogramm ein Den Lauttraumlger fuumlr ein Ideo phono-gramm gewinnt man dadurch dass man ndash aumlhnlich wie bei der Schoumlp fung von Laut entlehnungs zeichen ndash ein Schriftzeichen mit einer bestimm ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 99

ihm an haftenden Lautung entlehnt und zwecks ungefaumlhrer Andeu tung eben dieser Lautung in ein Ideophonogramm einbaut dessen Silbe phone-tisch dem lehngebenden Quadratzeichen aumlhnlich ist Ideophono gram me sind diesbezuumlglich haumllftig als Lautentlehnungszeichen zu betrachten

Es ist nicht von vornherein festgelegt wie die Zeichenmorpheme als Bestand teile innerhalb eines Ideophonogramms angeordnet werden ndash linksrechts obenunten innenauszligen getrenntverschlungen usw Somit muss man wissen welches Zeichenmorphem auf die Lautung und welches auf den Sinn hinweist Es gibt hier aber gebraumluchliche Muster die sich eingebuumlr-gert haben und die der geuumlbte Leser kennt sodass Sinn- bzw Lauttraumlger der meisten Ideo phonogramme fuumlr gewoumlhnlich leicht auszumachen sind

Die Beispiele in Abbildung 1 moumlgen die geschilderte Entwicklung der Bil-dung chinesischer Schriftzeichen veranschaulichen

(26) Piktogramm 自 zigrave DaggerNase

(27) Piktogramm dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze

(28) Piktogramm 犬 quǎn Hund

(29) Piktogramm 口 kǒu Mund

(30) Zusammengesetztes Ideogramm 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] daggerschnupper- und chograveu = [ʈʰograveu] stinkend

(31) Lautentlehnungszeichen 自 zigrave selbst

(32) Lautentlehnungszeichen dagger畀 bigrave verleih-

(33) Ideo phonogramm 鼻 biacute Nase

(34) Ideophonogramm 嗅 xiugrave = [ɕograveu] schnupper-Das Quadratzeichen (26) 自 zigrave war urspruumlnglich ein Piktogramm das von vorn gesehen eine Nase mit Nasenruumlcken und Nasenfluumlgeln abbildete Aus die sem Piktogramm wurden in zwei Richtungen Quadratzeichen gebildet

In die eine Richtung wurde Dagger自 zu einer Zeit da es noch Nase bedeutete wegen der phonetischen Uumlbereinstimmung bzw Aumlhnlichkeit fuumlr den Sinn selbst entlehnt so entstand das Lautentlehnungszeichen (31) 自 selbst das heute zigrave ausgesprochen wird Von da an hatte man synchron die homo graphen Quadratzeichen 自 (26) und (31) nebeneinander ndash zum einen fuumlr die pri maumlre Bedeutung DaggerNase zum anderen fuumlr die sekundaumlre Bedeu-tung selbst Spaumlter wurde dann zur schriftlichen Disambiguierung dem

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Abbildung 1 Beispiele zur Veranschaulichung der Entwicklung chinesischer Qua drat-zeichen Spalte A Piktogramme Spalte B Zusammengesetzte Ideogramme Spalte C Laut entlehnungszeichen Spalte D Ideophonogramme

101Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

自-Qua dratzeichen wo es DaggerNase bezeichnete ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems (27)(32) dagger畀 hinzugefuumlgt das fuumlr sich allein bigrave lautet In dem so entstandenen Ideophonogramm (33) 鼻 biacute Nase dient es lediglich als Lauttraumlger Fuumlr das heutige muttersprachliche Emp finden ist dieser Lautentlehnungsvorgang allerdings nicht mehr durchschau bar denn entweder hat sich der Anglitt der Aussprache des bdquoWortesldquo selbst im Laufe der Zeit aus irgendwelchen Gruumlnden gewandelt oder der Lautwert des bdquoWor tesldquo Nase ist durch Einfluss des lauttragenden Zeichen morphems (27)(32) dagger畀 bigrave abgeaumlndert worden (Leseaussprache) Das Quadrat zeichen (32) dagger畀 bigrave verleih- uumlbrigens ist seinerseits vermutlich von dem Pikto-gramm (27) dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze lautentlehnt Fuumlr den Begriff verleih- verwendet man heute ein gaumlnzlich anderes Quadratzeichen

In die andere Richtung wurde das Schrumpfallomorph des Pikto gramm (26) 自 zigrave DaggerNase mit dem Allomorphkuumlrzel eines weiteren Pikto gramms naumlm lich (28) 犬 quǎn Hund zu einem zusammengesetzten Ideo gramm vereint Das komponierte Ideogramm (30) 臭 spricht sich daggerxiugrave = [ɕograveu] aus ohne irgendwie lautentlehnt zu sein und bedeutet daggerschnupper- Von der pri maumlren Bedeutung daggerschnupper- ist spaumlter (vielleicht durch pejora tive Be deutungs verengung) die sekundaumlre Bedeutung stinkend ab gelei tet wor den Nun stand das Schriftzeichen (30) 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] synchron fuumlr zwei sinn verwandte aber aus sprache verschiedene Bedeu tungen daggerschnup-per- und stinkend Fuumlr die primaumlre Bedeutung schnupper- wurde dann verdeutlichend das Ideophonogramm (34) 嗅 xiugrave gebildet welches links das Schrumpfallomorph des Piktogramms (29) 口 kǒu Mund (Sinn-traumlger) und rechts das Schrumpfallomorph des zusammen gesetz ten Ideo-gramms (30) 臭 daggerxiugrave (Lauttraumlger) birgt Das Schrift zeichen (30) 臭 mit der Lautung chograveu = [ʈʰ ograveu] beschraumlnkt sich seither ausschlieszlig lich auf die sekundaumlre Bedeutung naumlmlich stinkend Dadurch war die zeit weilige Mehr deutigkeit des Schriftzeichens (30) 臭 wieder beseitigt

Gaumlnzlich unabhaumlngig von der Anzahl der Zeichenmorpheme die es bilden wird ein Qua dratzeichen im gegenwaumlrtigen chinesischen Schriftsystem einer und genau einer Sprechsilbe zugeordnet Alle Quadratzeichen vertreten also je eine Silbe Die Entwicklung geht dahin dass wegen der hohen Silben-Homo phonie und der dadurch bedingten potenziellen Mehrdeutigkeit der zeit genoumlssischen chinesischen Sprechsprache immer mehr verdeutli chende oder zT auch nur rhythmisch als erwuumlnscht betrachtete Silben zu einem Silben syntagma zusammengefuumlgt werden solche Silben syntagmen ent-sprechen im Deutschen ungefaumlhr den Ableitungen oder den Kom po sita Da fuumlr jede Sprechsilbe (mindestens) ein Quadratzeichen vorhanden ist schreibt

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man fuumlr jede einzelne Silbe eines Silbensyntagmas auch genau ein Qua-drat zeichen nieder Gerade bei euphonisch oder eurhythmisch bedingten Silben (im Deut schen ist synchron vielleicht das -e- in Strahlemann ver-gleich bar das -s- in Hochzeitsnacht das -n- in Hoffnung oder das -t- in dt eigentlich im Frz das -t- in a-t-il bdquohat erldquo) die ja keine Eigen be deu-tung haben ist es gelegentlich fraglich welches Quadrat zeichen man fuumlr sie schreiben solle

In einer fruumlhen Entwicklungsstufe der chinesischen Schrift waren die meisten der heutigen Quadratzeichen-Bestandteile freie Zeichenmor-pheme Das heiszligt sie fungierten einerseits als selbstaumlndige Quadrat zeichen und ndash spaumlter ndash zusaumltzlich andererseits als Quadratzeichen-Bestand teile Im Laufe der Zeit kamen mehrere davon nur noch als gebundene Zeichen-morpheme im Bestandteilverbund eines Quadratzeichens vor (aumlhnlich wie im Deutschen heute das Suffix -heit oder das Praumlfix ur- nur noch gebunden vorkommen) Manche entwickelten sich dagegen zu Allomorphen die teils frei teils gebunden sind Manche nur-gebundene Allomorphe sind heute sogar unikal (etwa wie im Deutschen -stuumlber in Nasenstuumlber)

3 Zur Normierung chinesischer SchriftzeichenformenIm Laufe ihrer Entwicklung sind die chinesischen Schriftzeichen mehr mals nor miert worden (vgl Abbildung 2) In antiken Epochen wurde eine amt liche Standardisierung meist zu Beginn einer Dynastie vorgenom men damit sich die Befehle und Maszlignahmen von der zentralen Regierung in er oberten Laumlndern erteilen und ohne Missverstaumlndnis durchsetzen lieszligen Als die jeweilige Dynastie allmaumlhlich zerfiel schwaumlchelte auch ihre Macht und damit ihr Einfluss auf Fuumlrstenlaumlnder und deren Bevoumllkerung Die fest gelegte Schreiblehre wurde dann auch nicht mehr so genau beachtet und irgend welche oumlrtlichen Gelehrten dachten sich neue Quadrat zeichen aus wenn sie sich der vordem zentral vorgegebenen Zeichen nicht mehr er innern konnten Gleichzeitig sind mit dem Fortschreiten der Zivilisa tion Neu heiten (Dinge und Sachverhalte) aufgekommen oder ins Bewusstsein der Men schen geruumlckt fuumlr die gesprochene und geschriebene Bezeich nungen be noumltigt wurden Fuumlr diese ersannen Gelehrte Quadratzeichen und zwar mei stens durch neue Zusammenstellung vorhandener Zeichen mor-pheme Weil es oft genug an einer zentralen Steuerung dieser Entwicklung fehlte ver lief die Zeichenbildungstaumltigkeit haumlufig unsystematisch Kam schlieszlig-lich eine neue Dynastie ans Ruder so vereinheitlichte der neue Herr scher das eine Zeitlang wildgewachsene Schriftsystem dann wieder

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Abbildung 2 Zur Entwicklung chinesischer Schriftzeichenformen (aus Fazzioli 2003 15)

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31 Vereinheitlichung in Richtung Vereinfachung

Bei den amtlichen Regelungen welche die Quadratzeichengestalt be treffen han delt es sich nicht nur um Vereinheitlichung Oumlfter wurde zu gleich auch versucht die Schriftzeichen zum leichteren Lernen und Schrei ben zu ver-ein fachen Schon seit fruumlher Zeit in der man noch nicht unbe dingt von bdquoQuadrat zeichenldquo sprechen kann ist zB eine immer wieder ange wandte Aumln derungs art der Abbau zeichen gestalterischer Kom plexitaumlt ent weder wird die Anzahl urspruumlnglich ikonisch vermehrfachter Ele mente oder Element teile wieder vermindert oder die Strichzahl sehr auf wendig auf-gebauter Bestandteile wird anderweitig reduziert auf diese Art sind denn auch die Allomorphkuumlrzel entstanden

(35) 集 jiacute versammel- ein zusammengesetztes Ideogramm besteht oben aus dem Schrumpfallomorph des veralteten Piktogramms dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel und unten aus dem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum

Urspruumlnglich war das Quadratzeichen 木 mugrave Holz das Piktogramm eines DaggerBau mes mit Wurzel und Aumlsten Die urspruumlngliche Form des Zeichens 集 ver sammel- zeigte allerdings drei Voumlgel auf dem Baum dh drei Voumlgel die sich auf einem Baum bdquoversammelnldquo Da das Zeichen morphem dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel bereits strichreich ist laumlsst es sich in drei facher Ausfuumlhrung innerhalb eines neuen Zeichens unvereinfacht kaum unter bringen spaumlter wurde das verdreifachte Zeichenmorphem in dem Zeichen deshalb durch ein einziges ersetzt Dadurch war es zwar weniger bild haft dafuumlr aber besser handhabbar

(36) 塵 cheacuten Staub ein zusammengesetztes Ideogramm zeigt oben das Schrumpf allomorph des Piktogramms 鹿 lugrave Hirsch und unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 土 tǔ Erdreich

Auch das urspruumlngliche zusammengesetzte Ideogramm fuumlr Staub zeig te zu naumlchst drei Hirsche auf dem Erdboden das heiszligt beim Ren nen wirbelt eine Herde Hirsche auf der Erde bdquoStaubldquo auf In der moder ni-sier ten Form des heutigen Quadratzeichens 塵 cheacuten Staub ist da von nur noch ein einziges Zeichenmorphem 鹿 lugrave Hirsch uumlbrig

(37) 豪 haacuteo Stachelschwein ein Ideophonogramm besteht unten aus dem Schrumpfallomorph des Piktogramms dagger豕 shǐ Eber als Sinn-traumlger und oben aus dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 高 gāo hoch als Lauttraumlger welches nur den Oberteil des ihm entsprechenden Voll allo morphs zeigt

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Der Lauttraumlger das Allomorphkuumlrzel des freien Zeichenmor phems 高 gāo hoch oben im Ideophonogramm 豪 haacuteo Stachel schwein ist gegenuumlber dem Vollallomorph gestalterisch um seinen Unterteil geschmaumllert worden Genauer gesagt im Vollallomorph zeigt das Piktogramm 高 gāo noch einen Daggerzwei stoumlcki gen Bau die beiden kleinen Strichkomplexe (in Form eines Vier ecks) sind gewissermaszligen Fenster im ersten bzw zweiten Stock Als Laut sym bol-Allomorphkuumlrzel eingefuumlgt in das Ideophonogramm 豪 haacuteo Sta chel schwein verliert es dann das untere bdquoFensterldquo

Als ein weiterer Punkt ist zu beachten dass chinesische Schrift zeichen oumlfter dadurch vereinheitlicht worden sind dass man Zeichen for men unter-schied lichen etymologischen Ursprungs zusammenfallen lieszlig indem man sie graphisch nicht mehr auseinanderhielt man koumlnnte von bdquoZeichen-morphem-Zusammenfallldquo bdquo-Synkretismusldquo bdquo-Kreuzungldquo oder bdquo-Kon ta-mi nationldquo sprechen So werden die zwei bdquoFensterldquo in dem Pikto gramm 高 gāo hoch mit einem Strichkomplex geschrieben der gestalte risch vom Piktogramm 口 kǒu Mund (bzw von seinem Schrumpf allo morph) nicht zu unterscheiden ist Waumlhrend Fenster und Mund sich immer hin noch unter dem Begriff bdquoOumlffnungenldquo zusammenfassen lassen wird der-selbe Strichkomplex (zT in unverhaumlltnisgerecht geschrumpfter Ge stalt) in anderen Quadratzeichen daruumlber hinaus aber noch fuumlr ganz ande res an ge wandt zB fuumlr Geraumlusch Auge eines Strudels menschli ches Ge sicht menschlichen Kopf Tierkoumlrper Steinmesser Schuumls sel Topf Trommel Behausung von Mauern umgrenzte Stadt oder der Strichkomplex des Vierecks wird ganz abstrakt als ein Zeichen mor phem zur Disambiguierung ansonsten formgleicher Quadrat zeichen ein gesetzt

Betrachtet man die Sache nicht von daher welche Geltungen ein Zeichen-morphem in Quadratzeichen annehmen kann sondern aus der Warte der Bedeu tungen so ist eine aumlhnliche Mehrfachanwendung von Elementen fest-zu stellen bei etlichen Quadratzeichen wird beispielsweise die Bedeu tung Ge raumlusch nicht einheitlich durch den Strichkomplex 口 den wir aus heu-tiger Sicht als das Schrumpfallomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund deu ten be zeichnet sondern manchmal auch durch einen Strichkomplex 日 welcher zumindest synchron aussieht wie das Zeichenmorphem 日 rigrave Son ne und deshalb heute als ein Schrumpfallomorph dieses Zeichen-morphems ge wertet wird Derlei Faumllle gibt es viele und die synchron empfun-dene Mehr deutigkeit von Elementen geht oft auf Entwicklungs vor gaumlnge dieser Art zuruumlck auch solcherart bdquoZusammenlegungs-Standardisie run-genldquo haben demnach die Bedeutung chinesischer Quadratzeichen(bestand-teile) ver dunkelt und belasten heute beim Lernen die Form-Inhalts-Bezie-

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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hung Moumlchte man eine Parallele zum Deutschen ziehen so kann man die gra phische Zusammenlegung von ltgraumlulichgt von grau‑artiger Farbe und ltgreu lichgt grauenerregend in ltgraumlulichgt durch die Rechtschreib reform von 199620042006 vergleichen

32 Auswirkungen auf die Quadratzeichengestaltung

Die Standardisierungen der chinesischen Schriftzeichen und ihrer Bestand-teile betreffen weitgehend die Formgebung von Quadratzeichen und diese wie derum bildet die Grundlage fuumlr synchrone zeichenmorpholo gische Ana lysen Da die Zeichenmorpheme durch manche Vereinheitli chungs-schrit te richtiggehend bdquoumgemuumlnztldquo worden sind praumlgen sie entspre chend auch Bewusstsein und Wahrnehmung der Schriftanwender um Im Fol gen-den eroumlrtern wir bei der zeichenmorphologischen Betrachtung von Qua-drat zeichen wie sich solche Zeichenform-Normierungen auf die objektive sprach wissenschaftliche Auswertung und auf die subjektive anwender-seitige Wertung der Quadratzeichengestalt auswirken

Wenn man versucht Quadratzeichen moumlglichst weitgehend aufzutrennen so gelangt man ndash ggf uumlber Zeichenmorpheme unterschiedlicher Komplexi-taumlt ndash letzten Endes zu Zeichenmorphemen welche zwar noch eine morpho-lo gische Bedeutung tragen sich allerdings ndash synchron betrachtet ndash nicht wei ter in ihre Strichzuumlge zerlegen lassen ohne dass sie ihre morpho logi sche Gel tung einbuumlszligen wuumlrden Diese kleinsten Einheiten sind die Grund mor-pheme Zwei oder mehr Grundmorpheme koumlnnen zusammengefuumlgt werden um ein neues komplexeres Zeichenmorphem zu bilden Von da an stehen bei der chinesischen Schriftzeichenbildung nicht nur Grundmorpheme son-dern auch komplexere Morpheme zur Verfuumlgung Das heiszligt als Bestand teile von Schrift zeichen duumlrfen sowohl Zeichenmorpheme die aus bloszlig einem Grund morphem bestehen als auch Zeichenmorpheme die ihrerseits schon aus zwei oder mehr Grundmorphemen zusammengesetzt sind dienen Ein durch Zusammenfuumlgung von zwei oder mehr Zeichenmorphemen gebil-detes Quadratzeichen laumlsst sich wiederum als ein idiomatisierter Kom-plex verwenden und als Zeichenmorphem fuumlr weitere Quadratzeichen-bil dung einsetzen Es werden somit Komplexe aus Zeichenmorphemen immer wieder neu idiomatisiert und als neue Einheiten in houmlhere Komposi-tions-Hier archien uumlbernommen Theoretisch kann so jedes eigen staumln dige Schrift zeichen als Bestandteil fuumlr komplexere Schriftzeichen ver wandt werden Vergleichbar ist hier in der deutschen Morphologie die Ablei-tung von einer Ableitungsbasis Basis Handhabe als nicht mehr auftrenn-barer Komplex abgeleitet zu handhaben dann Basis hand haben als

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nicht mehr auftrennbarer Komplex abgeleitet zu hand hab bar schlieszlig-lich Basis handhab bar als nicht mehr auftrennbarer Komplex abge leitet zu Handhab barkeitOft geht man davon aus dass Piktogramme und einfache Ideo gramme aus lediglich einem einzigen Grundmorphem bestuumlnden Pikto gramme wie sen ur spruumlnglich einen Dinge aus der Natur abbildenden Strich kom-plex auf den man aus heutiger Sicht als das Abbild eines Ganzen werten duumlrfte und das entspraumlche dem was uumlblicherweise in Grund mor phemen vorliegt Waumlhrend bdquoeinfacheldquo Piktogramme tatsaumlchlich immer nur ein ein ziges Grundmorphem enthalten (wie in 日 rigrave Sonne und 月 yuegrave Mond) empfinden Lerner und Benutzer chinesischer Quadrat zeichen es heute so dass besonders strichreiche Piktogramme aus meh reren Grund-morphemen zusammengesetzt seien Diese Erscheinung ist dadurch zustande gekommen dass bei der gestalterischen Normierung von Quadrat zeichen-formen bdquoBestandteileldquo in manchen dieser strichreichen Kom plexe so zu sagen bdquomorphemisiertldquo worden sind aus einem Komplex hat man durch eine Art Morphemspaltung meh rere Bestand teile herausabstrahiert die man nun jeden fuumlr sich wie der in anderen Quadratzeichen-Kompositionen als Kompositionsglieder nut zen kann ndash und umgekehrt

Beispielsweise war das Piktogramm 鹿 lugrave Hirsch urspruumlnglich das Ab bild eines Hirsches mit Geweih Kopf Koumlrper und Beinen (sie he Ab bil dung 2) Bei spaumlteren Normierungen wurden oben Geweih Kopf und Koumlrper zwar weiterhin als ein Strichkomplex belassen (dieser stellt heute ein nur-gebunden vorkommendes Zeichenmorphem dar) der Unter teil indes die abstrakt die vier Beine darstellenden Striche war rein gestalterisch zufaumlllig dem zusammengesetzten Ideogramm 比 bǐ ver-gleich- recht aumlhnlich Und so hat man im Zuge einer Normie rung diese Striche durch ein Schrumpfallomorph des Quadrat zeichens 比 bǐ ver-gleich- ersetzt und dadurch den urspruumlnglichen als zusammengehoumlrig zu be trach tenden Strichkomplex von Hirsch in zwei Bestandteile zerlegt deren jeder heute synchron die Geltung eines Zeichenmorphems besitzt Das zusammengesetzte Ideophonogramm 比 bǐ vergleich- uumlbrigens zeigte urspruumlnglich zwei Menschen im Wettlauf miteinander

Uumlblicherweise werden auch saumlmtliche einfachen Ideogramme als Qua drat-zeichen mit nur einem einzigen Grundmorphem ange se hen Ge schicht lich gesehen bargen allerdings wohl alle einfachen Ideogram me ur spruumlng lich zwei zeichenmorphologische Bestandteile in sich naumlm lich Bezugs grund-lage und Hinweis An dieser Stelle sollte man den Tiefen grad bedenken mit dem man die Zusammenfuumlgung zweier Bestand teile betrach ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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moumlchte wenn man zeichenetymologisierend vorgeht kann man Ein-heiten freilich tiefergehend sinnvoll auftrennen als wenn man das syn-chrone Schreiberbewusstsein zugrunde legt Aus heutiger Sicht sind naumlm-lich Bezugsgrundlage- und Hinweis-Bestandteil nicht zuletzt in folge nor mierender Umgestaltung zu einem Zeichen morphem zusam men-geschmolzen das als ein einziges Grundmorphem betrachtet wird und des halb spricht man eben von bdquoeinfachenldquo Ideogrammen Ist der Hin weis-Be stand teil noch durchsichtig vom Grundlage-Bestandteil abzutren nen so sollte man indessen meinen das Ideogramm goumllte als aus zwei (ggf mehr) Grundmorphemen zusammengesetzt Das widerspricht aber der her koumlmm lichen Sichtweise Der Status der einfachen Ideogramme ist in dieser Hinsicht womoumlglich revisionsbeduumlrftig Diese naumlhere Betrach tung hat uns bewogen im vorliegenden Aufsatz zwischen bdquoGrund morphemenldquo und bdquoStrichenldquo zu unterscheiden

Im Gegensatz zu den Piktogrammen und einfachen Ideogrammen beste hen die zusammengesetzten Ideogramme sowie die Ideophonogramme aus zwei oder mehr Zeichenmorphemen sind also Polymorphe Lautent lehnungs-zeichen wieder um haben teils ein und teils mehr als ein Grund morphem je nachdem von wel cher Schriftzeichen-Basis sie entlehnt worden sind

4 Naumlhere Betrachtung der Ideophonogramm-BildungIdeophonogramme herrschen in der chinesischen Schriftzeichenbildung vor und bestimmen somit die Charakteristik der chinesischen Quadratzeichen am meisten sowie das Bewusstsein der Schriftanwender am nachhaltigsten

Zur Bildung eines Ideophonogramms fuumlr eine gesprochene Silbe werden zwei Zeichen morpheme zusammengesetzt ein Sinntraumlger und ein Laut-traumlger Das sind die beiden Zeichenmorphem(komplexe) ersten Ranges Beide muumls sen um fuumlr die Komposition verwendet werden zu koumlnnen abstra hiert wer den Der als Sinntraumlger bestimmte Komplex muss von seiner bis heri gen Lau tung frei gestellt werden um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf das Signifieacute die nen zu koumlnnen (und dabei nicht etwa dadurch zu be irren dass mit ihm zu saumltzlich eine Lautung assoziiert wird) Der als Laut traumlger bestimm te Kom plex muss von seiner Bedeutungs-Assoziation frei ge stellt wer den um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf die unge faumlhre Lau tung die nen zu koumlnnen (und nicht dadurch zu stoumlren dass er zusaumltz liche Bedeu tungs-Assoziationen hervorruft) Die In-etwa-Aussprache auf welche der Laut traumlger verweist muss natuumlrlich zur Silbe des neuen Gesamt kom ple xes des durch die Komposition

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entstandenen Ideophono gramms stimmen ndash zumindest zum Zeitpunkt der Zeichenbildung

Gelegentlich kommt es vor dass in einem Ideophonogramm nicht nur ein son dern zwei Zeichenmorpheme als Sinntraumlger zur Bedeutung des Ideo-pho no gramms beitragen Im Folgenden sei ein besonders verwickelter Fall ge schil dert der aber gut als Beispiel fuumlr diese Zeichenbildungsart dienen kann

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des sei ner seits schon ein Ideophonogramm darstellenden Vollallo morphs 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpfallo morph des Laut ent lehnungszeichens 平 piacuteng flach als Lauttraumlger

Der Sinntraumlger 言 yaacuten Wort des Ideophonogramms 評 piacuteng ein-schaumltz- ist wie erwaumlhnt selbst ein Ideophonogramm das unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund (Sinn trauml ger) und oben ein gebundenes heute unikales Allomorph eines obsole ten Zeichen-mor phems mit der Lautung Daggeryǎn (Laut traumlger) in sich birgt Der Laut-traumlger des Ideo phonogramms 評 piacuteng ein schaumltz- naumlm lich das Zeichen-morphem 平 piacuteng flach stammt ur spruumlng lich von einem Pikto gramm 平 piacuteng DaggerWasserlinse das spaumlter auf grund lautlicher Uumlber ein stim mung fuumlr die sekundaumlre Bedeutung flach laut ent lehnt wurde Fuumlr die pri maumlre Bedeutung Wasserlinse wur de dann ent zwei deutigend das Ideo pho no-gramm dagger苹 piacuteng gebildet das wie der um durch Hinzufuumlgung des Allo-morph kuumlrzels des ver alte ten Zeichen mor phems dagger艸 cǎo Gras ober-halb des Laut ent leh nungs zei chens 平 piacuteng flach zustande gekommen war Weil auch das Ideo pho nogramm dagger苹 piacuteng Wasserlinse heute wiederum ver altet ist wird gegen waumlrtig fuumlr Wasserlinse das Quadrat-zeichen 萍 piacuteng geschrie ben

Das letztentstandene Ideophonogramm 萍 piacuteng Wasser linse nun kann syn chron auf zweierlei Art aufgetrennt werden Einerseits so dass es links aus dem Allomorph kuumlrzel des Pikto gramms 水 shuǐ Was ser (Sinn-traumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Ideophono gramms dagger苹 piacuteng Wasserlinse (Lauttraumlger) besteht Andererseits laumlsst es sich ndash zu mindest rein for ma listisch ndash so ana lysieren dass das Allo morph kuumlr zel des Pikto gramms 水 shuǐ Wasser verdeutlichend hinzugefuumlgt wur de um neben dem bereits vorhandenen Sinntraumlger dagger艸 cǎo Gras einen zu saumltz lichen Hinweis auf die Bedeutung des Ideophono gramms 萍 piacuteng Was ser linse zu geben Waumlhlt man diese Sichtweise so duumlrfte man das Allo morph kuumlrzel des veralteten Zeichenmorphems dagger艸 cǎo Gras so wie

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das Allomorph kuumlrzel des Piktogramms 水 shuǐ Wasser beide fuumlr gleich-ran gige Sinntraumlger des Ideophonogramms 萍 piacuteng Wasserlinse und das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach fuumlr den Laut traumlger halten man haumltte hier also schon bei Auftrennung ersten Ran-ges ein dreigliedriges Ideophonogramm

Das ideophonographische Verfahren bewaumlhrt sich seit langer Zeit als eine nuumltz liche Methode chinesischer Quadratzeichenbildung Mit ihr ist das vor erst letz te quadratzeichen morphologische Entwicklungs sta dium des heutigen chine sischen Schrift systems erreicht Das zeichen morphe misch-sylla bi sche Ver fahren ist seit seiner Einfuumlhrung staumlndig ausge baut worden Die aumllte sten bisher gefundenen chinesischen Schrift zeichen sind wie oben bereits an ge deutet wurde in Rinderknochen (vor al lem auf Schul ter blatt-Kno chen so genannte bdquoOrakel knochenldquo) und Schild kroumlten panzer (zur Weissagung von Jagdgluumlck u auml) eingeritzt Bereits in der Orakel kno-chen schrift machen die Ideophonogramme einen betraumlcht lichen Teil des Schriftzeichen-Bestandes aus In der Gegenwart stellen die Ideo phono-gramme bis zu 90 Prozent aller chinesischen Qua drat zei chen Doch heut-zutage ist auch diese Bildeweise zum Erliegen gekommen denn neue Qua-drat zeichen werden praktisch nicht mehr geschaffen Heute ist neben der Hin ter ein anderreihung von Qua dratzeichen zur Wie dergabe von Mehr-Silben-bdquoWoumlrternldquo (man koumlnnte von bdquoSyntax woumlrternldquo sprechen von Silben-syn tagmen welche durch eine Art Sinn-Univerbierung mehr oder minder lexi kali siert sind heute neigt man dazu in der Schriftsprache aus Paral-lelitaumlt zur Sprechsprache mehr Silben fuumlr bdquoWoumlrterldquo zu schreiben) nur noch das Ver fahren der Lautentlehnung produktiv durch dieses aller dings ver-mehrt sich ja der Quadratzeichenbestand nicht weiter Typischer weise ange-wandt wird dieses Verfahren erwaumlhntermaszligen zB wenn die Lau tungen frem der bdquoWoumlr terldquo und fremder Eigennamen ins Chinesische umzusetzen sind

41 Klassenkoumlpfe

bdquoKlassenkopfldquo ist eine rein formalistisch abstrahierte graphische Grouml szlige ohne tie feren sprachlichen Wert nach der ein Quadrat zeichen im chinesi-schen Woumlrter buch klassifiziert ist um es (vergleichbar der Reihen folge der Buch staben im Alphabet) leichter nachschlagen zu koumlnnen Im Deut-schen wird bdquoKlassen kopfldquo oft mit dem Terminus bdquoRadikalldquo wieder-gegeben In jedem Qua dratzeichen ist entweder ein Strichzug ein Zeichen-morphem oder das ganze Quadrat zeichen (wo dieses aus einem einzigen freien Klassenkopf besteht) als Klassenkopf festgelegt Theoretisch koumlnnte also jedes Zeichenmorphem als Klassenkopf festgelegt werden Saumlmt liche

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Quadrat zeichen in einer Zeichenklasse beinhalten somit einen iden tischen Zeichen bestandteil (naumlmlich den Klassenkopf oder eines seiner Allo morphe) Eine Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe bietet Abbildung 3

Abbildung 3 Erste Seite der Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe (aus Couvreur 1911 1063)

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Die Nachschlagmethode mit Klassenkoumlpfen ist aus den Kompositions-eigen schaften chinesischer Quadratzeichen heraus entwickelt wor den und diese wiederum sind am wesentlichsten durch die bei weitem zahlen-staumlrkste Zeichengattung der Ideophonogramme gepraumlgt Die uumlber wiegende Mehr heit chinesischer Quadratzeichen sind Kompositionen von Zeichen-morphemen die sich bei der Zeichenbildung als (ggf zeichen allo morphisch aus ge formte) Bestandteile wiederholen Des weite ren stellen wie erwaumlhnt Ideo phono gramme die weitaus zahlenstaumlrkste Quadrat zeichen gruppe dar Manche sinntragende Zeichenmorpheme treten dermaszligen haumlu fig auf dass sich die von ihnen mitgebildeten Quadratzeichen nach die sen Sinn traumlgern gruppieren lassen Diesen Umstand macht man sich zu nutze um Quadratzeichen in den herkoumlmmlichen chine sischen Woumlrter buumlchern nach einigen hochfrequenten Zeichenmorphemen zu ordnen Das heiszligt es werden Quadratzeichen mit demselben Zeichen mor phem (-Bestand teil) zusam men geordnet Da die meisten Quadrat zeichen mehr als ein Zeichen-morphem beinhalten wird formalistisch aus jedem mehrglied rigen Qua-drat zeichen ein bestimmtes Zeichenmorphem als fuumlr die Woumlrterbuch-Ein-rei hung maszlig geblich festgelegt Dieses Zeichen morphem bezeichnet man als bdquoKlas sen kopf (des Quadrat zeichens)ldquo Unter einem bestimmten Klassen kopf wer den Quadratzeichen weitergehend nach der Strichzahl geordnet

Aus Ideophonogrammen waumlhlen Herausgeber chinesischer Woumlrter buumlcher vor nehmlich den Sinntraumlger als Klassenkopf aus selten den Laut traumlger Die se Handhabung ist der Grund dafuumlr dass im Bewusstsein chinesi scher Schrei ber das Klassenkopf-Prinzip und das ideophonographische Prin zip eng verwoben sind und das wiederum hat uns veranlasst die Er laumlu te-rung von bdquoKlassenkoumlpfenldquo in dem Abschnitt der Ideophono gramme zu be han deln Weiters fungieren als Klassenkoumlpfe pragmatischer weise et liche kom plexere Zeichen morpheme (einschlieszlig lich solcher die ihrer seits von Ideo phono grammen abgeleitet sind) welche haumlufig als Bestand teile von Qua drat zeichen vor kommen bzw deren Bestand teile um staumlndlich zu zer glie dern waumlren Nicht zuletzt gibt es Quadrat zeichen die mit nur sehr duumlrf tigen Strichzuumlgen geschrieben werden und sich schwerlich aus ein-ander trennen lassen (zB das Quadrat zeichen 七 qī fuumlr die Zahl sie ben) Wuumlr den viele solcher Quadratzeichen als Klassen koumlpfe aufge nom men so stuumln den im Woumlrterbuch etliche Klassenkoumlpfe die nur sehr wenige Ein-traumlge unter sich vereinigen wuumlrden Aus derartigen Quadrat zeichen wird des wegen oft ein einziger Strichzug zum Klassenkopf erklaumlrt auch wenn die unter ihm zusammen sortierten bdquoStrichzug-Klassen koumlpfeldquo zeichen-etymo logisch nichts miteinander gemein haben moumlgen (zB steht der

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Strich zug aus dem das freie Zeichen morphem 一 yī eins besteht als Klassen kopf auch fuumlr das Quadratzeichen 七 qī sieben) Die Anzahl der Klassen koumlpfe belaumluft sich heute auf rund 200 Zahlschwankungen sind dar auf zu ruumlck zu fuumlh ren dass zwischen den einzelnen Woumlrterbuch-Herausgebern Mei nungs ver schie den heiten daruumlber herrschen ob einige Strich zuuml ge Strichzug kom plexe oder gar Zeichen morpheme als Klassen-koumlpfe auf zu nehmen seien

42 Laut-Morphem-Entsprechungen in Ideophonogrammen

Waumlhrend die Formen der chinesischen Quadratzeichen seit knapp 2000 Jah ren verhaumlltnismaumlszligig stabil geblieben sind haben sich im Laufe der Zeit Gebrauch und Aus sprache der Silben stark veraumlndert Wenn sich die Laut bilder einer seits eines Ideophono gramms und andrerseits seines als freies Quadrat zeichen auftretenden Lauttraumlgers allmaumlhlich aus einander ent-wickel ten dann hatte das zur unausbleiblichen Folge dass der Lauttraumlger die Lau tung des von ihm mitgebildeten Komplexes (naumlmlich den Lautwert der Silbe des Ideo phono gramms) mit der Zeit immer ungenauer wieder gibt Das laumlsst sich mit der allmaumlhlichen Auseinanderentwicklung von Schrei-bung und Lau tung auch in Kultursprachen mit Alphabetschriften (wie Fran zouml sisch oder in viel geringerem Maszlige Deutsch) vergleichen

Gilt es die Laut-Morphem-Entsprechung in Ideophonogrammen zu be ur-teilen so sollte man folgende zwei Aspekte in Betracht ziehen erstens ob das Ideo phonogramm und sein Lauttraumlger wenn er in freier Stellung als Qua drat zeichen auftritt homo(io)phon seien und zwei tens ob alle Ideo-phono gramme die das gleiche Zeichenmorphem als Laut traumlger auf weisen ho mo(io)phon seien

Die folgenden Beispiele bilden einige Fallgruppen die grob nach diesen zwei Kri terien sortiert sind Geordnet sind sie hier letztlich nach der Komplexi-taumlt ihrer phonetischen Verhaumlltnisse

(38) Freies Zeichenmorphem 皇 huaacuteng Kaiser als Lauttraumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon徨 huaacuteng unsicher 煌 huaacuteng glaumlnzend 蝗 huaacuteng Heu-schrecke 凰 huaacuteng Phoumlnix 遑 huaacuteng geschweige denn 隍 huaacuteng Graben 湟 huaacuteng Sumpf 惶 huaacuteng aumlngst-lich

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(39) Freies Zeichenmorphem 番 fān barbarisch als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

翻 fān umwaumllz- 幡 fān schmale haumlngende Fahne 旛 fān Wim pel 蕃 fān exotisch

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon藩 faacuten Zaun

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon播 bograve streu-

(40) Freies Zeichenmorphem 青 qīng dunkelgruumln hellblau als Laut-traumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon清 qīng deutlich 蜻 qīng Wasserjungfer 鯖 qīng Ma krele

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon情 qiacuteng Gefuumlhl 晴 qiacuteng klar (in bezug auf Wetter)

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon請 qǐng bitt-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend精 jīng Extrakt Essenz 菁 jīng Quintessenz 睛 jīng Au ge

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend靖 jigraveng befried-

(41) Freies Zeichenmorphem 需 xū brauch- als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend

儒 ruacute Gelehrte(r) 蠕 ruacute sich schlaumlngel- 孺 ruacute Klein kind 濡 ruacute ein tauch- 嚅 ruacute murmel-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon懦 nuograve feige 糯 nuograve Klebreis

(42) Freies Zeichenmorphem 台 taacutei Podest als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

抬 taacutei aufheb- 跆 taacutei trampel- 邰 taacutei ein bestimmter Nach-name 颱 taacutei Taifun

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon苔 tāi Moos 胎 tāi Foumltus

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c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend怠 dagravei faulenz- 殆 dagravei gefaumlhrlich 迨 dagravei bis

d Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt笞 chī peitsch-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon怡 yiacute froumlhlich 貽 yiacute hinterlass- 飴 yiacute Konfekt

f Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon冶 yě schmied-

g Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon治 zhigrave verwalt-

(43) Freies Zeichenmorphem 出 chū her-hinaus als Laut trauml ger ge bunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon絀 chugrave unterlegen 黜 chugrave amtsentheb-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend und mit aumlhn li-chem An glitt屈 qū beug-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt拙 zhuoacute ungeschickt 茁 zhuoacute gedeih-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon咄 duograve ein bestimmtes lautmalerisches Wort

(44) Freies Zeichenmorphem 且 qǐe und als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit demselben Anglitt

蛆 qū Made b Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt und

demselben Ton狙 jū einen Anschlag veruumlb-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt齟 jǔ sich streit- 沮 jǔ niedergeschlagen 咀 jǔ kau-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon租 zū miet-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon阻 zǔ hinder- 祖 zǔ Ahn 俎 zǔ Schneidbrett 詛 zǔ ver fluch‑ 組 zǔ Satz (bei Maszligangaben)

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In den obigen Beispielen liegt das Augenmerk darauf welches lautliche Ver haumllt nis zwischen einem Ideophonogramm und seinem Lauttraumlger wenn er frei vorkommt besteht In aumlhnlicher Weise koumlnnte man das Hauptaugen merk dar auf legen in welchem Verhaumlltnis die Lautungen aller Ideophono gram me wel che ein und denselben Lauttraumlger nutzen zueinander stehen

In unseren Beispielreihen sind saumlmtliche Ideophonogramme einer durch Buch staben gekennzeichneten Reihe homophon und weisen den glei-chen Lauttraumlger auf so ist zum Beispiel bei (42) die Lautung saumlmt li cher Ideo phonogramme in Reihe a taacutei in b tāi in c dagravei in d chī in e yiacute in f yě und in g zhigrave Die Ideophonogramme mit dem sel ben laut-tragenden Zeichenmorphem in a taacutei und b tāi sind homoio phon Die Ideo phonogramme in a taacutei und b tāi reimen sich mit denen in c dagravei und besitzen zumindest aumlhnliche Anglitte (t und d) Die Ideo phono-gramme in d chī e yiacute und g zhigrave reimen miteinander Die Quadrat-zeichen in e yiacute und f yě teilen den gleichen Anglitt y waumlh rend der Anglitt in d ch dem in g zh aumlhnelt (bis auf [aspiriert] in al len phono-logischen Merkmalen gleich)

Augenscheinlich lassen sich die Ideophonogramme mit dem freien Zei chen-morphem 台 taacutei Podest (46) in zwei Gruppen unter gliedern Diejenigen in a taacutei b tāi und c dagravei weisen denselben Reim ai untereinander und mit dem frei auftretenden Lauttraumlger taacutei auf waumlhrend sich die Anglitte t und d (in IPA [t ] und [t]) lediglich in dem phonologischen Merkmal [aspi-riert] unter scheiden Dementgegen zeigen die Ideophonogramme in d chī e yiacute f yě und g zhigrave entweder denselben Reim i oder den gleichen bzw einen aumlhnlichen Anglitt (y bzw ch und zh) weder der Reim i noch die An glitte y ch oder zh klingen nach dem frei vorkommenden Laut-traumlger taacutei Wahrscheinlich ist das laut tragende Zeichenmorphem 台 taacutei Po dest durch einen Zusammenfall (Synkretismus) von zwei zeichen etymo-logisch verschiedenen Zeichenmorphemen zustande gekommen oder aus zwei urspruumlnglich geschiedenen Zeichenmorphemen kon tami niert Auch ist denkbar dass die Lautung des freien Zeichen morphems durch Fremd-einfluss (Fremd lautung oder Uumlber nahme mundartlicher Faumlrbung) oder aus einem uns heute verdunkelten historischen Grund veraumlndert wurde Die von ihm abgeleiteten Lauttraumlger waumlren dann zu unter schiedlichen Zei ten (und entsprechend mit unterschiedlicher Lautung) in Ideophono gram me ein gebaut worden

Aus den obengenannten Beispielen laumlsst sich ersehen dass nicht jeder Lauttraumlger einen zuverlaumlssigen Hinweis auf den Lautwert seines Ideo-

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phono gramms gibt Die Zuverlaumlssigkeit mit der ein laut tragendes Zeichen-morphem an einer bestimmten Lautung (oder einem Lautungs buumlndel) verankert werden kann ndash und umgekehrt ndash ist abhaumlngig ua von a) der Anzahl der Ideophonogramme die den gleichen Lauttraumlger aus weisen und phonetisch miteinander uumlbereinstimmen und b) der Haumlufig keit mit der diese Ideophonogramme im Gebrauch vorkommen und damit als Induk-tions basis fuumlr den Anwender dienen koumlnnen

Beispiels weise weisen die Ideophonogramme 提 tiacute heb- bring- erwaumlhn- auf werf- und 堤 tiacute Damm die sehr haumlufig gebraucht werden den gleichen Laut traumlger 是 shigrave sei- auf Daraus ziehen Lerner und Benutzer chine sischer Quadrat zeichen den vorlaumlufigen Schluss dass Ideophono-gramme die den Laut traumlger 是 shigrave sei- enthalten ungefaumlhr mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden sollten ndash obgleich die Lauttraumlger lautung mit der freien Lautung nur im Silbengipfel (hingegen weder im Anglitt noch im Tone) uumlberein stimmt in seiner Eigenschaft als Lauttraumlger haftet dem Zeichen morphem somit eine andere Lautung an als dort wo es frei auf tritt Diese Schluss folgerung finden Quadrat zeichen benutzer bestaumltigt wenn sie seltenere Ideophono gramme wie 醍 tiacute Butter fett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln und 禔 tiacute Gluumlck kennenlernen Stoszligen sie dann auf die ihnen womoumlglich gaumlnzlich (also auch in der Lautung) unbe-kannten Tier namen 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel so sprechen sie beim Vorlesen die fuumlr sie offenkundig als Ideophono gramme erkenn-baren Quadrat zeichen in Analogie ebenfalls mit der Silbe tiacute aus und in diesem Falle stimmt diese Leseaussprache auch Sehen sie nun aber ein anderes ihnen unbekanntes fuumlr sie nicht minder offensichtlich als Ideo-phono gramm zu deutendes Quadratzeichen 湜 shiacute rein (in bezug auf Was ser) so ordnen sie wiederum in Analogie zur oben geschil derten Erfah rung dem Ideophonogramm gleichermaszligen die Silbe tiacute zu ndash dies-mal aber irriger weise denn im Gegensatz zu dem uumlblichen Muster wonach die den Lauttraumlger 是 enthaltenden Ideophonogramme immer mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden bezieht das Ideophono gramm 湜 shiacute rein (in bezug auf Wasser) ungewoumlhnlicherweise seine Lautung unmittelbar aus dem Lautwert des freien Quadratzeichens 是 shigrave sei- wird folglich zu diesem homoiophon mit der Silbe shiacute ausgesprochen

Zu Verwirrungen kann es nicht nur innerhalb der Kategorie der Ideo phono-gramme kommen sondern es geschieht weil ja im Chinesi schen die Ideo-phono gramme dermaszligen vorherrschend sind gelegentlich auch dass ein Leser zusammengesetzte Ideogramme deren Quadratzeichen er noch nicht kennt als Ideophono gramme missdeutet In solchen Faumlllen kann zweier lei

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geschehen Entweder laumlsst der Leser sich vom bdquoPseudo-Lauttraumlgerldquo der maszligen beeinflussen dass er dem ihm unbekannten Quadrat zeichen als Leseaussprache sekundaumlr eine Lautung beimisst welche er mit dem Pseudo-Lauttraumlger verbindet oder aber ndash und das duumlrfte bedeu tend seltener geschehen ndash erkundigt sich der Leser uumlber die sprech sprach lich richtige Lautung des Quadratzeichens und ordnet in seinem Bewusst sein dem Lautungs buumlndel des Pseudo-Lauttraumlgers dann zusaumltzlich diese neue Lautung zu

5 Zur Kombinatorik von ZeichenmorphemenDie uumlberwiegende Mehrheit der chinesischen Quadratzeichen ist durch Kompo si tion von zwei oder mehr Zeichenmorphemen entstanden Aller-dings sind die Zei chen morpheme eines Quadratzeichens im Schreibquadrat nicht willkuumlrlich son dern nach gewissen zeichenmorphotaktischen Regeln platziert

Die kombinatorischen Eigenschaften eines Zeichenmorphems wo es als Kom posi tions glied im Quadratzeichen auftritt sind von zwei Fakto ren ab haumlngig erstens ob das Zeichenmorphem nur gebunden oder aber auch frei vorkommt und zweitens ob das Zeichenmorphem als Bestand teil eines Qua drat zeichens immer ein und dieselbe Position inner halb des Schreib-qua drates einnimmt (stellungsstarr) oder aber an mehreren Posi tionen vor-kommen kann (mehr-Stellungs-faumlhig)

Ein Zeichenmorphem welches nur gebunden als Kompositionsglied im Qua drat zeichen genutzt werden kann ist in aller Regel stellungsstarr Betrachten wir nachfolgend zunaumlchst diese Faumllle nur-gebundener Allo-morphe

(45) Ehemals freies Piktogramm dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette kommt heut zutage nur mehr gebunden vor und ist stellungs starr

a immer am linken und zugleich oberen Quadratzeichenrande wie in 疾 病 瘋 癲 疲 疼 痛 疚 疤 痕 痊 癒 癱 瘓 瘦 疫 療 癮

(46) Ehemals freies Piktogramm dagger卩 daggerjieacute Daggerknieendersitzender Mensch kommt heutzutage nur mehr gebunden vor und ist stellungsstarr

a immer auf der rechten Seite im Quadratzeichen wie in 卯 印 即 卲 卸 卹 卻

Sofern ein Zeichenmorphem auch als eigenstaumlndiges Quadrat zeichen (in Ge stalt eines Vollallomorphs) vorkommt haumlngt seine Stellungs frei heit inner halb des Schreibquadrates davon ab welcher Allomorphart es ange-

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houmlrt den Schrumpfallomorphen oder den Allomorphkuumlrzeln In der Regel nimmt ein Allomorph kuumlrzel nur eine einzige Stelle im Schreib qua drat ein ist also stellungsstarr waumlhrend sich ein Schrumpfallomorph nicht auf eine feste Positio nierung beschraumlnken muss (allenfalls kann) mithin poten ziell mehr-Stellungs-faumlhig ist Das ist der Grund dafuumlr warum die Zeichen morphem gattung bdquoAllomorph kuumlrzelldquo im Bewusstsein chinesi scher Schreiber eine besondere Rolle spielt Nachfolgend fuumlhren wir Bei spiele fuumlr die Platzierung von Schrumpf allomorphen und Allomorph kuumlrzeln im Qua dratfeld an

(47) Piktogramm 山 shān Berg kommt auch frei als Vollallomorph vor so wie als

a Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 屹 崎 嶇 峽 嶼

b Schrumpfallomorph an der Oberkante des Quadratzeichens wie in 嶺 崇 岸 崗

c Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 岡 巒 岳 岔 島

d Schrumpfallomorph auf der rechten Seite im Quadratzeichen (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 訕 汕 疝

(48) Piktogramm 手 shǒu Hand kommt auch frei als Vollallomorph vor sowie als

a Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 摩 拳 拿 掌 擎 摯 擊 攀

b Schrumpfallomorph auf der linken und rechten Seite (im Rahmen der seltenen Komposition aus drei gleichrangigen Gliedern) des Quadratzeichens 掰

c Schrumpfallomorph in der Quadratzeichenmitte und dabei oben so wie beidseits uumlberragt wie in 承

d Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 拜 welches rechts mit einem nur-gebundenen unikalen Allo morph be stuumlckt ist das seinerseits wiederum ur spruumlng lich ebenfalls von dem Pikto gramm 手 shǒu Hand abge leitet ist

e Allomorphkuumlrzel (stellungsstarr) zeichenmorphotaktisch nur im mer am linken Quadratzeichenrande wie in 打 扒 扔 扣 扛 拖 抖 扯 把 抓 攪 拌 捕 捉 握 抽 抵 押

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Die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommen den Zeichen-morphem dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette zusammen gesetzter Qua drat-zeichen sind etwa 病 Krankheit 瘋 verruumlckt 疲 muumlde 痛 Schmerz 疤 Nar be 癒 verheil- 癮 Sucht die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommenden Zeichenmorphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersit zen der Mensch sind zB 印 Stempel 即 sofort 卸 entlad- 卹 troumlst- 卻 hingegen die Bedeutungen solcher Quadrat zeichen mit dem auch frei vorkom menden Zeichen morphem 山 shān Berg sind bei spiels-weise 崎 felsig 峽 Tal 嶼 Inselchen 嶺 Gebirgs zug 岸 Ufer 岳 ho her Berg 島 Insel und Qua drat zeichen mit dem auch frei vor kom-menden Zeichen morphem 手 shǒu Hand koumlnnen folgendes be deuten 拜 anbet- 摩 mit der Hand reib- 拳 Faust 拿 hol- 打 schlag- 捉 einfang-Was Ideophonogramme anlangt kann man meistens aus ihren Kompo si-tions struk turen und den Eigenschaften des Zeichenmorphems schlie szligen ob ein als Kompositionsglied genutztes Zeichenmorphem der Sinn- oder aber der Lauttraumlger eines Ideophonogramms sei Diesbezuumlglich ver su chen wir im Fol genden einige brauchbare Richtlinien aufzustellen und diese an hand der oben aufgelisteten Beispiele zu erlaumlutern Zu beachten ist dass nicht alle Quadrat zeichen in (45) (46) (47) und (48) Ideo phonogramme sind Die Er laumluterung bezieht sich ausschlieszliglich auf die ideo phonographi schen unter den angegebenen Quadratzeichen Saumlmtliche Quadratzeichen in (45) (47) a b und d sowie (48) e stellen Ideophono gram me dar In (46) sind zB folgende Quadratzeichen Ideophonogramme 即 卲 卹 in (47) c 巒 島 und in (48) a 摩 擎 摯

Richtlinie 1 Bei bestimmten Kompositionsstrukturen finden sich der Sinn- und der Lauttraumlger jeweils in bestimmten Stellungen In Ideophono-gram men in denen ein Kompositionsglied das andere (teilweise) um saumlumt (bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition) nimmt der Sinntraumlger die Auszligen- und der Laut traumlger die Innen stellung ein wie in (45) In ideophonogra phi schen Kom posita in denen die Kompositionsglieder senkrecht voneinander zu tren nen sind (bdquoLinksrechtsldquo-Komposition) befinden sich der Sinn traumlger links und der Laut traumlger rechts wie in (47) a und d sowie in (48) e Bei Ideo phono grammen in denen die Kompositionsglieder waage recht von-ein ander zu trennen sind (bdquoObenuntenldquo-Komposition) haumlngt die Unter-brin gung der sinn- und lauttragenden Zeichenmorpheme weniger von ab strakt beschreibbaren Regeln ab sondern sie bdquoklebtldquo eher am einzel nen Zeichen morphem In solchen Faumlllen muss man gewissermaszligen zu jedem Zeichen morphem ein Buumlndel Zusatzeigenschaften kennen zu denen auch

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die eben erwaumlhnte Po sitio nierung im Zeichen quadrat bei bdquoObenuntenldquo-Kom position gehoumlrt (vgl (47) b und c sowie (48) a)

Richtlinie 2 Es gibt eine beschraumlnkte Anzahl haumlufig gebrauchter Zei-chen mor pheme die ausschlieszliglich oder uumlberwiegend nur einer der bei den Funktionen (Sinn- oder Lauttraumlger) dient Beispielsweise handelt es sich in (45) (46) und (48) um Zeichen morpheme die aus schlieszlig lich als Sinn traumlger erscheinen In (47) tritt das Zeichen morphem 山 shān Berg ungleich haumlufiger als Sinn- (wie in (47) a b und c) denn als Laut traumlger (wie in (47) d) auf nicht zuletzt ist es in seiner selteneren Funktion als Laut traumlger aus schlieszliglich auf der rechten Seite im Schreib quadrat auszumachen (wie in (47) d) wobei noch dazu seine Kompositionspartner auf der linken Seite alle samt gebraumluchliche Sinntraumlger sind und somit die obengenannte Stel-lungs regel bei der bdquoLinksrechtsldquo-Komposition eingehalten wird

Richtlinie 3 Stellungsstarre Kompositionsglieder seien es Allomorph kuumlr-zel wie in (48) e oder nur-gebundene Zeichenmorpheme wie in (45) und (46) dienen in ideophonographischen Quadratzeichen in aller Regel als Sinn traumlger In (46) bestehen die Ideophonogramme aus zwei Kom posi tions-gliedern jeweils einem auf der linken und einem auf der rechten Seite Nach Richtlinie 1 sollte ein Leser den linken Bestandteil als Sinn traumlger und den rechten als Laut traumlger deuten koumlnnen Nun werden bei den Ideo phono gram-men in (46) allerdings die jeweils linken Zeichen morpheme erstens selten als Kompositions glieder in Quadrat zeichen eingesetzt und zweitens falls doch dann sind sie fast nie Sinn traumlger Dem gegen uumlber stellt das stellungs-starre Zeichen morphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersitzender Mensch das stets die rechte Stel lung einnimmt einen gebraumluchlichen Sinn traumlger dar der erfah rene LeserSchreiber hat bei diesem (und anderen) Zeichen also nicht nur die Form sondern zugleich auch etwaige an dieser Form bdquoklebendeldquo Eigen schaften wie bdquoSinn traumlgerldquo und bdquoStellung inner halb des Quadrat feldesldquo ver inner licht Diese Kenntnisse fuumlhren ihn dann zur Schluss folge rung dass die Ideo phono gramme in (46) so komponiert worden seien dass ndash im Gegensatz zur gewoumlhnlichen Positionierung ndash der Sinn traumlger auf der rechten Seite und der Lauttraumlger auf der linken Seite stehe

Wenn sie die obengenannten Richtlinien verinnerlicht haben nehmen Lerner und Benutzer chinesischer Schriftzeichen nur selten das sehr haumlu-fige Quadrat zeichen 題 tiacute Aufgabe als Ideophonogramm wahr Zeichen-etymolo gisch betrachtet besteht dieses Quadratzeichen naumlmlich rechtsinnen aus dem Schrumpf allomorph des Laut entlehnungs zeichens 頁 yegrave Seite als Sinn traumlger und linksauszligen aus dem Allomorph des zu sam men-gesetz ten Ideo gramms 是 shigrave sei- als Lauttraumlger Warum aber erkennt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder122

man diesen ideophonographischen Aufbau von 題 tiacute Aufgabe nun aber meist nicht Das Zeichen mor phem 是 shigrave sei- tritt als Laut traumlger in aller Regel auf der rechten Seite von Ideo phono grammen mit bdquoLinksrechtsldquo-Komposition auf diese Eigen schaft des Zeichen mor phems laumlsst sich aus etlichen Beispielen indu zieren 提 tiacute heb- 堤 tiacute Damm 醍 tiacute Butterfett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln 禔 tiacute Gluumlck 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel Aller dings im Qudratzeichen 題 tiacute Aufgabe steht 是 shigrave einzig artiger weise auf der linken Seite obgleich es in dieser Kom position gleicher maszligen Laut traumlger ist auf faumllligerweise wird zu dem der untere Strich des Allo morphs von 是 shigrave sei- nach rechts unten weitergezogen Dieser weiter gezogene Strich veranlasst den Leser das Quadratzeichen 題 tiacute Auf gabe nicht mehr als bdquoLinksrechtsldquo-Komposition sondern eher als eine (auch anderweitig uumlbliche) bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition zu erachten und da mit ist das Allo morph des Zeichen-morphems 是 shigrave sei- als aumlu szligerer Bestand teil und das Schrumpf allo morph des Zeichen morphems 頁 yegrave Sei te als innerer Bestandteil zu wer ten Wie oben erlaumlutert dient bei Ideo phono grammen mit solcher bdquoAu szligenin nenldquo-Komposition in der Regel das aumluszligere Zeichen morphem (hier 是 shigrave sei-) als Sinn- und das innere (hier 頁 yegrave Seite) als Lauttraumlger Im Qua-drat zeichen 題 tiacute Auf gabe in des sen ist es gerade umgekehrt denn hier nimmt der Laut traumlger die sonst fuumlr den Sinn traumlger uumlbliche Stellung ein und umgekehrt Deshalb wertet der Leser wie erwaumlhnt dieses Quadrat-zeichen schwer lich als Ideo phono gramm son dern nimmt es einfach als Ein heit hin ohne es zu ana lysieren Dieser Ver zicht des Anwenders sich den ideophonographischen Zeichenaufbau zu ver durch sich ti gen liegt umso naumlher als es sich beim Ideophonogramm 題 tiacute Auf gabe um ein uumlber-aus gelaumlufiges Qua drat zeichen handelt sehr gelaumlufige sprachliche Grouml szligen idiomatisiert man bekanntlich schneller und nimmt sie dann eher als gege-bene Einheiten wahr ohne dass man das Beduumlrfnis hegte sich ihren Auf-bau bei jedem Auftreten neu zu vergegenwaumlrtigen

6 Mehr-Zeichen-Komposita und chinesische TexteJedes chinesische Einzelschriftzeichen wird unabhaumlngig von der Zahl sei-ner Bestand teile (Zeichen morpheme) und Strichzuumlge zu einem theore tisch gleich groszligen quadratischen Block gestaltet Anlaumlsslich dieser Eigen schaft wird es im vorliegenden Beitrag ein gaumlngig bdquoQuadrat zeichenldquo genannt Die Rege lung dass alle Quadrat zeichen theoretisch ein gleichgroszliges Feld aus fuumlllen wird beim Drucken und beim Lernen streng eingehalten Diese Diszi plinie rung scheint trivial zu sein sie ist fuumlr die Aufrecht erhaltung der

123

Funktions weise der chinesischen Schrift jedoch von nicht zu unter schaumlt-zender Bedeutung Dadurch dass alle Zeichen morpheme eines zusammen-gesetz ten Schrift zeichens in einem gedachten Quadrat bestimmter Groumlszlige ange ordnet werden vermeidet man dass seine Bestandteile gra phisch aus-ein ander fallen

61 Schriftliche Wiedergabe lexikalischer mehrsilbiger Komposita

In klassischen chinesischen Texten steht jedes Quadratzeichen fuumlr einen Be griff Etliche Quadratzeichen repraumlsentieren als Homographe meh rere Bedeu tungen also mehrere bdquoWoumlrterldquo (meist Homonyme) Je nach Kon text wird die angemessenste Bedeutung dahinter verstanden Um diese Mehr-deutigkeit zu mindern wurden zuerst neue Quadrat zeichen konstruiert welche die Begriffe eindeutiger abbilden konnten Wohl gemerkt ein Qua-drat zeichen obgleich (heute) mit einer Silbe ausgesprochen bildete zunaumlchst nicht unbe dingt eine einzige Silbe ab sondern stand damals noch fuumlr ein Abbild des Inhalts fuumlr einen Begriff der Inhaltsseite welcher ausdrucks-seitig durch passende bdquoWoumlrterldquo (Einsilbler oder Silben syntagmen) ausge-druumlckt werden konnte Nach und nach hielt das Tempo der Quadrat zeichen-bildung nicht mehr mit der sprunghaften Vermehrung neuer bdquoWoumlrterldquo Schritt auch wuumlrden zu viele Ein-Begriff-ein-Quadratzeichen-Entspre-chun gen zu Lasten des Gedaumlchtnisses gehen Aus diesem Grund haben sich Gelehrte auf die feste Hinterein ander reihung mehrerer Quadrat zeichen verlegt ndash und jedes dieser Quadrat zeichen entsprach dann nur noch einer ein zigen Silbe Mehr silbige bdquoWoumlrterldquo konnten und mussten nun also mit einer ihrer Silben zahl entsprechenden Reihe von Quadratzeichen geschrie-ben werden Durch den rekursiven Einsatz vorhandener Quadratzeichen lassen sich so nahe zu unbegrenzt neue Einheiten bilden ohne dass man den Bestand der Quadrat zeichen weiter erhoumlhen muumlsste Als Ergebnis ent-stehen Mehr-Zeichen-Komposita aus zwei drei oder mehr Quadratzeichen Im der deutschen Wortbildung lassen sich mehrgliedrige Komposita (und Mehrfach-Ableitungen) vergleichen

Da zu Anfang als die Schrift noch bildhafter war und eher Begriff lichkeiten denn Lautwoumlrter ausdruumlckte und jedes Zeichen einen Begriff dar stellte (hinter dem sich mehrere Sprechwoumlrter vereinen lieszligen) war keine begren-zende Leere zwischen Quadratzeichen in einer Zeile noumltig Auch als spaumlter die genann ten Mehr-Zeichen-Komposita ent standen blieb dieser Zu stand un veraumlndert So gibt es auch heute beim Schreiben keine Markie rung zwi-schen lexikalischen Einheiten zwischen enger und weniger eng Zu sammen-gehoumlren dem Jedes Quadrat zeichen ist vom anderen gleich weit ent fernt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

124

gleich ob ein zwei oder mehr Quadrat zeichen zu einem lexika lischen Kom positum zusammengehoumlren Bis auf Anfuumlhrungszeichen fuumlr bdquoneueldquo bzw erklaumlrungsbeduumlrftige bdquoWoumlrterldquo wird auch niemals ein Binde strich oder ein entspre chendes Verdeutlichungs zeichen angewandt welches die Zusammen gehoumlrigkeit eines Mehr-Zeichen-Kompositums kenn zeichnen wuumlrde

62 Interpunktion im chinesischen Text

Die Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen stellt nicht die einzige Schwierig keit beim Lesen klassischer Texte dar Sind schon die Wort gren-zen nicht markiert (und damit zB die haumlufigen Mehr-Zeichen-Komposita nicht als zusammengehoumlrig kennzeichenbar) so gilt dasselbe in klassi schen Tex ten obendrein fuumlr die Grenzen zwischen Saumltzen Des weiteren wurden klassi sche Schriftwerke wohl schon wegen des teuren Schreib materials in einer sprachlich sehr gedraumlngten Form (einer Art bdquoTelegramm stilldquo) verfasst die sich uns heute ohne Kenntnis der damaligen Umstaumlnde heraus nicht mehr von selbst erklaumlrt Daruumlber hinaus gibt es im Chinesischen als isolie-render Sprache kein Kasussystem welches die Rolle der Satz glieder unter-stuumltzend anzeigen koumlnnte Waumlhrend in der heutigen Schriftsprache (in Ent sprechung zur Sprechsprache) wenig Spielraum hinsichtlich dessen herrscht in welcher Folge man Quadratzeichen im Satz anordnen kann kennt die klassische Schreibung kaum Regeln fuumlr die Anordnung der Qua-drat zeichen die schriftliche Fixie rung des Sinnes ist sehr unscharf und da durch sind viele und oft genug stark unterschiedliche Aus legun gen moumlg-lich bzw noumltig fuumlr alle bdquoWort artenldquo ist theoretisch die syntaktische Rolle in einem Satz jederzeit austauschbar Je nach Interpretationsbedarf werden die passendste Bedeutung und Anwendung gewaumlhltDie Sinn-Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen der Mangel an Wort-grenzen Satzzeichen und Kasus die relativ freie Quadratzeichen=bdquoWortldquo-Stel lung sowie die spaumlrliche Schreibweise ndash und nicht zuletzt auch der im Laufe der Zeit eingetretene Sprachwandel in der Sprech sprache ndash er schweren chinesischen Gelehrten die Ausdeutung klassischer Texte seit Ge nera tionen Der Volksmund nimmt diesen Umstand mit folgender Geschichte aufs Korn Es war einmal ein Mann der als es heftig regnete bei einem Besuch im Hause seines Gastgebers dort auch fuumlr die Nacht unterkam Der Regen indes dauerte und dauerte an so wohnte der Besucher Tag um Tag weiter in dem gastfreien Hause Aus Houmlflichkeit wollte der Gastgeber seinem Besu-

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder

125

cher nicht von Angesicht zu Angesicht mitteilen dass er jetzt langsam denn doch nach Hause zuruumlckkehren sollte also klebte er einen Zettel an die Zimmertuumlr des klettigen Gastes Darauf stand

(49) 下雨天留客天留我不留

a 下 xiagrave herabfall- b 雨 yǔ Regen c 天 tiān Himmel Tag d 留 liuacute (jemanden) halt- e 客 kegrave Besucher f 我 wǒ Pronomen der 1 Person g 不 bugrave nicht bu eine Fragepartikel

Der Gastgeber wollte damit ausdruumlcken

(50) 下雨天留客天留我不留

Es regnet Der Himmel haumllt den Besucher [hier bei mir fest] Der Himmel will [dich] halten ich [aber] nicht

Allerdings hatte der kleine Text (49) klassischerweise keine Interpunktion Der gewitzte Besucher indes fuumlgte eine solche auf folgende Weise hin zu

(51) 下雨天留客天留我不留

Tage an denen es regnet [sind] Tage da der Besucher [im Hau se] behalten [werden sollte] [Sollst du als Gastgeber] mich hal ten oder nicht Jawohl [eigentlich Halten]

Das Quadratzeichen 天 tiān Himmel hat weitere Bedeutungen wie Tag Wet ter und Gott Das Quadrat zeichen 留 liuacute fuumlr das Verb halt- laumlsst sich intran sitiv im Sinne von bleib- verwenden Selbst das Quadrat-zeichen 不 bugrave fuumlr die Ver neinungs partikel nicht findet Anwendung auch als Frage partikel wobei dann beim Sprechen die Silbe nebentonig wird Es ist (vor allem im klassischen Text) nicht erforderlich dass alle Satz glieder wie syntak tisches Subjekt oder Objekt eines Satzes ausgedruumlckt werden Hat sie der Textver fasser nicht hingeschrieben so muss sie der Text leser selbst aus dem Kon text erschlieszligen Je nach Hintergrund oder Bedarf ergeben sich unterschiedliche ggf widerspruumlchliche Inter pretationen des-selben Tex tes

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

63 Laufrichtungen von Quadratzeichenfolgen und Textzeilen

Die Schreibrichtung der chinesischen Quadratzeichen ist traditionell in der Regel senkrecht von oben nach unten und die so entstehenden senkrechten Zeilen sind von rechts nach links angeordnet Seit ca 100 Jahren werden chine sische Texte neben der althergebrachten Schreibrichtung auch in Zeilen von links nach rechts und mit von oben nach unten angeordneten Zeilen geschrieben ndash wie in europaumlischen Buumlchern

Dank der Tatsache dass wegen der Form der Quadratzeichen die Zei-chen eines Textes wie die Kaumlstchen in einem Kreuzwortraumltsel angeord net sind sind bei einem chinesischen geschriebenen Text etliche spieleri sche Lesun gen und Schreibungen moumlglich Solche Spielereien sind bei Chine-sen traditionell uumlblich daher sei ihrer hier erwaumlhnt Nicht nur die Zei-chen an Zeilen anfaumlngen oder Zeilenenden sondern auch zB die jeweils sieben ten Quadrat zeichen aller Zeilen stehen in einer Flucht Sie bilden also quer durch die Zeilen laufende bdquo(Diagonal-)Spaltenldquo Das graphische bdquoAkro syllabonldquo dehnt sich uumlber den ganzen Text hin aus Man kann darin die Leserichtungen wechseln oder geometrische Figuren oder auch Endlos schleifen konstruieren So lassen sich beispielsweise auch die fuumlnf Quadrat zeichen in (52) spielerisch dergestalt niederschreiben dass sie in der ange gebenen Abfolge einen Kreis bilden der ndash das legen wir fest ndash im Uhrzeigersinn gelesen wird

(52) 清 心 也 可 以

a 清 qīng reinig- b 心 xīng Geist c 也 yě auch eine Bestaumltigungspartikel d 可 kě koumlnn- e 以 yǐ mittels eine Art Modalpartikel

Wieder dank der Mehrdeutigkeit und der vielfachen Anwendbarkeit kann jedes Quadratzeichen an den Anfang eines Satzes zu stehen kommen

(53) Die fuumlnf moumlglichen Lesarten der Kette aus fuumlnf Quadratzeichen in (52) sind somit folgende (die syntaktischen Komplexe sind durch zusaumltzliche Binde striche verdeutlichend getrennt)

a 清心也可以 (清心-也-可以) Den Geist zu reinigen [ist hiermit] eben falls moumlglich

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder126

b 心也可以清 (心也-可以-清) Der Geist ndash [er] ebenfalls ndash kann [hier-mit] gereinigt werden

c 也可以清心 (也-可以-清心) Ebenfalls kann [hiermit] der Geist ge rei nigt werden

d 可以清心也 (可以-清心-也) [Hiermit] kann der Geist gereinigt wer den jawohl

e 以清心也可 (以-清心-也可) [Hier]mit den Geist zu reinigen [ist] eben falls moumlglich

Das bdquoWortldquo 可以 in den ersten vier Saumltzen bedeutet koumlnn- wobei das Qua-drat zeichen 以 yǐ als rhythmische Partikel keinen Beitrag zur Bedeu tung leistet Das Quadrat zeichen 也 yě im vierten Satz ist ledig lich eine Bestaumlti-gungs partikel wenn es in klassischen Texten am Satz ende hin zuge fuumlgt wird Dieser etwas spielerische volkstuumlmliche Spruch findet sich auf einer chine sischen Teekanne Mit ihm ist gemeint dass guter Tee nicht nur den Durst stille sondern auch den Geist reinige

127Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder128

7 SchrifttumBlakney Raymond B (1948) A course in the analysis of chinese cha rac-ters Peiping The College of Chinese StudiesCouvreur Seacuteraphin (31911) Dictionnaire classique de la langue chinoise Zhili Ho Kien FouFazzioli Edoardo (2003) Gemalte Woumlrter 214 chinesische Schriftzeichen ndash vom Bild zum Begriff Wiesbaden Fourier-VerlagKarlgren Bernhard (22001) Schrift und Sprache der Chinesen Ber lin Springer-VerlagLin Hsin-Hwa (1996) Der sinnhafte Aufbau der chinesischen Schrift Frank furt am Main Peter LangRudolph Joumlrg-Meinhard (2004a) Das groumlszligte Geheimnis Chinas I Ludwigs hafen Ostasieninstitut der FH LudwigshafenRudolph Joumlrg-Meinhard (2004b) Das groumlszligte Ge heimnis Chinas II Ludwigshafen Ostasieninstitut der FH Lud wigs hafenWang Hongyuan (1997) Vom Ursprung der chinesischen Schrift Peking Sino lingua BeijingWieger Leacuteon SJ (1965) Chinese characters Their origin etymology his tory classification and signification A thorough study from Chinese do cu ments New York DoverYan Zhenjiang (2000) Schriftsystem Literalisierung Literalitaumlt Frank furt am Main Peter Lang

Danksagung Die Verfasser danken herzlich den KorrekturlesernMeike Brehmer Jost Gippert Joshua Kraumlmer und Andreas Schabalin

Dr Chung-Shan KaoDepartement fuumlr PsychologieUniversitaumlt Freiburg im UumlechtlandRue Petermann-Aymon de Faucigny 2CH-1700 FreiburgSchweizchung-shankaounifrch+41 (0)26300 74 94

Thorwald PoschenriederTausendschoumln-Verlag

Dorfstraszlige 39D-17509 LodmannshagenPommernDeutschlandTausendschoen-VerlagT-OnlineDe+49 (0)383 73266 88

Geschichte der Morphologie

Rosemarie Luumlhr1

The present approach to history of morphology centres around a certain term namely syncretism because this term plays a major role in modern linguistics under the name of underspecification In the following the phenomenon of underspecification will be dealt with firstly by means of Latin nominal mor-phology and secondly by reference to Old Indic This is supposed to indicate that the Old Indic grammarians already knew essential aspects of underspeci-fication

EinleitungDie Behandlung der Geschichte der Morphologie erfolgt anhand eines be-stimmten Begriffs naumlmlich anhand des Synkretismus weil dieser Begriff unter dem Terminus Unterspezifikation in der modernen Linguistik eine groszlige Rolle spielt Das Phaumlnomen der Unterspezifikation wird im folgenden erstens anhand der lateinischen nominalen Morphologie erlaumlutert zweitens anhand der altindischen Dabei soll gezeigt werden daszlig die altindischen Grammatiker schon wesentliche Aspekte der Unterspezifikation erkannt haben

Das griechische Substantiv συγκρητισμός Vereinigung von kretischen Ver-baumlndenrsquo dann Vereinigung zweier streitender Parteien gegen einen dritten Feindrsquo wurde von Erasmus von Rotterdam neu belebt im Sinne von Ver-mischung von religioumlsen Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbildrsquo Er hat das Wort volksetymologisch an griech συγκεράννυμι vermischersquo σύγκρατος vermischtrsquo angeschlossen Im 19 Jh erfuhr der Begriff eine Ausdehnung Die Anwendung auf die Sprachwissenschaft stammt von August Pott 18362

Eine uumlbliche Definition von Synkretismus findet sich in Abrahams bdquoTermi-nologie zur neueren Linguistikldquo (Abraham 1988 S 849)

bdquohistor Zusammenfall von urspruumlnglich verschiedenen grammatischen For-men mit verschiedenen Bedeutungen so daszlig sprachgeschichtlich Morphem- oder Phonemhomonymie zustande kommt synchron allerdings ist die Lizenz dieses Wandels daszlig eine der gesonderten Bedeutungen oder grammatischen

1 Herr Dr Bernd Wiese hat mir die das Latein betreffenden Graphiken zur Verfuumlgung gestellt und autorisiert Ich danke ihm herzlich dafuumlr2 BaermanBrownCorbett 2005 S 3f

Rosemarie Luumlhr130

Funktionen aufgegeben wird Dies zeigt sich im altgriech Kasussystem das den aumllteren idg Vokativ im Nominativ den Ablativ im Dativ aufgenommen hat Siehe dagegen das Lateinische wo Vokativ und Ablativ noch als gesonderte Kasus existierenrdquo

Auch das Deutsche zeigt bekanntlich Synkretismen vgl die Flexion des Artikels

(1)

[-pl] [+pl]

[+mask] [+neut] [+fem] [+mask] [+neut] [+fem][+nom] -er -es -e -e -e -e

[+acc] -en -es -e -e -e -e[+dat] -em -em -er -en -en -en[+gen] -es -es -er -er -er -er

Klassifiziert man nach Genus Numerus und Kasus erhaumllt man 24 Kom-binationen Doch verwendet man heute anstelle des Begriffs Synkretis-mus den genannten Terminus Unterspezifikation und versucht homo-nyme Endungen unter einer bdquonatuumlrlichen Klasseldquo zusammenzufassen Eine natuumlrliche Klasse ist dann gegeben wenn man weniger Merkmale braucht um diese Klasse zu spezifizieren als ein einzelnes Element hat das zu dieser Klasse gehoumlrt (Hall 2000 S 122) ZB hat die Endung -em in (1) die Merkmale [+dat +mask -pl] und [+dat +neut -pl] Streicht man die gemeinsamen Merkmale weg bleiben [+mask] und [+neut] uumlbrig Dem-nach bilden Maskulinum und Neutrum eine bdquoKlasseldquo die vom Femininum unterschieden ist In einem naumlchsten Schritt wird das Merkmal [+neut] auf-gegeben und das Neutrum anhand der Merkmale [plusmnmask] und [plusmnfem] defi-niert Demnach steht [+mask -fem] fuumlr das Maskulinum [-mask +fem] fuumlr Femininum [-mask -fem] fuumlr Neutrum Wenn man nun diese Merkmals-klassifikation auf die Endung -em anwendet ist diese durch den Merk-malssatz [+dat -fem -pl] ausgezeichnet und es ergibt sich ein Synkretismus oder eine Unterspezifikation in Hinblick auf die Genusmerkmale

Auch bei den Kasusmerkmalen ist der Begriff Unterspezifikation anwend-bar Fuumlr das Slawische hat zuerst Jakobson (1962) Merkmale wie [+nom] [+acc] [+dat] und [+gen] in die allgemeineren Merkmale [plusmngov(erned)] [plusmnobl(ique)] uumlbergefuumlhrt Eine Kreuzklassifikation fuumlhrt dann fuumlr die einzelnen Kasus zu folgenden Merkmalen Nominativ [-gov -obl] Akku-sativ [+gov -obl] Dativ [+gov +obl] Genitiv [-gov +obl] Auf diese Weise

Geschichte der Morphologie 131

entstehen die natuumlrlichen Klassen Nominativ Akkusativ vs Dativ Genitiv und zwar nicht oblique ([-obl]) vs oblique ([+obl]) Kasus Ein Flexions-marker kann so unterspezifizierte Kasus-Information zum Ausdruck brin-gen zB [+obl -mask +fem -pl] fuumlr -er im Dativ Genitiv Singular Femi-ninum (Muumlller Gunkel Zifonun 2004 S 2 6ff) Nimmt man nun fuumlr die Merkmalsklassifikation nur die positiven Merkmale erhaumllt man ein noch einfacheres Schema

(2)

o=oblique[ ]

Nominativ

o

Genitivg=governed g

Akkusativ

og

Dativ

Man sieht daszlig der Dativ gegenuumlber den anderen Kasus durch zwei Merk-male charakterisiert ist oblique und governed An dieser Stelle kommt die Natuumlrlichkeitstheorie ins Spiel Die These ist daszlig die Flexionsendun-gen partiell ikonisch sind (Gallmann 2004 S 125) Dh die Kasus die die meisten Merkmale haben sollten auch formal am meisten komplex sein In der Tat ist der Nasal -m gegenuumlber -n markiert und die Endung -em so ein bdquoschweres Affixldquo (Wiese 1999 S 14)

Die Frage ist nun ob derartige Analysen auch in der Geschichte der Morphologie eine Rolle spielen Man wird schnell fuumlndig Schon die altindischen Grammatiker haben wesentliche Hinweise zur Analyse der altindischen Nominalflexion gegeben Zunaumlchst einmal ist festzu-halten daszlig die bdquoElsewhere-Bedingungldquo ein uumlbergeordnetes Prinzip in der modernen Linguistik auf den genialen Grammatiker Pāṇini zuruumlckgeht Sie besagt bdquoWenn sowohl eine spezifischersquo Regel als auch eine generellersquo Regel auf eine zugrundeliegende Form angewendet werden koumlnnen dann operiert die spezifische Regel vor der generellen Regelldquo (Hall 2000 S 146) Daszlig der Vorrang deskriptiver Regeln von ihrer relativen Anordnung abhaumlngt sieht man zB an den lateinischen nominalen Endungen im Neu-trum und Maskulinum

Rosemarie Luumlhr132

(3) a NOM SGACC SG = X b X = stem + -um c NOM SG in masculine = stem + -usHier steht die Endung -us des Maskulinums der Default-NominativAkku-sativ-Endung -um gegenuumlber (BaermanBrownCorbett 2005 S 135f)

Bleiben wir zuerst beim Lateinischen und pruumlfen wie die bdquoElsewhere-Bedingungldquo im einzelnen wirkt Eine bemerkenswerte Analyse stammt hier von Bernd Wiese Diese soll nun vorgestellt werden

1 Analyse der lateinischen NominalflexionDie lateinische Nominalflexion ist bekanntlich ein komplexes morpholo-gisches System bdquodas alle Symptome des flektierenden Syndromsrsquo zeigt (homonyme synonyme und kumulative Exponenten Genuseinteilung unterschiedlich strukturierte Deklinationsklassen defektive Paradig-men)ldquo Nach Wiese (2002) helfen bei der morphologischen Beschreibung weder regelbasierte Ansaumltze weiter noch bieten morphembasierte Analysen Einsichten in die sbquoLogikrsquo solcher fusionierender Flexionssysteme da die Auffassung von morphologischen Markern als sbquoSaussuresche Zeichenrsquo bei Paradigmen wie den lateinischen nicht haltbar ist Jedoch hat de Saussure (1976 S 122) am Beispiel der deutschen Pluralbildung Gast Gaumlstersquo einen ent scheidenden Hinweis fuumlr Wieses Analyse solcher Formen gegeben bdquoce nrsquoest pas lsquoGaumlstersquo qui exprime le pluriel mais lrsquoopposition sbquoGast Gaumlstersquordquo Die Funktion morphologischer Markierungen laumlge also in derartigen Faumlllen nicht darin als sbquoExponentenrsquo von sbquoInhaltenrsquo zu fungieren sondern in der Unterscheidung von Formen unterschiedlicher Funktion Es wird eine funktionale Distinktion zum Ausdruck gebracht die mit einer formalen Differenzierung korreliert Folgerichtig stellt Wiese so unabhaumlngig begruumln-dete funktionale und formale Ordnungen der lateinischen Flexionsendun-gen auf und bezieht sie aufeinander Dabei kann er die Feststellung einer diagrammatischen Form-Funktions-Korrelation praumlzisieren und die prima facie verwirrende Vielfalt der bdquoAbhaumlngigkeiten und Querverbindungenldquo so Ernst Risch zur lateinischen Flexion (Risch 1977 S 236) auf eine einfache Abbildungsbeziehung im Sinne Buumlhlers zuruumlckfuumlhren

Zunaumlchst nimmt Wiese eine merkmalsbasierte Analyse vor wobei er sich fuumlr die Ausdifferenzierung obliquer Kasus auf Blakes (1994 S 158) Untersuchun-gen zu Kasussystemen stuumltzt In Systemen mit zwei obliquen Kasus steht der

Geschichte der Morphologie 133

Genitiv gewoumlhnlich in Opposition zu einem allgemeinen multifunktionalen Obliquus den Blake den elsewhere-casersquo im Sinne Pāṇinis nennt

(4)(a) Kasusdifferenzierung im Singular und Plural

(4)(b) Ausdifferenzierung obliquer Kasus Synkretismus im Lateinischen

Das lateinische System findet sich unter (4)(b) an letzter Stelle Bei (5) wird deutlich daszlig im Lateinischen non-oblique und oblique Kasus im allge-meinen gut unterschieden werden In den meisten Teilparadigmen gibt es fuumlr die jeweiligen drei Kasus jedoch nur je zwei verschiedene Formen Dies trifft durchgaumlngig fuumlr den Plural zu wo Vokativ und Nominativ ei-nerseits und Dativ und Ablativ andererseits identisch sind Als Einzelkasus gekennzeichnet sind der Genitiv als Attributskasus und der Akkusativ als Objektskasus Kasus denen als bdquovergleichsweise unspezifische Sammelformldquo der VokativNominativ und DativAblativ gegenuumlbersteht Die bdquoSammel-formldquo faszligt Wiese dabei als unmarkiertes Glied der jeweiligen Opposition auf Gegenuumlber dem Plural wird im Singular zusaumltzlich der Objektskasus Dativ formal gekennzeichnet und im non-obliquen Bereich bdquoder Subjekti-

Rosemarie Luumlhr134

vus also der Nominativldquo Fuumlr die einzelnen Deklinationsklassen ergeben sich so folgende Synkretismus-Felder

(5) Paradigmengliederung (Synkretismusfelder)

V N A Ab D G VPl NPl APl AbPl DPl GPl

ictus u-Dekl (7 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

rēx C-Dekl (8 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

diēs ē-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNAPl AbDPl GPl

capra ā-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNPl APl AbDPl GPl

ignis i-Dekl (8 Felder) VN A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

lupus o-Dekl (8 Felder) V N A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

Wieses naumlchster Analyseschritt ist nun die formale Bestimmung der Formenkategorien

(6) Bau der lateinischen Deklinationen (Uumlberblick)

Streicht man den Themavokal ab enthaumllt man in Spalte 3 zB die Laumlnge als formales Kennzeichen der Endung bei der o- ā- u- und ē-Deklination

135Geschichte der Morphologie

(7)(a) FormentypenMarkerParadigmenfelder in der u- C- und i-Deklination (ohne VNA Pl Ntr)

u-Deklination

Formtyp 0 1 2 3b 4 5b 6+ 7

Marker s m L vL Ls X-s vm

Endung -u -us -um -ū -ūi -ūs -ibus -uum

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

C-Deklination

Formtyp 0 1 2 3a 4 5a 5b 6+ 7Marker s m v vL vs Ls X-s vm

Endung - -s -[e]m -e -ī -is -[ē]s -ibus -um

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

i-DeklinationFormtyp 0 1 2 3b (=4) 5a 5b 6 6+ 7

Marker s m L (=vL) vs Ls vLs x-s vm

Endung -e -is rarrC-Dekl -ī -is rarrC-Dekl -īs -ibus -ium

Felder VNANtr VN A AbD G NPl APl AbDPl GPl

(7)(b) EndungstypenMarkerEndungen (formale Ordnung)

Formtyp 0 1 2 3b 4 5 6 6+ 7 7+Marker s m L vL Ls vLs -X-s vm -X-mu-Dekl -u -us -um -ū -uī -ūs -ibus -uume-Dekl -ēs () -em -ē -ei -ēs -ēbus -ēruma-Dekl -a -am -ā -ae -ās -īs -ārumo-Dekl -e -us -um -ō -ī -ōs -īs -ōrum

u-Dekl VNANtr VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

e-Dekl VN A Ab DG VNAPl AbDP GPl

a-Dekl VN A Ab DG VNPl APl AbDP GPl

o-Dekl V N A AbD G VNPl APl AbDP GPl

a b c d e f g h

Paradigmenfelder (funktionale Ordnung)

Rosemarie Luumlhr136

Wieses Interpretation lautet nun folgendermaszligen

Der houmlchstrangigen Position Genitiv Plural Feld h ist eine Form des Typs 7 eine schwere Nasalform zugeordnet dem Ablativ-Dativ-Plural-Feld g eine Form des Typs 6 eine hochmarkierte sigmatische Form Das in der Hierarchie folgende Synkretismusfeld f ist mit einer Form des Typs 5 besetzt und so fort bis zum Nominativ Singular der hier wie sonst gewisse Unregelmaumlszligigkeiten aufweisen kann In der ē-Deklination ist der Thema-vokal anders als sonst im Nominativ Singular lang In der ā-Deklination fehlt die einfache sigmatische Form in diesem Fall und dort wo eine besondere kasus-unmarkierte Neutrum-Form oder ein besonderer Voka-tiv unterschieden wird kommt die 0-Form oder mit Hermann Hirt zu sprechen der casus indefinitus zum Zuge3

In der Tat stimmen nun formale und funktionale Markiertheit uumlberein So ist der Genitiv Plural mit der schweren Nasalform die markierte Form im obliquen Plural waumlhrend etwa die Endungen auf kurzen Vokal in Spalte 0 die formal am wenigsten charakterisierten Endungen sind sie stehen innerhalb der nicht-obliquen Kasus fuumlr die Nicht-Objekts-Kasus

Wieses Fazit lautet so

bdquoFormtypen nehmen einen Platz in der Endungsordnung ein sie besitzen aber nicht notwendig einen festen Inhalt der etwa durch Angabe einer bestimmten Menge morphosyntaktischer Merkmale zu repraumlsentieren waumlre Erst indem eine Form eine Stelle im Paradigma besetzt gewinnt sie einen definitiven Stellenwert Die Position die eine Form im Paradigma einnimmt bestimmt ihren Funktionswert nicht umgekehrtrdquo

Damit kehrt Wiese das traditionelle Bild um Waumlhrend bdquotraditionelle Darstellungen sich gewoumlhnlich mehr oder minder strikt an ein fuumlr alle Deklinationen einheitliches Zwoumllf-Felder-Schema [halten und sich] die Unterschiede zwischen den Deklinationen hellip dann ganz vorrangig als Divergenzen in der Formenbildung dar[stellen]ldquo bietet seine Darstellung bdquoein einheitliches System von Formkategorienldquo

2 Analyse der altindischen NominalflexionWenn wir uns nun der altindischen Nominalflexion zuwenden so haben die altindischen Grammatiker bereits das wesentliche Organisationsprinzip erkannt Die altindischen Grammatiker haben die Kasus mit den entspre-chenden Ordinalzahlwoumlrtern bezeichnet zB prathamā erstersquo (vibhaktiḥ

3 Vgl etwa Hirt 1925

Geschichte der Morphologie 137

Teilung Unterscheidung Abwandlungrsquo) = Nominativ ṣaṣṭhī sechstersquo = Genitiv und nach der Reihenfolge Nominativ Akkusativ Instrumental Dativ Ablativ Genitiv und Lokativ angeordnet weil dies die einzige Folge ist bei der uumlberall die Kasus mit gemeinsamen Endungen also unterspezi-fizierte Formen beisammen sind Instrumental und Dativ (und Ablativ) im Dual Dativ und Ablativ im Plural (und Dual) Ablativ und Genitiv im Sin-gular Genitiv und Lokativ im Dual Nicht mitgezaumlhlt wurde der Vokativ Dieser Kasus gibt anders als die anderen Kasus keine Beziehung im Satz an sondern ist selbst Satzaumlquivalent Vgl die altindischen a- und ā-Staumlmme

(8)(a) a-Staumlmme Maskulinum

Singular Dual Plural Vok deacuteva deacutevau deacutevāḥ Nom devaacuteḥ devaacuteu devḥ I Akk devaacutem devaacuteu devn II Instr deveacutena devbhyām devaacuteiḥ III Dat devya devbhyām deveacutebhyaḥ IV Abl devt devbhyām deveacutebhyaḥ V Gen devaacutesya devaacuteyoḥ devnām VI Lok deveacute devaacuteyoḥ deveacuteṣu VII

(8)(b) a-Staumlmme Neutrum

Singular Dual Plural Vok yuacutega(m) yuacutege yuacutegāni Nom yugaacutem yugeacute yugni Akk yugaacutem yugeacute yugni(8)(c) ā-Staumlmme Femininum

Singular Dual Plural Vok seacutene seacutene seacutenāḥ Nom seacutenā seacutene seacutenāḥ I Akk seacutenām seacutene seacutenāḥ II Instr seacutenayā seacutenābhyām seacutenābhiḥ III Dat seacutenāyai seacutenābhyām seacutenābhyaḥ IV Abl seacutenāyāḥ seacutenābhyām seacutenābhyaḥ V Gen seacutenāyāḥ seacutenayoḥ seacutenānām VI Lok seacutenāyām seacutenayoḥ seacutenāsu VII

Rosemarie Luumlhr138

Zweitens lassen die altindischen Grammatiker die obliquen Kasus mit dem Instrumental und nicht etwa mit dem Lokativ beginnen denn der Instrumen-tal entspricht beim Passiv dem Subjektsnominativ beim Aktiv (Wackernagel Debrunner 19291930 S 11)

21 Merkmalsbasierte Analyse

Versucht man nun eine merkmalsbasierte Analyse so ergibt sich fuumlr die haumlufigsten Staumlmme im Altindischen die a- und ā-Staumlmme folgendes Bild

(9)(a) +Sg -Pl a-Stamm

(9)(b) +Sg -Pl ā-Stamm

Geschichte der Morphologie 139

(9)(c) -Sg -Pl a- ā-Staumlmme

(9)(d) -Sg +Pl a-Stamm

22 Formanalyse

Wir betrachten zuerst die Genus-Unterspezifikation und dann die Kasus-Unterspezifikation

221 Genus‑UnterspezifikationIm Falle der Genus-Unterspezifikation bleiben der Nominativ Plural Maskulinum devḥ und der NominativAkkusativ Plural seacutenāḥ auszliger Betracht da im Femininum in bestimmten Positionen die Endung -āḥ noch zweisilbig ist (WackernagelDebrunner 19291930 S 123) Einzig und allein die Endung des Genitiv Plural ist bei den a- und ā-Staumlmmen vollkommen identisch [+Pl +obl +Gen] devnām seacutenānām Warum das so ist hat moumlglicherweise folgenden Grund In vielen Sprachen die Genussys-teme haben ist im Plural generell die Genusunterscheidung aufgegeben Daszlig aber speziell im Genitiv Plural keine Genusunterscheidung durchge-fuumlhrt ist liegt wohl an der Funktion Partitiv die der Genitiv haben kann

Rosemarie Luumlhr140

Der Plural ist in dieser Funktion als kollektiver Plural auffaszligbar weshalb kein Bedarf an einer Genusdifferenzierung besteht

Doch sind sonst die Genera Femininum und Nicht-Femininum dh Maskulinum und Neutrum bei den a- und ā-Staumlmmen deutlich geschieden4 Auszligerdem treten bei den a-Staumlmmen Kasusendungen auf die sich in anderen Stammklassen nicht finden Auch dies hat einen einfachen Grund Die maskulinen neutralen a- und femininen ā-Staumlmme haben auch einen wesentlichen Anteil an der Bildung der Adjektiva Wie ai priyaacuteḥ priy priyaacutem liebrsquo griech νέος νέα νέον lat novus nova novum zeigt ist dieser Adjektivtyp indogermanisches Erbe Dh in der altindischen Flexion der a- und ā-Staumlmme sind Kasusformen zu erwarten die speziell der Genusunterscheidung dienen Tatsaumlchlich gibt es solche Endungen wie man schon lange gesehen hat

In der Indogermanistik nimmt man im allgemeinen an daszlig die Uumlber-tragung pronominaler und damit bestimmter Genusendungen auf das Substantiv durch pronominal flektierende Adjektive wie viacuteśva- allersquo also sogenannte Pronominaladjektive zustande kam weil ein Adjektiv naumlher beim Substantiv steht als ein Determinierer In der Tat kann man einen schrittweisen Uumlbergang vom Determinativ uumlber das Adjektiv zum Sub-stantiv annehmen wenn man Seilers (1978) Adjektivklassifikation folgt

(10)

Determinativ Adjektiv SubstantivArtikelklassifikatoren Qualifikativa Nominalklassifikatoren

diediesemeine

erwaumlhnten zehn schoumlnen dicken roten houmllzernen Kugeln

Zahlwoumlrter wie zehn zB sind weit vom substantivischen Pol entfernt und gehoumlren zu den Artikelklassifikatoren Das Zahlwort impliziert zwar Zaumlhlbarkeit der Referenzobjekte gibt aber keine weitere Eigenschaft der in Rede stehenden Objekte an Ein Zahlwort wie zehn sagt vielmehr etwas uumlber die Art der Bezugnahme naumlmlich uumlber die Anzahl der Objekte auf die der Sprecher Bezug nimmt aus Aumlhnliches gilt fuumlr textverweisende Aus-druumlcke wie etwa erwaumlhnt Dies ist der Bereich der Festlegung von Eigen-schaften des Referenzakts wie etwa der Festlegung auf ein bestimmtes Genus hierfuumlr sind aber insbesondere die Determinative im Indogerma-nischen die Demonstrativpronomina zustaumlndig (Wiese 2004) So ist die 4 Zur Sonderstellung des femininen Genus in der Morphologie vgl Wiese 2004a Thieroff 2004

Geschichte der Morphologie 141

Formkategorie worin Sprachen am deutlichsten das Genus ausdruumlcken das Pronomen Selbst Sprachen die keine Genusunterscheidung bei den Substantiven haben haben oftmals beim Pronomen eine solche Differen-zierung Es ist so anzunehmen daszlig solche Woumlrter zunaumlchst die Substan-tive in ihrer Flexion beeinfluszligt haben und erst in einem naumlchsten Schritt erfolgte die Beeinflussung der Adjektive durch die Substantive Damit duumlrfte eine pronominale Endung wie im Falle des Instrumentals -ena bei den a-Staumlmmen also zuerst auf die Substantive uumlbergegangen sein und erst dann auf Adjektive

Geht man nun auf die Unterschiede in der Flexion zwischen Nicht-Femi-nina und Feminina ein so waumlren bei den ā-Staumlmmen etliche Kasusformen bei normaler Entwicklung mit dem Maskulinum zusammengefallen Ein solcher Genus-Synkretismus oder eine solche Genus-Unterspezifikation wurde aber vermieden indem das feminine Substantiv weitgehend umge-staltet wurde und zwar eben zumeist nach dem Demonstrativpronomen

(11)InstrSg seacutenayā anstelle von seacutenā asymp aumllter mask dev vgl taacuteyā vom Pron taacute- dieserrsquo DatSg seacutenāyai anstelle von seacutenai asymp aumllter mask devaacutei vgl taacutesyai vom Pron taacute- LokSg seacutenāyām anstelle von seacutene5 asymp mask deveacute vgl taacutesyām vom Pron taacute-

Eine andere Neubildung ist der VokSg seacutene anstelle von seacutena6 asymp mask deacuteva vgl aksl ženo gr νύμφα

Doch auch das Maskulinum hat Umbildungen nach dem Pronomen erfahren

(12)zB DatAblPl deveacutebhyaḥ anstelle von devaacutebhyaḥ vgl teacutebhyaḥ vom Pron taacute-

Warum bei den altindischen a- und ā-Staumlmmen Genus-Unterspezifikatio-nen weitgehend aufgehoben wurden ist sicher auf die Funktion des Genus als Signal fuumlr syntaktische Kongruenz zuruumlckzufuumlhren7

5 Vgl dazu Luumlhr 19916 Luumlhr 19917 Corbett 1991 S 4 bdquoIf a language distinguishes gender there is always agreement with respect to genderldquo Auszligerdem ist Genus wichtiger als Numerus da bdquogender is inherently fixed for a noun whereas [number] is usually instantiated and gives rise to different word forms in the paradigm of a nounldquo Auf der anderen Seite wird aber Genus arbitraumlr zuge-wiesen (Ortmann 1998 S 62)

Rosemarie Luumlhr142

222 Kasus‑UnterspezifikationNach WackernagelDebrunner (19291930 S 1f) besteht bei der altindischen Deklination bdquofast uumlberall die Neigung Form und Bedeutung eindeutig aufeinander zuzuordnenldquo Dh die Funktionen der nominalen Endungen sind klar erkennbar wodurch sich das Altindische wesentlich vom Latei-nischen unterscheidet Betrachtet man aber die Endungen im Uumlberblick so ist wie in anderen Sprachen auch die Obliquus-Form bei den a- und ā-Staumlmmen stets laumlnger oder schwerer als die entsprechende Nicht-Obli-quus-Form Ohne auf Einzelheiten einzugehen findet man im Maskulin- Paradigma (devaacuteḥ) im Singular im Nicht-Obliquus nur kurze Vokale waumlhrend der Obliquus Langvokale im Ablativ und Lokativ und dreisil-bige Formen im Instrumental Dativ und Genitiv aufweist und zwar teils mit langem Vokal in der Mittelsilbe Entsprechend ist das Verhaumlltnis im Feminin-Paradigma (seacutenā) nur daszlig hier den langvokalischen Formen im Nicht-Obliquus durchaus schwere zweisilbige Endungen im Obliquus entsprechen Auch im Dual und Plural ist der Gegensatz Nicht-Obliquus vs Obliquus deutlich ausgepraumlgt Einsilbigen Endungen mit Langvokal im Nicht-Obliquus stehen zwei- oder dreisilbige Endungen teils wiederum mit Langvokalen im Obliquus gegenuumlber Nun sind in einer Akkusativsprache wie es das Altindische ist die nicht-obliquen Kasus die unmarkierten die obliquen aber die markierten Kasus Demnach laumlszligt sich festhalten daszlig dem Mehr an Form in den obliquen Kasus ein Mehr an Merkmalen entspricht

Damit sind die Endungen der nominalen a- und ā-Staumlmme im Altin-dischen als ikonisch einzustufen Daszlig dies tatsaumlchlich ein Bildeprinzip des altindischen Nomens ist sieht man daran daszlig einsilbige Endungen die sich bei einer regelrechten Entwicklung aus dem Indogermanischen ergeben haumltten im Altindischen umgebildet worden sind vgl zB

(13) InstrSgMask(Neut) deveacutena anstelle des Instr dev DatSgMask(Neut) devya anstelle des Dat devaacutei GenPlMask(Neut) devnām anstelle des Gen devm

Doch ist noch ein Weiteres festzustellen vgl

(14)AblGenSgFem seacutenāyāḥ anstelle des Gen seacutenāḥ vgl griech GenSgf τιμῆς GenPlFem seacutenānām anstelle des Gen seacutenām

Geschichte der Morphologie 143

Die zu erwartende Form seacutenāḥ waumlre synkretistisch mit dem Nicht- Obliquus Plural seacutenāḥ zusammengefallen Ein Genitiv Singular Femini-num seacutenāḥ mit den Merkmalen [+sg +obl +gen] und ein VokativNomina-tivAkkusativ Plural Feminum seacutenāḥ mit den Merkmalen [+pl -obl] bilden jedoch keine bdquonatuumlrliche Klasseldquo weil diese Formen auszliger dem Genus keine Merkmale gemeinsam haben Aumlhnliches gilt fuumlr einen Genitiv Plural Femi-ninum seacutenām da dieser mit dem Akkusativ Singular Femininum seacutenām zusammengefallen waumlre8 Somit bleibt festzuhalten Im altindischen Nomi-nalparadigma der a- und ā-Staumlmme wird Kasus-Unterspezifikation bei Formen die keine natuumlrliche Klasse bilden nicht geduldet Dies ist sicher der Grund weshalb die altindischen Grammatiker die Formen der a- und ā-Staumlmme in die genannte Reihenfolge bringen konnten

FazitWir halten fest Der von August Pott in die Sprachwissenschaft eingefuumlhrte Terminus Synkretismus hat eine lange Tradition Schon die altindischen Grammatiker haben diesen Terminus im Sinne des heutigen Begriffs Unter-spezifikation angewandt um uumlbereinstimmende Kasusformen nebenein-ander anzuordnen Doch sind im Altindischen Unterspezifikationen im Paradigma der a- und ā-Staumlmme relativ wenig ausgepraumlgt weil wegen der Uumlbereinstimmung mit dem Adjektiv und Pronomen hier Genusunter-scheidungen viel deutlicher als bei anderen Stammklassen zum Ausdruck kommen Anders verhaumllt es sich im Lateinischen Es gibt eine Fuumllle von synkretistischen oder unterspezifizierten Kasusformen Gemeinsam ist aber beiden Sprachen daszlig einem Mehr an Merkmalen ein Mehr an Form entspricht Dies wird im Altindischen an der komplexeren Form der Kasus obliqui gegenuumlber den Nicht-Obliqui deutlich Auch im Altindischen koumlnnen also Form und Funktion korreliert werden

8 Luumlhr 2002 S 131f

Rosemarie Luumlhr144

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Rosemarie Luumlhr Universitaumlt Jena RosemarieLuehruni-jenade

Ostgermanische Morphologie

Magnuacutes Snaeligdal

The title of this paper is East-Germanic morphology but as explained in the introduction East-Germanic morphology is in fact Gothic Morphology as our knowledge of other languages in that group is minimal Section 2 deals with the size of the Gothic corpus word number and frequency etc This informa-tion is used in section 3 to discuss what we know about Gothic morphology and section 4 to discuss what we dont know about Gothic morphology Section 5 contains some concluding remarks

1 Einleitung

Ostgermanische Morphologie ist eigentlich gotische Morphologie weil mit Ausnahme des Gotischen die Sprachen der Ostgermanen nur wenig bekannt sind Zu diesen Sprachen gehoumlren die Sprachen der Gepiden Wandalen Burgunder Heruler Rugier und Skiren und es handelt sich dabei fast ausschlieszliglich um Eigennamen die in nicht germanischen Quellen uumlberliefert sind Das sogenannte sbquogotische Epigrammrsquo wird jedoch als wandalisch angesehen

(1) Inter eils Goticum scapia matzia ia drincan non audit quisquam dignos edicere versos

Auf Gotisch waumlre das vermutlich

Hails Skapja Matja jah drigkan sbquoHeil Kellner Essen und Trinkenrsquo

Auch die Formel froia arme die auf Bibel-Gotisch frauja armai lauten sollte dh κύριε ἐλέησονsbquo Herr erbarme dichrsquo ist vielleicht Gotisch durch Wandalen vermittelt (vgl Tiefenbach 1991 S261) Da die Wandalen nicht gerade fuumlr ihre Barmherzigkeit beruumlhmt waren kann man es wohl als einen Anticlimax bezeichnen daszlig von ihrer Sprache fast nur dieses Gebet uumlberliefert ist

Einige Runeninschriften werden als ostgermanisch oder gotisch angesehen Ich nenne an dieser Stelle nur zwei davon (vgl Ebbinghaus 1990 S207 bis 210)

Magnuacutes Snaeligdal148

1 Die Speerspitze von Kowel in der Ukraine Darauf ist die Inschrift tilarids zu lesen (linkslaufend) Doch ist hier die Deutung einiger Runen dunkel und unsicher

2 Der Goldring von Pietroassa Darauf steht die Inschrift gutaniowihailag zu lesen Selbstverstaumlndlich wird es wegen des Anfangs in Verbindung mit den Goten gebracht doch ist keines dieser Worte in den gotischen Bibeltexten uumlberliefert nicht einmal hailags (sondern weihs) Einigkeit uumlber die Deutung dieser Inschrift besteht jedoch nicht

2 Der Umfang des gotischen KorpusDie gotischen Sprachdenkmaumller sind klein und einfoumlrmig Die Gesamtheit der gotischen Uumlberlieferung umfaszligt weniger als 70000 Woumlrter Als minimale Grundlage einer digitalen grammatischen Analyse muumlssen mindestens 70000 Woumlrtern analysiert werden Wenn man also den ganzen gotischen Text analysiert hat reicht dieses Material kaum fuumlr eine digitale Analyse ndash und welche Texte sollten uumlberhaupt damit analysiert werden Die Einfoumlrmigkeit der Sprachdenkmaumller besteht darin daszlig es sich fast nur um eine Uumlbersetzung des Neuen Testaments handelt Der Text der Evangelien ist manchmal aumlhnlich und einige Teile der Paulus-Briefe sind parallel in zwei Handschriften uumlberliefert Deshalb gibt es viele Loumlcher in unserer Kenntnis des gotischen Wortschatzes Wir wissen zB nicht was sbquoPferdrsquo auf Gotisch heiszligt da dies weder in den Evangelien noch in den Briefen vorkommt Das Wort aiƕatundi sbquoβάτος Dornstrauchrsquo enthielt als erstes Glied der Stamm aiƕa- sbquoPferdrsquo (vgl Lat equus Gr ἵππος usw) was auf aiƕs deuten koumlnnte aber dies war nicht notwendigerweise das uumlbliche Wort fuumlr Pferd

21 Woumlrter asymp Tokens und Wortformen asymp Typen

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 ist die erste digitale Bearbeitung des gotischen Textes und baut voumlllig auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 auf1 Das Resultat besteht darin daszlig die Anzahl der Woumlrter (asympTokens) 67438 betraumlgt und die der Wortformen (asympTypen) 9462 Es sei hervorgehoben daszlig sie Faumllle wie zB thornatuthorn-thornan sbquound auch diesrsquo und sumaih sbquound einigersquo als jeweils ein Wort zaumlhlen thornatuh thornan aber als zwei Woumlrter

1 Sie beziehen jedoch das Speyerer Blatt und die neuen Lesarten von Bennetts Skeireins-Ausgabe mit ein und nennen S XI Fn 2 auch W Estabrooks und J W Marchands nicht veroumlffentlichte Computertexte

Ostgermanische Morphologie 149

In dem gotischen Text der Snaeligdal bdquoConcordanceldquo 2005 (CBG) zugrunde liegt (ebenfalls auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 basierend) betraumlgt die Zahl der Woumlrter 68133 und die der Wortformen 9421 (mit einer Zahl von 356506 Buchstaben in Woumlrtern) Hierin werden Faumllle wie zB thornatuthorn thornan und thornatuh thornan als jeweils zwei Woumlrter gezaumlhlt die nachgestellten Partikeln -u (30) und -uh (214 mit Varianten) auch als selbstaumlndige Woumlrter doch nicht von Pronomen und Adverbien getrennt Wenn man diese abzieht betraumlgt die Zahl der Woumlrter noch 67889 die Wortformen werden jedoch etwas zahlreicher (und naumlhern sich der Anzahl bei TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976) Nun kommen auch Wortformen wie bi-thorn-thornan-gitanda vor (1 KorA 1515 εὐρισκόμεθα δὲ καί Wir werden aber auch hellip erfundenrsquo) und es ist vielleicht nur natuumlrlich diese als drei Woumlrter zu zaumlhlen da die Partikeln sonst wie selbstaumlndige Woumlrter gezaumlhlt sind (Solche Woumlrter sind 28 von 24 Typen) Wenn diese eingeschobenen Partikeln mitgerechnet werden muss man folgendes Material hinzufuumlgen

1 -ba1 ƕa1 ni1 nu

12 thornan1 thornau4 -u

20 -uh -h -uthorn -thorn41

Tab 1 Die Zahl der eingeschobenen Partikeln

Das heiszligt also 41 Tokens Der Text umfasst dann 68174 Woumlrter Man muss auch die Wortformenzahl korrigieren und 13 abziehen was zu einem Ergebnis von 9408 fuumlhrt2 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang daszlig in den Paulus-Briefen immer -uh-thornan- (und dessen Varianten

2 Wird -uh- von at-uh-gaf entnommen bleibt atgaf uumlbrig aber diese Wortform ist schon gezaumlhlt worden Wenn dementsprechend auch -h von sumai-h entnommen wird bleibt die Form sumai uumlbrig die ebenfalls gezaumlhlt worden ist Wird dagegen -u- von bi-u-gitai entnommen bleibt bigitai uumlbrig das nicht gezaumlhlt worden ist oder -uh-thornan- von diz-uh-thornan-sat was dizsat ergibt das nicht gezaumlhlt worden ist nur dissat Vergleiche auch solche Beispiele wie usiddja uz-uh-iddja wo us- sich vor -uh- zu uz- aumlndert aber nicht vor iddja Das letzte Beispiel ist dann vergleichbar mit Filippauz-uh Wenn -uh davon entnommen wird bleibt Filippauz uumlbrig und wird neben Filippaus als eine selbstaumlndige Type gezaumlhlt Dieses Beispiel zeigt auch dass Type und Wortform nicht ganz gleichbe-deutend sind

Magnuacutes Snaeligdal150

insgesamt 10 Beispiele) eingeschoben ist auszliger in at-uh-gaf EphA 48 Interessant ist daszlig diese eingeschobenen Formen so selten sind daszlig sie nur in den groumlszligten Handschriften vorkommen dh dem Codex Argenteus und den Codices Ambrosiani A und B

211 Zufuumlgungen und AuslassungenAn diese Stelle muss ein ABER eingefuumlgt werden

Im Text der CBG wurden 148 Woumlrter eingefuumlgt (in spitzen Klammern gedruckt) die nicht in den Handschriften vorkommen von denen aber Streitberg (so wie auch andere Herausgeber vor ihm) meint daszlig sie zwar auf Grund der Ungeschicktheit des Schreibers weggefallen sind sie vom griechischen Text her jedoch erfordert werden Am haumlufigsten handelt es sich dabei nur um ein einzelnes Wort in einigen Faumlllen jedoch auch um mehrere zB wenn der Schreiber vermutlich eine ganze Zeile uumlberspringt Dies macht ungefaumlhr 02 des Textes aus An dieser Stelle sollte auch angefuumlhrt werden daszlig Streitberg 162 Woumlrter aus dem Text streichen will (in eckigen Klammern gedruckt)

Es gibt jedoch auch noch andere Hinzufuumlgungen Hier geht es um die Rekonstruktionen von verschollenen Textstellen die wegen der Beschaumldigung einiger Handschriftenblaumltter verloren sind Insgesamt muumlssen daher weitere 150 Woumlrter weggenommen werden was weitere 02 des Textes ausmacht

Ein stark beschaumldigtes Blatt des Codex Argenteus enthaumllt einen Teil des 11 Matthaumlus-Kapitels der verlorene Text ist jedoch rekonstruiert worden insgesamt 44 komplette Woumlrter (und 37 Wortteile)

Aus den Bruchstuumlcken des 23 und 24 Kapitels des Lukas-Evangeliums im Codex Gissensis wurden 79 komplette Woumlrter rekonstruiert (und 14 Wortteile aus diesem Fragment sind 19 komplette Woumlrter belegt sie enthalten jedoch beschaumldigte Buchstaben)

Im Codex Carolinus wurden die meisten Blaumltter am oberen Blattrand abgeschnitten Deshalb sind 6 Woumlrter in der ersten Zeile beschaumldigt aber 6 sind verloren gegangen und rekonstruiert worden

In 1 TimA 612ndash14 muumlssen 13 Woumlrter abgezogen werden da sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf dem Handschriftenblatt vorhanden sind

Ostgermanische Morphologie 151

Weitere vier Faumllle ergeben 5 rekonstruierte Woumlrter anthornaris lithornus RoumlmC 125 mag 1 TimB 616 im 2 TimB 416 diakuna 4 Unterschrift der Urkunde von Neapel

In Faumlllen wie zB (Mt 1115)

(2) saei habai au[sona hausjandona ga]hausja[i] ὁ ἔχων ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω Wer Ohren hat zu houmlren der houmlre

wo das was in die eckigen Klammern steht rekonstruiert wurde ist nur ein ganzes Wort hinzugefuumlgt worden dh hausjandona Uumlberreste wie au zaumlhlt man als ein Token im Text der Handschrift und stattdessen kommt das rekonstruierte au[sona] das keinen Einfluss auf die Anzahl der Woumlrter hat Die Buchstabenzahl veraumlndert sich dabei allerdings etwas Die Anzahl solcher Wortuumlberreste betraumlgt 96 wovon 5 Wortformen sonst nicht belegt sind Bethorn[saiumldan] Mt 1121 analag[jandans] Lk 1030 [usso]kjands LkG 2314 [qis]teins Mk 144 rahnjai[dau] 2 TimA 416

Der Text ist damit um 298 Tokens oder 04 geschrumpft Das Resultat besteht damit aus 67835 Tokens 9404 Typen und 356649 Buchstaben in Woumlrtern Wenn man mit den eingeschobenen Partikeln gerechnet hat betraumlgt das Ergebnis 67876 Tokens und 9391 Typen Jede Type hat dann im Durchschnitt sieben Tokens Dies ist keine groszlige Abweichung von den urspruumlnglichen Zahlen und das Resultat kann nicht als vollkommen genau angesehen werden ZB werden Buchstaben die einen erhaltenen Wortteil vollenden in die Buchstabenzahl miteinbezogen Einige Konjekturen werden mit eingerechnet aber sie beeinflussen das Resultat nur unwesentlich

212 Die RandglossenWoumlrter in den Randglossen werden in diesen Zahlen mitgerechnet Drei Glossen werden jedoch weggenommen weil ich es fuumlr relativ sicher halte daszlig sie nicht vorhanden sind andwaih RoumlmA 913 salja 2 KorA 616 lustau KolA 35 Insgesamt betragen die Glossen 103 Tokens 96 Typen 741 Buchstaben3 In den Glossen sind 13 ἅπαξ λεγόμενα und 18 Wortformen enthalten die sonst nicht belegt sind In Lk 732 steht die Gl hufum zu gaunodedum und das ist auszliger Mt 1117 huf[um] die einzige belegte Form dieses Verbs (hiufan θρηνεῖν Klagelieder singenrsquo) In der Glosse zu Lk 934

3 Im Codex Ambrosianus A sind es 52 Glossen 81 Woumlrter 609 Buchstaben im Codex Argenteus sind es 15 Glossen 22 Woumlrter 142 Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal152

wird milhmam (drei weitere Beispiele) als Fehlschreibung fuumlr milhman (milhma sbquoνεφέλη Wolkersquo) angesehen aber diese Form ist sonst nicht belegt Die Glossen fuumlgen deshalb unserer Kenntnis von der gotischen Morphologie etwas hinzu

213 Die ZahlzeichenIn diesen Ziffern sind die Zahlzeichen im Text auch enthalten 145 Tokens (78 Typen) oder ungefaumlhr 02 der Tokens Die Zahlzeichen kommen verhaumlltnismaumlszligig am haumlufigsten in Nehemia besonderes in 7 Kapitel 51 (105 der Tokens in Nehemia) im Kalender 40 (506 der Tokens) und im Codex Vindobonensis 12 (40 der Tokens) vor Im Codex Argenteus betragen sie 17 im Codex Ambrosianus A 7 Cod Ambr B 1 Cod Ambr E 6 in der Urkunde von Neapel 8 der Urkunde von Arezzo 1 den Gotica Veronensia 2 Dagegen werden die Zahlen am Rande die die Aufteilung des Textes in Leseabschnitte oder andere Sektionen markieren nicht mitgerechnet

214 Lexeme Fremdwoumlrter NamenIm Gotischen gibt es 3612 NachschlagswoumlrterLexeme 3537 wenn die Zahlzeichen (75) nicht mitgezaumlhlt werden und 3058 wenn auch die Lehnwoumlrter abgezogen werden Dies ist dann der ostgermanische Wortschatz den das Gotische uumlberliefert

Die Lehnwoumlrter (auszliger Namen) und davon abgeleiteten Woumlrter betragen 146 308 Typen die 1102 Tokens ergeben Diese Gruppe ist aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt von alten Lehnwoumlrtern die sich in den Ohren eines gewoumlhnlichen Goten wohl kaum fremdartig anhoumlrten bis hin zu Woumlrtern die unveraumlndert aus dem griechischen Text entnommen wurden Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 53 oder 363 der Lexeme und 48 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich werden die meisten von ihnen der letzten Gruppe zugeteilt Ein gotisches Produkt sind 22 abgeleitete Woumlrter und Komposita mit einem Lehnwort als zweitem Glied Die Verben aiwaggeljan und praufetjan sind in Anlehnung an Gr εὐαγγελίζεσθαι und προφητεύειν gebildet aber sie koumlnnen nicht einfach als Lehnwoumlrter bezeichnet werden Von diesen sind 8 ἅπαξ λεγόμενα Zu den Lehnwoumlrtern kann dann hinzugefuumlgt werden 44 laiktsjo (6)laiktjo (38) lectio Leseabschnittrsquo und peika- in peikabagms sbquoφοίνιξ Palmbaumrsquo Hier sind 4 unvollstaumlndige Woumlrter

Ostgermanische Morphologie 153

anzufuumlhren and[bahtja] 2TB 411 si[ponjans] Mt 101 sipon[jos] Mk 1416 und [praufe]te Neh 614

Personennamen Ortsnamen und davon abgeleitete Nomina die aus der Vorlage entnommen und mit gotischen Buchstaben transkribiert wurden betragen insgesamt 333 Lexeme 569 Typen die 2350 Tokens ergeben Iesus und Xristus stehen fuumlr insgesamt 961 Woumlrter oder 409 Die haumlufigsten dieser Namen waren wohl weit verbreitet andere jedoch eher selten oder unbekannt Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 181 oder 543 der Lexeme und 77 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich sind die meisten von ihnen im 3 Kap Lukas und 7 Kap Nehemia enthalten Ein gotisches Erzeugnis sind fuumlnf Woumlrter die davon abgeleitet sind aber zum Teil mit gotischem Material jedoch mit griechischen Woumlrtern als Vorbild fwnikiskssbquo Φοινίκισσα phoumlnikischrsquo judaiwisks sbquoἰουδαϊκός juumldischrsquo iudaiwisko sbquoἰουδαϊκῶς auf juumldische Weisersquo iudaiwiskon sbquoἰουδαΐζειν juumldisch lebenrsquo und galiugaxristus sbquoψευδόχριστος falscher Christusrsquo Diese sind hier gezaumlhlt und ergeben 6 Woumlrter Hierunter gibt es auch 8 unvollstaumlndige Woumlrter Aze[ris] Neh 745 Bethorn[saiumldan] Mt 1121 Iohan[nes] Jh 1118 Kafarna[um] Mt 1123 [Iairu]salem LkG 2413 [Herode]s LkG 2312 [Peilata]u LkG 2311 und [Seidon]e Mt 1121

Insgesamt umfassen die Fremdwoumlrter 475 Lexeme 869 Typen und 3447 Tokens Das ist 131 der Lexeme 925 der Typen und 5 der Tokens

Zur Uumlbersicht diene folgende Tabelle

Tokens Typen LexemeTollenaere Jones 67438 9462CBG 68174 9408 3613Ohne Hinzufuumlgungen

67876 9391 3612

Tab 2 Vergleich von Tollenaere Jones CBG und Text ohne Hinzufuumlgungen

22 Der Umfang einzelner Handschriften

Die oben behandelten Zahlen sind im Vergleich mit den Handschriften nicht ganz genau da darin einige Konjekturen mitgerechnet sind wie bereits erwaumlhnt wurde Es ist jedoch auch nicht einfach die Woumlrter und Buchstaben in Handschriften zu zaumlhlen Ist ƕa|ƕazuh ein Wort oder zwei Besteht der Fehler darin daszlig der Schreiber erst die ersten Silbe ƕa geschrieben hat und dann das ganze Wort ƕazuh oder hat er erst das Wort ƕa und dann das Wort ƕazuh geschrieben Wie viele Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal154

sind in sīd (= sind) erhalten Ist der Nasalstrich ein selbstaumlndiger Buchstabe oder sollte er als eine Variante von n (und m) angesehen werden Dazu kommen auch die Ligaturen und die Abkuumlrzungen von nomina sacra Wenn die Woumlrter in den Paralleltexten nur einmal gezaumlhlt werden betraumlgt das Resultat 59623 Tokens 9363 Typen und 311498 Buchstaben

Die Zahlen in Tab 3 gelten fuumlr den Umfang des editierten Textes aus einzelnen Handschriften Nasalstriche Ligaturen und nomina sacra sind aufgeloumlst

Tokens Typen Bstaben Tok BstCod Arg (incl F Spir) 35338 5673 178777 520 503Cod Ambr A (incl Kal) 15247 3978 82126 224 231Cod Ambr B 13649 3519 74478 201 209Cod Ambr E (Skeireins) 1957 867 10764 29 30Cod Carolinus (Rom) 597 338 3102 09 09Cod Ambr D (Nehemia) 483 286 2730 07 08Cod Ambr C (Matth) 346 202 1728 05 05Urkunde von Neapel 113 31 689 02 02Gotica Veronensia 62 43 299 009 008Cod Gissensis 33 32 188 005 005Cod Vindobonensis 30 25 135 004 004Urkunde von Arezzo 21 19 126 003 003

67876 355142 9991 100Tab 3 Tokens Typen und Buchstaben in einzelnen Handschriften

Hier kann man sehen daszlig die Texte von Codex Argenteus Codices Ambrosiani AndashE und Codex Carolinus zusammen 996 des gotischen Textes ausmachen unabhaumlngig davon ob man von der Woumlrter- oder Buchstabenzahl ausgeht aber die Buchstabenzahl ist ein bisschen zu hoch (die Nasalstriche und Ligaturen sind aufgeloumlst) Dann wird auch klar daszlig der Teil der Codices Ambrosiani A und B etwas ansteigt wenn man von der Buchstabenzahl ausgeht (die Briefe haben ein bisschen laumlngere Woumlrter) Die letzen fuumlnf Bruchstuumlcke sind geradezu erstaunlich klein sie machen nur 04 aus

Ostgermanische Morphologie 155

In Tab 3 wird das Folium Spirense als ein Teil des Codex Argenteus gezaumlhlt Es enthaumllt 142 Woumlrter und 110 Wortformen sowie 819 Buchstaben Um diese Zahl wurde der gotische Text im Jahre 1970 vermehrt Von diesen Wortformen sind 18 nicht anderswo belegt Davon sind drei ἅπαξ λεγόμενα aber nur ein neues Morphem farw sbquoGestaltrsquo

Neue Lexeme Neue Wortformenagljai Mk 1618 (agljan sbquoβλάπτω schadenrsquo) farwa Mk 1612 (farw n sbquoμορφή Gestaltrsquo) ingibe Mk 1618 (ingif n ingifs m sbquoθανάσιμον toumldliches Giftrsquo)

afargaggandeins Mk 1620 afargaggithorn Mk 1617 afdomjada Mk 1616 drigkaina Mk 1618 gasaiƕandam Mk 1614 gaskaftai Mk 1615 gawaurstwin Mk 1620 idweitida Mk 1614 niujaim Mk 1617 tulgjandin Mk 1620 ufdaupithorns Mk 1616 ungalaubein Mk 1614 uslagjand Mk1618 usnumans Mk 1619 waurmans Mk 1618

Tab 4 Neue Lexeme und Wortformen im Folium Spirense

Mit dem Codex Ambrosianus A (und Taurinensis) ist der Kalender gezaumlhlt Darin sind 79 Tokens (meistens Zahlzeichen) 65 Typen und 426 Buchstaben Dies macht 05 des Textes in A aus wenn man von Tokens oder Buchstaben ausgeht aber 15 von den Typen aus gesehen Die ἅπαξ λεγόμενα sind meistens Namen Bairaujai 1911 (Bairauja) Batwin 2910 (Batwins) bilaif 2910 (bileiban oder was) Daurithornaius 611 Frithornareikeis 2310 Jiuleis inc11 Kustanteinus 311 Naubaimbair inc11 und Werekan 2910 (Wereka) Einige Wortformen kommen nur hier vor aipisks 611 auszliger wenn man es als aipiskaupaus oder -us aufgeloumlst ist das einzige Beispiel fuumlr den GSg von aipiskaupus (zwar hat der Kalender -us im GSg von u-Staumlmmen auszliger bei Filippaus 1511) althornjono (1911 Konjektur fuumlr althornjano) fullaizos 2910 gabrannidai 2910 papan 2910 Nicht belegt ist weiter Gutthorniuda 23 2910 An dieser Stelle steht auch Andriiumlns 2911 aber Andraiiumlns in Mk 129 und DSg Jairupulai 1511 im Vergleich mit Iairaupaulein KolAB 413

Magnuacutes Snaeligdal156

Die Urkunde von Arezzo enthaumllt die ἅπαξ λεγόμενα frabauhtaboka und husis (hus Konjektur fuumlr hugsis) aber gudhus ist im Codex Argenteus beleget auszligerdem die Namen Gudilub Alamoda und Kaballarja Die einzigen eigentlichen ἅπαξ λεγόμενα in der Urkunde von Neapel sind die Namen Ufitahari Sunjafrithornas Merila und Wiljarithorn die Urkunde ist zugleich das einzige Dokument das alamothorns (alamoda) sbquoVertreterrsquo hat und die Wortformen andnemum saiwe wairthorn und das Lehnwort kawtsjo sbquocautiorsquo sind nicht in anderen Dokumenten vorhanden Den beiden Urkunden gemeinsam sind die Wortformen ufmelida (ufmeljan sbquounterschreibenrsquo) und skilliggans (skilliggs sbquosolidus Schillingrsquo) Die Morpheme sind doch weitgehend bekannt

Die Gotica Veronensia enthalten als einzige Quelle die Wortform blothornarinnandin (fuumlr -ein 713) aber der NSg ist in Mt 920 belegt Die Formen horans und motarjans (1930) sind Konjekturen und die belegten Formen horos und motarjos sind aus einigen Beispielen bekannt Interessant ist auch die Form martwrans (2769) die es wahrscheinlich macht daszlig man in Kal 23 2910 marwtre in martwre korrigieren sollte

Nur im Codex Vindobonensis 795 ist die Form libaida sbquoἔζησε lebtersquo erhalten aber am interessantesten ist hier vielleicht das Zahlzeichen uarr fuumlr 900

Der Codex Gissensis enthaumllt als einziger die Wortformen bairhtaim (LkG 2311) und ufkunthornedeina (LkG 2416) ein neues Wort ist dort jedoch nicht zu finden

Diese kleinen Bruumlckstuumlcke stellen keine groszligen Zusaumltze zu unserer Erkenntnis der gotischen Morphologie dar aber etwas ist nur dort belegt Da die gotischen Quellen so eingeschraumlnkt sind muss man immer beachten was belegt ist und was nicht

23 Die am haumlufigsten vorkommenden Woumlrter

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 S335 und 337 erstellen auch eine Liste der 6 Woumlrter die eine so groszlige Frequenz aufweisen daszlig jedes von ihnen mehr als 1 des gesamten Textes ausmacht Diese 6 Woumlrter sind jah in ni du izwis und ithorn Sie gehen von Typen aus aber wenn man von Lexemen und deren Varianten ausgeht (zB jah jab jad jag jal jam jan jar jas jathorn) und Flexionsformen zusammenstellt ergibt dies 14 Lexeme

Ostgermanische Morphologie 157

TollenaereJones MSn 2006Type Zahl Lexem Zahl Typen

jah 4429 65 jah 4479 66 (10)sa 3090 45 (17)

in 2315 34 in 2340 34is 2162 32 (17)

wisan 1947 29 (49)ni 1507 22 ni 1527 225 (2)

qithornan 1195 176 (39)izwis 873 13 jus 1094 16 (4)

du 1061 16 du 1058 156saei 1040 15 (18)

ik 970 14 (4)alls 728 11 (14)guthorn 690 10 (3)

ithorn 688 10 ithorn 685 10Tab 5 Die haumlufigsten Woumlrter im Vergleich mit TollenaereJones

Diese 14 am haumlufigsten vorkommenden Lexeme ergeben insgesamt 23997 Tokens oder 353 des ganzen Textes Zwar macht izwis fuumlr sich genommen noch 13 des Textes aus (867 Beispiele) die Form hat jedoch zwei Funktionen Akkusativ und Dativ und unterscheidet sich deswegen von den anderen Woumlrtern in der Liste von TollenaereJones Es stuumlnde zwischen ik und alls Die flektierten Woumlrter werden unten weiter eroumlrtert

Solche Informationen zur Wortfrequenz muumlssten miteinbezogen werden falls die Absicht darin bestuumlnde einem Computer Gotisch beizubringen Ich habe jedoch die Tatsache nicht beruumlcksichtigt daszlig einige dieser Flexionsformen eines Lexems haumlufig vorkommen waumlhrend andere nur sehr selten vorkommen oft nur einmal Es ist auch so daszlig das was im gotischen Text vorkommt von der griechischen Vorlage bestimmt ist Diese Informationen sagen uns jedoch etwas daruumlber wie der gotischen Text zusammengesetzt ist

3 Was wissen wir von gotischer MorphologieDie gotischen Quellen ermoumlglichen es uns trotz ihrer oben diskutierten Eingeschraumlnktheit das morphologische System des Gotischen relativ gut zu kennen Es ist den Systemen der anderen uns bekannten altgermanischen

Magnuacutes Snaeligdal158

Sprachen weitgehend aumlhnlich wobei es allerdings altertuumlmlicher ist und Kategorien bewahrt die in den anderen germanischen Sprachen verloren gegangen sind

31 Die Substantive

Das am haumlufigsten vorkommende Nomen ist guthorn sbquoGottrsquo was fuumlr einen biblischen Text natuumlrlich nicht erstaunlich ist Eigentlich geht es hier um 4 Typen guthorn guthorna guthorns und guda Die Substantive weisen drei Genera auf und werden in vier Kasus und zwei Numeri dekliniert Der fuumlnfte Kasus der Vokativ faumlllt meistens mit dem Nominativ zusammen hat aber in einigen Deklinationsklassen im Singular dieselbe Form wie der Akkusativ (aiund-Staumlmme) Der Vokativ als selbstaumlndiger Kasus ist in den anderen germanischen Sprachen nicht uumlberliefert Ein Substantiv im Gotischen kann also houmlchstens acht verschiedene Kasusformen aufweisen wobei viele im Vokativ nicht belegt sind (und aus semantischen Gruumlnden nicht zu erwarten waumlren) Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen sind 23 (9 Maskulina 8 Neutra 6 Feminina) Diese werden hier aufgefuumlhrt und dabei zeigen skalks und sunus den Vokativ

Maskulinum Neutrum Femininum

manna ndash 350 Mann sunus ndash 295 Sohn atta ndash 252 Vater dags ndash 198 Tag ahma ndash 193 Geist brothornar ndash 176 Bruder hlaifs ndash 74 Brot skalks ndash 58 Knecht praufetus ndash 50 Prophet

waurd ndash 210 Wort waurstw ndash 102 Werk hairto ndash 93 Herz barn ndash 84 Kind namo ndash 81 Name mel ndash 70 Zeit waldufni ndash 67 Gewalt frathorni ndash 17 Verstand

managei ndash 143 Menge mahts ndash 94 Macht frawaurhts ndash 90 Suumlnde thorniuda ndash 59 Volk aikklesjo ndash 58 Gemeinde qino ndash 46 Weib

Tab 6 Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen nach der Frequenz geordnet

Auch sollten in diesem Zusammenhang Beispiele wie aba (29) sbquoEhemannrsquo genannt werden wo der APl nicht belegt ist obgleich die Form abans einmal als NPl vorkommt Es ist eindeutig daszlig es keine direkte Beziehung gibt zwischen der Zahl der Beispiele und dem was von dem Paradigma belegt ist Von frathorni gibt es zB nur 17 Beispiele aber von frauja sbquo(der)

Ostgermanische Morphologie 159

Herrrsquo 450 doch ist der GPl fraujane nicht belegt Von guthorn fehlen der D und GPl

32 Die Adjektive

Die Adjektive werden stark und schwach dekliniert wie in den anderen altgermanischen Sprachen auch Fuumlr kein Adjektiv ist das komplette Paradigma uumlberliefert Das Pronominaladjektiv alls sbquoallrsquo zeigt die starken Formen wird aber nicht schwach dekliniert Es fehlt hier der GSgm da von den 33 Tokens des Types allis 6 zum GSgn und 27 zur Konjunktion allis gehoumlren

33 Die Pronomina

Alle 24 Flexionsformen des Demonstrativpronomens sa sbquoder dieserrsquo sind belegt Wegen des Synkretismus wuumlrde man 15 verschiedene Formen erwarten es tauchen jedoch 17 auf Die zwei zusaumltzlichen Formen sind die Variante thornizei (11) im GPlm amp n fuumlr thornize (122) und thornat- (17) im N amp ASgn fuumlr thornata (485) in thornatist und thornatain

Die Flexionsformen des Relativpronomens saei sbquoderrsquo betragen 23 wobei der GPlf nicht belegt ist (thornizoei) Von dieser Form abgesehen waumlren 14 verschiedene Formen zu erwarten es tauchen jedoch 18 auf Die 4 zusaumltzlichen Formen sind thornane (1) im ASgm fuumlr thornanei (69) thornize (9) im GSgm amp n fuumlr thornizei (39) thornizeiei (1) im GPlm fuumlr thornizeei (18) und thornoze (1) im APlf fuumlr thornozei (13) Von den Tokens von thornatei houmlren 206 zum Relativpronomen saei und weitere 443 zur Konjunktion thornatei sbquodaszligrsquo von den 109 Tokens von thornammei gehoumlren 92 zum Pronomen aber 17 zur Konjunktion von den 51 Tokens von thornizei gehoumlrt ein zur Konjunktion die anderen wurden bereits oben behandelt Die Konjunktion thornatei thornammei thornizei weist damit 461 Tokens auf

Die Flexionsformen des Personalpronomens issiita sbquoersieesrsquo betragen 22 der APln ist nicht belegt sollte aber mit dem N uumlbereinstimmen ija das gleiche gilt fuumlr den NPlf der dem A entsprechen sollte ijos Zu erwarten waumlren 15 verschiedene Formen es tauchen jedoch 17 auf Die zusaumltzlichen Formen sind imm- (2) im DSgm fuumlr imma (595) in immuh und izei (3) im GPlm fuumlr ize (115) Von den 23 Tokens von izei gehoumlren dann 20 zu dem Relativpronomen izei sbquoderrsquo mit 14mal ize von 129 Mit den 48 Tokens von sei betragen die Tokens von diesem Pronomen 82 Von den 514 Tokens von is sind 139 NSgm 320 GSgm sowie 7 GSgn und 48 sind die 2PSg

Magnuacutes Snaeligdal160

von wisan Von den 479 Tokens von im sind 341 DPlm 17 DPln sowie 9 DPlf und 112 sind die 1PSg von wisan

Zu jus sbquoihrrsquo (176 + juz 1) werden izwis (867) und 50 Tokens von izwara gezaumlhlt weitere 66 gehoumlren zum Pron izwar Die Formen der 2PSg betragen 414 und die des Du 8 insgesamt fuumlr die Pronomina der zweiten Person 1516 (22)

Zu ik sbquoichrsquo (324) werden mik (271) mis (360) und 15 Tokens von meina gezaumlhlt weitere 64 houmlren zum Pron meins Die Formen der 1PDu sind 8 und der Pl 368 insgesamt fuumlr die Pronomina der ersten Person 1346 (2)

34 Die Verben

In der Konjugation hat das Gotische zwei Kategorien bewahrt die sonst in den germanischen Sprachen nicht vorkommen Diese Kategorien sind der Dual und das Passiv (nur im Praumlsens auch sollte hier die dritte Person Singular und Plural Imperativ genannt werden) Dualformen gibt es nur wenige ndash 32 Tokens von 24 Typen ndash und sie kommen am meisten im Lukas- und Markus-Evangelium vor Es fehlen verschiedene Formen zB der Optativ Praumlteritum Das Passiv wird jedoch haumlufig gebraucht Dafuumlr gibt es insgesamt 331 Tokens (05) von 190 Typen (2) von 144 Verben Die Verben die am haumlufigsten im Passiv vorkommen sind bigitan sbquofindenrsquo (10 Tokens 3 Typen 5 Kategorien) und haitan sbquonennenrsquo (25 Tokens 5 Typen 6 Kategorien) Die Beispiele sind folgendermaszligen auf Personen Numeri und Modi verteilt

1 2 3IndSg 11 4 142 Pl 14 10 36

OptSg 13 6 60 Pl 10 8 17

Tab 7 Die Anzahl und Distribution der Passivformen

Fuumlr kein Verbum ist das komplette Paradigma uumlberliefert aber die haumlufigsten sind wisan sbquoseinrsquo und qithornan sbquosagenrsquo

Von wisan sind 49 Typen belegt die 40 Stellen im Paradigma ausmachen Dabei gibt es wie man sieht verschiedene Varianten Wenn wir vermuten daszlig dieses Verb kein Passiv keinen Imperativ und kein Partizip Praumlteritum gehabt hat fehlen auf jeden Fall 7 finite Dualformen Vorhanden sind dann 25 Formen von 32 wegen des Synkretismus (was) sollten sie 31 sein Im Partizip

Ostgermanische Morphologie 161

Praumlsens sind 15 Stellen von 24 gefuumlllt Dort gibt es 11 (12) verschiedene Formen die jedoch 14 betragen sollten Dazu kommt dann noch der Infinitiv Insgesamt sind 40 Stellen von 57 (70) abgedeckt oder 36 Wortformen von 46 (78)

1 wisan svInf wisan

pers 1 2 3Prindsg im is ist nist

du siju sijutspl sijum sium sijuthorn siuthorn siud sind

optsg sijau siau sijais siais sijai siaidu sijaiwa sijaitspl sijaima sijaithorn sijaid sijaina

Ptindsg was wast wasdu wesu wesutspl wesum wisum wesuthorn wesun weisun

optsg wesjau weisjau weseis weiseis wesidu weseiwa weseitspl weseima weseithorn weseina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSgm wisands -a wisandan wisandin wisandinsPlm wisandans wisandans wisandam wisandaneSgn wisando wisando wisandin wisandinsPln wisandona wisandona wisandam wisandaneSgf wisandei wisandein wisandein-din wisandeinsPlf wisandeins wisandeins wisandeim wisandeino

Tab 8 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von wisan

In dem Paradigma von qithornan gibt es 124 Stellen (wenn man die 1PDuImp mitzaumlhlt vermutlich qithornos) Es waumlre auch moumlglich die 1 amp 2PDu amp Pl nicht mitzuzaumlhlen da diese immer gleich dem Indikativ sind Die Paradigmastellen betruumlgen dann 120 Doch ist auch die Variante qithornanata im PzPtNASgn moumlglich und vielleicht die schwache Form qithornanda im PzPrNSgm Belegt sind 39 Typen die 39 Stellen abdecken (man beachte jedoch die Konjektur qithornando die eigentlich zu qithornano gezaumlhlt werden sollte) Ungefaumlhr 32 der Stellen sind gefuumlllt Mit Komposita koumlnnen weitere

Magnuacutes Snaeligdal162

sieben Stellen gefuumlllt werden insgesamt 37 Von dem zweithaumlufigsten Verb sind also nur ungefaumlhr ein Drittel der Formen belegt

qithornan sv5Inf qithornan

Pers 1 2 3Pr Ind Sg qithorna qithorn- qithornis qithornithorn

Du qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornid qithornand

Opt Sg qithornau qithornais qithornaiDu qithornaiwa qithornaitsPl qithornaima qithornaithorn qithornaina

Imp Sg qithorn qithornadauDu qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornandau

Pass Ind Sg qithornada qithornaza qithornadaPl qithornanda qithornanda qithornanda

Opt Sg anaqithornaidau qithornaizau qithornaidauPl qithornaindau qithornaindau qithornaindau

PtIndSg qathorn qast qathornDu qethornu qethornutsPl fauraqethornum qethornuthorn qethornun

Opt Sg qethornjau qethorneis qethorniDu qethorneiwa qethorneitsPl qethorneima qithorneithorn qethorneina qithorneina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSg m qithornands -a qithornandan qithornandin qithornandinsPl m qithornandans fraqithornandans qithornandam qithornandaneSg n qithornando qithornando qithornandin qithornandinsPl n qithornandona qithornandona qithornandam qithornandaneSg f qithornandei qithornandein qithornandein qithornandeinsPl f qithornandeins qithornandeins qithornandeim qithornandeino

Ostgermanische Morphologie 163

PzPt

Sg m sw

qithornans qithornana

faurqithornanana qithornanan

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl m sw

fraqithornanai fraqithornanans

qithornanans qithornanans

qithornanaim fraqithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg n sw

qithornan -ata qithornano

qithornan -ata qithornano

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl n sw

qithornana qithornanona

qithornana qithornanona

qithornanaim qithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg f sw

qithornana qithornano

qithornana qithornanon

qithornanai qithornanon

qithornanaizos qithornanons

Pl f sw

qithornanos qithornanons

qithornanos qithornanons

qithornanaim qithornanom

qithornanaizo qithornanono

Tab 9 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von qithornan

4 Was wir nicht wissenAn dieser Stelle moumlchte ich Folgendes einfuumlgen Wenn ich einen islaumlndischen Text analysiere dann kenne ich zB den ASg aethgang und ich weiszlig daszlig der NSg aethgangur heiszligt (bdquoZutrittldquo) Auch kann ich jemanden fragen oder in einem Woumlrterbuch nachschlagen falls ich im Zweifel bin Wenn ich einen gotischen Text analysiere kann ich nicht wissen welchen Nominativ der ASg atgagg hat wenn er nicht im Text vorkommt ist er atgagg n oder atgaggs m Die erste Form stuumltzt sich auf gagg DSgAPl gagga Die zweite Form ist auch moumlglich vgl Isl aber wenn so wie war das Wort dann eigentlich dekliniert War es ein a- oder ein i-Stamm In solchen Faumlllen stuumltzt man sich auf die anderen germanischen Sprachen wenn das Wort dort belegt ist Das kann jedoch problematisch sein Im Gotischen findet man zB DSg sinthorna und DPl sinthornam Ist der NSg sinthorn n wie Isl sinn oder sinthorns m wie Ahd sind sbquoMalrsquo Weiter kann man an einem Beispiel wie wahtwom (Lk 28) nicht sehen ob es ein ō-Stamm oder ein ōn-Stamm ist NSg wahtwa oder wahtwo sbquoWachersquo Schlieszliglich nenne ich ein Beispiel wie gards sbquoHausrsquo Im Gotischen liegt ein i-Stamm vor aber garethur ist ein a-Stamm im Islaumlndischen und Westgermanischen was wahrscheinlich urspruumlnglicher ist Gotisch bewahrt nicht immer das Aumllteste Man kann sagen daszlig wir das Deklinationssystem der Gotischen im Groszligen und Ganzen kennen Die Schwierigkeit besteht eher darin daszlig

Magnuacutes Snaeligdal164

wir wegen der begrenzten Quellen nicht ohne weiteres sagen koumlnnen wie jedes gotisches Wort dekliniert wurde

Es ist auch ein gewisses Problem daszlig der Text meistens nur in einer Handschrift uumlberliefert ist Deswegen ist es oft unmoumlglich zu sehen ob ein Schreibfehler vorliegt oder nicht vgl(3) ἰδοὺ ἐξῆλθεν ὁ σπείρων τοῦ σπεῖραι Mk 43 (CA) sai urrann sa saiands du saian Ver 2235 bi thornatei qithornithorn sai urrann saianltdsgt du saltigtan Luther Siehe es ging ein Saumlmann aus zu saumlen Elberfelder Siehe der Saumlmann ging aus um zu saumlen Lk 85 urrann saiands du saian

In diesem Fall waumlre der Artikel in Gotischen nicht zu erwarten da der Saumlmann hier zum ersten Mal genannt wird (vgl Lk 85) Vielleicht bewahrt die veronesische Randglosse (Gotica Veronensia) hier die urspruumlngliche Form aber der Schreiber des Codex Argenteus hat einen Fehler gemacht Er schrieb erst sa und dann das ganze Wort saiands Im Zweifelsfall kann sa auch ein selbstaumlndiges Wort sein Ist dies die Silbe sa oder das Morphem sa

Noch ein Beispiel(4) Joh 1816ndash17 16 hellip thornaruh usiddja ut sa siponeis anthornar saei was kunthorns thornamma gudjin jah qathorn daurawardai jah attauh inn Paitru 17 thornaruh qathorn jaina thorniwi so daurawardo du Paitrau

16 hellip ἐξῆλθεν οὖν ὁ μαθητὴς ὁ ἄλλος ὃς ἦν γνωστὸς τῷ ἀρχιερεῖ καὶ εἶπεν τῇ θυρωρῷ καὶ εἰσήγαγεν τὸν Πέτρον 17 λέγει οὖν ἡ παιδίσκη ἡ θυρωρός τῷ Πέτρῳ

16 hellip Da ging der andere Juumlnger der dem Hohenpriester bekannt war hinaus und sprach mit der Tuumlrhuumlterin und fuumlhrte Petrus hinein 17 Da spricht die Magd die Tuumlrhuumlterin zu Petrus

Hier ist es wahrscheinlich daszlig daurawardo ein Schreibfehler fuumlr daurawarda ist von so verursacht aber selbstverstaumlndlich ist es nicht ausgeschlossen daszlig beide Formen im Gotischen uumlblich waren Aber da wir hier nur eine Handschrift haben ist es schlichtweg unmoumlglich ein endguumlltiges Urteil zu faumlllen Im Fall des jan-Stamms waurstwja sbquoἐργάτης Arbeiterrsquo der 17 Mal vorkommt gibt es auch aber nur einmal den reinen n-Stamm waurstwa (1 TimA 518) Bevor man dies als Schreibfehler

Ostgermanische Morphologie 165

verurteilt sollte man gawaurstwa (13) sbquoσυνεργός Mitarbeiterrsquo und die Moumlglichkeit von wrakja (8) wraka (5) sbquoδιωγμός Verfolgungrsquo uumlberlegen Hier leben anscheinend ein jō-Stamm und ein ō-Stamm Seite an Seite vgl die folgenden Parallelstellen(5) 2 Tim 311ndash12

2 TimA 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakjos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

2 TimB 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

In einigen wenigen Faumlllen gibt es unverstaumlndliche Formen die in Morpheme zerlegbar sind aber deren Wurzeln ganz isoliert sind ZB

(6) a Phlm 22

bijandzuthorn thornan manwei mis salithornwos ἅμα δὲ καὶ ἑτοίμαζέ μοι ξενίαν Zugleich aber bereite mir auch eine Herberge

b 2 ThessB 32

jah ei uslausjaindau af gastojanaim jah ubilaim mannam καὶ ἵνα ῥυσθῶμεν ἀπὸ τῶν ἀτόπων καὶ πονηρῶν ἀνθρώπων und daszlig wir errettet werden von den schlechten und boumlsen Menschen

Im ersten Fall ist die Form bijands problematisch Sie scheint ein Partizip Praumlsens zu sein aber wie kann ein solches Partizip das griechische ἅμα uumlbersetzen Zu erwarten waumlre das Adverb samana sbquozusammen zugleichrsquo Dieses bij- ist ganz isoliert auszliger falls es ein Schreibfehler fuumlr bidjandz- ist das bliebe ebenfalls eine merkwuumlrdige Uumlbersetzung

Im zweiten Fall geht es um gastojanaim Eigentlich scheint es ein starkes Partizip Praumlteritum des schwachen Verbs (ga)stojan sbquo(be- ver-) urteilenrsquo zu sein Semantisch waumlre dies wieder eigentuumlmlich Das griech Adj ἀτόπος ist sonst zweimal im Neuen Testament belegt (Lk 2341 und Apg 286) aber beide Stellen sind im gotischen Korpus verloren gegangen

Zum Schluss nenne ich das Beispiel des Verbs kaurjan βαρεῖν druumlckenrsquo wo die Quellen die Frage nicht beantworten koumlnnen ob der Stamm lang oder

Magnuacutes Snaeligdal166

kurz ist Die entscheidenden Formen kaurjiskaureis kaurjithornkaureithorn sind nicht belegt (vgl Snaeligdal 2002 S37) Die Konjugationsklasse einiger Verben ist auch unsicher

In der Lemmatisierung der CBG habe ich diese Probleme bdquogeloumlstldquo indem ich einfach die Form die ich als die wahrscheinlichste dachte als Grundform gewaumlhlt habe Dabei ist immer klar ob die Form belegt ist oder nicht

5 Zum SchlussIm Project Wulfila (httpwwwwulfilabegothicbrowse) kann man durch Anklicken die grammatische Analyse jedes Wortes haben Es waumlre wuumlnschenswert einen annotierten Text herzustellen denn dann koumlnnte man nach grammatischen Kategorien suchen hier zum Beispiel fuumlr Phlm 11ndash134

(7) Phlm 11hellip ithornltCgt nultDgt thornusltRP DS thornugt jahltCgt misltRP DS ikgt bruksltA NSM bruksgt THORNanuhltRD ASM sahgt insandida ltV XAI1S insandjan gt Phlm 12 ithornltCgt thornultRP NS thornugt inaltRP ASM isgt thornat-ltRD NSN sagt istltV PAI3S wisangt meinosltA APF meinsgt brustsltN APF brustsgt meinaltA APN meinsgt h[air]thornraltN APN hairthornragt andnimltV PAD2S andnimangt Phlm 13 thornaneiltRR ASM saeigt ikltRP NS ikgt wildaltV XAI1S wiljangt atltPgt misltRP DS ikgt gahabanltV PAN gahabangt eiltCgt faurltPgt thornukltRP AS thornugt misltRP DS ikgt andbahtidediltV XAO3S andbahtjangt inltPgt bandjomltN DPF bandigt aiwaggeljonsltN GSF aiwaggeljogt

Am besten sollte ein solcher Text mit dem annotierten Text der griechischen Vorlage kombinierbar sein

(8) Phlm 11 hellip νυνὶ ltDgt δὲ ltCgt σοὶ ltRP DS σύgt καὶ ltCgt ἐμοὶ ltRP DS ἐγώgt εὔχρηστον ltA ASM εὔχρηστοςgt Phlm 12 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἀνέπεμψα ltV AAI1S ἀναπέμπωgt σὺ ltRP NS σύgt δὲ ltCgt αὐτόν ltRP ASM αὐτόςgt τοῦτrsquo ltRD NSN οὗτοςgt ἔστιν ltV PAI3S εἰμίgt τὰ ltRA APN ὁgt ἐμὰ ltA APN ἐμόςgt σπλάγχνα ltN APN σπλάγχνονgt προσλαβοῦ ltV AMD2S προσλαμβάνομαιgt Phlm 13 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἐγὼ ltRP NS ἐγώgt ἐβουλόμην ltV IMI1S βούλομαιgt πρὸς ltPgt ἐμαυτὸν ltRP ASM ἐμαυτοῦgt κατέχειν ltV PAN κατέχωgt ἵνα ltCgt ὑπὲρ ltPgt σοῦ ltRP GS σύgt μοι ltRP DS ἐγώgt διακονῇ

4 Erklaumlrung der Abkuumlrzungen ltCgt = Konjunktion ltDgt = Adverb ltPgt = Praumlposition ltRP DSgt = Personalpronomen Dativ Singular ltRD ASMgt = Demonstrativpronomen Akkusativ Singular Maskulinum ltA NSMgt = Adjektiv Nominativ Singular Maskulinum ltN DPFgt = Nomen Dativ Plural Femininum ltV XAI1Sgt = Verb Praumlteritum Aktiv Indikativ erste Per-son Singular usw im Griechischen zB ltV AAI1Sgt = Verb Aorist Aktiv Indikativ erste Per-son Singular ltV AMD2Sgt = Verb Aorist Medium Imperativ zweite Person Singular usw

Ostgermanische Morphologie 167

ltV PAS3S διακονέωgt ἐν ltPgt τοῖς ltRA DPM ὁgt δεσμοῖς ltN DPM δεσμόςgt τοῦ ltRA GSN ὁgt εὐαγγελίου ltN GSN εὐαγγέλιονgt

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Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology

Luděk Vaciacuten

The present paper studies the status and role of the sun-god in Mesopotamian royal ideology It scrutinizes the development of the sun-godrsquos image from Early Dynastic times until the Old Babylonian period and discusses its depen-dence on current ideological schemes The focus of the paper is the Ur III image of the sun-god in this period the deification of kings resulted in a merge of king and sun-god with the former replacing the latter Since this merge was a by-product of the notion of divine kingship it was abandoned during the Old Babylonian period together with the concept of royal divinity as a whole in favour of traditional ideology

Ancient Near Eastern royal ideology is one of the most complex important and interesting issues for any scholar in the field as it sheds light on the ways used in that region for millennia to justify the rule of peoples by a single man the monarch1 The fundamental importance of legitimacy for a ruler is amply documented in a wealth of written and material sources which record various ideas of kingship and its sacred basis eg royal inscriptions date formulae ideologically charged literary compositions statues reliefs stelae etc Thus the theme of royal ideology offers a wide range of topics to focus on This brief paper deals with the relationship between the king and the sun-god specifically with the attribution of some of the sun-godrsquos features to the king in Ur III Mesopotamia2 Its basic substance is much indebted to a more general article by Claudia Fischer at the end of which the author states that one of the aims of her paper was lsquoto provide impetus for other researchers to explore the themes presented here or to offer their

1 Despite a number of studies on the royal ideologies of ancient Near Eastern cultures their changes over the time and their adaptation to the needs of certain dynasties or even individual rulers the only monograph attempting to cover this huge theme in all its com-plexity is still Henri Frankfortrsquos seminal but outdated book (Frankfort 1978) 2 I am grateful to D Schwemer for suggesting this topic to me For a general characteri-sation of early Mesopotamian royal ideology see Postgate 1995 395-403 407 Cf Edzard 1972-5 Krecher 1976-80 Caplice - Heimpel 1976-80 Edzard 1980-3a Edzard 1980-3b Cf further the recent volume containing several illuminating articles on divine kingship Brisch 2008

Luděk Vaciacuten172

own interpretationsrsquo3 The present article is a response to that call refining several points Fischer made and discussing some additional ones

First we shall review the most important aspects and functions of the sun-god in general The solar god (Utu in Sumerian and Šamaš in Akkadian) is attested in tandem with another astral deity the moon-god (Nanna in Sumerian and Sursquoen in Akkadian) already in archaic texts from Uruk and Ur and subsequently in all the later god lists But despite the importance of the object that he represented the sun-god did not attain the kind of prominence in myth and ritual enjoyed by the moon-god in the third mil-lennium Perhaps this can be explained by the significance of the moon for the calendar the influence of moon phases on ebb and flow and fertility of crops and livestock (sowing crops and mating animals were by preference done during moon waxing) on the mental state of humans (especially women during menstruation) and possibly also by the similarity of moon phases with the course of human life Thus unlike the Egyptian one the early Mesopotamian sun-god stood in the shadow of the moon-god but it does not mean at all that he was always seen as subordinate to the moon-god

He was venerated in the majority of Mesopotamian cities for millennia the centres of his cult being his temple complexes in Larsa and Sippar both called Ebabbar (lsquoThe Shiny Housersquo) His aspects and functions were deter-mined by the obvious features and activities of the solar disc The sun dis-pels darkness and thus wards off danger and evil Its rays reach every corner of the world Accordingly UtuŠamaš was the omniscient god who saw and knew everything while tirelessly roaming the universe day and night he was the guardian and overseer of cosmic order These two capacities made him the natural guarantee of justice the divine supreme judge and the patron of travellers This basic picture of the Mesopotamian sun-god is present in a number of literary compositions which often elaborate on it sometimes over several hundred lines Among the most telling examples are a Sumerian incantation to Utu and the Akkadian Šamaš Hymn4 We will briefly summarize the characteristics of the sun-god described in these texts as it is important for our subsequent discussion of royal ideology

The initial (and lengthy) part of the Sumerian incantation to the sun-god invokes him as the source of light and juridical authority It proceeds to extol him as a protector of animals and humans He inspects the universe and guards orphans and widows Without him there would be no justice

3 Fischer 2002 133 4 For an edition of the former see Alster 1991 For the latter see Lambert 1960 121-38

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 173

no river ordeal no regalia no kingship the cultic personnel would not be selected wild animals would not catch their prey people would not get their sustenance fowlers and fishermen would not catch anything weavers would not make cloth people would not be able to live and die they would not be able even to recognize each other it would not be pos-sible to wage war there would be no order in Sumer no one would take care of the poor Significantly this section ends with an image of the poor and homeless as well as widows and orphans again directing their eyes towards Utu and seeking assistance (cf Alster 1991 30f)

The Akkadian Šamaš Hymn represents the most comprehensive summary of Mesopotamian solar theology It praises the sun-god as the provider of light who brings blessings to the fields and illumines the mountains He herds all breathing creatures he is the guardian of all above and below crossing the skies unceasingly All mankind bows low to him and longs for his radiance His words are righteous decrees he stands by pilgrims walking difficult roads protects merchants from storms shows shelter to refugees and supports captives His ultimate juridical authority is glorified by the examples of a remorseless judge whom he punishes and a prudent judge whom he makes oversee the palace and live among princes Another example is that of a deceitful merchant whose fraudulence loses him his assets and an honest merchant whose fairness gains him everything in a good measure Šamaš is futher extolled as a protector of those who are away from their homes and therefore weakened hunters travellers even highwaymen

The above functions of the sun-god are apparently a sum of an ideal kingrsquos features Hence already some Old Sumerian semi-legendary as well as historical rulers strove for Utursquos support and called him lsquotheir lordrsquo Meskiaĝgašer of Uruk was the lsquoson of Utursquo according to the Sumerian King List5 Similarly the ruler of Uruk Enmerkar (Meskiaĝgašerrsquos son in the SKL) is the lsquoson of Utursquo in several literary compositions6 He is even referred to as the lsquosun-god of the landrsquo in lsquoEnmerkar and the Lord of Arattarsquo (line 309) The sun-god further acts as a protector and helper of Lugalbanda and Gilgameš in literature pertaining to them7 He also helps his brother-in-law

5 For the sake of brevity we refer only to the ETCSL treatment of the majority of Sumerian texts discussed in this paper The reader will find references to the respective critical edi-tions there See ETCSL 211 lsquoThe Sumerian King Listrsquo lines 96f 6 See ETCSL 1823 lsquoEnmerkar and the lord of Arattarsquo passim 1822 lsquoLugalbanda and the Anzud birdrsquo passim 1821 lsquoLugalbanda in the mountain caversquo passim 7 For the tales of Lugalbanda see the previous note Concerning the Sumerian tales of Bilgames see especially ETCSL 1815 lsquoGilgameš and Huwawa (version A)rsquo passim 18151

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Dumuzi escape the netherworld demons8 However it must be stressed that we do not know the extent to which Old Sumerian compositions might have been altered by the time of the manuscripts on which they are extant today Indeed some of them show signs of the moon-godrsquos superiority over the sun-god not ascertainable in texts from earlier times9 Therefore literary texts dealing with the above rulers cannot be taken as a reflection of the relationship between an Old Sumerian ruler and the sun-god with-out due caution Finally king Lugalzagesi who unsuccessfully attempted to create the first territorial state in Mesopotamia called himself the one lsquonamed by Utursquo and the lsquomilitary governorrsquo of Utu stressing the sun-godrsquos warlike aspect also present in the first section of the Sumerian incantation summarized above (cf Fischer 2002 130f with references)

As we have seen in Early Dynastic times the sun-god played the usual roles of divine father guardian and helper for the king Such functions were ful-filled by many major as well as minor deities throughout Mesopotamian history But in this case the sun-godrsquos capacity to take care of those far from home on dangerous missions and his heroic aspect came to the fore10 However apart from the unique attestation concerning Enmerkar no one seems to have attempted to appropriate that aspect for himself and thus become an lsquoearthly sun-godrsquo dispossessing the heavenly one

The situation changed fundamentally when the Old Akkadian king Narāmsursquoen held sway over Mesopotamia His deification meant that he himself became a heroic god and protective deity of Akkad His reign is the likely point of time when the sun-god became the moon-godrsquos son and thus

lsquoGilgameš and Huwawa (version B)rsquo passim 1814 lsquoGilgameš Enkidu and the nether worldrsquo passim For the Akkadian Gilgameš Epic see George 2003 8 See ETCSL 143 lsquoDumuzidrsquos dreamrsquo passim 141 lsquoInanarsquos descent to the nether worldrsquo lines 368-83 9 Particularly the father-son relationship referred to in line 152 (lsquohero Ningalrsquos sonrsquo) of lsquoLugalbanda in the Mountain Caversquo line 238 (lsquoyoung warrior Utu the son born by Ningalrsquo) of lsquoBilgames Enkidu and the Netherworldrsquo and Utursquos obvious subordination to Nanna in line 206 (lsquoFather Nanna gives the direction for the rising Utursquo) of lsquoLugalbanda in the Moun-tain Caversquo are typical features of the post-Sargonic solar theology The notion that the sun-god was a son of the moon-god seems to have originated during the reign of Narāmsursquoen Further the fact that the sun-god was regarded as a lsquominorrsquo deity in Sargonic and Ur III times speaks for itself See Fischer 2002 130 with nn 37 and 39 10 With regard to the kingrsquos person these two features can be seen as closely connected because war was definitely one of the dangerous missions in which the king would have needed the sun-godrsquos protection as well as his military prowess Hence it is not surprising that Utu was the divine father of adventurous rulers of the heroic age and that he should have chosen Lugalzagesi a king with imperial aspirations

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 175

the superiority of Nanna-Sursquoen over UtuŠamaš was established11 The sun-god was suppressed precisely because his characteristics perfectly fitted the image of an ideal king now a deity The most striking act of Narāmsursquoenrsquos displacement of the sun-god was the erection of his famous victory stela depicting the king as a martial god climbing a mountain (a posture used for astral deities in visual art mainly glyptic) in the sun-godrsquos city Sippar (perhaps even in his temple) in celebration of the kingrsquos new status the victorious sun-god of his land (Fischer 2002 131)

One might surmise that the act of assuming features proper to a deity could be a way of glorifying that deity rather than suppressing it The logic would more or less be that lsquoimitation is the sincerest form of flatteryrsquo This does not seem to apply to our case however Imitation might function as a form of glorification when the imitator was human (as in the case of Hammurāpi and other later kings see below) But Narāmsursquoen was divine He not only took over functions from the sun-god but also presented him-self in a posture normally reserved to the latter Thus what he did amounts to the substitution of one deity (the sun-god) with another (himself)

The kings of the Ur III dynasty adopted many measures formerly used by Old Akkadian monarchs to create and sustain an empire and this one was no exception In fact it was only natural for rulers coming from the moon-godrsquos city to turn Nanna into the most important astral deity and con-versely apply the sun-godrsquos features to the king at the expense of Utursquos cult Accordingly the old tradition of Nanna as Enlilrsquos son was revived and fixed in myth12 whereas Utursquos heroic and juridical aspects were appropriated by the king While the former event took place during the reign of Urnamma the second occurred under Šulgi in connection with his deification and was

11 See Fischer 2002 128 and n 19 130 and n 37 Note that in pre-Sargonic tradition the sun-god was regarded as Anrsquos or Enlilrsquos son12 See Krebernik 1993-7 364 for evidence of the Abū Ṣalābīkh tradition of Enlil and Ninlil as Nannarsquos parents (ref courtesy AR George) For a detailed discussion of the Ur III genealogy of Nanna see Klein 2001 especially 283f where he deals with the myth lsquoEnlil and Ninlilrsquo (ETCSL 121) describing the rape of the virgin goddess by Enlil which resulted in the birth of Nanna-Sursquoen as the first-born son of Enlil Klein states (2001 284) lsquoWe get the impression that the theologians of Urnammu or Šulgi who composed this piquant myth were at utmost pain to prove the firstborn status of Suen probably to refute a contradicting theological traditionrsquo Note however that Klein missed the ancient tradi-tion regarding Nanna as a son of Enlil when he ascribed the lsquoearliest explicit references to NannaSuen as Enlilrsquos sonrsquo (2001 280 see also 289ff 296 n 93) to Urnamma It is clear that Urnamma merely revived the old genealogy very suitable for his political goals indeed and developed it accordingly

Luděk Vaciacuten176

fully developed by the end of Amarsursquoenarsquos reign13 Although the king is never equated with Utu in royal hymns the sun-godrsquos inferiority is made clear by calling him the kingrsquos lsquobrother and friendrsquo (like Gilgameš)14 That is the result of the kingrsquos identity with Dumuzi on the mythological level which made him the husband of Inana and thus the brother-in-law of Utu The kingrsquos intimate relationship with Utursquos sister was undoubtedly responsible for Utursquos regular cult in the palace along with Inanarsquos and Nin-egalrsquos (a hypostasis of Inana) while his cult at Ur beyond the palace was only marginal and he was never worshipped along with his father in Ur III times (Fischer 2002 130 cf Sallaberger 1993 223 n 1061 tab 75 in vol 2) Utursquos lower status and the kingrsquos takeover of his functions are further apparent in a hymnal simile comparing Šulgi to the rising sun15 Utu is otherwise referred to in the Šulgi hymns as a provider of martial prowess and strength in battle often in his capacity of the kingrsquos companion and constable of the gods16 a further sign of his ancillary status Interestingly Šulgi seems to have appropriated Utursquos juridical aspect only indirectly The king as supreme judge was identified with Ištarān17 not with Utu but his characteristics are the same as Utursquos given in compositions pertaining to 13 The place name dŠulgi-dUtuki (lsquoŠulgi is the sun-godrsquo) given by Fischer (2002 132) as evi-dence for the kingrsquos explicit identification with Utu already by the time of Šulgi is inconclu-sive for we know of a site called dŠulgi-dNannaki as well See Edzard - Farber 1974 18414 Šulgi A line 79 Šulgi B lines 40 123 See Klein 1981 198f ETCSL 24202 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi B)rsquo Although the bulk of Ur III royal hymns is preserved on Old Babylonian tablets and therefore the possibility that the original Ur III traditions were dis-torted by Old Babylonian traditions always has to be reckoned with it does not seem that the tradition with which we are dealing here was subject to any distortion The hymnal evidence is corroborated not only by a piece of Ur III visual evidence (see n 16 below) but also by Ur III administrative texts coupling the offerings brought to Utu in the palace to those delivered on behalf of Inana and Ninegal for an interpretation of which see above Further divine Amarsursquoena was called lsquothe sun-god of his landrsquo in a royal inscription (see below) surely intact by any later tradition15 Šulgi C line 25 iri-ĝu10 dutu-gin7 ba-ta-egrave-egraven (lsquoI rose over my city like Utursquo) ETCSL 24203 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi C)rsquo 16 The bestowal of glory in battle and even of kingship in the land is the main theme of the fragmentary adab () hymn to Utu (Šulgi Q) ETCSL 24217 lsquoAn adab () to Utu for Šulgi (Šulgi Q)rsquo Could this hymn have been composed for use in the palace cult mentioned above Note also that Šulgi is depicted on a seal given by him to his consort Gemeninlila in the posture taken up by Narāmsursquoen on his victory stela and therefore as a victorious divine king in an astral dimension For a drawing of the seal see Mayr - Owen 2004 167 no 2 Noteworthy is also that Šulgi lsquoascended to heavenrsquo upon his death according to a contemporary administrative record and that there was a lsquostar of Šulgirsquo in Old Babylonian lexical tradition See Horowitz - Watson 1991 410f 413 17 This could have resulted from political considerations because Ištarān a deity of foreign origin (perhaps Elamite) was the city-god of Dēr a strategic centre at the unstable north-eastern fringe of the statersquos core territory Thus the king may have attempted to

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 177

the sun-god18 The final step in this development was taken by Šulgirsquos suc-cessor Amarsursquoena who called himself explicitly lsquothe righteous god the sun-god of his landrsquo (see Frayne 1997 263 E321316)

The concept of the king taking over some of the sun-godrsquos functions con-tinued after the demise of the Ur III kingdom in the Isin-Larsa period but as it was closely tied to the deification of kings it gradually disappeared together with divine kingship itself Although eg Hammurāpi called him-self the lsquosun-god of Babylonrsquo the lsquosun-god of his peoplersquo and the one desig-nated lsquoto rise like Šamaš over the black-headed ones to illuminate the landrsquo (Fischer 2002 132 Beckman 2002 39f with references) these references should be taken as metaphorical for the Old Babylonian king was not dei-fied In other words he imitated the sun-god in his capacity of a protec-tor of the people and supreme judge but unlike Narāmsursquoen and some of the Ur III kings he did not and could not strive to replace him because he lacked the necessary precondition to do so ie he did not consider himself a divine being Thus in stark contrast to the depictions of divine kings Narāmsursquoen and Šulgi on his famous law code stela Hammurāpi was depicted as a respectful servant of the sun-god The textual references to Hammurāpi as sun-god can be interpreted as a form of flattery for a human king imitating a deity undoubtedly glorifies the latter This is also the case with similar passages in the inscriptions of later Mesopotamian kings because though they also adopted the idea of the rulerrsquos close bond with the sun-god they never attempted to replace him

Thus the post-Ur III period kings were just earthly reflections of the great astral deity symbolizing stability harmony justice and order ie the values inherent in the sun-godrsquos daily and immutable movement across the sky (cf Fischer 2002 132f)

show his desired unequivocal sovereignty over that area by means of identifying himself with Ištarān in his propagandistic texts 18 The most telling example comes from Šulgi X lines 142-9 lsquoHe the Ištaran of Sumer the omniscient one from birthfor the land he renders a firm judgementfor the land he obtains firm decisions(so that) the strong does not oppress the weakthe mother says pleas-ing (words) to her sonthe son speaks truth to his fatherunder him Sumer is filled with abundanceUr abounds in prosperityrsquo Klein 1981 144f

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Luděk Vaciacuten Department of the Near and Middle East Faculty of Languages and Cultures School of Oriental and African Studies University of London ludekvacinseznamcz

ERRATA ET CORRIGENDAIm Artikel bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo von Šaacuterka Velhartickaacute im Chatreššar 2006 wurden ohne Absprache und Zustimmung der Autorin zahl-reiche Aumlnderungen vorgenommen Der Korrektor hatte vor allem den urspruumln-glichen Titel des Artikels geaumlndert (zu bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) womit der Eindruck entsteht es gaumlbe mehrere Versionen dieses Rituals Die Autorin behaumllt sich vor den Artikel unter seinem urspruumlnglichen und kor-rekten Titel in Zukunft zu zitierenEin weiterer Fehler besteht darin dass der Korrektor in allen Faumlllen den Deter-minativ vor dem Wettergott statt bdquoDldquo auf bdquoDUldquo aumlnderte (in zwei Faumlllen auf DIM S 83) wodurch die Transkription unverstaumlndlich wurde An vielen Stellen kam es zu Veraumlnderungen bei der Schreibung der Kursive und umgekehrt und es gibt auch Fehler bei den Hochschreibungen In dem Kommentar zur Uumlbersetzung des hethitischen DUGpahhunalli- hatte der Korrektor willkuumlrlich die Uumlberset-zung der Autorin veraumlndert Daneben wurden auch mehrere Saumltze veraumlndert

Die Redaktion bedauert die oben genannten Veraumlnderungen Die Autorin stellt die korrekte und urspruumlngliche Version des Artikels allen Interessenten gern zur Verfuumlgung (velhartickacentrumcz) Diese ist auch unter httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf zu finden

V člaacutenku bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo Šaacuterky Velhartickeacute v Chat-reššaru 2006 byly bez vědomiacute a souhlasu autorky učiněny četneacute korektury Korektor pozměnil předevšiacutem titul člaacutenku (na bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) čiacutemž vznikaacute dojem že existuje viacutece verziacute tohoto rituaacutelu Autorka si vyhrazuje praacutevo citovat v budoucnu tento člaacutenek pod jejiacutem původ-niacutem a spraacutevnyacutem naacutezvem

Dalšiacute chyba spočiacutevaacute v tom že korektor ve všech přiacutepadech pozměnil determi-nativ před bohem bouřky z bdquoDldquo na bdquoDUldquo (ve dvou přiacutepadech na DIM s 83) čiacutemž se transkripce stala nesrozumitelnou Na mnoha miacutestech došlo ke změ-naacutem ve psaniacute kurziacutevy a opačně a vyskytly se chyby v psaniacute horniacuteho indexu V komentaacuteři k překladu chetitskeacuteho DUGpahhunalli- pozměnil korektor sveacutevolně autorčin překlad Vedle toho byly pozměněny i četneacute věty

Redakce vyslovuje politovaacuteniacute nad zmiacuteněnyacutemi uacutepravami Autorka poskytne raacuteda spraacutevnou a původniacute verzi člaacutenku k dispozici všem zaacutejemcům (velhar-tickacentrumcz) Tu je možneacute vyhledat i na straacutenkaacutech Uacutestavu srovnaacutevaciacute jazykovědy (httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf)

Chatreššar 2009

Edited by the Institute of Comparative Linguistics

Charles University in Prague Faculty of Arts

ISSN 1803-005X

EDITORIAL BOARDJost Gippert Goethe University Frankfurt aMHans Christian Luschuumltzky University of ViennaPetr Vavroušek Charles University PragueMartin Worthington University of CambridgeAndrzej Zaborski University of CracowPetr Zemaacutenek Charles University Prague

EXECUTIVE EDITORSJan Bičovskyacute Pavel Čech

PROFILE

Chatreššar is a scholarly peer-reviewed journal dedicated to publishing original research in the fields of Indo-European and Semitic linguistics and philology especially for ancient languages Areas of interest include comparative linguistics cultural history sociolinguistics electronic corpora and computational linguistics lexicography and other subjects Chatreššar is published in the form of a printed book selected articles will be accessible on-line depending on the authorsrsquo consent English summaries will be available on-line along with information on the contributors Chatreššar has been published yearly since 1997

More details on the journal including the journals policy information on the submission procedure as well as the purchase possibility can be found at httpenlilffcuniczchatressar

Page 4: Chatreššar 2009 - Univerzita Karlovausj.ff.cuni.cz/system/files/chatrssar2009.pdfJan Bičovský Pavel Čech Published by the Charles University in Prague, Faculty of Arts. Printed

Contents

International Conference on Morphology and Digitisation

Preface 9

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 11 Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

Sprachliche Morphologie digitalisiert 35 Jost Gippert

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre Verbalstammbildung und das Kausativ 63 Hans Henrich Hock

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 81 Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Geschichte der Morphologie 129 Rosemarie Luumlhr

Ostgermanische Morphologie 147 Magnuacutes Snaeligdal

Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 171 Luděk Vaciacuten

Errata et corrigenda

Errata in Šaacuterka Velhartickaacute Chetitskyacute Chutušiho rituaacutel 180 (Chatreššar 2006)

Acknowledgments

The publication of the Journal has been financially supported by the project MSM 0021620823 ldquoČeskyacute naacuterodniacute korpus a korpusy dalšiacutech jazykůrdquo [The Czech National Corpus and Corpora of Other Languages] of the Ministry of Education of the Czech Republic

International Conference on Morphology and Digitisation

Free University of Berlin7 and 8 July 2007

Preface

International Conference on Morphology and Digitisation

On the 7 and 8 July 2007 an International Conference on Morphology and Digitisation was held at the Free University of Berlin covering several scientific fields in addition to linguistics in which the concept of morphology plays an important role The topics of the papers ranged from basic linguistic subjects to the structure of clouds The interdisciplinary character of the conference together with the innovative combination of morphology and digitisation enabled the participants to launch test baloons without the obligation of submitting articles for publication The result of this liberty was that many of the high fliers disappeared from the screen whilst others kept on mdash and keep on mdash growing and a few participants have finally submitted a printable text Six articles that have been received by Phillip Chilson Jost Gippert Hans Henrich Hock Chung-Shan Kao and Thorwald Poschenrieder Rosemarie Luumlhr and Magnus Snaeligdal are published in the following pages of Chatreššar Our thanks are due to Petr Vavroušek and his team who fostered the publication of the articles in the journal and Thorwald Poschenrieder who co-organized the conference in Berlin

Matthias Fritz Jost Gippert

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie

Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

How does one understand the concept of morphology in the field of meteorology It depends upon whom you ask The Glossary of Meteorology published by the American Meteorological Society (AMS 2000) simply states bdquoA study of the structure form or shape of meteorological phenomena such as clouds or ice crystalsrdquo Here we explore morphology not only in this context but also in the context of the dynamical evolution that brings about these structures How one perceives structure is critically dependent upon the spatial and temporal scales of interest For example it is possible to describe the structures in clouds over 100lsquos of kilometers as seen from satellites or the fractal dimensionality of clouds over scales of 100lsquos of meters or even the distribution of individual cloud particles over scales of 100lsquos of millimeters The same principle holds for atmospheric dynamics Large-scale atmospheric motions eventually release their energy to smaller and smaller scales in a cascade effect until all that remains is the thermal motions of molecules in the form of heat These concepts are discussed while drawing upon several examples taken from actual meteorological phenomena such as fine-scale turbulence the formation of snowflakes atmospheric waves and the atmospheric boundary layer

KurzfassungWie ist der Begriff der bdquoMorphologierdquo im Rahmen der Meteorologie zu verstehen Nun da kommt es darauf an wen man fragt Das bdquoGlossary of Meteorologyrdquo (herausgegeben von der Amerikanischen Meteorologischen Gesellschaft AMS 2000) nennt schlicht folgendes Morphologie ist die Untersuchung des inneren Aufbaus der Anordnung oder der aumluszligeren Gestalt von meteorologischen Erscheinungen wie beispielsweise Wolken oder Eiskristalle In diesem Beitrag soll die Morphologie nicht allein in diesem Zusammenhang erkundet werden als vielmehr auch im Hinblick auf die dynamischen Entwicklungsvorgaumlnge welche zu diesen Erscheinungen fuumlhren Wie man eine Erscheinung wahrnimmt haumlngt entscheidend davon ab welche raumlumlichen und zeitlichen Ausdehnungen betrachtet werden So lassen sich beispielsweise Wolken-Formationen die sich uumlber hunderte von Kilometern erstrecken so beschreiben wie man sie vom Satelliten aus wahrnimmt oder die fraktalen Dimensionen in den Wolken uumlber hunderte von Metern oder gar die Verteilung einzelner Wolkenteilchen im 100-

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson12

Millimeter-Bereich Dasselbe gilt im Grunde fuumlr die Bewegungen in der Atmosphaumlre Die Energie groszligraumlumiger atmosphaumlrischer Bewegungen wird in einer Art Kaskade an nachfolgende Bewegungen von immer kleineren Maszligstaumlben abgegeben bis schlieszliglich alles in die Bewegungsenergie von Molekuumllen in Form von Waumlrme umgewandelt ist Solche Betrachtungen werden in diesem Beitrag vorgestellt dazu werden reichlich Beispielfaumllle beigezogen die von echten Wetter-Phaumlnomenen stammen wie die Turbulenz im kleinen Maszligstab die Formation von Schneeflocken die atmosphaumlrischen Wellen und die atmosphaumlrische Grenzschicht

1 Einfuumlhrung Bevor wir uns dem Thema der Morphologie in der Meteorologie widmen soll uns zuerst ein kurzer geschichtlicher Ruumlckblick uumlber die Verbundenheit des Menschen mit Wetter und Natur darauf vorbereiten Schon seit jeher wohnt dem Menschen ein ungemeines Interesse fuumlr das Wetter und die damit verbundenen Vorgaumlnge inne Das ist natuumlrlich keine Uumlberraschung wenn man bedenkt wie eng sein Uumlberleben und Wohlbefinden an die natuumlrlichen Gegebenheiten wie Hitze und Kaumllte Regen und Duumlrre sowie stuumlrmisches und ruhiges Wetter gebunden sind Gewisse sich wiederholende Vorgaumlnge des Wetters sind sicherlich schon sehr fruumlhzeitig erkannt worden und zwar nicht nur die taumlglichen Zyklen betreffend sondern auch jene die nur nach einem laumlngerem Zeitraum wiederkehren So folgten den kalten und unfruchtbaren Monaten des Winters die warmen und fruchtbaren Zeitraumlume des Fruumlhjahrs In bestimmten Gegenden mit erheblichen jaumlhrlichen Niederschlaumlgen folgte die mit Sehnsucht erwartete Regenzeit den Duumlrreabschnitten Durch das Beobachten und Wahrnehmen dieser Vorgaumlnge wurde es dem Menschen moumlglich sich den Bedingungen des Wetters anzupassen So erkannte er beispielsweise die Notwendigkeit in klimatisch mildere Gegenden zu ziehen oder sich im Lande auf das Kommen des Winters vorzubereiten Wahrscheinlich wurde durch die langjaumlhrig gesammelten Beobachtungen auch eine gewisse Erwartung oder Vorfreude auf das Wiederkehren bestimmter natuumlrlicher Vorgaumlnge erweckt wie zum Beispiel auf das Kommen des Fruumlhlings einer Regenzeit oder den Segen einer fruchtbaren Ernte In vielen Kulturen waren diese Ereignisse mit groszligen Feierlichkeiten verbunden

Nachdem der Mensch die der Natur innewohnenden Vorgaumlnge lange beobachtet hatte richtete er nun sein Interesse darauf die Naturkraumlfte welche solche Schauspiele bereiteten zu verstehen Er fragte sich nach den Hintergruumlnden der rhythmischen Veraumlnderungen in seiner Umgebung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 13

Gewoumlhnlicherweise wurde das Geschehen in der Natur irgendeinem uumlbernatuumlrlichen Wesen zugeschrieben welches auszligerdem meist noch als launenhaft oder sogar rachbegierig wahrgenommen wurde Diese Auffassung war im Einklang mit den unberechenbaren und oft verheerenden Geschehnissen in der Natur Wurden die Goumltter nicht bei guter Laune gehalten dann lieszligen sie ihren Zorn in der Form von schlechtem Wetter oder Naturkatastrophen an den Menschen aus Infolgedessen strebten jene fruumlhgeschichtlichen Voumllker danach mit den Goumlttern in Harmonie und Ausgeglichenheit zu leben So wurden den Goumlttern Gebete und Opfer dargebracht um sie zu besaumlnftigen und bei Laune zu halten Auszligerdem wurden feierliche Rituale durchgefuumlhrt mit dem Ziele guumlnstiges Wetter herbeizufuumlhren

Mit der Zeit verstand man dass viele Vorkommnisse in der Atmosphaumlre von denen man vorher annahm dass sie zufaumlllig waumlren durchaus erklaumlrbar waren So erkannte man die entsprechenden Vorboten fuumlr viele verschiedene Wetterverhaumlltnisse Man koumlnnte eigentlich sagen dass die Wetterkunde nichts weiter ist als eine gruumlndliche Untersuchung von erkennbaren sich wiederholenden Verhaltensmustern und Erscheinungen Der Bauer wie auch der Seemann der den Himmel scharf beobachtete konnte Wetterentwicklungen anhand von Wolkenformationen und Windverhaumlltnissen voraussagen Die erworbene Weisheit wurde an die naumlchste Generation weitergegeben und bildete somit die Grundlage fuumlr eine umfangreiche Geschichte der Wetterfolklore Diese Tradition hat eine lange Liste von Wetterweisheiten hervorgebracht Hier nur einige Beispiele

Bei rotem Mond und hellem Sterne sind Gewitter gar nicht fernebull Abendrot ndash Gutwetterbotrsquo ndash Morgenrot mit Regen drohtbull Hof um den Mond bedeutet Regen Hof um die Sonne groszlige Stuumlrmebull Steigt der Rauch ganz gerade nach oben bleibt das Wetter lange schoumlnbull Geht die Sonne feurig auf folgen Wind und Regen draufbull Je weiszliger die Schaumlfchen am Himmel gehrsquon je laumlnger bleibt das Wetter schoumlnbull

Natuumlrlich sind solche Weisheiten nicht immer oumlrtlich uumlbertragbar Sie entsprechen nicht unbedingt der absoluten Wahrheit sind aber oft eine gute Annaumlherung daran und basieren auszligerdem auf meteorologisch bewiesenen Grundsaumltzen

Manchmal wurden jenen Leuten die die Faumlhigkeit besaszligen Naturgeschehen richtig zu deuten groszlige Bedeutung beigelegt Nehmen wir Aumlgypten als Beispiel Die Zivilisation konnte in dieser Gegend wegen des nahrhaften

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson14

Bodens auf Grund der alljaumlhrlichen Uumlberflutung des Nils gut gedeihen Dieses Geschehen war von solch groszligem Stellenwert dass man es dem Gott Hapi der fuumlr Fruchtbarkeit stand zuschrieb Die Priester dieser Zeit erkannten dass das abendliche Erscheinen des Sterns Sirius mit dem Beginn der Uumlberschwemmung des Nils zusammentraf Sie waren Priester aufgrund der Bedeutsamkeit ihrer Beobachtungen aber heute wuumlrde man sie als Gestirnforscher beschreiben

Obwohl die zuvor erwaumlhnten Bauern Seeleute und Priester in der Lage waren Verhaltensmuster in der Natur zu erkennen und diese meteorologischen Phaumlnomenen zuzuschreiben verstanden sie doch nicht unbedingt die dahinterliegenden Mechanismen und waren sich nicht im Klaren daruumlber inwieweit wirkliche Verbindungen bestanden So deuteten sie also die Ursachen und Wirkungen nicht immer richtig Im Falle der Uumlberschwemmung des Nils war die eigentliche Ursache nicht der Erscheinen des Sirius sondern der Einbruch der Regenzeit im aumlthiopischen Hochland Mit der Zeit hing die Deutung von Verhaltensmustern im Wetter immer weniger vom Zufall ab und es gelang immer mehr die zugrundeliegenden Verhaumlltnisse zu verstehen In diesem Zusammenhang werden wir nun mit der Untersuchung der Morphologie in der Meteorologie beginnen

2 Qualifizierende Wetter-Verhaltensmuster Die griechische Sehensweise Viele Zivilisationen haben erstaunliche Geschichten daruumlber wie sie begannen beobachtete Verhaltensmuster in der Natur zu quantifizieren Allerdings wollen wir hier nur auf eine einzige solche Zivilisation naumlher eingehen naumlmlich die der Griechen Es bietet sich an die Griechen hierfuumlr auszuwaumlhlen zumal sie ja die Grundsteine fuumlr die heutigen westlichen Zivilisationen gelegt haben Die alten Griechen begannen schon im Jahre 800 v Chr die Zusammenhaumlnge innerhalb ihrer eigenen Umgebung sehr genau zu uumlberdenken Man muumlsste allerdings einschraumlnken dass ein systematisches Herangehen an diese Sache erst in der Zeit des Aristoteles (384 ndash 322 v Chr) stattfand Aristoteles ist fuumlr viele bedeutende Erkenntnisse beruumlhmt geworden Fuumlr unsere Eroumlrterung hier ist vor allem sein groszliges Werk die Meteorologica von entscheidender Bedeutung In diesem Werk versuchte er verschiedene atmosphaumlrische Phaumlnomene wie beispielsweise Blitz Wolken Wind Regenboumlgen und auch Meteore zu quantifizieren Aristoteles argumentierte so wie andere Griechen vor ihm dass jegliche Materie aus folgenden vier Grundelementen bestehe Feuer Luft Wasser und Erde Eigentlich glaubte man noch an ein fuumlnftes Element naumlmlich den Aumlther der der Baustoff der himmlischen Materie sei Den Aumlther verstand

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 15

man als ein Medium in dem alles vorhanden sein konnte denn man glaubte nicht daran dass die Natur aus einem Vakuum bestehen koumlnnte

Aristoteles glaubte dass alle meteorologischen Erscheinungen mit den vier Elementen erklaumlrt werden koumlnnten Sein Verstaumlndnis der Meteorologie ging weit uumlber das Wetter hinaus Es schloss alles ein was von oben auf die Erde kam oder uumlber der Erdehingldquo Jedes der vier Elemente wurde mit zwei der folgenden vier Eigenschaften in Verbindung gebracht heiszlig kalt nass und trocken (siehe Abbildung 1 zur Veranschaulichung) Auszligerdem glaubte man dass alle Elemente umwandelbar seien was durch Ablaumlufe der Kondensation und Verduumlnnung bewirkt werde Die Umwandlungen wuumlrden sich an bestimmte Richtlinien halten So wuumlrde sich also verduumlnnte Luft in Feuer umwandeln kondensierte Luft wiederum in Wind Wolken und Wasser Wasser koumlnnte sich dann weiter verfestigen und zu Erde werden Schlieszliglich gebe es eine klare Rangordnung der Elemente die dazu diente alles in Bewegung zu halten Feuer wuumlrde uumlber andere Elemente aufsteigen und Erde wuumlrde hinuntersinken Wasser wuumlrde uumlber Erde aufsteigen aber nicht uumlber Luft die Luft wiederum wuumlrde uumlber Wasser aufsteigen aber nicht uumlber Feuer Aus diesem Grunde wuumlrden sich die Wolken uumlber der Erde bilden und ebenso die Luftblasen im Wasser

Abbildung 1 Wechselbeziehungen zwischen den Elementen der Materie gemaumlszlig Aristoteles

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson16

Aristoteles gemaumlszlig konnte sich die Luft zu Wasser kondensieren und dann als Regen auf die Erde fallen Das gleiche galt fuumlr den Tau der allerdings nicht herunterfallen musste Diese Ansichten erklaumlrten die verschiedenen Phasen von Wasser aber uumlber das Vorkommen von Hagel im Sommer war Aristoteles etwas verbluumlfft Seine Auffassungen waren gewiss sehr erfin-derisch und schoumlpferisch auch wenn sie letztendlich falsch waren Diese Anschauungen herrschten noch 2000 Jahre nach seinem Tod vor und behinderten sogar die Entwicklung der atmosphaumlrischen Wissenschaft Erst durch Galileo Galilei wurden die aristotelischen Ansichten verdraumlngt und durch ein neues Wissenschaftsverstaumlndnis ersetzt

3 Wetterverhaltensmuster uumlber raumlumliche und zeitliche SkalenUm eine vollstaumlndige Einsicht uumlber die Rolle der Morphologie innerhalb von Wettersystemen zu erzielen ist es notwendig zuerst uumlber die unglaublich weitreichenden raumlumlichen und zeitlichen Ausmaszlige nachzudenken Zum Beispiel muss man fuumlr weite raumlumliche und lange zeitliche Skalen atmosphaumlrische Bewegungen ins Auge fassen deren Laumlngen mit dem Durchmesser der Erde vergleichbar sind und deren Zeiten in der Groumlszligenordnung von Tagen stehen Zu den wesentlichen Einfluumlssen in diesem Bereich gehoumlren die Erdumdrehung die ungleichmaumlszligige Erhitzung der Erde und die Verteilung von Landmassen und groszligen orographischen Erscheinungen Im anderen Extrem wenn man sich mit Vorgaumlngen im Millimeterbereich und mit Laufzeiten im Sekundenbereich beschaumlftigt wird es noumltig die molekularen Wechselbeziehungen der einzelnen atmosphaumlrischen Teilchen mit in Erwaumlgung zu ziehen Es gibt nicht nur eine Vielzahl von atmosphaumlrischen Prozessen sondern es muss auch beachtet werden dass diese sich gegenseitig beeinflussen

Anfangs hat es den Anschein dass es fast unmoumlglich sei die Atmosphaumlre in solch einem Ausmaszlig zu eroumlrtern Um Fortschritte im Verstehen der Atmosphaumlre und der dazugehoumlrigen Morphologie zu machen ist es entscheidend den Fragebereich in kleinere uumlberschaubare Untereinheiten zu zerlegen Dann besteht die endguumlltige Herausforderung darin die relative Bedeutung der einzelnen Faktoren die diese Untereinheiten beeinflussen richtig einzuschaumltzen Wenn man beispielsweise versucht die Staumlrke und Lage des Jetstreams in Europa waumlhrend der naumlchsten 24 Stunden vorherzusagen koumlnnte man auch den Einfluss der Getreidefelder in Bayern auf den niedrigen Wind mit einbeziehen aber dies waumlre nur

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 17

ein minimale Beeinflussung Allerdings bietet es sich schon an die Oberflaumlchenerwaumlrmung der gleichen Getreidefelder zu beachten wenn man die allgemeinen Strukturen von konvektiven Wolken wie sie sich im Sommer bilden eroumlrtertBeim Unterteilen der Atmosphaumlre in Untereinheiten fanden es die Meteorologen zweckmaumlszligig mehrere allgemeine raumlumliche Skalen zu definieren Diese sind in Tabelle 1 aufgefuumlhrt Die vier Haupt- gruppierungen sind die planetarische Skala die synoptische Skala die Mesoskala und die Mikroskala aber wie man schon aus der Tabelle ersehen kann koumlnnen auch diese wiederum in weitere Untereinheiten zerlegt werden Um ein besseres Gefuumlhl fuumlr die raumlumlichen und zeitlichen Skalen zu bekommen und einige der damit verbundenen atmosphaumlrischen Erscheinungen zu erklaumlren haben wir Abbildung 2 eingefuumlgt Diese Abbildung wurde von Dr Czeckowsky am Max-Planck-Institut fuumlr Aeronomie (heute Max-Planck-Institut fuumlr Sonnensystemforschung) bereitgestellt Wie wir daraus ersehen koumlnnen haben kleine raumlumliche Erscheinungen entsprechende kurze zeitliche Skalen und umgekehrt Es waumlre nicht sinnvoll allgemeine Gleichungen zu erstellen die man uumlber den ganzen Bereich dieser Skalen verwenden wuumlrde Im Grunde formen jene verschiedenen Arbeitsgebiete die fundamentalen Bausteine der atmosphaumlrischen Analyse und die Grundlage fuumlr die Morphologie in der Meteorologie

Groumlszliger als Skala Name20000 km Planetarische Skala2000 km Synoptische Skala

200 km Meso-α Mesoskala20 km Meso-β Mesoskala

2 km Meso-γ Mesoskala200 m Mikro-α Turbulenz in der Grenzschicht

20 m Mikro-β Turbulenz in der Bodenschicht2 m Mikro-γ Turbulenz im Traumlgheitsbereich

2 mm Mikro-δ Kleinskalige TurbulenzLuftmolekuumlle Molekular Viskoser Dissipations-Teilbereich

Tabelle 1 Die raumlumlichen Groumlszligenordnungen bzw Skalenbereiche zum Beschreiben atmosphaumlrischer Phaumlnomene

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson18

Im Folgenden zeigen wir zwei Beispiele in denen ein bestimmtes atmosphaumlrisches Phaumlnomen in der passenden Groumlszligenordnung analysiert wird Erwaumlgen wir zuerst die Entstehung und Ausbreitung eines Systems von Gewittern Gewitter koumlnnen erzeugt werden wenn warme feuchte Luft durch irgendeinen Vorgang nach oben gefuumlhrt wird Dieser Vorgang koumlnnte Oberflaumlchenerwaumlrmung oder die Einfuhr eines kalten dichten Luftstroms sein Wenn die Bedingungen richtig sind dann werden diese aufstroumlmenden Luftmassen durch Auftriebkraumlfte weiter nach oben gezogen Des Weiteren kuumlhlen sich die Luftmassen beim Aufsteigen wesentlich ab was zur Kondensation des verfuumlgbaren Wasserdampfes fuumlhrt Die Abgabe von Waumlrme bei diesem Vorgang erwaumlrmt die Luft noch weiter und foumlrdert die Aufwaumlrtsbewegung der Luftmassen Das Ergebnis ist ein starker Aufwind und eine rasche Kondensierung des Wasserdampfes was wiederum zur Praumlzipitation und zur Trennung elektrischer Ladungen fuumlhrt An der Erdoberflaumlche entsteht durch den Niederschlag ein Gebiet kalter Luftmassen welches aus dem Gewitter herausstroumlmt Wenn die vorherrschenden Bedingungen richtig sind dann kann dieser kalte Luftschub weitere Gewitter hervorrufen Alle soeben beschriebenen dynamischen und thermodynamischen Vorgaumlnge spielen sich innerhalb des Mesoskalenbereichs ab Wenn es jedoch notwendig wird die gesamten meteorologischen Bedingungen die fuumlr ein Gewitter bedeutsam sind zu erwaumlgen dann muumlssen wir auch auf Erscheinungen im synoptischen Skalenbereich zuruumlckgreifen Die zugrundeliegende atmosphaumlrische Physik ist in beiden Faumlllen die gleiche aber die analytischen Werkzeuge sind dem jeweiligen Skalenbereich angepasst Als zweites Beispiel betrachten wir die Staumldte-Meteorologie Man muss vielleicht vorhersehen koumlnnen wie ein Windfeld auf Gebaumlude oder Straszligenschluchten einwirkt aber es ist nicht einfach solche Wechselbeziehungen im Kleinskalenbereich zu ermessen Allerdings koumlnnen die gesamten im Mesoskalenbereich vorhergesagten Windfelder als Eingabe-Parameter fuumlr den erwuumlnschten Mikroskalenbereich verwendet werden Es koumlnnen sozusagen Vorgaumlnge die in verschiedenen Skalenbereichen ablaufen synergistisch uumlber ihre eigenen Grenzen hinaus miteinander verbunden werden

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 19

Abbildung 2 Darstellung von gewoumlhnlichen Phaumlnomenen in der Atmosphaumlre innerhalb uumlblicher zeitlicher und raumlumlicher Skalen

Als ein Beispiel wie eine Kopplung sich uumlber Skalen hinaus in der Atmosphaumlre offenbart betrachten wir nun die Wechselbeziehungen zwischen dynamischen Vorgaumlngen wie sie innerhalb der planetarischen Grenzschicht uumlblich sind Wenn wir von der Grenzschicht sprechen meinen wir jenen Teil der Atmosphaumlre welcher in starker Beziehung zur Erdoberflaumlche steht und von Reibung und Waumlrmeeinwirkungen beeinflusst wird Uumlblicherweise ist die Dicke der Grenzschicht uumlber Land ungefaumlhr 100-200 m waumlhrend des Abends und ungefaumlhr 1-2 km waumlhrend des Tages Diese Werte haumlngen letztendlich von den allgemeinen atmosphaumlrischen Bedingungen und den Oberflaumlchen-Gegebenheiten ab Natuumlrlich ist die Grenzschicht ein houmlchst bedeutender Bereich der Atmosphaumlre wenn man bedenkt dass sie unser Lebensraum ist

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson20

Besonders waumlhrend des Tages sind atmosphaumlrische Luftbewegungen innerhalb der Grenzschicht stark von der Turbulenz beeinflusst Die Turbulenz umfasst die chaotischen stochastischen Bewegungen in Fluumlssigkeiten und steht mit einer schnellen Aumlnderung von Druck Temperatur und Geschwindigkeit in Verbindung Die Geschwindigkeit der Fluumlssigkeit ist zu einem beliebigen Zeitpunkt bestaumlndig unregelmaumlszligigen Schwankungen ausgesetzt Aus diesem Grunde wird die Atmosphaumlre in der Meteorologie als eine Fluumlssigkeit betrachtet Wenn wir die atmosphaumlrische Turbulenz sehen koumlnnten dann wuumlrden wir eine Ansammlung von Wirbeln sehen die innerhalb eines raumlumlichen und zeitlichen Skalenbereichs angesiedelt sind Es waumlre offensichtlich dass diese Wirbel nebeneinander bestehen und bestaumlndig aufeinander einwirken Eine Darstellung dieser Wechselwirkungen von Wirbeln ist in Abbildung 3 zu sehen

Abbildung 3 Veranschaulichung atmosphaumlrischer Turbulenz

Stochastische Systeme wie sie in Turbulenzen vorkommen sind von Natur aus nicht deterministisch aber es koumlnnen trotzdem sinnvolle Parameter errechnet werden Da es unmoumlglich ist die Bewegungsablaumlufe von einzelnen Teilchen in einer Fluumlssigkeit zu berechnen haben sich Wissenschaftler zu einer statistischen Vorgehensweise entschlossen Nehmen wir an wir haben eine bestimmte Menge von Gas in einem festen Behaumllter von gleichbleibendem Volumen eingeschlossen Man hat herausgefunden dass hier die Waumlrmeenergie der gesamten Gasteilchen in einer Beziehung zur Temperatur des Gases steht Deshalb kann man zusammenfassend sagen dass die zufaumllligen Zusammenstoumlszlige der Teilchen mit der Wand des Behaumllters statistisch als Druck quantifiziert werden koumlnnen Tatsaumlchlich ist in diesem Beispiel der Druck einzig von der Temperatur abhaumlngig Die unmoumlgliche

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 21

Aufgabe die Lage und die Geschwindigkeit der Gasteilchen zu verfolgen ist somit auf eine ganz einfache Gleichung zuruumlckgefuumlhrt worden naumlmlich P = ρ R T wobei P der Druck ist ρ die Dichte des Gases und R eine Konstante die sich auf das jeweilige Gas bezieht Wenn man sich diese taumluschend einfache Gleichung ein bisschen genauer ansieht dann laumlsst sich daraus eine reichhaltige Vielfalt statistischer Physik erschlieszligen

Die Auswirkungen der Turbulenz und stochastischer Vorgaumlnge findet man uumlberall in der Natur und sie waren und sind noch immer das Thema langer Reihen von Erkundungen Allerdings ist die Turbulenz trotz dieser Bemuumlhungen eines der am wenigsten verstandenen Gebiete in der klassischen Physik geblieben Warum ist das so Schon 1755 gelang es dem Schweizer Mathematiker Euler ein System von Gleichungen aufzustellen das die Bewegungen von Fluumlssigkeiten beschrieb Er hatte jedoch die Auswirkungen der Viskositaumlt welche ein Maszligstab fuumlr den Widerstand einer Fluumlssigkeit ist nicht miteinbezogen Das mathematische Bezugssystem das heute haumlufig gebraucht wird um zaumlhfluumlssige und waumlrmeleitende Fluumlssigkeiten zu beschreiben nennt man die Navier-Stokes-Gleichungen sie wurden zwischen 1822 und 1845 von dem Franzosen Navier und dem Briten Stokes formuliert Diese Gleichungen sind das Herz und die Seele aller hydrodynamischen Modelle mit denen man newtonsche Fluide wie Wasser Luft oder Oumll beschreibt jedoch werden auch sie der Verflochtenheit der Turbulenz nicht gerecht Ein halbes Jahrhundert nach dem Werk von Navier und Stokes wurden Wissenschaftler wegen des Mangels an neuen Erfolgen in ihrem Verstaumlndnis der Turbulenz wieder entmutigt Waumlhrend einer Ansprache vor der britischen Gemeinschaft fuumlr wissenschaftlichen Fortschritt (British Association for the Advancement of Science) im Jahre 1932 soll der bekannte und geschaumltzte britische Physiker Horace Lamb folgendes gesagt haben bdquoI am an old man now and when I die and go to Heaven there are two matters on which I hope for enlightenment One is quantum electrodynamics and the other is the turbulent motion of fluids And about the former I am really rather optimisticrdquo (Heute bin ich ein alter Mann und wenn ich einst sterbe und in den Himmel komme moumlchte ich dort gerne zwei Fragen beantwortet haben die eine uumlber die Quanten-Elektrodynamik und die andere uumlber die Turbulenz von Fluumlssigkeiten Hinsichtlich der ersten Frage bin ich noch recht optimistisch)

Ein gewisser Erfolg kam endlich als der russische Wissenschaftler Komogrov im Jahre 1950 in der Lage war die Turbulenz teilweise zu charakterisieren Komogrov zufolge kommt der groumlszligte Teil der kinetischen Energie in einem Fluid (wir meinen hier die Atmosphaumlre) in groumlszligeren

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Skalen vor Diese Energie wird dann an kleinere und noch kleinere Skalen weitergegeben Die kinetische Energie wird also von den groumlszligeren Wirbeln an kleinere Wirbel abgegeben und zwar durch eine Reihe von Vorgaumlngen die man als Energiekaskade bezeichnet Die Energie wird bestaumlndig an kleinere Skalen abgegeben bis die turbulenten Wirbel so klein sind dass molekulare diffusive Kraumlfte eine wichtige Rolle spielen und die Energie in Form von Waumlrme abgegeben wird Eine graphische Darstellung des Kaskadenvorgangs ist in Abbildung 4 zu sehen Die y-Achse des Diagramms bezeichnet den Betrag der kinetischen Energie pro Wirbel fuumlr eine bestimmte Groumlszlige Die Wellennummer befindet sich auf der x-Achse Fuumlr unsere gegenwaumlrtige Eroumlrterung kann man sich die Wellennummer k als die inverse charakteristische Groumlszlige der turbulenten Wellen denken und zwar innerhalb der Grenzschicht Dies ist aumlhnlich wie die Beziehung zwischen Zeit und Frequenz Eine Erhoumlhung der Wellenzahl entspricht also einer Abnahme der Groumlszlige Den Bereich der Wellenzahlen (Groumlszligen) fuumlr welche der Kaskadenvorgang stattfindet nennt man Traumlgheitsbereich (inertial subrange) und dieser ist sehr wichtig fuumlr die atmosphaumlrische Dynamik In der atmosphaumlrischen Grenzschicht werden kinetische Energien in der Groumlszligenordnung von 100-200 m angeregt und eine Erwaumlrmung tritt ungefaumlhr dann auf wenn die Wirbel 1 mm groszlig sind Die Energiekaskade beschreibt die Umwandlung von turbulenter kinetischer Energie innerhalb raumlumlicher Skalen die sich um fuumlnf Groumlszligenordnungen bzw Zehnerpotenzen voneinander unterscheiden

Abbildung 4 Darstellung des Energiegehalts turbulenter Stroumlmungen als eine Funktion der Wellenzahl

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4 Fruumlhzeitige Wettervorhersage-ModelleIm Jahre 1904 wies der Norweger Bjerknes darauf hin dass es moumlglich sein sollte quantitative und objektive Wettervorhersagen zu machen die auf der deterministischen Theorie der atmosphaumlrischen Bewegung und den Navier-Stokes Gleichungen basieren Er behauptete also dass es moumlglich sei das Wetter anhand analytischer Modelle vorherzusagen Diese Vorgehensweise gleicht also nicht den Vorhersagen von erfahrenen Leuten die sich auf Wetterkarten beobachtete Daten und den Himmel verlieszligen Die Aussicht auf eine Erstellung von objektiven Wettervorhersagen fuumlhrte den Begriff der Morphologie in ein neues Zeitalter Nun wurde es zum ersten Male sinnvoll nach den zugrunde liegenden Beziehungen zwischen den Verhaltensmustern die man jahrhundertelang beobachtet hatte zu suchen Es ist allerdings fraglich ob Bjerknes eine starke Hoffnung auf das Zustandekommen solcher Vorhersagen hatte Weitere 30 Jahre mussten vergehen bis Konrad Zuse den ersten binaumlren Rechner in Deutschland entwickelte Das erste Geraumlt wurde noch mechanisch betrieben und erst einige Jahre spaumlter wurde daraus der erste elektronische Rechner bzw Computer

Zu Beginn des 20 Jahrhunderts begann Lewis Fry Richardson mit einem Plan fuumlr objektive Wettervorhersagen welche auf den Ergebnissen von Bjerknes beruhten und zwar ohne mechanischen oder elektronischen Rechner Er veroumlffentlichte diese wegweisenden Vorstellungen im Jahre 1922 Weil es zu der Zeit noch keine physikalischen Rechner gab stellte sich Richardson menschliche Rechner vor Nach seinen Berechnungen braumluchte man 64000 Menschen die rund um die Uhr arbeiteten um angemessene Wettervorhersagen zu erstellen Er stellte sich vor dass diese Personen zusammen in einer groszligen Halle arbeiten wuumlrden wobei jeder einzelne eine relativ kleine Aufgabe der Gesamtarbeit uumlbernaumlhme Laumlufer wuumlrden dann die Ergebnisse zwischen den menschlichen Rechnern uumlbermitteln Ein Hauptleiter wuumlrde die einzelnen Vorgaumlnge uumlberwachen und die Arbeitsablaumlufe aufeinander abstimmen Richardson schrieb in dem Buch Weather Prediction by Numerical Processes folgendes (Richardson 2007) bdquoImagine a large hall like a theater except that the circles and galleries go right round through the space usually occupied by the stage The walls of this chamber are painted to form a map of the globe hellip From the floor of the pit a tall pillar rises to half the height of the hall It carries a large pulpit on its top In this sits the man in charge of the whole theatrerdquo (Stellen wir uns eine groszlige Halle vor etwa so wie ein Theater aber die Kreise und Emporen gehen ganz herum auch da wo normalerweise der

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Schauplatz ist Die Waumlnde sind so bemalt wie unsere Weltkugel Vom Boden des Parketts erstreckt sich eine hohe Saumlule bis zur halben Houmlhe der Halle Auf der ist obendrauf eine groszlige Kanzel Hier sitzt der Mann der das ganze Theater leitet) Richardson war sich wohl bewusst dass es zu seiner Zeit fast unmoumlglich gewesen waumlre dieses Vorhaben durchzufuumlhren Im Vorwort zu seinem Buch schrieb er (Richardson 1922) bdquoPerhaps some day in the dim future it will be possible to advance the computations faster than the weather advances and at a cost less than the saving to mankind due to the information gained But that is a dreamrdquo (Vielleicht wird es eines Tages in ferner Zukunft moumlglich sein die Berechnungen schneller zu beschleunigen als die Fortschritte der Wetterforschung und um einen Preis der geringer ist als die Gewinne die die neuen Erkenntnisse fuumlr die Menschheit erbringen Aber das ist ein Traum) Vielleicht war es nur ein Traum aber einer den er ernsthaft in Betracht zog In seinem Buch legte Richardson systematisch die Grundlage fuumlr ein neues Gebiet der Wetterforschung naumlmlich die numerische Wettervorhersage die auch noch heute betrieben wird Lewis Fry Richardson wird von vielen sogar als der Urheber dieses Forschungsgebietes angesehen

Mit der Entwicklung des ENIAC (Elektrischer und Numerischer Integrator und Rechner) im Jahre 1946 durch eine Gruppe von amerikanischen Ingenieuren der Elektrotechnik geleitet von Mauchly und Eckert konnte Richardsons Traum endlich Wurzel fassen und beginnen Wirklichkeit zu werden Mit der Abloumlsung mechanischer Relais und Schalter durch die Vakuumroumlhre wurde der ENIAC tausendmal schneller als die zeitgenoumlssischen Rechner Der ENIAC wurde vom Militaumlr fuumlr die Aufgabe entwickelt aufwendige ballistische Flugbahnen auszurechnen John von Neumann ein Mathematiker an der Universitaumlt Princeton erkannte sofort dass der ENIAC auch fuumlr die Modellierung von Wettervorhersagen gut geeignet sein wuumlrde Er nahm die Hilfe des amerikanischen Meteorologen Jule Charney in Anspruch und die beiden lieferten im Jahre 1950 die erste numerische Wettervorhersage mittels des ENIAC Es dauerte noch ein Jahrzehnt bis die numerischen Modelle fuumlr die Wettervorhersagen besser wurden und in der Lage waren Vorhersagen zu liefern die sich mit den subjektiven Analysen menschlicher Meteorologen messen konnten

Heutzutage sind Computermodelle eine Hauptquelle fuumlr die Meteorologie und die Wettervorhersage Es gibt allerdings noch kein Modell das alle phaumlnomenologischen und morphologischen Skalen der Atmosphaumlre behandeln wuumlrde Deshalb ist der Grundsatz die Umgebung in uumlberschaubare Skalen (wie in Tabelle 1 aufgefuumlhrt) zu unterteilen bestehen geblieben In

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der raumlumlichen Skala von ungefaumlhr 1 mm bis zu hunderten von Metern kann man turbulente Stroumlmungsmuster mit einem groszligen Genauigkeitsgrad mittels direkter numerischer Simulation (DNS) ausrechnen Fuumlr groumlszligere Skalen verwendet man die Groszlig-Wirbel-Simulation (LES = large eddy simulation) Mit dieser Herangehensweise werden alle Vorgaumlnge von kleineren Skalen von mehreren 10 Metern mit Parametern versehen (nicht direkt berechnet) und dafuumlr verwendet fluumlssige Stroumlmungen innerhalb einer Skala von mehreren 10 Kilometern zu untersuchen Zusaumltzlich zur DNS und LES gibt es auch noch mesoskalige Modelle synoptische Modelle erdumfassende Umlauf-Modelle usw Wenn der Bereich in dem ein Modell verwendet wird an Groumlszlige zunimmt dann nimmt auch die Groumlszlige der kleinsten Einheit des Modells zu Deshalb wird es immer wichtiger das gewonnene Wissen uumlber die kleinen Skalen (von Simulationen) zu nuumltzen um Parameter-Systeme fuumlr die Verwendung in Modellen groumlszligerer Skalen zu entwickeln

5 Die Geburt des ChaosIn den spaumlten fuumlnfziger und fruumlhen sechziger Jahren gerade als die elektronische Computertechnologie sich eingebuumlrgert hatte und die Zukunft von numerischen Wettervorhersagen rosig aussah kam es in den Hallen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu einer unerwarteten Wendung Ein Meteorologe mit dem Namen Ed Lorenz entwickelte seine eigenen Modelle fuumlr die Wettervorhersage an einem geraumluschvollen Computer in seiner Amtsstube Weil Lorenz nur eine beschraumlnkte Auswahl von Hilfsmitteln zur Verfuumlgung hatte hielt er sein Modell sehr schlicht Seine simulierte Atmosphaumlre enthielt nur 12 Gleichungen und die Variabeln (Regelgroumlszligen) die errechnet werden konnten waren lediglich einzelne Groumlszligen wie Druck Temperatur und Windvektoren Mit jeder Wiederholung in simulierter Zeit erstellte der Computer eine groszlige Menge von Zahlen die Werte der errechneten Parameter anzeigten Lorenzrsquo Wettersimulationen gaben Aufschluss uumlber gewisse Beziehungen von atmosphaumlrischen Erscheinungen und seine Ergebnisse gaben ihm die noumltigen Einsichten um Verhaltensmuster im Wetter zu suchen

Eines Tages waumlhrend seine Simulationen liefen machte Lorenz eine Entdeckung die spaumlter zu einem voumlllig neuen Zweig der Mathematik fuumlhren sollte An jenem Tage versuchte er eine Simulation zu wiederholen

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die er schon vorher durchgefuumlhrt hatte Jedoch wollte er das Modell mit der neuen Simulation uumlber einen laumlngeren Zeitraum laufen lassen Um den Vorgang zu beschleunigen entschied sich Lorenz fuumlr eine Abkuumlrzung Er initialisierte die neue halbwegs fertig gelaufene Simulation dadurch dass er die ausgedruckten Parameter die also schon erstellt waren eingab Er tippte die Zahlen in sein Programm schaltete den Computer ein und verlieszlig seine Amtsstube um sich eine Tasse Kaffee zu holen Als er eine Stunde spaumlter zuruumlckkam bemerkte er etwas Uumlberraschendes Die Ergebnisse der neuen Simulation waren voumlllig anders als was er zuvor errechnet hatte

Nachdem er sicherstellte hatte dass kein Fehler vorlag kam Lorenz zur Schlussfolgerung dass der Unterschied der Ergebnisse ein Rundungsfehler sein muumlsste der durch das Eintippen der Parameter in der Mitte der Simulation entstanden war So wurde zum Beispiel ein Wert von 05783214 als 0578 ausgedruckt Konnte denn ein Rundungsfehler in den Tausender Dezimalstellen zu solch tiefgreifenden Abweichungen in den simulierten Ergebnissen fuumlhren Dieser Rundungsfehler war doch kleiner als die Fehler in den zahlreichen meteorologischen Beobachtungen die fuumlr das Wettervorhersage-Modell benutzt wurden Es bleib jedoch unuumlbersehbar dass die Ergebnisse der beiden Simulationen enorme Abweichungen zeigten Welche Folgen wuumlrde dies fuumlr die Zukunft der numerischen Wettervorhersagen haben

Als geschickter Mathematiker verstand Lorenz dass diese neue Art der Unvorhersehbarkeit irgendwo in den Zahlen verborgen lag Man nennt diese Erscheinung die bdquoEmpfindlichkeit gegenuumlber den Anfangsbedingungenldquo (sensitive dependance on initial conditions) Das bedeutet dass kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen das langfristige Verhalten eines Verfahrens wesentlich veraumlndern koumlnnen Heute nennt man das den Schmetterlingseffekt da man sich vorstellen kann dass das Schwingen eines Fluumlgels eines Schmetterlings grundsaumltzlich einen tiefgreifenden Einfluss auf das Wetter nehmen kann das zu spaumlterer Zeit beobachtet wird Hieraus entwickelte sich spaumlter die Chaosforschung

Um diese Auswirkung besser zu verstehen versuchte Lorenz seine Vorhersage-Modelle so weit wie moumlglich zu vereinfachen ohne jedoch die empfindsamen Abhaumlngigkeiten der Anfangsbedingungen zu

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vernachlaumlssigen Es gelang ihm die Gleichungen die die Konvektion bestimmen auf drei zu beschraumlnken diese wurden dazu benutzt um Werte von drei verschiedenen physikalischen Parametern vorherzusagen Das erweckt den Anschein dass die endguumlltigen Gleichungen allzu simpel seien aber die Verhaltensmuster die diese vorhersagen sind keineswegs einfach zu verstehen Abbildung 5 zeigt ein Beispiel Die drei vorhergesagten Parameter sind als x y und z gekennzeichnet und in einem dreidimensionalen Raum eingetragen Die Lage des Punktes der von x y und z bestimmt ist bewegt sich in unvorhersehbarer Weise zwischen den Iterationen Allerdings wird die Gesamtheit aller Punkte vom Raum begrenzt und daraus bildet sich ein gewisses Verhaltensmuster Solch ein Verhalten veranschaulicht ein deterministisches Chaos und wird ein seltsamer Attraktor genannt Das besondere Beispiel in Abbildung 5 zeigt den sogenannten Lorenz-Attraktor

Abbildung 5 Der Lorenz Attraktor veranschaulicht die verschiedenen Muster die bei chaotischem Verhalten vorkommen

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Wie wir wissen hat die Entdeckung chaotischer Systeme in der Atmosphaumlre numerische Wettervorhersagen nicht abgeloumlst Wissenschaftler wussten schon Hunderte von Jahren vor der Lorenzschen Chaostheorie von den zufaumllligen Bewegungen der Turbulenz Allerdings hat diese Entdeckung die Hoffnung der Meteorologen auf genaue langfristige Vorhersagen auch groumlszligere Skalen betreffend etwas gedaumlmpft Dennoch koumlnnen wir darauf zaumlhlen dass die heutigen Grenzen der Vorhersagen fuumlr Wetterentwicklungen in der Zukunft weiter hinausgeschoben werden koumlnnen Durch eine Verbesserung der Rechenleistungen fortschrittlicher Computer durch eine feinere Einstellung der Modelle und durch die Entwicklung atmosphaumlrischer Geraumlte die genauere Messungen zulassen wird dies moumlglich sein Man muss sich natuumlrlich bewusst sein dass verstrickte chaotische Geschehen immer die Oberhand haben werden

6 Selbst-Aumlhnlichkeit in der AtmosphaumlreEine weitere fesselnde Erscheinungsform von Chaos in der Natur und in der Atmosphaumlre ist die sogenannte Selbstaumlhnlichkeit Einen Gegenstand oder eine Gestalt nennt man selbst-aumlhnlich wenn ersie aumlhnlich (oder bei mathematisch erzeugten Gegenstaumlnden gleich) erscheint unabhaumlngig davon in welcher Groumlszligenordnung ersie betrachtet wird Ein Beispiel dafuumlr sind die Fensterbilder die das Eis an kalten Wintertagen hinterlaumlsst Die Muster erscheinen aumlhnlich (wenn auch nicht deckungsgleich) wenn man sie mit einem Vergroumlszligerungsglas oder auch mit dem bloszligen Auge ansieht

Selbstaumlhnliche Gegenstaumlnde besitzen in rein rechnerischem Sinne viele fesselnde Eigenschaften Wir sprachen soeben von der Skalen-Invarianz In manchen Faumlllen kann man kaum sagen wo der Beruumlhrungsbereich eines Gebildes beginnt und wo er endet Vielleicht ist eine der sonderbarsten Eigenschaften solcher Gestalten ihre fraktionale Dimensionalitaumlt (weiter unten erklaumlrt) Wegen dieser Eigenschaft nennt man selbst-aumlhnliche Gebilde oft Fraktale Man kann sich daruumlber streiten ob die Selbst-Aumlhnlichkeit der Kern der Morphologie in der Meteorologie ist

Zugleich muss zwischen rein rechnerischen Selbst-Aumlhnlichkeiten und der Annaumlherung von Selbst-Aumlhnlichkeit in der Natur unterschieden werden Offenkundig ist der Begriff der Skalen-Invarianz in der Natur raumlumlich beschraumlnkt Turbulente Stroumlmungen koumlnnen zum Beispiel als selbst-aumlhnlich beschrieben werden wenn man nur die Skalen innerhalb des Traumlgheitsbereichs betrachtet In diesem Fall kann man nicht zwischen groszligen und kleinen Wirbeln unterscheiden ohne eine Art von Bezugs-

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Skala heranzuziehen Weitere klassische Beispiele fuumlr die Selbst-Aumlhnlichkeit beziehen sich auf Wolkenstrukturen Gebilde von Schneeflocken Wechselbeziehungen zwischen der Grenzschicht und der freien Atmosphaumlre (Entrainment) usw In vielen dieser Faumllle koumlnnen durch rein rechnerische Modelle Annaumlherungen an diese Erscheinungen gefunden werden

Wir wollen die Selbst-Aumlhnlichkeit am Beispiel von Schneeflocken die als Fraktale betrachtet werden koumlnnen veranschaulichen Wir beginnen dies damit indem wir ein einziges Streckenstuumlck wie es in der oberen linken Ecke von Abbildung 6 zu sehen ist betrachten Das mittlere Drittel dieser Strecke wird durch zwei Streckenabschnitte (die beide ebenfalls ein Drittel der Gesamtlaumlnge einnehmen) in abgewinkelter Weise entsprechend einem gleichseitigen Dreieck ersetzt Aus einer Strecke sind also vier geworden und so haben wir vier deckungsgleiche Abbildungen Die Groumlszlige dieser neuen Strecken ist zur urspruumlnglichen um den Faktor drei verschieden Man sagt der Vergroumlszligerungsfaktor ist drei Wenn dieser Vorgang wiederholt wird dann werden die daraus entstehenden Gegenstaumlnde zunehmend unuumlberschaubar (siehe Abbildung 6) Es ist offensichtlich dass man wenn wenn man einen beliebigen Teil der ganzen Gestalt vergroumlszligern wuumlrde wieder aumlhnliche Formen (in diesem Fall sogar deckungsgleiche) vorfinden wuumlrde und zwar ungeachtet der jeweiligen Vergroumlszligerung Auszligerdem wird diese Strecke unendlich lang und bleibt nur vom Raum begrenzt Dies ist die sogenannte Koch-Kurve (nach dem schwedischen Mathematiker Koch benannt) und sie gehoumlrt zur Familie der Fraktale Wie gesagt kann man solche Muster an vereisten Fenstern finden Mit dem gleichen Vorgang koumlnnen wir eine vernuumlnftige Darstellung einer Schneeflocke hervorbringen Diesmal benutzen wir aber ein Dreieck anstelle einer Strecke als Ausgangspunkt Nach nur drei Wiederholungen werden die entstehenden Muster den echten Schneeflocken wie sie in Wolken beobachtet werden bereits aumlhnlich Dies ist allerdings nur ein Beispiel fuumlr Veranschaulichungs-Zwecke Mittels Fraktalen koumlnnen weitaus echter aussehende Schneeflocken gebildet werden

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Abbildung 6 Entstehung der Koch-Kurve und der Kochrsquoschen Schneeflocke

Was bedeutet es zu sagen dass selbst-aumlhnliche Gegenstaumlnde eine fraktale Dimension haben Nun wir wissen schon dass ein Punkt nulldimensional ist eine Strecke eindimensional eine Ebene zweidimensional und ein Wuumlrfel dreidimensional aber was bedeutet der Begriff der Dimensionalitaumlt wirklich Einfachheitshalber arbeiten wir in den nachfolgenden Beispielen mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei Das bedeutet eine selbstaumlhnliche Abbildung der naumlchsten Groumlszlige ist um den Faktor zwei verschieden Nehmen wir zwei gleiche Streckenstuumlcke der Laumlnge eins Aneinandergefuumlgt bilden diese ein selbst-aumlhnliches Streckenstuumlck der Laumlnge zwei Mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachtet finden wir also zwei selbst-aumlhnliche Streckenstuumlcke vor Genauso koumlnnen wir ein Quadrat aus vier gleichgroszligen Quadraten bilden Wenn wir das groumlszligere Quadrat mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachten dann sehen wir vier selbst-aumlhnliche Abbildungen (2x2) Schlieszliglich koumlnnen wir diesen Vorgang fuumlr einen Wuumlrfel wiederholen In diesem Fall liefert ein Vergroumlszligerungsfaktor von zwei genau acht (2x2x2) selbst-aumlhnliche Abbildungen Wir bemerken die Entwicklung eines Musters das wir mathematisch auf folgende Weise beschreiben koumlnnen

Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile = (Vergroumlszligerungs-Faktor)D

D steht dabei die Dimension zB ist die Dimension fuumlr einen Wuumlrfel drei Im Fall der Koch-Kurve ist der Vergroumlszligerungsfaktor drei und die Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile vier Aus diesen beiden Groumlszligen koumlnnen wir nun die Dimensionalitaumlt berechnen Aus 3 = 4D folgt D = 1262 Das gilt fuumlr die

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Koch-Kurve und fuumlr die kochsche Schneeflocke Ein sehr bemerkenswertes Ergebnis aber kann man es in der Natur anwenden

Meteorologen beschaumlftigen sich immer haumlufiger mit der Selbst-Aumlhnlichkeit Wenn wir verstehen warum und wie fraktale Muster in der Natur vorkommen dann koumlnnen wir auch die zugrundeliegende Physik und die gegenseitigen Wechselbeziehungen der dazugehoumlrenden Kraumlfte besser verstehen Die fraktale Dimension von Eisteilen koumlnnte eine wichtige Einsicht geben wie diese sich formen und wie sie wachsen vorausgesetzt wir beachten bestimmte Umgebungsbedingungen wie Auszligentemperatur Wasserdampfgehalt fluumlssiger Wassergehalt und turbulente Betriebsamkeit Die sogenannte Kalte-Wolken-Mikrophysik ist oft schwierig zu verstehen aber sie ist besonders wichtig fuumlr Niederschlagsvorhersagen Die gleichen Aussagen gelten fuumlr die Analyse von Wolken welche ebenfalls selbst-aumlhnliche Gebilde sind Bei einem Versuch wurde durch das Auswerten von Lichtbildern erkannt dass die fraktalen Dimensionen von Wolkenquerschnitten dem Wert 43 neigen Wir koumlnnen hier nicht naumlher auf die Gruumlnde eingehen doch folgt weil die Wolken als selbst-aumlhnliche Gebilde angenommen werden koumlnnen fuumlr die fraktale Dimension volumetrischer Wolken D = 43 +1 oder D = 73 Nun fragt man sich ob dies als allgemeiner Parameter gelten kann Die Antwort ist wahrscheinlich nein weil die fraktale Dimension von der Umgebung in der sich die Wolken bilden abhaumlngt und folglich von der Wolkenart

7 ZusammenfassungDie Atmosphaumlre ist fortwaumlhrend in einem Zustand des Uumlbergangs und der Bewegung begriffen da sie nach einem Zustand der Ausgeglichenheit zwischen den einzelnen Kraumlften die auf sie einwirken strebt Ebenso wie fuumlr den vom Schicksal getroffenen Tantalos in der griechischen Mythologie bleibt der Zustand der Ausgewogenheit fuumlr unsere Atmosphaumlre unerreichbar Die kreisende Erde wird ungleichmaumlszligig erhitzt Oberflaumlchengegebenheiten fuumlhren zu Reibungsaumlnderungen das Strahlungsgleichgewicht wird durch die An- oder Abwesenheit von Wolken veraumlndert und die Menschheit erschuumlttert die Ausgeglichenheit der Atmosphaumlre durch Umwelteinfluumlsse Das Ergebnis dieser verschiedenen Einfluumlsse ist ein wundervoll vielschich-tiges dynamisches System das sich uumlber einen weiten Bereich zeitlicher und raumlumlicher Skalen offenbart Die Aussicht darauf unsere Atmosphaumlre gruumlndlich zu verstehen und eine angemessene Wettervorhersage zu machen bleibt dennoch eher duumlster Je mehr man in die Tiefe geht um die verwickelten Wechselbeziehungen des Wettergeschehens zu verstehen

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desto schlechter scheinen die Aussichten auf Erfolg zu sein Die Rettung kommt durch die Verhaltensmuster die hinter dem zugrunde liegenden Chaos zum Vorschein kommen

So wird aus der Kunde vom Wetter die Kunde der statistischen Analyse und der geschickten Erkennung von Verhaltensmustern Auf grundlegender Ebene ist es wichtig die Grenzen der Theorie der Turbulenz weiter zuruumlckzuschieben und ein verlaumlssliches Modell zur Beschreibung atmosphaumlrischer Selbst-Aumlhnlichkeit zu erstellen Fortschritte auf diesem Gebiet sind entscheidend um einen klaren Gesamteindruck der Natur zu erhalten Letztendlich muumlssen wir uns damit abfinden dass immer Luumlcken in unserem Verstaumlndnis der Atmosphaumlre bestehen bleiben werden Ferner schraumlnkt die den atmosphaumlrischen Stroumlmungen innewohnende chaotische Natur unsere Moumlglichkeiten ein deterministisches System mit Gleichungen die das Wetter beschreiben zu schaffen erheblich ein Aus diesem Grunde muumlssen die Meteorologen noch immer auf ihr Gespuumlr vertrauen wenn sie die verfuumlgbaren Beobachtungen zusammen mit den Ergebnissen numerischer Wettervorhersagen auswerten Obwohl wir einsehen muumlssen dass wir nicht immer wissen koumlnnen wie die Atmosphaumlre sich verhaumllt koumlnnen wir das Wetter von morgen oder uumlbermorgen doch schon mit groszliger Wahrscheinlichkeit voraussagen Dies setzt oft ein gruumlndliches Verstehen bestimmter morphologischer Muster und von deren Bezug zum Wetter voraus Am liebsten wuumlrden wir diese Erkenntnisse wissenschaftlich eingliedern und fuumlr objektive Wettervorhersagen verwenden aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das menschliche Mitwirken noch immer eine wichtige Zutat in der Einschaumltzung der Witterung

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LiteraturverzeichnisAmerican Meteorological Society (22000) Glossary of Meteorology Todd S Glickman managing editor Boston

Richardson Lewis Fry (1922) Weather Prediction by Numerical Process Cambridge Cambridge University Press

Prof Dr Phillip B Chilson School of Meteorology Christa Chilson Department of Modern Languages Literatures and Linguistics University of Oklahoma Norman OK USA

Sprachliche Morphologie digitalisiert

Jost Gippert (Frankfurt)

The article discusses the question how and to what extent the digitisation of morphological features of natural languages is able to support linguists in both teaching and research Within the scope of applied linguistics it focusses on the impact of digitised morphological data on optical character recognition speech recognition spell and grammar checking machine translation and teaching sce-narios The implementation of digitised means in linguistic research is thema-tised with respect to lexicography and grammar writing as well as diachronic investigations of various kinds The perspectives of applying digitisation to linguistic morphology can be summarised in two theses a) the more linguistic data are provided with a thorough morphological (and beyond that syntacti-cal semantical pragmatical metrical etc) analysis the more reliable the basis for theoretical investigations will be both in synchronical-descriptive and in diachronical-comparative linguistics b) the digital preparation of large data sets is an urgent methodological prerequisite for the verification and falsification of linguistic hypotheses

Fuumlr manch einen Auszligenstehenden hat die Sprachwissenschaft spaumltestens mit dem Strukturalismus eine Ausrichtung angenommen die Goethe und Schiller in ihren Xenien schon lange vorher andeuteten als sie den bdquoSprach-forscherldquo so apostrophierten1

Anatomieren magst du die Sprache doch nur ihr Cadaver Geist und Leben entschluumlpft fluumlchtig dem groben Scalpell

Mit dem Einsatz digitaler Verarbeitungsverfahren duumlrfte sich das Schreckensbild einer immer tiefergehenden bdquoanatomistischenldquo Zerlegung sprachlicher Aumluszligerungen in den Augen vieler eher noch weiter verfestigt haben Im folgenden soll gezeigt werden daszlig eine digital basierte Morphologie natuumlrlicher Sprachen im Gegensatz zur Einschaumltzung unserer Klassiker durchaus nicht mit Geist- und Leblosigkeit einherzugehen braucht sondern

1 Xenie Nr 141 Goethe Werke 1889-1896 I Abtlg Bd V 1 Abtlg 1893 S 225 Schiller Werke 1943ndash Bd I 1943 S 326 Ob das Distichon von Goethe oder Schiller verfaszligt wurde scheint nicht sicher geklaumlrt Corkhill 1991 S 248 schreibt es offensichtlich Goethe zu der damit bdquodie klinisch anmutende fachliche Sprachbetrachtung persiflieren wollteldquo

Jost Gippert36

gerade dazu dienen kann sprachliche Inhalte genauer zu beleuchten und den Umgang mit Sprache in unterschiedlichen Bereichen zu unterstuumltzen

1 Anwendungsbezogene Zielsetzungen digital basierter MorphologieFuumlr eine digital basierte sprachwissenschaftliche Morphologie kommen im wesentlichen fuumlnf anwendungsbezogene Zielsetzungen in Betracht naumlmlich die Unterstuumltzung von Texterkennung (bdquoOCRldquo = bdquoOptical Character Recognitionldquo) Spracherkennung Rechtschreibung (bdquoSpell-checkingldquo) automatische Uumlbersetzung sowie Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht In verschiedenen dieser Anwendungsbereiche wird digitalisierte Morphologie seit laumlngerem bereits mit stetig steigendem Erfolg eingesetzt Einige wenige Grunduumlberlegungen verdienen es dennoch hier kurz abgehandelt zu werden

11 Texterkennung

Digitale Texterkennung dh die retrograde Umwandlung bereits gedruck-ter oder geschriebener Textmaterialien in eine digitale Form zum Zwecke der Weiterverarbeitung setzt typischerweise den folgenden Ablauf voraus Nach dem Einscannen einer Druckseite als Rasterbild muumlssen in diesem zunaumlchst die groben Einheiten des Schriftbilds herausisoliert werden dies geschieht durch die Erfassung von Zonen ohne schwarze Bildpunkte (bdquoPixelldquo) durch die Abstaumlnde zwischen Zeilen Woumlrtern Buchstaben Satzzeichen etc gekennzeichnet sind sowie umgekehrt durch die Erfas-sung zusammenhaumlngender Pixelstrukturen die Buchstaben Satzzeichen etc repraumlsentieren Letztere muumlssen dann mit Mustern verglichen werden um die repraumlsentierten Zeichen im einzelnen zu bestimmen Hierbei ist immer mit einer gewissen Fehlerquote zu rechnen die zB von der druck-technischen Qualitaumlt der Vorlage oder den in ihr benutzten Zeichenformen und -saumltzen abhaumlngt Eine Reduzierung der Fehlerquote die auch heute nach rund 20 Jahren fortschreitender Entwicklung von OCR-Verfahren2

2 Seit 1987 habe ich kontinuierlich kommerzielle OCR-Programme getestet und mit mehr oder weniger groszligem Erfolg sowohl auf lateinschriftliche als auch auf andere Quellen ange-wendet Erwaumlhnen moumlchte ich SPOT 31 (Flagstaff Engineering 1989) ein auf Zeichenfor-men bdquotrainierbaresldquo DOS-basiertes Programm das ich sehr erfolgreich an die georgische Schrift anpassen konnte und dessen Leseergebnisse die Grundlage fuumlr zahlreiche uumlber den TITUS-Server (su Fn 9) verfuumlgbare elektronische Texteditionen darstellen das Kurzweil Scanner-System in den fruumlhen 90er Jahren das Non-Plus-Ultra der PC-basierten OCR mit dem verschiedene lateinschriftlich gedruckte TITUS-Texte eingelesen wurden sowie den Fine Reader (ABBYY) der sich in den letzten Jahren als die leistungsfaumlhigste OCR-Software fuumlr multilinguale Anwendungen herausgestellt hat (derzeit verfuumlgbar in Version

Sprachliche Morphologie digitalisiert 37

noch immer betraumlchtlich sein kann3 setzt verschiedene Arten von Plausi-bilitaumltspruumlfungen voraus bei denen das Leseresultat auf seine sprachliche Korrektheit hin getestet wird Ein typisches Beispiel waumlre die bdquoVerlesungldquo der deutschen Wortform Muumlndern (DatPl) als Mundem sowohl die Igno-rierung des Diakritikums die auf der Diskontinuitaumlt des Buchstabenbildes ltuumlgt beruht als auch die irrige Zusammenlesung der Buchstabenfolge rn als m sind charakteristische Probleme von OCR-Anwendungen Um die gelesene Wortform Mundem nun auf ihre Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen bieten sich zwei Verfahren an Das in kommerziellen OCR-Programmen meist genutzte Verfahren ist rein bdquolexikalischldquo Zum Abgleich wird eine (mehr oder weniger umfangreiche) Wortformenliste der betr Sprache benutzt in der natuumlrlich neben Lemmaformen auch flektierte Formen aller Art enthalten sein muumlssen Die der gelesenen Form am naumlchsten kom-mende wird dann vorschlagsweise eingesetzt im gegebenen Fall duumlrfte dies die Form Munden sein die sich von Mundem nur in einem Buchstaben unterscheidet damit freilich aber noch nicht bdquokorrektldquo ist und somit bereits die Grenzen eines rein lexikalischen Abgleichs aufzeigt Es kommt hinzu daszlig keine Wortformenliste des Deutschen jemals vollstaumlndig sein kann da insbesondere die Moumlglichkeiten der Komposition das deutsche Lexikon unendlich groszlig gestalten

Um eine bessere Lesegenauigkeit zu erzielen ist deshalb ein anderes mehrstufiges Verfahren vonnoumlten das neben einer lexikalischen Daten-basis auch andere Vorinformationen darunter morphologische verar-beiten kann Ein solches Verfahren das ich bdquogemischtldquo nennen wuumlrde muumlszligte neben einem Basislexikon der Wortstaumlmme zunaumlchst die gramma-tischen Regeln der Morphologie dh der Formen- und Wortbildung der betr Sprache beruumlcksichtigen daruumlber hinaus bdquographischeldquo und bdquographo-

9) Die spezifischen Beduumlrfnisse von Sprachwissenschaftlern (va in Bezug auf transkriptive Sonderzeichen) sind allerdings bis heute nirgends zufriedenstellend beruumlcksichtigt 3 Eine Fehlerquote von 2 bedeutet zB zwei Fehler innerhalb von zwei normalen Druckzeilen eines Buches Welche Schwaumlchen oberflaumlchlich angewandte OCR-Verfahren nach wie vor haben und zu welchen Irrtuumlmern sie fuumlhren koumlnnen zeigt deutlich das ehrgeizige Projekt bdquoGoogle Booksldquo (httpbooksgooglecom) Sucht man hier nach SCHLEICHERs Compendium so werden verschiedene Eintraumlge aus Kuhns Zeitschrift fuumlr Vergleichende Sprachwissenschaft ausgegeben in denen das Werk ua als bdquoCompendium tier vergleichenden grammatikldquo und sein Band I als ein bdquoKurzer abrilldquo einer lautlehre der indogermanischen ldquo erscheint entsprechend liefert eine Suche nach bdquoCompendiumldquo und bdquoTierldquo genau den erstgenannten Eintrag zuerst noch vor zoologischen Werken (Stand 2532007 1751h) [Korrekturzusatz Der gleiche Eintrag lautet am 8102009 1319h wie folgt August Schleicher compendium der vergleichenden grammatik der indogermanischen sprachen Bd I Kurzer abrifs einer lautlehrc der Die Ergebnisse der (fortschreitenden) Texterkennung bei Google Books bleiben also unzuverlaumlssig]

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taktischeldquo Regeln Gehen wir wieder von unserem Beispiel der Wortform Muumlndern aus die sich als Dativ Plural von Mund in drei Morpheme das Lexem Mund das Pluralsuffix er und die Dativendung n zerlegen laumlszligt und gleichzeitig das Phaumlnomen des bdquoUmlautsldquo von u zu uuml aufweist das im morphologischen Sinne als ein Ablautphaumlnomen aufzufassen ist Ein bdquogemischtesldquo Analyseverfahren muumlszligte die eingelesene Form Mundem nun von hinten beginnend schrittweise verkuumlrzen bis eine Uumlbereinstimmung mit einem im Basislexikon enthaltenen Wortstamm gegeben ist dies waumlre der vierbuchstabige Stamm Mund Daraufhin waumlre zu uumlberpruumlfen ob der verbleibende Rest em im Morpheminventar verankert ist ndash dies ist zwar der Fall da die deutsche Nominalflexion ein solches postlexematisches Mor-phem kennt (vgl gutem schoumlnem) es ist jedoch nicht mit dem gefundenen Basisstamm Mund kompatibel da dieser kein Adjektiv darstellt Dasselbe Verfahren muumlszligte dann iterativ weiter durchgefuumlhrt werden (Mun ndashdem etc) kaumlme aber allein noch zu keinem Ergebnis An dieser Stelle nach nega-tivem erstem Durchlauf waumlre das Leseresultat (Mundem) dann auf seine graphische Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen wobei zunaumlchst bdquountypischeldquo Zeichenfolgen zu eruieren waumlren solche sind im gegebenen Beispiel nicht vorhanden laumlgen aber zB in einer Verlesung IVIund vor die aufgrund allgemeinen Vorwissens uumlber Zeichenformen der Lateinschrift und ihre Verteilung in Wortformen unmittelbar plausibel in Mund zu korrigieren waumlre Bei bdquogelesenemldquo Mundem muumlszligten umgekehrt die graphotaktisch unproblematischen aufgrund desselben Vorwissens fuumlr Verlesungen jedoch als besonders anfaumlllig geltenden Buchstaben ltmgt und ltugt versuchsweise durch ihre naumlchstaumlhnlichen bdquoPartnerldquo ltrngt und ltuumlgt ersetzt und die sich so ergebenden Wortformen wieder der iterativen Analyse unterzogen werden Dies wuumlrde bereits fuumlr Mundern die moumlgliche Verknuumlpfung eines Lexems (Mund) mit bdquopassendenldquo Flexionsmorphemen er-n ergeben jedoch noch keine korrekte Wortform da der Plural von Mund eben Umlaut aufweist Erst ein dritter Durchlauf mit der Abaumlnderung von ltugt zu ltuumlgt ergibt dann das richtige Resultat Vorausgesetzt ist dabei daszlig auch die Information uumlber das Umlaut- bzw Ablautverhalten der Staumlmme im lexikalischen und morphologischen Basiswissen verankert sein muszlig

Hinsichtlich der bdquographotaktischenldquo Wissensbasis auf die ein solches Ver-fahren zwingend zuruumlckgreifen muszlig sei noch einmal festgehalten daszlig diese sowohl schriftspezifische dh durch die Aumlhnlichkeiten von Buch-stabenformen gegebene Probleme als auch sprachspezifische Regelun-gen umfassen muszlig die jeweils statistisch erfaszligt werden koumlnnen Zu den ersteren gehoumlren zB in der Lateinschrift neben den bereits behandel-

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ten Verwechslungspaaren solche bei denen sich Buchstaben und Ziffern gegenuumlberstehen wie zB ltSgt und lt5gt oder ltOgt und lt0gt (null) Eine Plausi-bilitaumltspruumlfung kann in diesen Faumlllen ohne weiteres davon ausgehen daszlig eine lt1gt (eins) die mitten in einem bdquoWortldquo und von sicher gelesenen Klein-buchstaben umrankt zu stehen scheint eher ein kleines ltLgt repraumlsentieren duumlrfte waumlhrend eine Folge von lt7gt und dreimaligem Buchstaben ltOgt eher bdquosiebentausendldquo meinen wird4 Entsprechende Vorhersagen werden fuumlr andere Schriften wie zB die Kyrillische nicht unbedingt zutreffen hier wird zB eher eine Verwechslung der Buchstaben ltлgt (asymp ltlgt) ltпgt (asymp ltpgt) ltнgt (asymp ltngt) und ltиgt (asymp ltigt) untereinander anzunehmen sein

Der sprachspezifische Anteil der Wissensbasis kann zB allgemeine statistische Erkenntnisse uumlber die Verteilung von Graphemen in Wortformen der betr Sprache verwenden danach wuumlrde etwa ein gelesenes ltsehoumlngt im Deutschen ohne weiteres zu schoumln nicht aber zu sehen zu korrigieren nahegelegt da das ltoumlgt aufgrund seiner Seltenheit gewissermaszligen eine lectio difficilior gegenuumlber ltegt darstellt (und schwerlich fuumlr dieses verlesen sein kann) waumlhrend von den beiden Zeichenfolgen ltsehgt und ltschgt die letztere eine klare statistische Praumlponderanz fuumlr sich hat Im gleichen Sinne koumlnnten Regelungen der Groszlig- und Kleinschreibung beruumlcksichtigt werden die ihrerseits mit der morphologischen Bestimmung einhergehen sollten so haumlngt zB bei einer Verlesung von Guumltern als Gutem die Plausibilitaumlt der letzteren Form davon ab ob sie ndash als Adjektiv ndash in einer Umgebung erscheint die einen initialen Groszligbuchstaben erwarten laumlszligt oder nicht

Damit ist bereits angedeutet daszlig eine wirklich zuverlaumlssige Texterken-nung bei der Plausibilitaumltsanalyse noch einen Schritt weiter gehen muszlig naumlmlich bis hin zu einer syntakto-semantischen Uumlberpruumlfung Gutem ist ja eine vollkommen korrekte Wortform des Deutschen kommt allerdings im Vergleich zu Guumltern obwohl ebenfalls ein Dativ mit groszligem ltGgt in nur sehr reduzierten syntaktischen Konstellationen vor naumlmlich entweder satzeinleitend als Adjektiv ohne vorangehenden Artikel (etwa Gutem Brauch folgend schlieszligt sich der Landrat)5 oder als substantiviertes Adjektiv ebenfalls ohne Artikel (etwa bdquoob er nach Gutem oder Boumlsem

4 Erstaunlicherweise werden in den meisten kommerziellen OCR-Programmen nicht einmal derartig banal anmutende Regelungen beruumlcksichtigt Auch lassen sie sich nicht in die von den Programmen verwendete Wissensbasis integrieren da selbst bdquotrainierbareldquo Programme normalerweise nur Zeichenformen zu speichern erlauben nicht jedoch spezi-fische distinktive Merkmale von Zeichen oder graphotaktische Regeln5 S httpwwwodenwaldkreisdeindexpfunktion=presseartikelphpampselected =1ampid=848 (1912007)

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jagtldquo)6 Eine Entscheidung zwischen Guumltern und Gutem setzt also eine syntaktische Analyse voraus die zumindest die umgebenden Wortfor-men mit beruumlcksichtigen muszlig hierbei koumlnnen statistische Angaben uumlber sog bdquoKollokationenldquo Entscheidungshilfen bilden7 In anderen Faumlllen wie etwa bei dem ndash graphisch minimalen ndash Unterschied zwischen Tochter und Toumlchter wird nicht einmal durch Informationen aus der syntaktischen Umgebung immer eindeutig geklaumlrt werden koumlnnen ob eine gegebene bdquoLesungldquo richtig ist man vgl zB die Lesungen ltdie juumlngere Tochtergt und ltdie juumlngeren Tochtergt wo die Endungen der attributiven Adjektive im Verbund mit den Artikelformen Eindeutigkeit herstellen waumlhrend in gelesenem ltIch sehe seine Tochtergt (gegenuumlber ltIch sehe seine Toumlchtergt) ohne Kenntnis des Kontextes keine Entscheidung fuumlr die Singular- oder die Pluralform moumlglich ist Wie sehr die morphologische Bestimmung von syn-takto-semantischen Vorgaben abhaumlngen kann zeigt sich nicht zuletzt bei homonymen Wortformen die unterschiedlichen morphologischen Klas-sen zugehoumlren man vgl zB das Verb zugreifen gegenuumlber dem Komposi-tum Zugreifen = Zug + Reifen oder das Partizipialadjektiv vereinzelt gegenuumlber dem Kompositum Vereinzelt = Verein + Zelt

Auch das bdquogemischt-morphologischeldquo Verfahren zur Unterstuumltzung der Texterkennung hat also Grenzen die auch mit groszligen Datenmengen nicht leicht zu uumlberbruumlcken sein werden Hier duumlrften auf laumlngere Sicht Verfahren der statistischen Untermauerung durch Kollokationen eine entscheidende Rolle spielen Morphologisches Wissen bleibt dabei aber mit Sicherheit ein unverzichtbarer Bestandteil

12 Spracherkennung

Der Einsatz morphologischer Verfahren unterliegt bei der Spracherkennung ganz aumlhnlichen Bedingungen wie bei der Texterkennung Auch hier geht es um eine eindeutige Bestimmung sprachlicher Formen bei der digitalen

6 Goethe Werke I Abtlg Bd II 1888 S 246 ndash Theoretisch sollte ein gut fundiertes bdquogemischtesldquo System auch in der Lage sein Druckfehler stillschweigend zu korrigieren dies duumlrfte jedoch immer dann ausgeschlossen sein wenn das verdruckte Wort eine morphologisch bdquokorrekteldquo Form darstellt wie etwa im Falle von fuumlr ltVerballhornungengt verdrucktem ltVerbalhornungengt = VerbalHornungen Hier mag selbst eine kollokationsbasierte semantische Analyse scheitern wenn der Druckfehler in einem sprachwissenschaftlichen Kontext auftritt der ua auch Woumlrter wie Verbalflexion aufweist (so bei Hoffmann Altiranisch S 10 = Aufsaumltze I S 67 Z 6 vu bzw S 16 73 Z 11)7 Vgl hierzu das Projekt bdquoKollokationen im Woumlrterbuchldquo der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften s httpwwwbbawdebbawForschungForschungspro-jektekollokationendeueberblick

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Erfassung von Aumluszligerungen Ein Unterschied zur Texterkennung besteht nur darin daszlig die graphische Komponente entfaumlllt da die zugrundelie-genden Daten nicht schriftlich dh zeichenkettenbasiert sondern muumlndlich (und als akustisches Signal digitalisiert) vorliegen An die Stelle der bdquographo-taktischenldquo Entscheidungshilfen muumlszligten hier wenn man ein bdquogemischtesldquo Verfahren anstrebt deshalb phonotaktische Statistiken treten Die Not-wendigkeit einer Einbindung morphologischer Analyseverfahren bleibt davon unberuumlhrt

13 Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung

Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Anwendungsbereichen setzt die Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung eine Stufe spaumlter an naumlmlich bei einem schon existierenden digital vorliegenden Text Unabhaumlngig davon ob dieser von Hand eingegeben oder via OCR oder Spracherkennung generiert wurde geht es hier jedoch wieder um genau dieselbe Art von Plausibilitaumltspruumlfung wie sie oben als Bestandteil des Erkennungsprozesses beschrieben wurde Ein klarer Unterschied besteht gegenuumlber der Texterkennung lediglich in der Hinsicht daszlig bei von Hand eingegebenen Texten nicht dieselben bdquographotaktischenldquo Vorgaben gelten da beim bdquoTippenldquo systematisch andere Buchstaben verwechselt werden als beim optischen Einlesen naumlmlich typischerweise die auf der Tastatur benachbarten Zeichen (etwa ltigt und ltogt oder ltbgt und ltvgt) Die Einsetzbarkeit morphologischer Verfahren der og Art ist von diesem Unterschied nicht betroffen und solche Verfahren werden von gaumlngigen Textverarbeitungsprogrammen heute bereits weitgehend wenn auch nicht immer zufriedenstellend ausgenutzt8

14 Automatische Uumlbersetzung

Noch eine Stufe spaumlter setzt der Einsatz digitaler Morphologie bei der automatischen Uumlbersetzung an Anders als bei den Plausibilitaumltspruumlfun-gen zur Etablierung eines bdquokorrektenldquo Texts wird hier ein solcher bereits vorausgesetzt bei der morphologischen Analyse geht es dann statt dessen um die Herstellung der Basis fuumlr eine adaumlquate Uumlbersetzung Es entfallen somit grapho- und phonotaktische Begleitverfahren die Probleme rund um

8 So ergibt zB die Uumlberpruumlfung des fehlerhaften Satzes bdquoDas Wortform sbquoMundemrsquo ist unsinigldquo in MS-Word 2003 lediglich die Zuruumlckweisung von bdquoMundemldquo sowie von bdquounsinigldquo der Artikel das wird nicht als falsch erkannt

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Homonymien etc bleiben jedoch bestehen und auch hier muumlssen syntakto-semantische Verfahren vorrangig einbezogen werden

15 Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht

Daszlig die Morphologie ein unabdingbarer Bestandteil des Fremdsprachen-unterrichtsund mehr noch der sprachwissenschaftlichen Ausbildung ist duumlrfte keinem Zweifel unterliegen Digitale Verfahren koumlnnen hier in zweierlei Weise unterstuumltzend eingesetzt werden naumlmlich bei der Analyse fremdsprachiger Textmaterialien im Hinblick auf gegebene Wortformen und umgekehrt bei der Erzeugung von Wortformen Die hierfuumlr zu schaffenden Datenbasen sind im Prinzip dieselben wie die bereits oben beschriebenen Fuumlr weniger anspruchsvolle Anwendungen wird man zunaumlchst mit einem bdquostatischenldquo rein lexikalischen Verfahren operieren koumlnnen das lediglich eine bestimmte (aber erweiterbare) Menge von manuell vordefinierten Wortformen umfaszligt um eine morphologische Analyse beliebiger Wortformen zu ermoumlglichen wird hingegen wieder ein bdquogemischtesldquo Verfahren eingesetzt werden muumlssen bei dem neben Listen lexematischer und nicht-lexematischer Morpheme auch deren Verknuumlpfungsregeln (gegebenenfalls unter Einschluss von Um- und Ablautsphaumlnomenen) verarbeitet sind Beide Verfahren seien kurz an Implementationsbeispielen aus der TITUS-Textdatenbank9 illustriert

151 TocharischWie auch andere TITUS-Texte sind diejenigen des A-tocharischen Corpus10 mit einer relationalen Datenbank verknuumlpft die die Belegstellen jeder einzelnen Wortform umfaszligt und somit einen unmittelbaren Zugriff auf die Beleglage derselben ermoumlglicht dies geschieht durch einfaches Anklicken der betreffenden Wortform im Text oder durch Eingabe in eine Suchmaske Daruumlber hinaus ist das A-tocharische Corpus bereits mit morphologischen Informationen versehen die die Bestimmung von Verbalformen betreffen Klickt man zB auf die in Abb 1 enthaltene Verbalform kumsentildecauml11 so

9 Die Textdatenbank des TITUS-Projekts (bdquoThesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialienldquo) ist online uumlber httptitusuni-frankfurtdetextetexte2htm verfuumlgbar10 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcstochtochatochahtm11 Da der Unicode-Standard noch nicht alle fuumlr die traditionelle Transkription des Tochar-ischen erforderlichen Zeichen umfaszligt sind die toch Texte in der TITUS-Datenbank vorerst in einer Behelfsumschrift wiedergegeben hier vertritt zB ein Majuskel-ltAumlgt das bdquostummeldquo ltaumlgt neben Virāma im Auslaut

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erfolgt ein Datenbankaufruf der die Analyse der Form ausgibt (s Abb 2) Die Einbettung der Form in ihren paradigmatischen Zusammenhang (sowie ihr Verhaumlltnis zu den entsprechenden B-tocharischen Formen) kann durch ein weiteres Anklicken der Wurzel (kaumlm) abgerufen werden (s Abb 3) Das dahinter stehende Verfahren ist im Sinne der obigen Definition rein bdquolexikalischldquo da jede Verbalform mit ihrer Bestimmung sowie mit dem Verweis auf das jeweilige Lemma (Wurzel) fuumlr sich bereits in der Datenbank abgelegt ist eine eigentliche morphologische Analyse findet also nicht beim Aufruf statt sondern ist bereits vorher (manuell) in die Datenbank eingeflossen (lediglich gewisse graphische Alternationen werden beim Aufruf automatisch bdquoabgefangenldquo)12 Dieses Verfahren empfiehlt sich bei einer Corpussprache mit begrenztem Wortformenvorrat wie dem Tocharischen durchaus zumal wenn die verbale Formenbildung wie in dieser Sprache in erheblichem Maszlige durch ablautbedingte und andere Stammvariationen gekennzeichnet ist und viele Irregularitaumlten aufweist

152 VedischWaumlhrend die bdquohalbautomatischeldquo Analyse im Falle des Tocharischen noch auf das Verbum beschraumlnkt ist steht fuumlr die vedischen Texte in der TITUS-Kollektion bereits ein weitergehendes morphologisches Retrievalsystem zur Verfuumlgung das zumindest die Wortformen der Rgveda-Samhitā voll-staumlndig erfaszligt Auch diese Datenbank ist bdquolexikalischldquo indem saumlmtliche Wortformen in ihr vorab bestimmt und auf ihr jeweiliges Lemma bezo-gen enthalten sind13 lediglich die durch Sandhi entstehende Variation wird durch einen eigenen Regelmechanismus beim Aufruf abgeglichen Dieser kann wiederum durch einfaches Anklicken einer im Text gegebenen Wort-form erfolgen (vgl Abb 4 mit RV 111andashc) ausgegeben wird dann zunaumlchst eine morphologische Bestimmung mit Bedeutungsangabe wie in Abb 5 fuumlr agnim14 Daruumlber hinaus steht bereits eine lemmabezogene Suchmaschine zur Verfuumlgung die fuumlr ein Lexem wie agni- bdquoFeuerldquo saumlmtliche bezeugten

12 Dies betrifft generell den Wechsel zwischen den sog bdquoFremdzeichenldquo und den eigentli-chen Brāhmī-Akṣaras aber auch zB das oe bdquostummeldquo ltaumlgt im In- und Auslaut13 Grundlage ist die RV-Konkordanz von A Lubotsky Bedeutungsangaben greifen zusaumltzlich auf ein von P Schreiner (Zuumlrich) erarbeitetes Digitalisat des Sanskrit-Woumlrter-buchs von K Mylius (mit Ergaumlnzungen des Autors) zuruumlck Die Programmierarbeit wurde im Rahmen des Projekts bdquoAvesta und Rgveda Elektronische Analyseldquo (AUREA 1995-1998 cf httptitusuni-frankfurtdecurricaureaaureahtm) von R Gehrke erbracht14 Die morphologische Bestimmung ist (auch abgesehen von unklaren Wortformen) noch nicht in allen Einzelfaumlllen endguumlltig verifiziert die Retrievalergebnisse sind deshalb als noch nicht verlaumlszliglich gekennzeichnet

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Formen abzurufen gestattet vgl Abb 6 die den Aufruf des bdquoThesaurus-Sucheldquo ausgehend von der Akkusativ-Form agnim zeigt15 und Abb 7 die das mit der Nominativ-Form agniḥ beginnende Suchresultat darstellt Es versteht sich von selbst daszlig eine Datenbank die allein die in der Rgveda-Samhitā auftretenden Wortformen umfaszligt den kompletten vedischen For-menbestand nicht erschlieszligen kann eine Ausweitung im Sinne eines ge-mischten bdquolexikalisch-morphologischenrdquo Verfahrens ist also unumgaumlnglich wenn man die altindische Uumlberlieferung in groumlszligerem Umfang abdecken will Dies gilt umso mehr als eine Ausdehnung auf das epische buddhis-tische und klassische Sanskrit durch die Moumlglichkeiten der Wortkomposi-tion praktisch wieder lexikalische Unendlichkeit mit sich bringt

153 Alt- und NeugeorgischEin bdquogemischtesldquo lexikalisch-morphologisches Verfahren ist in der TITUS-Datenbank zB fuumlr das umfangreiche altgeorgische Textmaterial implementiert worden und zwar fuumlr dessen nominale Bestandteile Hierzu wurde zunaumlchst der Wortbestand der Sammlungen von I Abuladze Z Sarjveladze und H Faumlhnrich16 als Lemmaliste mit deutschen Uumlbersetzungen digitalisiert dann wurden saumlmtliche in der nominalen Formenbildung auftretenden Morpheme (Suffixe Endungen) mit ihren Kombinationsmoumlglichkeiten in einer eigenen Datentabelle erfaszligt Ruft man diesen Datenverbund nun uumlber das Anklicken einer Form wie ġaġadebisay in Mk 13 innerhalb der altgeorg bdquoProtovulgataldquo ab (s Abb 8)17 so erhaumllt man die korrekte Analyse wie in Abb 9 dargestellt ausgegeben Dabei ist zu beachten daszlig bei der Ruumlckfuumlhrung auf das Lemma ġaġadeba‑y bdquoRufenrdquo zunaumlchst die Nominativ-Endung -y und das stammauslautende -a- dieses Verbalnomens (bdquoMasdarrdquo) durch den Endungskomplex -isay verdraumlngt sind und letzterer seinerseits in drei Morpheme zerfaumlllt naumlmlich die Genetivendung is deren sog bdquoemphatischerdquo Erweiterung a sowie die Nominativendung i die nach a als ltygt = [j] repraumlsentiert ist Daszlig die Genetivendung ihrerseits um eine Nominativendung erweitert ist ist im Altgeorgischen durch die Regeln der sog bdquoSuffixaufnahmerdquo bedingt der Genetiv bdquodes Rufensrdquo ist an der gegebenen Stelle von dem im Nominativ

15 S httptitusfkidg1uni-frankfurtdesearchqueryhtm16 Abulaʒe Masalebi 1973 Sarǯvelaʒe Masalebi 1995 Sardschweladse Faumlhnrich Woumlrter-buch 1999 Zugrunde liegt eine elektronische Fassung des letzteren Woumlrterbuchs das die Materialien der beiden erstgenannten mit umfaszligt fuumlr die Bereitstellung sei H Faumlhnrich und Z Sarǯvelaʒe auch an dieser Stelle herzlich gedankt 17 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcacaucageontcinantcinanhtm

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erscheinenden qmay bdquodie Stimmerdquo als Attribut abhaumlngig18 und diesem nachgestellt und erfordert deshalb die zusaumltzliche Markierung fuumlr den Kasus seines Bezugsworts Die einzelnen Analyseelemente seien noch einmal zusammengefaszligt

Lemmaform ltġaġadebaygt ġaġadebai bestehend aus Verbal-Wz bull +Praumls-Stammbildungssuffix+Masdar-Suffix+Nom-Endung

zu analysierende Form ltġaġadebisaygt ġaġadebaisai bestehend aus bull Verbal-Wz+Praumls-St+Masdar-S+Gen-E+bdquoemphldquo El+Nom-E

Regel Masdar-Suffix gt Oslash_Gen-Endung | Instr-Endungbull

Daszlig ein entsprechendes Analyseverfahren fuumlr das altgeorg Verbum noch nicht entwickelt wurde liegt an der enormen Formenfuumllle durch die dieses gekennzeichnet ist wobei Praumlfixe Suffixe Infixe und Ablaut involviert sind Auch ein solch komplexes System kann jedoch als Regelapparat pro-grammiert werden wie die von Paul Meurer (Bergen) implementierte Verbalformenanalyse des Neugeorgischen beweist19 Man vgl zB die in Abb 10 wiedergegebene Ausgabeseite die die paradigmatische Einbettung der Wortform daumalavs zeigt Die Form ist in korrekter Weise doppelt erfaszligt naumlmlich a) als Futurform bdquoersiees wird ihnsieessie vor ihmihr verbergenldquo und b) als Perfektform bdquoersiees soll ihnsiees sie (Sachen) verborgen habenldquo Dabei ist zu beruumlcksichtigen daszlig sich die beiden For-men allein dadurch unterscheiden daszlig die Markierung des handelnden Subjekts (Agens) in ersterer in der Endung -s steckt in letzterer jedoch in dem praumlradikalen -u- das in der Futurform ein indirektes (bdquoversionalesldquo) Objekt bdquovor ihmihrihnenldquo bezeichnet

Futur daumalavs bull Praumlv+indObjV3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +Subj3Sg

Perfekt daumalavs bull Praumlv+Subj3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +dirObj3Sg

18 Mit der bdquoStimme des Rufens in der Wuumlsteldquo (statt bdquodes Rufersldquo griech τοῦ βοῶντος) zeigt die altgeorg Bibel an der gegebenen Stelle einem Zitat aus Is 403 im uumlbrigen eine bemerkenswerte Uumlbereinstimmung mit der armen Bibel (jayn barbary wtl bdquoStimme des Sprechensrdquo) die auf eine syrische Vorlage weist 19 Die Analyse beruht auf einer Implementierung der morphologischen Angaben in K Tschenkelis Woumlrterbuch s httpmaximosaksisuibnoAksis-wikiGeorgian _ Gram-mar _ Project

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Es sei noch hinzugefuumlgt daszlig auf der Basis eines derartigen umfassenden morphologischen Formengenerators auch eine tiefgehende syntaktische Analyse programmierbar ist ein Prototyp fuumlr das Georgische ist von Paul Meurer als Finite-State-Anwendung auf der Basis der bdquoLexical-Functional Grammarldquo (LFG)20 entwickelt worden (vgl Abb 11)

2 Linguistische Zielsetzungen digital basierter MorphologieAlle bisher behandelten Anwendungsbeispiele setzen linguistisches Wissen voraus fuumlhren jedoch selbst allenfalls in begrenztem Maszlige zu einer Wei-terentwicklung unseres Wissens uumlber einzelne Sprachen oder menschliche Sprache im allgemeinen Dennoch kann die Digitalisierung morpholo-gischer Strukturen auch ihrerseits in erheblichem Maszlige zu linguistischem Kenntnisgewinn beitragen Die betreffenden Einsatzbereiche seien im fol-genden kurz umrissen

21 Einsatzbereich Lexikographie

Elektronische Textcorpora schaffen eine hervorragende Basis fuumlr lexiko-graphische Untersuchungen aller Art bis hin zur Erstellung vollstaumlndi-ger Konkordanzen Um das Textcorpus einer Sprache mit reichhaltiger Flexionsmorphologie lexikographisch in konsistenter Weise auszuwerten bedarf es einer Lemmatisierung die nur dann automatisch erfolgen kann wenn eine korrekte Bestimmung saumlmtlicher Wortformen gewaumlhrleistet ist21 Hierfuumlr ist es erforderlich Verfahren zu implementieren wie sie oben am Vedischen und weitergehend am Georgischen illustriert wurden

22 Einsatzbereich Grammatikographie

Auf der Basis von Textcorpora kann eine Digititalisierung morpholo-gischer Strukturen praktisch in allen Bereichen zur Unterstuumltzung einer grammatischen Beschreibung der betr Sprache eingesetzt werden Dies betrifft zum einen die Morphologie der Sprache selbst insofern je nach Umfang des Corpus mehr oder weniger erschoumlpfende Aussagen zur Gestal-tung und Distribution von Morphemen moumlglich werden Daruumlber hinaus ist

20 S dazu zB Kroeger Approach 200421 Vgl den 1994 publizierten Wortformenindex zu den Schriften Galens (Gippert Index Galenicus) bei dessen Erarbeitung noch nicht auf eine automatische Lemmatisierung des Altgriechischen zuruumlckgegriffen werden konnte Heute 15 Jahre nach der Erarbeitung dieser Wortformenkonkordanz wuumlrden geeignete Mittel fuumlr eine automatische Lemma-tisierung bereitstehen

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die Syntax betroffen insofern sie (als Morphosyntax) die funktionale Ver-wendung von Morphemen zum Gegenstand hat Auch fuumlr die Phonologie kann digitalisierte Morphologie Erkenntnisse bringen soweit sie zB die lautliche Auspraumlgung von Allomorphen und phonotaktische Phaumlnomene an Morphemgrenzen zu untersuchen erlaubt

Dabei ist es zweckmaumlszligig zwei Verfahren zu unterscheiden Das erste das ich bdquointrinsischldquo nennen wuumlrde basiert wieder auf der digitalen Grundstruktur von Text naumlmlich der bdquoZeichenketteldquo (String) ein darauf aufbauendes Auswertungsverfahren (bdquozeichenkettenbasierte Sucheldquo) wird allerdings nur bei (nahezu) eindeutiger Form dh variantenloser Schreibung und bei (nahezu) eindeutigem klar definierbaren Zeichenkontext zufriedenstellende Ergebnisse zeitigen Dies sei am Beispiel gotischer Passivformen illustriert

221 Gotisches PassivDie (wenigen) synthetischen Passivformen des Gotischen sind bekanntlich durch spezifische Endungen gekennzeichnet naumlmlich im Praumlsens Indikativ -za fuumlr die 2PsSg -da fuumlr die 1 und 3PsSg und -nda fuumlr die Pluralpersonen Will man diese Endungen als solche abfragen so muszlig zunaumlchst sichergestellt werden daszlig sich die Abfrage nur auf wortfinales -za bzw -(n)da bezieht diese Einschraumlnkung kann in der TITUS-Suchmaschine durch die Eingabe eines Sternchens als Stellvertreterzeichen fuumlr eine beliebige Zeichenfolge markiert werden das den Wortkoumlrper repraumlsentiert (bdquoWildcardldquo vgl Abb 12 mit der Eingabe fuumlr die Endung -za in der Form za) Die daraufhin ausgegebene Wortformenliste zeigt auf den ersten Blick (s den Ausschnitt in Abb 13) die Unzulaumlnglichkeit dieses Verfahrens auf denn neben den (zwei) gewuumlnschten Passivformen (haitaza bdquodu wirst genannt (werden)ldquo Lk 17622 und us-maitaza bdquodu wirst abgehauen (werden)ldquo Roumlm 1122) finden sich hier in weitaus groumlszligerer Zahl andere Formen die auf -za auslauten wie zB die Komparative maiza und minniza bdquogroumlszliger mehrldquo und bdquokleiner minderldquo (Mt 1111 uouml) oder die substantivischen Dativformen riqiza bdquoder Finsternisldquo (Mt 1027 uouml) und Moseza bdquo(dem) Moseldquo (2Tim 38) Noch weitaus diffuser ist die Liste die bei der Abfrage nach da ausgegeben wird (s den Ausschnitt in Abb 14) denn hier erscheinen insbesondere Praumlteritalformen auf -da (wie zB gaweihaida bdquoer hat geheiligtldquo Jo 1036) in groszliger Zahl

22 Im intr heiszligen = bdquogenannt werdenldquo (gegenuumlber trans jdn (etw tun) heiszligen) mani-festiert sich im Deutschen offensichtlich noch eine Reminiszenz an die fruumlhere Existenz eines (Medio-)Passivs des gotischen Typs

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222 Annotative VerfahrenAngesichts solcher Ergebnisse ergibt sich die Notwendigkeit ein besser geeignetes Verfahren anzuwenden nahezu von selbst Als ein bdquoextrinsischesldquo Verfahren das bereits weithin genutzt wird bietet sich die durchgehende Annotation von Textdaten an Hierbei werden durch ein sog bdquoTaggingldquo vorzugsweise auf der Basis der sog bdquoExtended Markup Languageldquo (XML) die fuumlr eine gezielte Abfrage erforderlichen Daten (Formenbestimmungen Lemmaangaben) in den Text eingebunden so daszlig sie fuumlr gezielte Abfragen verfuumlgbar sind Der Vorteil eines derartigen Verfahrens besteht in der rel frei definierbaren und anpassungsfaumlhigen Informationsstruktur Das Tagging kann in nahezu beliebiger Weise explizit (dh als lesbarer bdquoKlartextldquo) oder implizit (in Form von Abkuumlrzungen Siglen etc) gehalten werden nur Konsistenz muszlig gewahrt bleiben Abb 15ndash16 zeigen zur Illustration eines maximal expliziten Taggings einen Ausschnitt aus dem Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus23 in verschiedenen Darstellungsformen24 Als Beispiel fuumlr ein besonders wenig explizites Annotationsverfahren kann man denselben Ausschnitt aus der urspruumlnglichen Fassung des Corpus (Abb 17) oder den von Han Steenwijk aufbereiteten Slovenischen (Resischen) Katechismus (Abb 18) vergleichen Eines muszlig natuumlrlich klargestellt werden Wie explizit auch immer das Tagging ist ndash es reflektiert auf jeden Fall bereits vorher akkumuliertes linguistisches Wissen

Inwiefern kann ein annotationsbasiertes Retrieval dann uumlberhaupt selbst zum linguistischen Erkenntnisgewinn beitragen Eine ganz wesentli-che Funktion liegt in der Verifikation und Falsifikation von Hypothesen die das Verfahren erlaubt Dabei geht es insbesondere um eine statistische Untermauerung dh die Frage nach der Stringenz linguistischer Annah-men im Hinblick auf in Corpora enthaltene Daten Warum ein Retrieval auf der Basis von Annotationen dabei einer einfachen Suche nach objekt-sprachlichen Zeichenketten uumlberlegen ist sei wiederum an einem Beispiel illustriert

23 S httpwwwikpuni-bonndedtforschfnhd24 Die Ausgabe von XML-Strukturen haumlngt von dem jeweiligen Verarbeitungspro-gramm ab hier dargestellt sind die frei verfuumlgbaren XML-Editoren von firstobject (httpwwwfirstobjectcomdn _ editorhtm) und XMLFox (httpwwwxmlfoxcomdownloadhtm) Auf der Seite httptitusuni-frankfurtdeldlinkshtm sind online verfuumlgbare XML-Werkzeuge zusammengestellt

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223 Echofragen im KaukasusWer die georgische Sprache erlernt wird sich uumlber kurz oder lang wundern daszlig Echofragen in dieser Sprache in spezifischer Weise ausgepraumlgt sind insofern sie mit den auf sie folgenden Antworten durch die Konjunktion da bdquoundldquo verbunden werden man vgl das folgende Beispiel25

Frage ras aḳetebt axla tkven bdquoWas tut ihr geradeldquo

Echofrage+Antwort čven ras vaḳetebt da meored motibul tivas vparcxavt bdquoWas wir tun sbquoUndrsquo ndash wir rechen die zweite Mahd zusammenldquo

Wollte man derartige Konstellationen nun in einem groumlszligeren Corpus des (gesprochenen) Georgischen abfragen so wuumlrde man mit einer rein zeichenkettenbasierten Suche schwerlich in vertretbarer Zeit zum Erfolg kommen da eine Suche nach selbstaumlndigem da sowohl saumlmtliche Belege fuumlr die Konjunktion (und damit das haumlufigste Wort uumlberhaupt) als auch solche fuumlr das homonyme da bdquoSchwesterldquo (NomSg) erbringen wuumlrde Noch schwieriger wuumlrde sich die entsprechende Suche im Svanischen einer der Schwestersprachen des Georgischen gestalten das einen genau entsprechenden Gebrauch der Konjunktion bdquoundldquo kennt Diese lautet hier normalerweise i wie in der woumlrtlichen Entsprechung des obigen Beispiels

Frage im xašdbad atxe sgaumly Echofrage+Antwort nauml im xwašdbad i mēris xwipcxidIn der Position nach vokalischem Auslaut wird das i nun aber als [j] real-isiert und sofern svanische Texte niedergeschrieben werden als solches an das vorhergehende Wort angehaumlngt so daszlig eine Suche nach (selbstaumlndigem) i diese Faumllle nicht erbringen wuumlrde

Frage si zurāl im xašdba bdquoDu Frau was tust du (gerade)rdquo Echofrage+Antwort im xwašdbay ulyāks xwaumlpšwde bdquoWas ich tue lsquoUndrsquo ndash ich schere ein Schafrdquo

25 Die folgenden Beispiele sind dem im Rahmen des Projekts bdquoEndangered Caucasian Languages in Georgialdquo (s httptitusfkidg1uni-frankfurtdeeclingeclinghtm) gesammelten originalsprachlichen Material entnommen Die Beispiele wurden nicht gezielt eruiert sondern sind jeweils Bestandteil ungesteuerter Konversation

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Noch komplexer ist die Sachlage in einer zweiten ihrerseits nicht ver-wandten Nachbarsprache des Georgischen dem Tsova-Tuschischen oder Batsischen Auch hier koumlnnen moumlglicherweise unter georgischem Einfluszlig Echofragen mit den folgenden Antworten durch bdquoundrdquo verbunden sein die Konjunktion liegt dabei jedoch nicht als eigenstaumlndiges Wort (und somit als eindeutig abgrenzbare Zeichenkette) vor sondern manifestiert sich jeweils unterschiedlich in der Laumlngung des auslautenden Vokals des vorangehenden Wortes der seinerseits in anderen Konstellationen getilgt sein kann man vgl das folgende Beispiel

Frage men yar o psṭuyn bdquoWer war diese Fraurdquo Echofrage+Antwort men yarē xaxabuyren bdquoWer sie war (lsquoUndrsquo) ndash sie war aus Xaxabordquo

Es kommen jedoch auch Echofragen ohne eine derartige Laumlngung vor

Frage qēn nānas vux dīen bdquoWas tat (seine) Mutter dannrdquo Echofrage+Antwort nānas vux dīen ndashnān korlacyīen bdquoWas (seine) Mutter tat (Seine) Mutter wurde verhaftetrdquo

Die sich hieraus unmittelbar ergebende Frage nach der Konsistenz des Gebrauchs kann durch eine Zeichenkettensuche in keiner Weise beant-wortet werden da eben kein zu suchendes Zeichen gegeben ist Man wird also um das Phaumlnomen der Echofragen im Kaukasus im Hinblick auf seine Regelhaftigkeit weiter zu untersuchen nicht umhin koumlnnen eine Anno-tation vorzusehen die nicht nur die morphologischen Elemente sondern sogar syntaktische Einheiten (eben Echofragen als solche) markiert

23 Digitale Morphologie und diachrone Untersuchungen

Einen weiteren Einsatzbereich digitalisierter Morphologie innerhalb der Linguistik stellen diachrone Untersuchungen dar Dabei gilt wieder das Grundprinzip daszlig der Einsatz digitaler Verfahren va zur Verifizierung bzw Falsifizierung von an Einzelfaumlllen erarbeiteten Hypothesen dienen kann Auch dies sei durch ein Anwendungsbeispiel aus dem kaukasischen Raum illustriert

Das Svanische faumlllt unter den kartvelischen oder suumldkaukasischen Sprachen insbesondere dadurch auf daszlig es in mehrere Dialekte mit houmlchst unterschied-licher phonologischer Struktur zerfaumlllt Die historischen Veraumlnderungspro-

Sprachliche Morphologie digitalisiert 51

zesse die diese Diversitaumlt herbeigefuumlhrt haben umfassen houmlchst komplexe Umlautungen Assimilationen sowie Syn- und Apokopeerscheinungen So wuumlrde man etwa die Form aumlǯhīdx bdquosie sind uumlber euch gekommenldquo des ober-balischen Dialekts auf eine historisch zugrundeliegende Form adǯihīdex zuruumlckfuumlhren die sich uumlber die folgenden vier chronologisch aufeinander-folgenden an das Altirische erinnernden Schritte veraumlndert haben duumlrfte

Umlautung aumldǯihīdex Apokope (Tilgung des Vokals der Auslautssilbe) aumldǯihīdx Synkope (Tilgung kurzer Vokale in geraden Silben) aumldǯhīdx Clustervereinfachung aumlǯhīdxDabei ist zu bemerken daszlig ein anderer Dialekt der lenṭechische die Syn-kope noch nicht vollzogen hat und in aumllteren svanischen Volksliedtexten sogar noch Formen ohne Apokope begegnen

Die historisch anzusetzende bdquoursvanischeldquo Grundform ist nun zugleich auch diejenige die man bei einer morphologischen Analyse von aumlǯhīdx zugrundelegen muszlig Tatsaumlchlich zerfaumlllt diese Form in insgesamt sechs morphologische Elemente naumlmlich das Praumlverb ad bdquoherldquo das Zeichen eines Objekts der 2 Person verbunden mit dem Zeichen der bdquoobjektiven Versionldquo ǯ+i bdquoin Bezug auf dich euchldquo die Verbalwurzel hīd bdquokommenldquo das Suf-fix des Aorists e sowie das Zeichen fuumlr ein Subjekt der 3 Person Plural x von denen aber eben nicht mehr alle in der heutigen oberbal Form als solche bdquosichtbarldquo sind Schematisch

I II III IV V VIad + ǯ + i + hīd + e + xPraumlv + 2PsObj + ObjV + Wz + AorSuff + 3PlSubjaumlǯhīdx

Wie in diesem Fall ist zu erwarten daszlig eine konsistente morphologische Analyse regelmaumlszligig Formen liefern wird die den mutmaszliglichen historischen (ursvanischen) Ausgangsformen zumindest nahekommen Sie koumlnnen damit als Inputformen fuumlr eine (automatische) Verifizierung der postulierten lautgesetzlichen Entwicklungen vom Ursvanischen zu den einzelnen heutigen Dialekten wie auch fuumlr die postulierten interdialektalen Lautentsprechungen dienen26

26 Vgl bereits Gippert Divergences 2000 mit einigen Fallbeispielen

Jost Gippert52

3 ResuumlmeeDie Perspektiven die die Anwendung digitaler Morphologie in der Sprach-wissenschaft eroumlffnet lassen sich auf der Grundlage der oben behandelten Fallbeispiele in zwei Thesen zusammenfassen

These I Je mehr sprachliche Daten mit morphologischer (und daruumlber hinaus syntaktischer semantischer pragmatischer metrischer) Analyse digital aufbereitet sind auf desto sichererem Boden steht die Theo-riebildung in synchron-deskriptiver und diachron-vergleichender Linguis-tik

These II Durch die Digitalisierung groszliger Datenmengen wird eine (statistische) Verifizierung bzw Falsifizierung sprachwissenschaftlicher Hypothesen nicht nur moumlglich sondern geradezu als methodisches Postu-lat erzwungen

Durch eine entsprechende Aufbereitung sprachlicher Daten die Voraus-setzungen hierfuumlr zu schaffen sehe ich als eine der vorrangigen Aufgaben der heutigen Linguistik an

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Jost Gippert54

Abbildungen

Abb 1 A-tocharischer Textausschnitt (THT 634r 1-3)

Abb 2 Aufruf der Datenbank

Sprachliche Morphologie digitalisiert 55

Abb 3 Paradigma-Ausgabe

Abb 4 Vedischer Textausschnitt (RV 111a)

Jost Gippert56

Abb 5 Bestimmung der Form agnim

Abb 6 Aufruf der Thesaurus-Suchmaschine

Sprachliche Morphologie digitalisiert 57

Abb 7 Ausgabe der Thesaurus-Suche

Abb 8 Mk 12ndash3 in der altgeorgischen bdquoProtovulgataldquo

Jost Gippert58

Abb 9 Bestimmung der altgeorg Wortform ġaġadebisay

Abb 10 Verbformengenerator fuumlr das Neugeorgische (Paul Meurer)

Sprachliche Morphologie digitalisiert 59

Abb 11 Georgische Syntaxanalyse (Paul Meurer)

Abb 12 Abfrage der gotischen Endung -za

Jost Gippert60

Abb 13 Ausgabeliste von Wortformen auf -za

Abb 14 Ausgabeliste von Wortformen auf -da

Sprachliche Morphologie digitalisiert 61

Abb 15 Annotation (Tagging) im Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus

Abb 16 Dasselbe in systematischer Darstellung

Jost Gippert62

Abb 17 Dasselbe in nicht explizitem Tagging

Abb 18 Implizites Tagging Slovenischer Katechismus

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre

Verbalstammbildung und das Kausativ

Hans Henrich Hock

Since the time of Whitney (1889) western scholarship generally assumes that lsquosecondaryrsquo verb inflections of Sanskrit such as the causative are based on derived stems which are not available in all tense categories while lsquoprimaryrsquo verbs based on roots are not restricted in this way (with certain idiosyncratic exceptions) This approach contrasts with that of Pāṇini according to which lsquosecondaryrsquo formations are based on derived roots rather than stems and these roots behave just like ordinary roots being inflectable in all tense categories I show that Pāṇinirsquos approach provides a more satisfactory account of the Sanskrit facts even though the notion lsquoderived rootrsquo is unorthodox from the present-day perspective and thus constitutes a certain challenge to modern linguistics In addition my paper demonstrates that in the investigation of Sanskrit grammar the work of the indigenous Indian grammarians must be regarded as earlier scholarship on a par with that of western scholars such as Whitney

0 EinleitungSeit Whitney (1889) wird im Allgemeinen angenommen daszlig im Sanskrit (oder Altindoarischen) ein Unterschied besteht zwischen bdquoprimaumlrerrdquo und bdquosekundaumlrerrdquo Verbalstammbildung Etwas vereinfachend kann der Unterschied so dargestellt werden daszlig Sekundaumlrverben (Kausative Desiderative Intensive und Passive) abgeleitete Verbalstaumlmme und daher nicht in allen Tempuskategorien verwendbar sind waumlhrend Primaumlrverben mit gewissen idiosynkratischen Ausnahmen dieser Beschraumlnkung nicht unterliegen Im Gegensatz dazu analysiert Pāṇinis Generativgrammatik (Pāṇini bdquoGrammatikrdquo) die Sekundaumlrverben als nicht auf abgeleiteten Staumlmmen basiert sondern auf abgeleiteten Wurzeln

In diesem Aufsatz versuche ich darzustellen daszlig Pāṇinis Ansatz fuumlr die synchronen Tatsachen eleganter aufkommt und bessere Verallgemeinerungen macht obwohl er mdash und das muszlig zugegeben werden mdash aus heutiger Sicht bdquounorthodoxrdquo anmutet und daher eine gewisse Herausforderung fuumlr die moderne Morphologie darstellt In diesem Zusammenhang ist das Kausativ von besonderer Bedeutung da es den besten Beweis zu liefern scheint fuumlr

Hans Henrich Hock64

die Ansicht daszlig Sekundaumlrkonjugationen sich von der Primaumlrkonjugation grundlegend unterscheiden Mein Aufsatz zielt daher im allgemeinen nur das Kausativ an1

Zusaumltzlich zu der Verteidigung von Pāṇinis Ansatz sollten meine Ausfuumlhrun-gen klar stellen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker keineswegs vernachlaumlssigt werden duumlrfen sondern genauso wie die Arbeiten von Gelehrten wie Whitney als fruumlhere Forschungsansaumltze beruumlcksichtigt wer-den muumlssen

1 Die traditionelle westliche Standard-AnsichtWie bekannt hat das Sanskrit eine Reihe von bdquosekundaumlrenrdquo Verbal- formationen naumlmlich Kausativ Desiderativ und Intensiv zu denen haumlufig auch das Passiv gefuumlgt wird (s aber weiter unten) Vergleiche die Uumlbersicht der von der Wurzel bhr- abgeleiteten Praumlsensflexionen in [1]

[1] a bdquoPrimaumlr-Flexionrdquo bhaacuter-a-ti und biacute-bhar-ti2 traumlgtrsquo b Kausativ bhār-aacutey-a-ti laumlszligt tragenrsquo c Desiderativ buacute-bhūr-ṣa-ti will tragen ist dabei zu tragenrsquo d Intensiv bhaacuteri-bhr-ati sie tragen immer wiederrsquo e Passiv bhri-yaacute-te wird getragenrsquo

Seit Whitney (1889) wird das Verhaumlltnis zwischendiesen Formatio-nen allgemein dahingehend erklaumlrt daszlig die in [1a] Primaumlrverben und die in [1b-e] Sekundaumlrverben seien und daszlig diese Sekundaumlrverben auf einem abgeleiteten Verbalstamm basieren siehe [2]

[2] bdquoSecondary conjugations are those in which a whole system of forms like that already described as made from the simple root [dh die bdquoPrimaumlrformationenrdquo] is made with greater or less com-pleteness from a derivative conjugation-stem and is also usually connected with a certain definite modification of the original radi-cal sensersquo (Whitney 1889 S 360-361)

1 Damit die Darstellung nicht all zu spezialisiert und kompliziert wird beschraumlnke ich mich im allgemeinen auf die Finitformen des Verbums die wichtigste Nicht-Finitform ist das ta-Partizip manchmal auch faumllschlich als Passiv-Partizip des Perfekts bezeichnet (bei Intransitiven ist es aktiv und im fruumlhen Sanskrit hat es eher Gemeinsamkeiten mit dem Aorist)2 Im Unterschied zu den meisten anderen Verbalwurzeln hat bhr- zwei verschiedene bdquoprimaumlrerdquo Praumlsensbildungen

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 65

Whitneys Ansicht wird weitgehend geteilt Zum Beispiel behandeln ThumbHauschild (1959 S 330-357) Mayrhofer (1978 S 93-95) und Renou (1984 S 463-490) alle unter [1b-e] angefuumlhrten Formationen zusammen aber getrennt von der Primaumlrflexion wobei ThumbHauschild und Mayrhofer explizit den Terminus bdquoabgeleitete Konjugationenrdquo verwenden

Eine Variante findet sich bei Macdonell (1916 S 195-207 vs 178-180) Sten-zler (1970 S 52-54 vs 51) und Gonda (1966 S 73-74 vs 72-73) die das Pas-siv separat behandeln (Die Einstellung von Morgenroth (1973 S 158-168) ist in dieser Beziehung ambig)

Waumlhrend in den meisten Faumlllen die Behandlung der Verben in [1b-e] (oder [1b-d]) als Sekundaumlrkonjugationen ohne weitere Diskussion als selbstver-staumlndlich angesehen wird stellt Morgenroth (1973 S 185) bei der Bespre-chung des Kausativs ausdruumlcklich fest daszlig diese Formation bdquozu den sekundaumlren Verben [gehoumlrt] dh zu Verben deren Staumlmme von Verbal-wurzeln abgeleitet sind und eine spezielle Bedeutung habenrsquo

Bevor wir uns weiteren Folgen der westlichen Standard-Ansicht zuwenden ist es vielleicht angebracht kurz die Variante zu besprechen die das Passiv separat behandelt Explizite Ausfuumlhrungen fehlen in den zitierten Veroumlffentlichungen aber es lassen sich wenigstens zwei solcher Begruumlndungen anfuumlhren Die erste hat mit der Tatsache zu tun daszlig das Passiv im Unterschied zu den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo morphologisch auf das Praumlsenssystem und die dritte Person Singular Aktiv des Aorists beschraumlnkt ist auszligerhalb dieser Formationen kann das Passiv nur durch das Medium dargestellt werden das aber auch andere Funktionen erfuumlllt In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert daszlig sich dieses Argument auch bei Whitney findet der sich aber dann doch entscheidet das Passiv bei den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo einzuordnen

[3] bdquoThe passive is classed here as a secondary conjugation because of its analogy with the others in respect to specific value and free-dom of formation although it does not like them make its forms outside the present system from its present-stemrsquo (Whitney 1889 S 361)

Eine weitere Begruumlndung waumlre die folgende Die einheimische indische Grammatik erlaubt Desiderative und Kausative von Intensiven [4a] Kau-sative von Desiderativen [4b] und Desiderative von Kausativen [4c] und die meisten dieser Formation sind auch in Texten bezeugt Kausative von Desiderativen und Desiderative von Kausativen relativ haumlufig die anderen

Hans Henrich Hock66

Formation eher selten3 Zu jeder dieser Formationen kann im Prinzip auch ein Passiv gebildet werden [4arsquo-4crsquo] aber vom Passiv koumlnnen keine anderen bdquoSekundaumlrformationenrdquo abgeleitet werden

[4] a Wurzel vid- wissenrsquo Intensiv ve-vid- Desid des Int ve-vid-i-ṣa-ti Kaus des Int ve-vid-aya-ti b Wurzel āp- erreichenrsquo Desiderativ īp-sa-ti Kaus des Des īp-s-aya-ti c Wurzel pā- trinkenrsquo Kausativ pāy-aya-ti Des des Kaus pi-pāy-ayi-ṣa-ti arsquo Pass des Int ve-vid-ya-te brsquo Pass des Desid īp-s-ya-te crsquo Pass des Kaus pāy-ya-teDiese Verhaumlltnisse sprechen daher fuumlr eine Trennung des Passivs von den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo

2 Empirische Begruumlndung der traditionellen westlichen Standard-AnsichtDie Begruumlndungen fuumlr die separate Einstufung der bdquoSekundaumlrformationenrdquo in der traditionellen westlichen Sanskrit-Grammatik sind eher duumlrftig Wie schon vorher angedeutet ist ein Hauptargument daszlig diese Verbfor-mationen eine spezielle semantische Bedeutung haben die sich von der (unmarkierten) Bedeutung der bdquoPrimaumlrverbenrdquo unterscheidet Wie schon gesehen wuumlrden auf Grund dieses Arguments das Passiv und die anderen bdquoSekundaumlrverbenrdquo zusammen gegliedert obwohl das Passiv in der Deriva-tion ein ganz anderes Verhalten zeigt

Das einzige weitere haumlufiger angebrachte Argument ist historischer Art Es beruht auf der Ansicht daszlig die sogenannten Sekundaumlrverben urspruumlnglich auf das Praumlsenssystem (Praumlsens Imperfekt und vom Praumlsens abgeleitete Partizipen) beschraumlnkt waren und erst sekundaumlr auf andere Tempussysteme ausgedehnt wurden Siehe z B das folgende Zitat von Whitney

3 Beispiele von Whitney 1889 S 372 377 386

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 67

[5] bdquoIn these [secondary or derivative conjugations] a conjugation stem instead of the simple root underlies the whole system of inflection Yet there is clearly to be seen in them the character of a present-system expanded into a more or less complete conjuga-tion and the passive is so purely a present-system that it will be described in the chapter to that part of the inflection of the verbrsquo (Whitney 1889 S 203-204)

Indirekt wird diese Ansicht unterstuumltzt durch das besondere Verhaumlltnis des dem Kausativ zugehoumlrigen reduplizierten Aorists der dem Anschein nach nicht vom Kausativstamm gebildet wird sondern suppletiv direkt von der Wurzel Siehe zB das Verhaumlltnis zwischen [6a-d] und [6e]

[6] a Praumlsens bhārayati b Futur bhārayiṣyati c Passiv bhāryate d ta-Partizip bhārita- e Perfekt bhārayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist abībharat (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Vergleiche in dieser Hinsicht die Ausfuumlhrungen von Whitney und Macdonell wobei die letztere durch ihre historische Begruumlndung besonders auffaumlllt

[7] bdquoThe aorist of the causative conjugation is the reduplicated which in general has nothing to do with the causative stem but is made directly from the rootrsquo (Whitney 1889 S 383)

[8] bdquoThough (with a few slight exceptions) unconnected in form with the causative it has come to be connected with the causative in sense helliprsquo (Macdonell 1916 S 173)

Ein weiteres historisches Argument wird von ThumbHauschild angedeutet naumlmlich daszlig das periphrastisch gebildete Perfekt [6e] erst sekundaumlr dem Kausativsystem zugefuumlgt ist

[9] bdquohellip und somit ist das periphrastische Perfekt nur das Ergebnis einer sprachlichen Auslese welche es ermoumlglichte zu abgeleiteten Verben (wie den Causativstaumlmmen) hellip ein besonderes Perfekt zu bildenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 295)

Ein aumlhnlicher Vorschlag findet sich wiederum bei ThumbHauschild in Bezug auf das Passiv [6c] das zwar dieselbe Wurzelform wie die anderen

Hans Henrich Hock68

nicht-aoristischen Formen hat bei dem aber das normale Suffix -aya- fehlt4

[10] bdquoDaszlig es sich auch hier hellip um junge Neubildungen handelt ergibt sich schon aus der Chronologie dieser Formen sie beginnen erst in den Brāhmaṇas gelegentlich aufzutretenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 344)

3 Probleme des traditionellen westlichen AnsatzesObwohl die historischen Erklaumlrungen fuumlr die verschiedenen Formen im groszligen Ganzen stimmen sind solche historischen Begruumlndungen synchron belanglos Die synchrone Grammatik sollte nur fuumlr die synchronen Tatsachen- verhaumlltnisse aufkommen

Sehen wir uns also kurz an was der traditionelle westliche Ansatz uumlber diese Verhaumlltnisse auszusagen hat und welche Probleme sich dabei herausstellen

Um die Futurformen [6b] und aumlhnliche Formationen wie den Infinitiv zu erklaumlren wird allgemein angenommen daszlig das -a- des Praumlsenssuffixes -aya- abgeworfen wird und zwischen das -ay- und das Futursuffix der sogenannte Bindevokal (bdquounion vowelrdquo) eingeschoben wird der sich fakul-tativ oder obligat in vielen anderen Formen findet

Wie schon oben angedeutet nimmt man fuumlr das Passiv [6c] an daszlig das ganze Praumlsenssuffix abgeworfen wird so daszlig das Passivsuffix direkt an die Kausativwurzel angefuumlgt wird Die Analyse ist aumlhnlich fuumlr das ta-Partizip [6d] nur daszlig hier der Bindevokal vor das ta-Suffix eingeschoben wird

Die Tatsache daszlig das Perfekt periphrastisch gebildet wird mit dem urspruumlnglichen Akkusativ Singular eines vom Praumlsensstamm abgeleiteten deverbalen Nomens plus Auxiliar [6e] wird in manchen Veroumlffentlichungen (zB Whitney und ThumbHauschild) verglichen mit aumlhnlichen aber etwas selteneren Formationen die direkt von der Wurzel gebildet werden wie zB die in [11] angefuumlhrten

[11] vid- wissenrsquo (Praumls vetti5) Perf vidāṁ cakāra īkṣ- schauenrsquo (Praumls īkṣate) Perf īkṣāṁ cakre

4 Fuumlr das ta-Partizip [6d] siehe Sektion 35 Neben dem unreduplizierten Perfekt veda das wie vetti Praumlsensfunktion hat

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 69

Die Formation die die groumlszligten Schwierigkeiten verursacht ist der redu-plizierte Aorist [6f] Waumlhrend beim Passiv und ta-Partizip die Gestalt der Wurzel die gleiche ist wie im Praumlsensstamm (zB bhār- wie in bhārayati) scheint die Wurzelform des reduplizierten Aorists (abībharat mit Voll-stufe bhar) voumlllig verschieden zu sein von der Wurzel des Praumlsensstamms (bhārayati mit Dehnstufe bhār) Das Verhaumlltnis scheint also suppletiv zu sein und die synchrone Analyse scheint daher mit der historischen Inter-pretation uumlbereinzustimmen

Dieser Anschein aber truumlgt Wie aus Daten wie denen in [12] erhellt sind gewisse Wurzelveraumlnderungen des Praumlsensstammes6 nicht nur in den For-men zu finden die allgemein als vom Praumlsensstamm abgeleitet angesehen werden [12a-e] sondern auch im reduplizierten Aorist [12f]

[12] a Praumlsens sthā-p-aya-ti (Wurzel sthā ῾stehenrsquo) b Futur sthā-p-ayi-ṣya-ti c Passiv sthā-p-ya-te d ta-Partizip sthā-p-i-ta e Perfekt sthā-p-ayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist a-ti-ṣṭhi-p-a-t (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Die allgemeine Antwort auf dieses Problem liegt in der Annahme daszlig diese Form des Aorists synchron anomal und irgendwie aus dem Praumlsens-stamm uumlbertragen ist siehe zB [13] (Aumlhnliches bei Gonda 1966 S 65 und Stenzler 1970 S 47)

[13] bdquoIn a few cases where the root has assumed a peculiar form before the causative sign mdash as by the addition of a p or ṣ hellip mdash the redu-plicated aorist is made from this form instead of the simple root thus atiṣṭhipam from sthāp (stem sthāpaya) for sthā hellip the only other example from the older language is bībhiṣa from bhīṣ for bhīrdquo (Whitney 1889 S 384)

Die Folgen dieser Anschauung sind am deutlichsten in der Organisation von Whitneyrsquos (1885) zu erkennen wo bdquoregelmaumlszligigerdquo Formen wie [6f] als normale Aoristformen angefuumlhrt werden waumlhrend Formen wie [12f] unter dem Kausativeintrag erscheinen7 Siehe [14a] vs [14b] wo die relevan-ten Aoristformen durch (von mir zugefuumlgten) Fettdruck gekennzeichnet sind

6 Die meisten dieser Veraumlnderungen haben die Wurzelerweiterung -p- aber es gibt auch andere (zB -ṣ- fuumlr die Wurzel bhī fuumlrchtenrsquo)7 Siehe Whitney 1885 svv

Hans Henrich Hock70

[14] a Formen der Wurzel bhr tragenrsquo Pres [3] biacutebharti biacutebhrati hellip mdash [1] hellip bhaacuterati ndashte hellip mdash [2] bharti hellip Perf babhāra hellip Aor 1 bhartaacutem hellip mdash 3 bībharas hellip mdash 4 abhārṣīt hellip Fut 1 bhariṣyaacuteti hellip mdash 2 bhartā hellip hellip Sec Conj hellip Caus bhārayati

b Formen der Wurzel sthā stehenrsquo Pres [1] tiacuteṣṭhati hellip Perf tasthāuacute hellip Aor 1 aacutesthāt hellip mdash [4] [sthāsīṣṭa] hellip Fut 1 sthāsyaacuteti hellip mdash 2 sthātā hellip hellip Sec Conj hellip Caus sthāpayati hellip (aacutetisthipat etc VB hellip sthāpyate hellip -sthāpayiṣyati B)

Nur bei ThumbHauschild und Macdonell finden sich etwas bessere Beschrei-bungen siehe [15] Dabei wird aber vernachlaumlssigt daszlig die dem -p- vorangehende Wurzelform eben nicht mit der des Praumlsensstamms uumlbereinstimmt Auszligerdem werden die Konsequenzen der Annahme daszlig der Aorist den Praumlsensstamm oder einen Teil des Praumlsenssuffixes enthaumllt nicht durchgesprochen

[15] a bdquohellip der reduplizierte Aorist von p-Causativa hellip wird nicht von der Wurzel sondern von dem Causativstamm gebildetrsquo (ThumbHauschild 1959 S 343)

b bdquoThe initial of the suffix is retained from the causative stems jntildeā-paya hellip thus a-ji-jntildeip-at helliprsquo (Macdonell 1916 S 175)

Als Fazit laumlszligt sich also sagen daszlig der traditionelle westliche Ansatz zwar irgendwie fuumlr die synchronen Tatsachen aufkommt aber keine konse-

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 71

quenten grammatischen Verallgemeinerungen liefert die es ermoumlglichen koumlnnten die Aoristformen mit Wurzelerweiterung (Typus [12f]) zu erklaumlren

4 Der juumlngste westliche Versuch (Stump 2005)Obwohl der kuumlrzlich erschienene Aufsatz von Stump (Delineating 2005) als Hauptthema die theoretische Frage hat ob das Kausativsuffix -aya- Flexionsklasse oder Derivation markiert bespricht er auch noch einmal eingehend die verschiedenen Formationen des Kausativs und bietet zudem eine Alternativanalyse von -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassen-marker -a- an

Wie im tradionellen westlichen Ansatz sieht Stump den reduplizierten Aorist als suppletiv an Zusaumltzlich interpretiert er das Fehlen des Kausativ- suffixes -aya- im Passiv und im ta-Partizip als Anzeichen dafuumlr daszlig die-ses Suffix nur Flexionsklasse markiert (fuumlr die Formationen in denen es erscheint) und nicht der Ableitung dient Wie die meisten traditionellen westlichen Forscher behandelt er in diesem Verfahren die bdquoroot modifica-tionsrdquo (Dehnstufe der Wurzel und Wurzelerweiterung -p-) als im Effekt nebensaumlchlich Soweit der Hauptteil seines Artikels der sich also nicht wesentlich von dem traditionellen westlichen Ansatz unterscheidet

In einer Art Anhang aber erwaumlgt Stump eine Alternativloumlsung die wenig-stens das Potential zu einem neuen Ansatz hat Dies ist der Vorschlag daszlig -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassenmarker -a- analysiert wer-den kann Der Vorteil dieses Ansatzes ist daszlig die Futurform des Typus bhārayiṣyati [6b] leichter erklaumlrt werden kann naumlmlich als Kausativ-stamm bhār-ay- plus Futursuffix -syaṣya- (mit vorhergehendem Binde-vokal) Zusaumltzlich kann nun das ta-Partizip des Typus bhārita- [6d] vom Stamm bhār-ay- abgeleitet werden unter der Annahme daszlig das dem -ta- vorausgehende -i- die Nullstufe des Suffixes -ay- darstellt da Nullstufe vor dem ta-Suffix vorherrscht

Man koumlnnte sogar einen Schritt weitergehen und das Passiv bhār-ya-te [6c] vom Stamm bhār-ay-ableiten unter der Annahme daszlig auch hier das Kau-sativsuffix -ay- in der Nullstufe -i- erscheint da auch vor dem Passivsuffix Nullstufe vorherrscht Der Schwund dieses -i- koumlnnte dann erklaumlrt werden

Hans Henrich Hock72

als Parallelerscheinung zum Schwund des -i- der sogenannten seṭ-Wurzeln das auch im Passiv schwindet aber nicht im ta-Partizip8 siehe [16]

[16] Kausativ mit Suffix in Nullstufe seṭ-Wurzel Grundform bhār-i- pat-i-fliegen fallenrsquo ta-Partizip bhār-i-ta- pat-i-ta- Passiv bhār-ya-te pat-ya-teVom theoretischen Standpunkt ist aber Stumps Alternativloumlsung schwierig da er annimmt daszlig sowohl das Suffix -ay- als auch das fol-gende -a- Flexionsklassenmarker sind Eine solche Serialisierung von zwei Flexionsklassenmarkern scheint ziemlich ungewoumlhnlich und sollte durch eingehendere Argumente begruumlndet werden

Letzten Endes leidet Stumps Analyse also unter denselben Schwierigkeiten wie der traditionelle westliche Ansatz vor allem dadurch daszlig die im Aorist erscheinende Wurzelerweiterung -p- nicht motiviert ist

5 Die bdquoWurzelrdquo-Analyse von Pāṇini9

In manchen Gesichtspunkten beruumlhrt sich Pāṇinis Grammatik mit der Alternativloumlsung Stumps in anderen mit dem traditionellen westlichen Ansatz aber in Bezug auf die theoretische Perspektive ist sie grundver-schieden dadurch daszlig sie statt eines Kausativstamms eine abgeleitete Kausativwurzel postuliert

Pāṇinis Grammatik ist generativ und operiert mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen die oft grammatische Marker enthalten die nur dazu dienen gewisse Regeln in Kraft zu setzen oder zu steuern (wie zB Regeln uumlber Ablaut) die fuumlr viele phonetische Prozesse unsichtbar sind und die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Um das Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten zu erleichtern gebe ich im Folgenden statt Pāṇinis Sūtras (dh Regeln) Zusammenfassungen der durch diese Sūtras gemachten Verallgemeinerungen mit Hinweis auf Buch Kapitel und Sūtra

Pāṇini fuumlhrt verschiedene abgeleitete Verbalformationen in 315-3131 ein Diese schlieszligen das Desiderativ (315-7) Intensiv (3122-24) und fuumlr uns wichtig das Kausativ (3126) ein Das letztere wird eingefuumlhrt unter der

8 In Wurzeln mit Resonant vor dem seṭ -i finden sich im ta-Partizip kompliziertere Alternationen 9 Mit gewissen Veraumlnderungen findet sich Pāṇinis Ansatz in den meisten modernen indischen Grammatiken des Sanskrit wie zB Kale 1894

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 73

Bedingung daszlig ein bdquoVerursacherrdquo des Kausativs (hetu) vorliegt und die Formation enthaumllt einen Pratyaya (asymp Suffix10) ṇic wobei ṇ und c gram-matische Marker sind Der Pratyaya ist daher nur i das auf Grund des Ablautsystems mit e vorvokalisch ay alterniert11

Die Sūtras die diese Formationen einfuumlhren werden direkt gefolgt durch 3132 wonach all diese Formationen Wurzeln (dhātus) sind

Schlieszliglich fuumlhrt 7336 die Erweiterung -p- nach gewissen Wurzeln ein Wichtig ist dabei daszlig die Erweiterung zwischen die Wurzel und den Kausativ- Pratyaya i eingefuumlgt wird so daszlig der ganze dabei entstehende Komplex (zB sthā-p-i) nach 3132 als Wurzel gilt

Dieser Ansatz ist aus mehrerer Hinsicht nuumltzlich Erstens erklaumlrt er daszlig zB Desiderative von Kausativen gebildet werden koumlnnen genau wie von bdquoPrimaumlrwurzelnrdquo (s [4] oben) Zweitens wird dadurch daszlig das Praumlsenssuffix des Passivs in anderem Zusammenhang eingefuumlhrt wird (3167) die Tat-sache erklaumlrt daszlig Desiderative Kausative usw nicht vom Passiv abgeleitet werden koumlnnen Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste erlaubt es die Formation von reduplizierten Aoristen mit Wurzelerweiterung (-p- usw) zu erklaumlren wie weiter unter dargestellt werden soll

Dem Pratyaya des Kausativs folgt im aktiven Praumlsenssystem das bdquoDefaultrdquo-Suffix śap (Implikation von Sūtra 3168) wobei ś und p wiederum gram-matische Marker sind und das p auf Grund anderer Sūtras den Pratyaya i zu ay verstaumlrkt12 Dadurch kommt das -ay-a- des Praumlsenssystems zustande Die Tatsache aber daszlig das abschlieszligende -a- Praumlsenssuffix ist erklaumlrt dann seine Abwesenheit in auszligerpraumlsentischen Formationen wie dem Futur (zB bhāray-iṣya-ti)13 Interessanterweise macht Pāṇini nicht von der Moumlglichkeit Gebrauch das Fehlen des Pratyaya i im Passiv (zB bhār-ya-te) durch Vergleich mit

10 Im Folgenden wird das Sanskrit-Wort Pratyaya gebraucht um einer Fehlinterpreta-tion als Suffix im westlichen Sinne vorzubeugen11 Da fuumlr gegenwaumlrtige Zwecke nur die vorvokalische Variante von Belang ist wird in den folgenden Ausfuumlhrungen nur diese genannt12 In Pāṇinis Grammatik gilt im allgemeinen die Nullstufe (wie zB i) als Grundform und Vollstufe (zB eay) und Dehnstufe (zB aiāy) werden als bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo abge-leitet Zum leichteren Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten gebrauche ich den Terminus bdquoVer-staumlrkungrdquo fuumlr die fuumlr uns wichtige Guṇierung und bdquoNicht-Verstaumlrkungrdquo fuumlr den Gebrauch der Grundform13 Das periphrastische Perfekt wird erklaumlrt nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Eine Endung -ām wird an die Kausativwurzel mit vollstufigem Pratyaya (ay) angefuumlgt und darauf folgt dann die angemessene Perfektform der Wurzel kr tun machenrsquo

Hans Henrich Hock74

dem Fehlen des i in seṭ-Wurzeln (zB pat-ya-te s [16] oben) zu erklaumlren Statt dessen fuumlhrt er ein besonderes Sūtra ein (6451) wonach das i des Kausativs vor dem Passiv-Suffix -ya- getilgt wird wie auch vor anderen zT nominalen Suffixen einschlieszliglich des Aorist-Suffixes caṅ (s unten) Der Grund dafuumlr ist wohl die Tatsache daszlig Pāṇini die seṭ-Wurzeln nicht als besondere Klasse anerkennt sondern das bei ihnen regelmaumlszligig vor Konsonanten (auszliger y) vorkommende -i nicht von dem oft nur fakultativen i unterscheidet welches nachkonsonantisch vor fast allen konsonantisch anlautenden Suffixen eingeschoben werden kann wie zB in rakṣ-i-tum Infinitiv der Wurzel rakṣ- behuumlten kontrollierenrsquo14 (Dieser i-Einschub der Bindevokal der westlichen Tradition ist unter anderem fuumlr das -i- des Futurs bhāray-i-ṣya-ti und aumlhnlicher Formen verantwortlich) Fuumlr Pāṇini ist daher bei Formen wie pat-ya-te kein Grund zur Annahme einer i-Tilgung diese ist nur noumltig fuumlr das Kausativ Andererseits ist aber bei Pāṇini das Prinzip der Tilgung von Suffixen und anderen Element so fest verankert daszlig die i-Tilgung im Passiv des Kausativs (und aumlhnlichen Formen) keineswegs ad hoc ist Eine Uumlbersicht der relevanten Regel- anwendungen findet sich in [17] weiter unten

Auch im Falle des ta-Partizips nimmt Pāṇini nicht die Gelegenheit wahr das -i- in Formen wie bhār-i-ta- als das nicht verstaumlrkte -i- des Kausativ-Pratyayas zu interpretiern Statt dessen operiert er mit der Annahme eines i-Einschubs nach der Kausativ-Wurzel und vor der Endung -ta- Vor diesem i erleidet dann das Kausativ-i- dieselbe Art von Tilgung (in diesem Fall nach 6452) wie vor dem Passiv-Suffix -ya- Der Grund hierfuumlr mag zum Teil der sein daszlig auf diese Weise die Formation des ta-Partizips vom Kausativ parallel ist zu der entsprechenden Formation des Desiderativs und anderer abgeleiteter Wurzeln bei denen ebenfalls ein i vor dem ta-Suffix eingeschoben wird (Siehe die Illustration der Regelan-wendungen in [17] unten)

Zum Teil aber mag der Grund auch darin liegen daszlig die Annahme eines regelmaumlszligigen i-Einschubs vor mit t anlautenden Suffixen es ermoumlglicht fuumlr die Form des Absolutivs (oder Konverbs) des Kausativs aufzukommen wie zB bhāray-i-tvā getragen habend nach dem Tragenrsquo Das Schwierige an dieser Form ist daszlig das Suffix -tvā normalerweise die unverstaumlrkte Form der vorhergehenden Wurzel verlangt (wie z B in i-tvā gegangen seiend nach dem Gehenrsquo von der Wurzel i-) Das verstaumlrkte -ay- von bhāray-i-tvā verlangt daher nach einer besonderen Erklaumlrung Diese liegt bei Pāṇini in der Annahme daszlig eine Form mit -i-Einschub zu Grunde liegt (also

14 Die zustaumlndigen Sūtras sind 7235-100 mit 724-34

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 75

bhāri-i-tvā) und daszlig in dieser Konfiguration der normale Effekt des -tvā aufgehoben ist (1218) bhāri-i-tvā erleidet daher Verstaumlrkung des Kausativ-Pratyayas i zu -ay- wodurch bhāray-i-tvā zu Stande kommt Siehe die Zusammenfassung in [17]

[17] ta-Partizip Passiv Absolutiv bhāri-ta- bhāri-ya-te bhāri-tvā i-Einschub bhāri-i-ta- bhāri-i-tvā Verstaumlrkung bhāray-i-tvā i-Tilgung bhār-i-ta- bhār-ya-teAuf jeden Fall sollte bemerkt werden daszlig bei Pāṇini die Aumlhnlichkeit zwischen dem i-Pratyaya das Kausativs und dem -i- des ta-Partizips nur zufaumlllig ist

Bis zu diesem Punkt leistet Pāṇinis Grammatik ungefaumlhr dasselbe wie der traditionelle westliche Ansatz und vor allem wie Stumps Alternativloumlsung auszliger natuumlrlich der Tatsache daszlig er mit Wurzeln statt Staumlmmen arbeitet

Wenn wir uns der Erklaumlrung des reduplizierenden Aorists zuwenden koumlnnen wir sehen daszlig sich Pāṇinis Grammatik von westlichen Ansaumltzen grundlegend unterscheidet und daszlig die bdquoWurzeltheorierdquo erklaumlren kann was die bdquoStammtheorierdquo nicht erklaumlrt

Der Flexionsmarker des reduplizierten Aorists caṅ wobei c und ṅ gramma-tische Marker sind wird in 3148 nach dem Kausativ-Pratyaya und gewissen primaumlren Wurzeln eingefuumlhrt Die diesem Flexionsmarker vorausgehende Wurzel wird nach 6111 redupliziert und der Vokal der Reduplikations-silbe wird unter gewissen Umstaumlnden gelaumlngt (7493-94) Fuumlr uns wichtig ist was mit der zwischen Reduplikationssilbe und Flexionsmarker -a-15 stehenden Kausativwurzel geschieht

Erstens verliert die Wurzel ihr -i- nach 6451 derselben Regel die das i vor dem Passiv-Suffix -ya- tilgt (s oben) Zweitens wird ein Wurzelvokal gekuumlrzt dem nur ein Konsonant folgt (741) Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste lehrt das Sūtra 745 daszlig das ā der Wurzel sthā- unter denselben Umstaumlnden dh wenn nur ein Konsonant folgt durch i ersetzt wird Diese Regel kann aber nur dann zur Anwendung kommen wenn die Wurzel die Erweiterung -p- enthaumllt da nur unter diesen Umstaumlnden dem ā der Wurzel noch ein Konsonant folgt (Siehe die Darstellung in [18])

15 Das heiszligt caṅ ohne die grammatischen Marker c und ṅ

Hans Henrich Hock76

[18] Wurzel Wurzel ohne p-Erweiterung mit p-Erweiterung (bhr) (sthā) Aorist Einsatzform16 bhāri-a- sthāpi-a-i-Tilgung bhār-a- sthāp-a-Reduplikation bi-bhār-a- ti-ṣṭhāp-a-Wurzelschwaumlchung bi-bhar-a- ti-ṣṭhip-a-Oberflaumlchenform17 a-bī-bhar-a-t a-ti-ṣṭhip-a-t

Wir koumlnnen daher folgern daszlig im Gegensatz zu westlichen Ansaumltzen Pāṇinis Grammatik eine elegante und system-konsequente Erklaumlrung fuumlr das Vorkommen der kausativen Wurzelerweiterung p im reduplizierten Aorist bietet und daszlig in dieser Beziehung die bdquoWurzeltheorierdquo produktiv ist

6 Zusammenfassung und ImplikationenWie wir gesehen haben liefert Pāṇinis bdquoWurzeltheorierdquo eine methodische Erklaumlrung des kausativen Aorists die traditionellen westlichen bdquoStammtheorierdquo-Ansaumltzen bisher nicht gelungen ist Gleichzeitig aber muszlig betont werden daszlig die Annahme von abgeleiteten bdquoWurzelnrdquo aus der Perspektive der westlichen grammatischen Tradition(en) aumluszligerst ungewoumlhn- lich ist Es fragt sich daher ob und wie weit sich die Einsichten von Pāṇinis Ansatz in einer bdquoStammtheorierdquo replizieren lassen Ich uumlberlasse etwaige Antworten auf diese Frage anderen Forschern und wende mich nur kurz einigen weiteren Implikationen zu

Erstens erhebt sich die Frage inwieweit sich Pāṇinis Ansatz veraumlndern lieszlige so daszlig zB die Aumlhnlichkeit zwischen dem -i- des ta-Partizips und dem -iay- des Kausativs nicht zufaumlllig sondern signifikant waumlre Da Pāṇinis Grammatik im wahrsten Sinne des Ausdrucks ein Gebilde ist in dem bdquotout se tientrdquo wuumlrde ein Versuch die Erklaumlrung des ta-Partizips zu aumlndern dazu fuumlhren daszlig die gesamte Struktur der Grammatik uumlberdacht und umgeaumlndert werden muumlszligte Ein solches Unterfangen waumlre fuumlr normale Sterbliche unerreichbar

16 Zur Vereinfachung der Darstellung wird hier angenommen daszlig gewisse andere Regeln (wie die Tilgung der grammatischen Marker) schon eingetreten sind17 Dritte Person mit Anwendung weiterer Regeln

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 77

Zweitens wirft Pāṇinis Ansatz die Frage auf inwieweit die weit verbreitete Ansicht aufrecht zu erhalten ist daszlig Primaumlr- und Sekundaumlrflexion sich grundlegend unterscheiden In dieser Hinsicht ist beachtenswert daszlig selbst Whitney sich in dieser Hinsicht nicht so ganz sicher war wie das Zitat in [19] erhellt

[19] bdquohellip Nor is there any distinct division-line to be drawn between tense-systems and derivative conjugations the latter are present-systems which have been expanded into conjugations by the addi-tion of other tenses and of participles infinitives and so on hellip rsquo (Whitney 1889 S 361)

Schlieszliglich hoffe ich daszlig meine Ausfuumlhrungen zu der Einsicht verhelfen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker unter allen Umstaumlnden beruumlcksichtigt und als fruumlhere Forschung betrachtet werden muumlssen genau so wie die Arbeiten von Forschern wie Whitney oder Stump In allen Faumlllen haben wir natuumlrlich nicht nur das Recht sondern die Aufgabe fruumlhere Ansichten kritisch zu betrachten und mdash hoffentlich mdash mit neuen besseren Loumlsungen aufzuwarten Aber eine Vernachlaumlssigung der indischen grammatischen Tradition sollte im Grunde genommen nicht mehr zu rechtfertigen sein

In diesem Zusammenhang waumlre es natuumlrlich fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der indischen grammatischen Tradition hilfreich wenn Werke wie Pāṇinis Grammatik digital in einem geeigneten Format zur Verfuumlgung stuumlnden Zwar gibt es schon mindestens zwei digitale Ver-sionen dieser Grammatik die uumlber GRETIL (Goumlttingen Register of Elec-tronic Texts in Indian Languages httpwwwsubuni-goettingende ebene _ 1fiindologretilhtm) abgerufen werden koumlnnen Wie aber schon angedeutet arbeitet Pāṇini mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen und noch abstrakteren grammatischen Markern die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Dazu kommt daszlig die verschiedenen Regeln (oder Sūtras) thematisch ein-geordnet sind und nicht in der Anordnung in der sie bei bestimmten Formen zur Anwendung kommen Selbst wenn wir die vielen in den obigen Ausfuumlhrungen nicht weiter besprochenen Regeln vernach- laumlssigen (wie zB die fuumlr bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo [s Fn 12]) ist es leicht ersichtlich daszlig die Regeln fuumlr die Bildung der verschiedenen Kausativ-formen weit uumlber Pāṇinis Grammatik verstreut sind So findet sich die Einfuumlhrung des Kausativ-Pratyayas in 3126 und die Definition der resultierenden Formation als Wurzel in 3132 Die Wurzelerweiterung

Hans Henrich Hock78

-p- wird durch 7336 eingefuumlhrt Das auf Wurzel samt Erweiterung folgende Praumlsenssuffix wird auf Grund von 3168 angefuumlgt das Aorist-Suffix nach 3148 die Formation des Perfekts nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Die Reduplikation des Aorists wird durch 6111 festgelegt und weitere Konsequenzen werden in 7493-94 und 741745 behandelt Das -i- der Kausativwurzel wird nach 6452 vor gewissen Suffixen getilgt Und so weiter

Selbst wenn Pāṇinis Grammatik mit guten Indices versehen ist wuumlrde es Nicht-Experten auf diesem Gebiet schwer fallen all diese verschiedenen Regeln ausfindig zu machen und auf die richtige Art und Weise fuumlr die Derivation zusammenzubringen Traditionell ausgebildete Experten vollziehen diese Aufgaben im Kopfe sie haben den ganzen Text nicht nur auswendig gelernt sondern ihn auf solche Weise gespeichert daszlig sie gezielte Suchen durchfuumlhren und die Resultate wiederum im Gedaumlchtnis zusammen- bringen koumlnnen Wie mein Freund und Kollege Madhav Deshpande (Uni-versity of Michigan) berichtet wird dies dadurch ermoumlglicht daszlig das Auswendiglernen der Grammatik in taumlglichen Portionen von je 20 Sūtras stattfindet und die dadurch entstehende Division des Texts in kleinere Subdomaumlnen zur Suche verwendet werden kann Wenn man zB nach einem gewissen Sūtra in sagen wir Buch 3 Kapitel 2 sucht (welches 188 Sūtras enthaumllt) und weiszlig daszlig dieses ungefaumlhr im dritten Viertel zu finden waumlre braucht man nicht muumlhselig die Sūtras vom Anfang des Kapitels durchzusuchen sondern kann sofort auf die Zwanziger-Gruppe in der Naumlhe von Sūtra 140 peilen und diese durchsuchen Falls diese Suche nicht das Richtige erreichte peilt man die unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Zwanziger-Gruppen an Auf diese Weise bei der man die im Gedaumlchtnis gespeicherte Information wie eine Computerdatei behandelt kommt man schnell zum Erfolg

Fuumlr die von uns die einem solchen Auswendiglernen und einer solchen Text- manipulierung nicht gewachsen sind bestuumlnde die beste Annaumlherung an die traditionelle Arbeitsweise in einer relationalen Datei die bei jedem Sūtra Links zu den verschiedenen anderen Regeln bietet die bei der Ableitung anzubringen sind Soweit mir bekannt ist hat der amerikanische For-scher George Cardona 1990-1994 mit seinem damaligen Studenten Peter M Scharf an einem Projekt mit diesem Ziel gearbeitet und der letztere hat als Nachfolgeprojekt eine relationale Datei herausgebracht (Scharf 2001) die uumlber httpsanskritlibraryorg abgerufen werden kann Eine Antwort auf die Frage wie weit diese Datei fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 79

indischen grammatischen Tradition hilfreich sein kann steht meines Wis-sens noch aus

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Pāṇini bdquoGrammatikrdquo (21971) = bdquoPaninilsquos Grammatikrdquo herausgegeben uumlbersetzt erlaumlutert und mit verschiedenen Indices versehen von Otto Boumlhtlingk HildesheimNew York Georg Olms Verlag

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Hans Henrich Hock80

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Hans Henrich Hock University of Illinois at Urbana-Champaign hhhockuiucedu

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Keeping with the Chinese linguistic tradition Chinese writing characters are categorized into six groups by their composition or their development Whereas picto grams and ideograms contribute merely to a small portion of the entire character inventory ideophonograms comprise the substantially large majority of Chinese characters The change in character constitution should shed light on how the Chinese characters pursuing the principle of writing economy have been evolving into a morphosyllabic writing system which bears to a cer-tain extent on the morphosyntactic features of the Chinese language Further-more the gradual remodelling of character forms also exerts influences on the characteristics of Chinese characters The present paper notably outlines the gra pho (no)tactics of character constituents as well as the phonetic connections be tween ideophonograms and their phonetic constituents

0 EinleitungZiel des vorliegenden Aufsatzes ist es einen Uumlberblick uumlber die wichtigsten Zuuml ge der chinesischen Schrift aus dem Blickwinkel der Zeichenbildungs-Mor phologie und -Morphotaktik zu geben Sein Wert duumlrfte weniger in neu en Erkenntnissen bezuumlglich Einzelfragen liegen sondern eher darin dass versucht ist die herkoumlmmliche chinesische Auf fassung von dem Gegen stand aus zeichenmorphologischer Sicht zu vermitteln und dabei gleich zeitig eine feingliedrige Terminologie zu bieten Grundsaumltzlich ist an gestrebt einen moumlglichst repraumlsentativen Querschnitt darzustellen durch den das Wesenhafte im Vordergrund Stehende gut herauskommt

周禮八歲入小學保氏教國子先以六書一曰指事指事者視而可識察而見意上下是也二曰象形象形者畫成其物隨體詰詘日月是也三曰形聲形聲者以事為名取譬相成江河是也四曰會意會意比類合誼以見指撝武信是也五曰轉注轉注者建類一首同意相受考老是也六曰假借假借者本無其事依聲託事令長是也

Dieses Zitat ist ein Auszug aus dem Vorwort zum ersten chinesischen Woumlrterbuch herausgegeben vom Gelehrten Shen Xu im Jahre 100 n Chr Mit diesen Worten erklaumlrt er wie chinesische Schriftzeichen nach ihrer Kom positions methode in sechs Kategorien eingestuft werden sollen

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder82

Im chinesischen Text stellt die eigenstaumlndige SchreibDruck- und Wahr neh-mungs einheit ein Quadrat dar Unabhaumlngig von Anzahl und Anordnung der das Einzelschriftzeichen bildenden Bestandteile und Strichzuumlge wird grund saumltzlich angestrebt bei jedem Einzelschriftzeichen die Form eines an naumlherungs weise quadratischen Rechtecks einzuhalten Dieses Feld nun ist nicht immer voll und gleichmaumlszligig mit Schrift-Elementen ausgefuumlllt doch der Platz bleibt an unbeschriebenen Stellen leer sodass man sich ein un sicht bares Quadratfeld um das Geschriebene herum zu mindest denken kann Beispielsweise ist das Feld des Quadratzeichens 冊 cegrave Band (eines Buches) weitgehend ausgefuumlllt Spaumlrlicher hingegen ist zB die Ausfuumlllung des Zeichenfeldes der Quadratzeichen 一 yī eins und 止 zhǐ bis Ein Quadratzeichen entspricht im gesprochenen Chinesischen der Sprech-sprache also genau einer Silbe Chinesische bdquoWoumlrterldquo (zu bdquoWortldquo siehe weiter unten) bestehen heutzutage haumlufig aus mehreren Silben und werden dann mit einer der Silbenzahl entsprechenden Anzahl Quadratzeichen geschrieben

Die Wurzel morph (gewonnen aus griechisch μορφή bdquoGestaltldquo) ist in der sprach wissenschaftlichen Terminologie von der bdquoGestaltldquo an sich abstrahiert und auf einen gewissen Aspekt der Wort-bdquoGestaltldquo von Sprache uumlbertragen wor den namentlich auf den Bereich von Stamm- und Formenbildung Dar-auf hat man mit der Zeit eine terminologische Sippe aufgebaut Morphem Mor pho logie Morphotaktik usw Diese terminologische Sippe wenden wir im vorliegenden Aufsatz nun wieder auf eine konkrete bdquoGestaltldquo an und zwar auf die Bestandteile der chinesischen Quadratzeichen Im Ge gen satz zu Alphabetsprachen in denen die (ein Morphem bildenden) Buch staben-ketten weitgehend nur eins zu eins den Lautwert abbilden (ein Morphem ent spricht ausdrucksseitig also einer Buchstaben=Laut-Kette) sind die chi ne sischen Strichzugkomplexe wenn sie auch rein schriftgestalterisch ab strakt wirken viel bildlicher und stellen in sich aufteilbare bdquoGestaltldquo-Groumlszligen dar - viel mehr als Buchstaben(ketten) es tun Diese graphischen Kom plexe aus denen chinesische Quadratzeichen aufgebaut sind sind es die wir in diesem Beitrag als unsere bdquoMorphemeldquo ansehen Zur Unterscheidung von sprachlichen bdquoMorphemenldquo im herkoumlmmlichen Sinne nennen wir sie Zeichen morpheme

Ein Zeichenmorphem kann frei oder gebunden sein Ein freies Zeichen-morphem erscheint als eigenstaumlndiges Quadratzeichen das (zumindest) einen festgelegten Lautwert hat Dementgegen dient ein gebundenes Zei-chen morphem ausschlieszliglich als Bestandteil zum Komponieren von Qua-drat zeichen fuumlr ein Zeichenmorphem das heute nur gebunden und nie mals (mehr) frei als Quadratzeichen vorkommt wird im Woumlrterbuch um es sprech-

83Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

sprach lich benennen zu koumlnnen ein behelfsmaumlszligiges Lautbild angegeben das aber ggf von Woumlrterbuch zu Woumlrterbuch variiert Ein Quadratzeichen birgt ein oder mehrere Zeichenmorpheme Ein Zeichenmorphem das einen Kom plex bildet kann immer wieder als Komplex in eine houmlherrangige Qua drat zeichen-Komposition eingebaut werden und zaumlhlt darin als ein ein ziger Bestandteil

Allomorphe sind gemeinhin ausdruckssprachliche Auspraumlgungen eines Morphems In der chinesischen Schrift finden wir auch wenn wir Duktus-Erschei nungen (wie relative Strichdicke oder Zierabschluumlsse an den Strich-Enden) ver nachlaumlssigen und uns auf die Skelettform eines Quadratzeichens (also die allernoumltigsten Strichzuumlge welche die typische Form eines Morphems erken nen lassen) beschraumlnken drei voneinander abgrenzbare Gruppen von Allomorphen eines Zeichenmorphems vor

Ein Vollallomorph ist die unverschlankte Auspraumlgung eines Zeichen-mor phems Bei einem freien Zeichenmorphem tritt sein Vollallomorph in der Regel in Form eines eigenstaumlndigen Quadratzeichens auf zB bei 火 huǒ Feuer In der Komposition mit anderen Zeichenmorphemen bil den Vollallomorphe zwei Arten von Tochter-Allomorphen aus naumlmlich Schrumpf allomorphe und Allomorphkuumlrzel

Schrumpfallomorphe Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Schrumpfallomorph ist die entweder lediglich in der Laumln ge gestauchte oder nur in der Breite gestauchte oder aber ver haumllt nis gerecht ver kleinerte Auspraumlgung eines Vollallo morphs Die Groumlszligen veraumlnde rungen wer den vorgenommen damit das Zeichen morphem zusaumltzlich zu einem oder mehreren ande ren Zeichen morphemen im Quadratfeld Platz finde Vom Voll allomorph 火 huǒ Feu er etwa gibt es ein waagerecht gestauch tes Schrumpfallomorph wel ches im Quadratzeichen 燒 shāo brenn- auf der lin ken Seite unter ge bracht ist Die Form eines Schrumpfallomorphs weicht selten von der seines Voll allomorphs ab houmlchstens wird ein Strich der zB im Vollallomorph waage recht ist im Schrumpfallomorph leicht gekippt Des weiteren be schraumlnkt sich ein Schrumpfallomorph meistens nicht auf eine feste Stel lung in Quadratzeichen das heiszligt es kann an mehreren Posi-tionen im Qua dratfeld auftreten und ist damit mehr-Stellungs-faumlhig

Allomorphkuumlrzel Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Allomorphkuumlrzel stellt eine Auspraumlgung mit veraumlnderter Skelett form dar die aus einem Vollallomorph vereinfacht ist um im Zeichen morpho-tagma eines Quadratzeichens leichter Platz zu finden und besser ver bindbar zu sein So wird zB das aus dem Vollallomorph 火 huǒ Feu er auf vier

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder84

hintereinander folgende kleine Striche zusammengestutzte Allo morph-kuumlrzel unten in das Quadratzeichen 焦 jiāo verbrannt eingebaut Die Form eines Allomorphkuumlrzels weicht immer vom Vollallomorph ab die Gestalt vereinfachung darf nicht nur aus einer (ggf unproportionalen) Ver-kleine rung bestehen sondern mindestens ein Strich im Vollallomorph muss merklich anders gestaltet sein (etwa erscheint er schraumlg statt zuvor waagerecht oder aber er wird ganz weggelassen) Nicht zuletzt erscheint das Allomorphkuumlrzel eines Zeichenmorphems in der Regel immer an ein und derselben Position innerhalb des Schreibquadrates ist damit stellungsstarr

Bei nur-gebunden vorkommenden Zeichenmorphemen ist es nicht sinnvoll zwischen den einzelnen Allomorphgattungen zu unterscheiden

Bestimmte Zeichenmorpheme stufen wir als Grundmorpheme ein Ein Grund morphem ist synchron betrachtet die kleinste Einheit bei der Qua-drat zeichenbildung der im zeichenmorphotaktischen Zusammenhang eine Geltung zugemessen werden kann Ein Grundmorphem laumlsst sich mit hin nicht in kleinere zeichenmorphemische Elemente zerlegen ohne dass es seinen Status verloumlre Aufgebaut ist der Strichzugkomplex des Grund mor-phems aus einem oder einigen (wenigen) Strichen allerdings ist nicht jeder be liebige Strich als Grundmorphem zu werten Im Rahmen der vor liegenden Ana lyse stellt ein (nicht als Grundmorphem zu wertender) Strich (zug) einen Schrift zug dar den wir nicht hinsichtlich seiner Geltung als Grundmorphem defi nieren eine unklassifizierte Verbindung aus Strichzuumlgen nennen wir ent-spre chend Strich(zug)komplex Ein Zeichenmorphem als Bestandteil von Quadratzeichen kann aus einem oder mehreren Grundmorphemen be stehen

Zu beachten sind Abweichungen von Quadratzeichenformen in manchen Rech ner schriften Zum Beispiel birgt das Quadratzeichen 臭 chograveu stin-kend zwei Bestandteile einen oberen und einen unteren Der untere Be stand teil soll ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems 犬 quǎn Hund sein Allerdings fehlt der rechts oben vorhandene Strich die ses Zeichenmorphembestandteils auf faumllligerweise in manchen typo gra-phi schen Auspraumlgungen des Quadratzeichens 臭 chograveu stinkend Damit unter scheidet sich dieser untere Bestandteil nicht mehr vom Schrumpf allo-morph des Quadratzeichens 大 dagrave groszlig Zeichenmorphemisch hat solch eine Abweichung indes nichts zu besagenEine Kultursprache lebt von der Ungebrochenheit ihrer Uumlberlieferung ndash auch ihrer schriftlichen Fixierung Saumlmtliche Quadratzeichen die wir im Text dieses Aufsatzes behandeln weisen die Form der sog bdquoLangzeichenldquo auf Sog bdquoKurzzeichenldquo wie sie ab dem Jahre 1956 bei der amtlichen Schrift-

85Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichenreform in China entstanden sind bzw festgelegt wurden werden im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht beruumlcksichtigt Die hier zur Ver anschaulichung verwendeten Quadratzeichen-Formen sind dem-nach allesamt unvereinfachte Langzeichen Der sprachwissenschaftliche Grund fuumlr diese Handhabung ist folgender Viele zeichenetymologische Zu sammen haumlnge sind in Kurzzeichen verunklaumlrt worden In einer Ab hand-lung wie der vorliegenden welche sich auch mit der geschichtlichen Ent-wick lung von Zeichen und ihrer Morphologie befasst ist es tunlicher ein ein deutigeres System in welchem mehr nuumltzliche Unterscheidungen be wahrt sind als Grundlage zu verwenden

Aus chinesischer Sicht ist ein bdquoWortldquo ein Lautbild (eine Silbe oder ein seman-tisch stark lexikalisiertes Silbensyntagma) welchem als kleinster selbstaumln di-ger Sprach einheit inhaltsseitig ein semantischer oder grammatischer Be griff fest zugeordnet ist Im Unterschied zu synthetischeren Sprachen hat das Chine sische allenfalls Ansaumltze zur Affigierung Beispielsweise fungiert die zwei te Silbe toacuteu Kopf des bdquoWortesldquo shiacute + tou Stein als Suffix zu dem eigen staumlndigen bdquoWortldquo shiacute Stein wobei die Suffixsilbe oft mit Neben ton statt mit dem Hauptton (zu den Toumlnen siehe unten) ausgesprochen wird

Das was der deutschen Wortbildung durch Ableitung und Komposition ent spricht erscheint im Chinesischen weitgehend in die Syntax aus gela gert (bdquoSyn tax-Woumlrterldquo) und kann somit eher mit deutschen Syntagmen ver gli-chen werden Beispiel Obwohl das bdquoWortldquo (die Silbe) 男 naacuten eigen staumln-dig fuumlr Mann stehen kann wird es gewoumlhnlich mit einem zu saumltzlichen bdquoKom positions gliedldquo 人 reacuten Mensch versehen das dergestalt zu sam men-gesetzte bdquoWortldquo (Silbensyntagma) 男人 bedeutet ebenfalls nur Mann wird in vielen Faumlllen aber als deutlicher und passender empfunden Die se Er schei-nung ist im Chinesischen uumlberaus haumlufig In viel ge ringe rem Um fange machen von solchen Ver deutlichungs verfahren auch Spra chen mit aus-gepraumlgter Wort bildung Gebrauch islaumlnd karl maethur (woumlrt lich bdquoMann-Menschldquo d i bdquoMannldquo) neben einfach karl bdquoMannldquo aleinn ne ben einn (bei de bdquoalleinldquo) nord dt Bauch nabel statt Nabel suumlddt Ge baumlud lich keit neben Gebaumlude dt Schwieger mutter statt einfach Schwie ger so dann neben dann got thornata bdquodasldquo ver deutlicht aus thornat mit tels deik tischer Par tikel -a nord bair daringodǝ (woumlrt lich bdquoda-daldquo d i bdquodaldquo) ne ben ein fach daringo bdquodaldquo Fer-ner gibt es im Chine sischen reine Funk tions woumlrter die keine lexi ka lische Bedeu tung tragen und nur gram ma ti sche Aufgaben er fuumlllen Ein gutes Bei spiel hierfuumlr ist die nur-neben to ni ge Fragepartikel 嗎 ma Wenn diese Par tikel am Ende eines Indi ka tiv satzes steht macht sie aus ihm eine Janein-Entscheidungsfra ge

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder86

Als Laut-Umschrift der Schriftzeichen wird im vorliegenden Aufsatz Pin-yin (auch Hanyu-Pinyin genannt) anstatt des IPA (International Pho netic Alpha bet d i das Weltlautschrift-Alphabet der Association pho neacute tique inter nationale) benutzt Das Pinyin-System ist eine amtliche Um setzung der Mandarin-Aussprache in Lateinschrift Obschon Pinyin die Zeichen-phonetik nicht ganz getreu wiedergibt verweist es gewissermaszligen auf die laut lichen Aumlhnlichkeiten Im Pinyin-System werden die vier chinesischen Haupt toumlne folgender maszligen bezeichnet (hier am Beispiel des Vokals a) ā Hochton aacute Steigton ǎ Tiefton agrave Fallton der Nebenton bleibt tran -skrip torisch unmarkiert a

Bei der Behandlung der chinesischen Schrift haben wir es immer auch mit Jahr tausenden schriftlicher Uumlberlieferung zu tun geschriebenes Chine-sisch hat ein starkes Eigenleben entwickelt teilweise losgekoppelt vom ge sprochenen Die Systeme von Sprech- und Schrift-Chinesisch und ihre Inter aktion sind geschichtlich gewachsen sie sind wie alles Mensch-liche unter schiedlich konsistent und damit synchron auch unter schied-lich durch sichtig Beispielsweise lassen sich ehemals eher ab bildungs haft ge meinte Aussagen nur grobmaschig klassifizieren wenn wir ein in duk tiv er worbenes theoretisches Raster uumlber den Ist-Zustand legen wir koumlnnen dann nur versuchen die Zahl der bdquoAusreiszligerldquo niedrig und damit die Ein schlaumlgigkeit der Regeln hoch zu halten Wo unsere Betrachtung die hi storische Tiefe behandelt verwenden wir bei Bedarf folgende Sym bole um zu kennzeichnen ob und wie eine bestimmte Groumlszlige in der heu tigen Spra che verwendet wird das Symbol Dagger bezieht sich auf eine Groumlszlige die heute auszliger Gebrauch ist und dagger auf eine welche heute veraltet ist Die Sym bole stehen hochgestellt unmittelbar vor der Groumlszlige auf die sie sich be ziehen

Im Abschnitt uumlber die Zeichenkategorisierung wird der Anteil einer Qua-dratzeichen-Kategorie am Gesamtinventar der Quadratzeichen durch Prozentzahlen angegeben Wuumlrde man die Anteile nach der Vorkommens-haumlufigkeit in Texten rechnen (das heiszligt bei 100 gedruckten Zeichen entfallen soundsoviel Prozent auf diese Kategorie) so saumlhen die Zahlen anders aus

Im Folgenden wird der Aufbau chinesischer Schriftzeichen vorgestellt und zwar ausgehend von den in China traditionell geltenden sechs Kategorien (Ab schnitt 1) Waumlhrend Piktogramme und Ideogramme lediglich einen klei nen Teil des gesamten Quadratzeichen-Inventars ausmachen stellen Ideo phono gramme die groszlige Mehrheit Ideophonogramme verkoumlrpern die we sent lichen zeichenmorphologischen Merkmale chinesischer Quadrat-zei chen aus diesem Grunde betrachten wir ihre Besonderheiten etwa die Laut-Bestandteil-Entsprechung ausfuumlhrlicher (Abschnitt 4) Der Wandel

87Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

der Quadratzeichenbildung (Abschnitt 2) soll einen Einblick vermitteln wie sich die chinesische Schrift im Laufe der Zeit nach dem Prinzip der Schrift-oumlko nomie immer mehr zu einem morphosyllabischen System entwickelt das wiederum mit den morphosyntaktischen Merkmalen der chinesischen Spra che in Wechselwirkung steht Die allmaumlhliche Wandelung der Zeichen-formen uumlbt ebenfalls Einfluss auf die Charakteristika chinesischer Schrift-zeichen aus (Abschnitt 3) Schlieszliglich streifen wir noch die Kombinatorik von Zeichenmorphemen in Quadratzeichen (Abschnitt 5) die Mehr-Zeichen-Komposita sowie einige Eigenschaften des morphologischen Auf-baus chinesischer Texte (Abschnitt 6)

1 Die traditionellen Kategorien In der chinesischen Uumlberlieferung werden die Schriftzeichen nach den Qua drat zeichen-Bildungsarten in folgende sechs Kategorien eingeteilt (in Klam mern stehen Bezeichnungsalternativen)

(1) 象形 = Piktogramme (Bildzeichen)

(2) 指事 = Einfache Ideogramme (Hinweis-Zeichen Indikatoren)

(3) 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

(4) 形聲 = Ideophonogramme (pikto-phonetische Zeichen Determinativ-Lautelement-Zeichen Form-Laut-Zeichen)

(5) 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen (Ableitungszeichen synonyme Zeichen Wandelzeichen)

(6) 假借 = Lautentlehnungszeichen (Leihzeichen Homonyme)

Unsicherheit herrscht bei den Sprachforschern daruumlber ob die Kategorie bdquoana logisch derivierte Quadratzeichenldquo uumlberhaupt bestehe In der folgenden nauml heren Schilderung der traditionellen Kategorien sei sie daher uumlbergangen

11 象形 = Piktogramme

Piktogramme stammen aus urtuumlmlich-einfachen Schriftzeichen die da durch zu stande gekommen sind dass man die aumluszligere Form von in der Wirk lich-keit vor handenen Objekten nachbildete Piktogramme bestehen aus nur ei nem einzigen Grundmorphem und gehoumlren zu der aumlltesten Schicht der (Qua drat-)Zeichen Ihr Anteil an allen Quadratzeichen macht zwischen 2 und 4 aus

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder88

(7) 日 rigrave Sonne urspruumlnglich ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte ndash als Abbild der Sonne

(8) 月 yuegrave Mond urspruumlnglich Abbild eines Halbmondes

(9) 耳 ěr Ohr urspruumlnglich ohraumlhnlich gezeichnet

An den angefuumlhrten Beispielen wird schon deutlich dass diese Piktogramme heut zutage als bdquonaturalistischeldquo Bilder keinen groszligen Aussagewert mehr be sitzen im Piktogramm (7) 日 rigrave Sonne zB laumlsst sich auch bei gutem Wil len keine abgebildete Sonne mehr erkennen Die urspruumlnglichen (Vor gaumlnger-)Formen solcher Quadratzeichen hatten hingegen diesen Er kennungs wert haumlufig noch er ist im Laufe der Zeit durch die verschiedenen Standardisierungen der Zeichenschreibung verunklaumlrt worden

12 指事 = Einfache Ideogramme

Mit einfachen Ideogrammen sind solche Quadratzeichen gemeint die nicht leicht zu malende Dinge oder Sachverhalte symbolisieren Ihr Anteil am Qua drat zeichen-Inventar belaumluft sich auf 05 bis 1

(10) 上 shagraveng oben Urspruumlnglich war dieses Ideogramm recht durch-sichtig aus zwei waagerechten Strichen gestaltet wobei der untere Strich die Bezugsgrundlage bildet und der obere kuumlrzere aumlhnlich einem Zeige pfeil den Hinweis gibt worauf es ankommt auf bdquoobenldquo naumlm lich Der senkrechte Strich ist spaumlter hinzugefuumlgt worden

(11) 下 xiagrave unten nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie (10) Hier ist der Hinweisstrich nur etwas gekippt

(12) 本 běn Wurzel nimmt als Bezugsgrundlage das Allomorph des vor handenen Piktogramms 木 mugrave das urspruumlnglich einen DaggerBaum ab bil dete und heute fuumlr Holz steht Der kleine horizontale Strich unten weist auf diejenige Stelle des Baums hin an welcher sich die Wurzel befindet

(13) 末 mograve Ende urspruumlnglich ein Abbild fuumlr DaggerWipfel Dieses einfache Ideo gramm wurde nach dem gleichen Prinzip gebildet wie das einfache Ideo gramm (12) 本 běn Wurzel nur dass der Hinweisstrich oben steht wo der Baum zu Ende ist

Die einfachen Ideogramme bestanden urspruumlnglich aus zwei Bestand teilen der Bezugsgrundlage und dem Hinweis Waumlhrend der Bezugs grundlage-Bestand teil ein vorhandenes Zeichenmorphem warist bestandbesteht der Hinweis-Bestandteil meist aus einem kleinen Strich der nur gebunden vor-

89Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

kommt Bei manchen einfachen Ideogrammen wie (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave unten sind die zwei Bestandteile (zum Teil durch Umge-stal tung) dermaszligen zu einer Einheit zusammengeschmolzen dass das ganze Quadratzeichen heute eher als ein unauftrennbares Grund mor phem wahr genommen wird Unterstuumltzt wird diese Wahrnehmung dadurch dass wenn man aus den Quadratzeichen (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave un ten den Hinweisstrich tilgt und nur den uumlbrigbleibenden Strich zug-komplex betrachtet dieser heutzutage anderweitig nicht mehr als Zei chen-morphem vorkommt ndash weder frei noch gebunden die ehemalige Ab trenn-moumlglich keit ist synchron mithin verdunkelt

Demgegenuumlber ist der Bezugsgrundlage-Bestandteil bei anderen einfachen Ideo grammen leichter als abtrennbar zu erkennen weil er auch in der Gegen-wart immer noch anderweitig als eigenes Zeichenmorphem er scheint Bei-spiels weise wird der Bezugsgrundlage-Bestandteil in (12) 本 běn Wurzel und (13) 末 mograve Ende naumlmlich das Allomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum auch im gegenwaumlrtigen Gebrauch als freies Zeichen morphem fuumlr Holz verwendet So kann der Kenner des Systems auch synchron der lei einfache Ideogramme in zwei Zeichenmorpheme zer legen den Bezugs-grund lage-Bestandteil (ein frei vorkommendes Zeichen morphem 木 mugrave DaggerBaum in Form seines gebundenen Allomorphs) und den Hinweis-Be-stand teil (den Hinweisstrich als ein nur-gebundenes Grund morphem)

13 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

Durch (gestalterisch aufeinander abgestimmte) Zusammenfuumlgung zweier oder mehrerer bereits vorhandener Zeichenmorpheme zu einem neuen Qua drat zeichen wird ein Ideogramm mit neuer Bedeutung erzeugt Die zu sammen gesetzten Ideogramme bestehen also saumlmtlich aus mehr als nur einem Grundmorphem Jedes Zeichenmorphem als Bestandteil hat seine ei gene Bedeutung (oder hatte sie zumindest zum Zeitpunkt der Zeichen bil-dung) der neue Sinn der sich durch ihre Verbindung ergibt steht in einem Zu sammen hang mit diesen Einzelbedeutungen Bildeweise und Herleitung sind fuumlr heutige Chinesen allerdings nur noch bedingt durchsichtig

In Sprachen mit ausgepraumlgter Wortbildung koumlnnte man diese Zei chen art mit den Wortbilde-Verfahren Komposition oder ggf Ableitung ver glei chen es las sen sich auch bei den Bezuumlgen der Einzelglieder unter ein an der ver-gleich bare Ein teilungen vornehmen Iterativkomposita Deter mi na tiv kom-posita usw Die Angaben zum Anteil zusammengesetzter Ideo gram me am Qua drat zeichen-Gesamtbestand schwanken zwischen 3 und 12

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder90

(14) 牧 mugrave Hirte zeigt links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 牛 niuacute Rind und rechts das Schrumpfallomorph des nur gebunden vor kom menden Grundmorphems 攵 pū Hand mit Stock dh bdquoein Mensch der Rinder beaufsichtigtldquo

(15) 信 xigraven glaub- weist links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 人 reacuten Mensch auf und rechts das Schrumpfallomorph des Ideophonogramms 言 yaacuten Wort dh bdquoein Mensch der sein Wort haumlltldquo

Mit der Bildeweise von (14) und (15) vergleichen lassen sich im Deutschen Kompositionen wie Stein+bruch oder Riesen+schlange im Franzoumlsischen cure-dents (woumlrt lich bdquoPutz-[die]-Zaumlhneldquo d i bdquoZahnstocherldquo) aller dings sind im Deutschen und Franzoumlsischen die Bestandteile viel staumlrker hinsichtlich des Phaumlnomens bdquoWort artldquo ausgerichtet als im Chinesischen

(16) 武 wǔ Militaumlr besteht unten links aus einem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 止 zhǐ das urspruumlnglich fuumlr DaggerFuszligabdruck stand und heute fuumlr aufhoumlr- steht und rechts aus einem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 戈 gē Hellebarde dh bdquoein durch einen Fuszligabdruck sym bolisierter Soldat der mit einer Waffe dastehtldquo

In der Bildlichkeit vergleichbar mit (16) waumlren im Deutschen etwa Bildun-gen wie Waffen+bruder oder Feuer+wehr Bei einer spaumlteren Normierung der Qua drat zeichenform des zusammengesetzten Ideogramms 武 wǔ Mili taumlr wur de der untere von rechts oben nach links unten gezogene Di agonal strich des vom Piktogramm 戈 gē Hellebarde abgeleiteten Al lo morph kuumlr zels aus gekoppelt und als kuumlrzerer waagerechter Strich an die obere lin ke Ecke des Ideogramms 武 wǔ Militaumlr uumlber geschrumpftes 止 zhǐ auf houmlr- ge stellt Dies ist eine Form der Ligaturbildung wie sie auch in Al pha bet schrif ten vorkommt etwa in Lateinschrift ltAgt + ltEgt zu ltAEliggt in Suumltterlin lt $ gt bdquocldquo + lt h gt bdquohldquo zu lt c gt bdquochldquo oder in Devanāgarī ltकgt bdquoka ldquo + ltषgt bdquoṣa ldquo zu ltकषgt bdquokṣa ldquo Sol che gestalterische Aufeinander-Abstimmung ist in der Sprech spra che den Similations-Erscheinungen (AssimilationDissimi la tion) vergleich bar(17) 休 xiū ausruh- enthaumllt links das Allomorphkuumlrzel des Pikto-

gramms 人 reacuten Mensch und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum dh bdquojemand der an einen Baum ge lehnt sitzt und rastetldquo

(18) 林 liacuten Wald ist durch Iterativkomposition entstanden Das Schrumpfallomorph des Piktogramms 木 mugrave Holz das urspruumlnglich fuumlr DaggerBaum stand wird ikonisch gedoppelt

91Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Nach demselben Prinzip wie in (18) ist das zusammengesetzte Ideogramm 森 sēn Urwald entweder durch ikonische Verdreifachung gebildet oder aber durch Komposition aus dem Schrumpfallomorph des schon verdop-pelten Zei chen morphems 林 liacuten Wald mit dem Schrumpfallomorph des ein fachen Piktogramms 木 mugrave DaggerBaum Im Deutschen lassen sich Iterativkomposita wie wort+woumlrt+(lich) vor+vor+(gestern) oder Sing+sang vergleichen vom Begriffsinhalt her auch eine Bildung wie kohl+pech+raben+schwarz in welcher alle Glieder gleicher maszligen fuumlr den Inhalt dunkel stehen ohne indes etymologisch mit einander verwandt zu sein

14 形聲 = Ideophonogramme

In den bisherigen drei Kategorien traumlgt der Gesamtkomplex jedes Quadrat-zei chens zugleich Lautung und Sinn Man muss also die Lau tung des Qua-drat zeichens als solche einmal ganz neu lernen durch keinen Be stand teil er haumllt man einen Hinweis auf sie Piktogramme und einfache Ideo gramme sind Mono morphe zusammengesetzte Ideo gram me sind Di- oder ggf Poly-morphe die in bezug auf ihre Zeichen morpheme homo gen sind Die Sache ver haumllt sich aumlhnlich wie in Alphabet schriften in denen oft Bestand teile mit vergleich barer inhaltlicher Geltung zu Di- bzw Poly gra phen zusam-men gestellt werden die als Gesamtheit dann eine aumlhn lich ge artete neue Geltung bekommen So ist zB der einen einzigen Laut be zeich nende rus-sische Digraph ltльgt [ʎ] als Ein heit zu verstehen und um fasst zwei gleicher-maszligen auf die Laut ebene abzie lende Bestand teile naumlm lich ltлgt [l] und ltьgt (Pala talitaumlts anzeiger) der artige Komplexe nei gen be son ders zu graphi scher Ligierung ltлgt + ltьgt zu ser bisch ltљgt

Diese Homo genitaumlt der Bestandteile wird verlassen wenn sich die zu Di- oder Poly gra phen bzw -morphen zusammengestellten Ele men te nicht mehr auf die selbe Ebene beziehen sondern auf unterschiedlich gear tete Ebe nen ab zie len so bewegen sich in alphabetischer Schreibung Zeichen wie ltgt ltsectgt oder lt5gt jenseits der Lautebene und dienen als Ideogramme fuumlr ihren Be griff Und in der chinesischen Schrift ist es so dass dimorphe Qua drat-zeichen aus heterogenen Zeichenmorphemen deren eines auf die Laut ebene deren an deres auf die Begriffsebene abzielt die Regel bilden Es handelt sich um die sog Ideophonogramme Diese beinhalten wie der Name schon sagt ein Zeichen morphem das auf die Lautung des Quadratzeichens ver weist (Laut traumlger) neben einem das auf den Begriff verweist (Sinntraumlger)

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder92

(19) 吐 tǔ ausspuck- birgt links das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 土 tǔ Erdreich als Lauttraumlger

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des Ideo phono gramms 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach als Laut traumlger

Man sieht hier an beiden Zeichenmorphemen die als Kompositions glie der des Ideophonogramms (20) dienen dass bei dieser Quadratzeichen bil dung wieder um anderweitig und mit anderer Geltung (Lautentlehnungs zei-chen) ent standene Komplexe mit neuer Aufgabe als Zeichenmorpheme in ein neu zusam men gesetztes Quadratzeichen eingegliedert werden koumln nen auch ein be reits bestehendes Ideophonogramm kann von seiner Gel tung als Ideo phono gramm freigestellt und als sinntragender (oder in anderen Faumll-len als laut tragender) Komplex in ein neues Ideophonogramm eingebaut werden

(21) 照 zhagraveo schein- zeigt unten das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 火 huǒ Feuer als Sinntraumlger und oben das Schrumpfallomorph des be reits bestehenden Ideophonogramms 昭 zhāo offenkundig als Laut traumlger

Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist ein Ideophonogramm zeichen-morpho taktisch analysiert bei Aufteilung ersten Ranges zunaumlchst aller-mei stens in zwei erstrangige Zeichenmorpheme zu zerlegen einen Sinn- und einen Lauttraumlger Das sinntragende Zeichenmorphem gibt einen vagen Hin weis auf die Bedeutung und das lauttragende Zeichenmorphem auf die Lautung des Quadratzeichens Des oumlfteren dient ein Zeichenmorphem als Sinn traumlger in mehreren Ideophonogrammen deren jeweilige Gesamt be deu-tung mit der Bedeutung des als freies Quadratzeichen vorkommenden Sinn-traumlgers zusammenhaumlngt man koumlnnte hier von bdquoBegriffssippeldquo sprechen Beispiels weise ist das Piktogramm 手 shǒu Hand ein Zeichenmorphem welches in etlichen Ideophonogrammen die fuumlr Handbewegungsarten stehen als Kompositionsglied dient und dort den Sinntraumlger darstellt

Alle Zeichenmorpheme koumlnnten theoretisch als Lauttraumlger eines Ideo-phono gramms fungieren Beim Ideophonogramm (19) 吐 tǔ ausspuck- ist der Lauttraumlger naumlmlich 土 tǔ Erdreich ein Piktogramm das ei nen Erdklumpen auf dem Felde abbildete Wie erwaumlhnt laumlsst sich auch ein Ideophonogramm als Lauttraumlger in einem anderen komple xe-ren Ideophonogramm einsetzen Beim Ideophonogramm (21) 照 zhagraveo

93Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

schein- ist der Lauttraumlger naumlmlich das freie Zeichenmorphem 昭 zhāo offen kundig schon an sich ein Ideophonogramm Das Ideophono gramm 昭 zhāo offenkundig besteht links aus dem Schrumpfallo morph des Piktogramms 日 rigrave Sonne als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf-allomorph eines Ideophonogramms 召 zhagraveo be or der- als Laut traumlger Das Ideophonogramm 召 zhagraveo beorder- weist unten das Schrumpf allo morph des Piktogramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und oben das Schrumpf-allomorph des Piktogramms 刀 dāo Messer als Lauttraumlger auf

Betrachtet man ein und dasselbe Zeichenmorphem in mehreren Ideo phono-grammen in denen es als Lauttraumlger vorkommt so erweist sich der Lau-tungs hinweis haumlufig als recht unzuverlaumlssig (siehe weiter unten) Alle Lau-tungen fuumlr die ein Lauttraumlger stehen kann koumlnnte man als dessen bdquoLau-tungs sippeldquo oder bdquoLautungsbuumlndelldquo bezeichnen Die Ideophonogramm-Bil dung ist mit 80 bis 90 die mit Abstand haumlufigste Quadratzeichen-Bilde weise

15 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen

Diese umstrittene Gruppe wird wie eingangs erwaumlhnt hier uumlbergangen

16 假借 = Lautentlehnungszeichen

Anteil an allen Quadratzeichen ca 36 Die chinesische Schrift befand sich jetzt in einer Entwicklungsphase in der zwar Quadratzeichen fuumlr kon krete Dinge im Alltag zur Verfuumlgung standen kaum jedoch solche fuumlr Ab strak tes Nun ergab sich die Moumlglichkeit ein bereits existie ren des Qua-drat zeichen fuumlr eine etwas ganz anderes bedeutende zufaumlllig homo phone Sil be der Sprechsprache zu verwenden Solche Analogien sind ja auch auf an derer Ebene uumlblich etwa wenn man im Deutschen ltMausgt nicht nur fuumlr die Maus (als Tier) verwendet sondern auch fuumlr die Rechner maus Aus heu tiger Sicht stellen diese rein lautungsbedingt ent lehnten Quadrat zeichen im chine sischen Schriftsystem eine Verbindung zur Laut um schrift oder zu Alphabet schriften dar (denn auch dort werden ja gleiche Lautbilder durch gleiche oder aumlhnliche Schriftbilder wiedergegeben) Besonders haumlufig nutzt das Chine sische diese Hand habung bei Funk tions woumlrtern und Ab strakta Die Zahl der Funk tions woumlrter ist zwar absolut nicht besonders groszlig er freut sich jedoch hoher Vor kommens haumlufigkeit und solche Woumlrter waumlren sonst in der chine si schen Schrift schrei be risch schwer dar zustellen Wenn in der Sprech sprache zwei homo(io) phone Silben vor liegen eine mit kon kreter und eine mit ab strak ter Be deutung und ein Qua drat zeichen fuumlr die Silbe

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder94

mit konkreter Bedeu tung aber keines fuumlr die mit ab strak ter Bedeutung zur Ver fuumlgung steht so wird gern das vor han dene Qua dratzeichen der erste ren Silbe fuumlr die letztere Silbe ent lehnt

(22) 其 war urspruumlnglich piktographisches Abbild einer DaggerSchaufel steht heu te aber fuumlr ein Pronomen der 3 Person mit der Lautung qiacute

Fuumlr Schaufel wird heutzutage das Ideophonogramm 箕 jī geschrieben das oben das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 竹 zhuacute Bambus als Sinn traumlger und unten das Schrumpf allomorph des seinerseits ein Laut-entlehnungs zeichen darstellenden 其 qiacute Pronomen der 3 Person (siehe hier oben) als Laut traumlger aufweist

(23) 孚 fuacute uumlberzeug- stellte urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideo-gramm dar das mit dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 爪 zhuǎ Klaue oberhalb des Schrumpfallomorphs des Piktogramms 子 zhǐ Kind die Bedeutung DaggerGeisel hatte

Fuumlr Geisel wird heute das gleichlautende Ideophonogramm 俘 fuacute ge schrieben das links aus dem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 人 reacuten Mensch (Sinntraumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Laut-ent lehnungs zeichens 孚 fuacute uumlberzeug- als Lauttraumlger besteht

(24) 須 xū muumlss- war urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideogramm fuumlr DaggerBart wobei links drei Haare abgebildet durch das heute nur-ge bundene Grundmorphem dagger彡 shān auf einem urspruumlnglich durch das Schrumpfallomorph des Piktogramms 頁 yegrave Seite be zeichneten DaggerGesicht sprieszligen

Fuumlr Bart wird heute das homophone Ideophonogramm 鬚 xū geschrie-ben das bei Aufteilung erstes Ranges oben in das Schrumpfallo morph des zu sam mengesetzten Ideogramms dagger髟 biāo Zottelhaar und unten in das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 須 xū muumlss- auf zu-tren nen ist Gebildet ist das Ideogramm dagger髟 biāo Zottel haar durch eine Zu sammensetzung welche links das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 長 chaacuteng lang das urspruumlnglich eine Person mit langen Haaren ab bildete enthaumllt und rechts das gebundene Grundmorphem dagger彡 shān HaareIm gegenwaumlrtigen Gebrauch werden Lautentlehnungszeichen die auf die oben genannte Weise zustande gekommen sind (fast) ausschlieszliglich fuumlr Funk tionswoumlrter benutzt waumlhrend im Laufe der Zeit ausdrucks seitig neue Qua dratzeichen fuumlr die urspruumlnglichen inhaltsseitigen Sinneinheiten dieser ent lehnten Quadratzeichen geschaffen worden sind Man koumlnnte hier von bdquoHomo morphie-Fluchtldquo sprechen

95Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Der Lautentlehnung bedient man sich ferner wenn man bdquoFunktionssilbenldquo nieder schreiben will Aus rhythmischen Gruumlnden haumlngen chine sische Mutter sprachler oft an ein einsilbiges bdquoWortldquo eine zusaumltzliche Silbe an das ist einerseits euphonisch bedingt (wie vielleicht im Deutschen syn chron ge sehen -en- in Sternenhimmel oder -e- Schweinefleisch) zum an dern bdquofuumlt ternldquo solche Silben die phonetischen Wortkoumlrper bdquoaufldquo erweitern (und ver deutlichen dadurch) Silben zu Silbensyntagmen (im anderen Sprachen lie szlige sich vielleicht die Erweiterung sehr kurzer bzw im Laufe der Sprach-ent wicklung kurz gewordener Woumlrter wie mhd ucircr zu nhd Auer ochs oder von Aar zu Adler (mhd ar bzw adel-ar) ver glei chen ggf auch mittels suffi xaler Stammbildungserweiterung wie anord ey zu nisl eyja beide bdquoInselldquo) Zum Beispiel bezeichnen Chinesen heute sprechsprachlich einen Stuhl sel ten mit dem einsilbigen bdquoWortldquo yǐ Stuhl sondern in der Regel mit dem Zwei-Silben-Syntagma yǐ + zi die zusaumltzliche verdeutli chende Sil be wird meistens mit einem Nebenton (siehe Einleitung) ausgespro chen Nach dem Prinzip dass 1 Silbe mit 1 Quadratzeichen geschrieben werden soll (siehe unten) schreibt man fuumlr das nun zweisilbige Silben syntagma dann auch zwei Quadratzeichen hin Dabei fragt es sich freilich welches Qua drat zeichen man denn fuumlr diese zusaumltzliche bdquoAuf fuumltterungs-Silbeldquo schreiben solle Fuumlr die hinzugefuumlgte Silbe sucht man ein Quadrat zeichen aus dessen Lautung dieselbe Silbe haupttonig darstellt und ent lehnt dieses dann fuumlr die Wiedergabe der Silbe des (Quasi-)Suffixes in diesem Fall das Qua dratzeichen des homoiophonen Piktogramms 子 zǐ Kind Fuumlr das Silben syntagma 椅子 Stuhl werden somit folglich zwei Quadrat zeichen das Ideophonogramm 椅 yǐ Stuhl und das Laut ent lehnungs zeichen 子 zi als ein Quasisuffix geschrieben

Bei dieser Handhabung hat man theoretisch sehr viele Wahlmoumlglich kei ten und wiederum ist es eine Frage der Eingebuumlrgertheit welche Silben zeichen wann und wie Verwendung finden Dieselben Fragen tauchen uumlbrigens auf wenn fremde Namen und bdquoFremdwoumlrterldquo im Chinesischen geschrie ben wer-den sollen aber auch dann wenn in Film-Untertiteln die zahl rei chen zu saumltz-lichen Silben umgangssprachlicher Sprechsprache wiederzugeben sind

2 Zur Entwicklung der SchriftzeichenbildungDie ersten Versuche der Chinesen Erinnerungen festzuhalten bestan den darin dass sie in Stricke aus Pflanzenfasern Knoten knuumlpften und sich so eine Art Kalender schufen Spaumlter werden es Einkerbungen auf Holz bret-tern (bdquoKerb houmllzernldquo) gewesen sein die Ernten oder andere Ereignisse fest-

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder96

hiel ten Noch spaumlter wurden mit Holz Steinen oder Knochen bestimm te Zei chen (noch keine bdquoSchriftldquo-Zeichen) in Ton eingeritzt

Bis 3000 v Chr benutzten die Chinesen zunaumlchst einfache Zeichen die ihnen als Gedaumlchtnisstuumltzen dienten Auf ausgegrabenen roten Ton-scher ben erscheinen zwei Arten von Schriftzeichen Die einfach sten sind wahrscheinlich Zahlzeichen andere kompliziertere Schrift zeichen be deuten wohl Namen von Sippen oder Staumlmmen In der Folge wur den Zeich nungen verwandt die konkrete Gegenstaumlnde aus der Umge bung bild-lich darstellen sollten also Piktogramme

Allein mit Piktogrammen fuumlr die leicht abzubildenden Gegenstaumlnde der greif baren Wirklichkeit ist noch kein vollwertiges Schriftsystem entstan-den Ein solches Schriftsystem muss nicht nur uumlber Namen fuumlr kon krete bzw konkret abzubildende Dinge verfuumlgen sondern bedarf daruumlber hin aus gra phischer Ausdrucksmoumlglichkeiten etwa fuumlr Eigenschaften Beziehun gen Bewe gungen Vorstellungen usw Dieser Zweck dem jedes Schrift system ge nuumlgen muss ist in der chinesischen Schrift wahrscheinlich erstmals von den einfachen Ideogrammen erfuumlllt worden

Piktographie und Ideographie zeitigen einfache sprechsprachlich mehr-deutige Schriftzeichen phonologisch-phonetische Aspekte spielen beim Auf bau des Zeicheninventars noch keine Rolle Das ist bdquozeichen wirt schaft-lichldquo betrachtet ein Mangel Tausende von Schriftzeichen fuumlr neu entstan-dene bdquoWoumlrterldquo (Inhalte und ausdrucksseitig zugeordnete Lautbilder) nicht nur zu schaffen sondern auch im Kopfe zu behalten ist dermaszligen unprak-tisch dass die Schrift entweder nur als sehr beschraumlnktes System ange wandt werden koumlnnte oder aber so geschmeidig gestaltet werden muumlsste dass sie in der Lage waumlre sich zu einem brauchbaren System zu ent wickeln Um dieses Pro blem in den Griff zu bekommen mussten die graphische und die laut liche Sei te der verfuumlgbaren Schriftzeichen rekursiv mitein ander ver-knuumlpft werden

Die Methode der ideographischen Zusammensetzung schafft neue Qua drat-zeichen ohne indes das Zeichenmorphem-Inventar der Schrift zu ver meh-ren Dieses Verfahren bezieht die graphische Seite der Schriftzeichen eben so wie ihre Bedeutung mit ein wie die Gestalt des neuen Schriftzeichens sich aus den Gestalten seiner Bestandteile (bereits fertiger Zeichen mor-pheme) er gibt so ergibt der Sinn eines neu zusammengesetzten Ideo-gramms sich aus der Verbindung der Bedeutungen seiner Bestandteile Die Laut seite der Zeichenmorpheme spielt hier wie gesagt noch keine Rolle Durch ideo graphische Komposition entstehen also weiterhin Schrift-

97Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichen welche noch keinerlei Hinweis auf die Lautung der bezeichneten bdquoWoumlrterldquo liefern Dieses Verfahren bietet noch immer nicht die (Zeichen-anzahl-beschraumlnkenden und Aussprache-andeutenden) Vorteile welche durch Einbezug einer ausspracheabhaumlngigen Komponente (zB eines lautungs andeutenden Zeichenmorphems) moumlglich werden

Aus diesem Grunde bemuumlhte man um den Schriftzeichenbestand aus zu-bau en schlieszliglich auch die Lautseite Die einfachste Methode die Laut sei te zu nutzen ist bekanntlich die homographische Schreibung homo(io) pho-ner Silben mit unterschiedlicher Bedeutung (zB Silbe A und Silbe B) Da mit isoliert man die graphische Form des Schriftzeichens von der pri-maumlr zuge ord neten Bedeu tung A der Silbe lehnt dann das inhaltlich bdquoent-kop pelteldquo Schrift zeichen an eine homophone Silbe mit Bedeutung B fuumlr die noch kein Schriftzeichen zur Verfuumlgung steht an Was auf der Aus-sprache-Ebene aumlhnlich ist wird auch auf der Zeichengestalt-Ebene aumlhnlich dar gestellt ndash unabhaumlngig vom Inhalt

Diese Methode die sog Lautentlehnung vermehrt nicht den Bestand chine-si scher Schriftzeichen In dieser Hinsicht stufen die heutigen chinesi schen Zeichen morphologen sie weniger als Quadratzeichen-bdquoBildungldquo ein son-dern eher als Quadratzeichen-bdquoVerwendungldquo Des weiteren bringt die Laut-ent lehnung bei der Entwicklung des chinesischen Schriftsystems ein anderes Problem mit sich Durch die Lautentlehnung kann ein Schriftzeichen bei gleich bleibendem Lautwert semantisch doppelt oder mehrfach besetzt sein Fuumlr die Enkodierung der Bedeutungen und die Wiedergabe der Laute in der Sprache (bdquodas Schreibenldquo) ist diese Methode zweifellos effizient Fuumlr die De ko dierung der Bedeutungen (bdquodas Lesenldquo) stellt die semantisch mehrfache Be setzung eines Qua dratzeichens jedoch eine enorme Belastung dar Auch in der deutschen Rechtschreibung sind deshalb in vielen Faumlllen Homo phone graphisch geschieden Wagen und Waagen arm und Arm usw

Wenn das entlehnte Schriftzeichen in seiner urspruumlnglich zugeordne-ten Be deutung A der Silbe weiterhin in der Sprache vorkommt dh nicht ungebraumluchlich geworden ist dann wetteifern ja beide Bedeu-tun gen nicht nur sprechsprachlich mit dem Lautbild der Silbe sondern nun auch schreibsprachlich mit dem Schriftzeichen Die Lage wird dann oft wie der vereindeutigt indem man das Schriftzeichen auf die sekun-daumlre Silben-Bedeutung B einschraumlnkt und fuumlr die primaumlr zugeordnete Silben-Bedeutung A ein zusaumltzliches Zeichenmorphem in das Schrift-zeichen einfuumlgt um es so von seiner Lehnnehmerform mit der sekundaumlren Bedeutung B zu unterscheiden (Homomorphie-Flucht)

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(25) Das Lautentlehnungszeichen 北 Norden běi stellt urspruumlng lich das zu sammengesetzte Ideogramm fuumlr DaggerRuumlcken dar Heute steht es aus-schlieszlig lich fuumlr Norden

Das Quadratzeichen 北 war urspruumlnglich das zusammenge setzte Ideo-gramm fuumlr DaggerRuumlcken welches zwei Personen Ruumlcken an Ruumlcken zeig te Da die gesprochenen Silben begravei fuumlr Ruumlcken und běi fuumlr Nor den aumlhn liche Lautbilder aufweisen wurde fuumlr die Verschriftlichung der Silbe des schwer lich zeichnerisch darzustellenden Abstraktums běi Nor den das zusammengesetzte Ideogramm 北 DaggerRuumlcken entlehnt Nun hatte das Schrift zeichen 北 zeitgleich zweierlei Bedeutungen die pri maumlre Be deu tung war DaggerRuumlcken und die sekundaumlre Norden Um die zwei Bedeu tungen im schriftlichen Text zu differenzieren wurde spaumlter ein neues Schrift zeichen 背 begravei fuumlr die primaumlre Bedeutung Ruumlcken gebil det und zwar ist dieses neue Ideophonogramm 背 begravei Ruumlcken da durch zu stan de gekom men dass das freie Zeichenmorphem 北 běi (Laut traumlger) un ten um das Allo-morph kuumlrzel des Pikto gramms 肉 Fleisch im Sinne von mensch licher Koumlr per (Sinn traumlger) vermehrt wurde Das Laut ent leh nungs zeichen von 北 běi steht in dem neuen Synchron-Zustand aus schlieszlig lich fuumlr die sekun-dauml re Bedeutung Norden fuumlr die pri maumlre Be deu tung Ruumlcken wird heu te nur noch das Ideophonogramm 背 begravei geschrieben

Die Anwendung der Entlehnungsmethode war fuumlr das chinesi sche Schrift-system der Wendepunkt von einer lediglich die Erinne rung stuumlt zenden Bilderschrift zu einer brauchbaren logosyllabischen Schrift Mit fort-schreitender gesellschaftlicher Entwicklung und der Vertiefung von Wahr-neh mung und Praxis mussten mehr und mehr Dinge und Sach ver halte verfeinert bezeichnet werden Um diesen Beduumlrfnissen gerecht zu werden hat man ndash wiederum mithilfe der Lautentlehnungsmethode ndash den Schrift-zeichen-Bestand durch Ideophonogramme vermehrt

Ein Ideophonogramm ist bei Aufteilung ersten Ranges in zwei Zeichen-mor pheme zu zerlegen den Sinntraumlger und den Lauttraumlger Das eine Zei chen morphem der Sinntraumlger verweist auf die Bedeutung des Ideo-phono gramms das andere Zeichenmorphem der Lauttraumlger auf des sen un gefaumlhre Lautung Den Sinntraumlger fuumlr ein Ideophonogramm ge winnt man dadurch dass man ein vorhandenes Zeichenmorphem nimmt und von seiner Lautung isoliert an ihm bdquoklebenldquo dann nur noch vage Bedeu tungs-Assozia tionen Dieses Zeichenmorphem baut man als Sinn traumlger in ein neu zu erstellendes Ideophonogramm ein Den Lauttraumlger fuumlr ein Ideo phono-gramm gewinnt man dadurch dass man ndash aumlhnlich wie bei der Schoumlp fung von Laut entlehnungs zeichen ndash ein Schriftzeichen mit einer bestimm ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 99

ihm an haftenden Lautung entlehnt und zwecks ungefaumlhrer Andeu tung eben dieser Lautung in ein Ideophonogramm einbaut dessen Silbe phone-tisch dem lehngebenden Quadratzeichen aumlhnlich ist Ideophono gram me sind diesbezuumlglich haumllftig als Lautentlehnungszeichen zu betrachten

Es ist nicht von vornherein festgelegt wie die Zeichenmorpheme als Bestand teile innerhalb eines Ideophonogramms angeordnet werden ndash linksrechts obenunten innenauszligen getrenntverschlungen usw Somit muss man wissen welches Zeichenmorphem auf die Lautung und welches auf den Sinn hinweist Es gibt hier aber gebraumluchliche Muster die sich eingebuumlr-gert haben und die der geuumlbte Leser kennt sodass Sinn- bzw Lauttraumlger der meisten Ideo phonogramme fuumlr gewoumlhnlich leicht auszumachen sind

Die Beispiele in Abbildung 1 moumlgen die geschilderte Entwicklung der Bil-dung chinesischer Schriftzeichen veranschaulichen

(26) Piktogramm 自 zigrave DaggerNase

(27) Piktogramm dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze

(28) Piktogramm 犬 quǎn Hund

(29) Piktogramm 口 kǒu Mund

(30) Zusammengesetztes Ideogramm 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] daggerschnupper- und chograveu = [ʈʰograveu] stinkend

(31) Lautentlehnungszeichen 自 zigrave selbst

(32) Lautentlehnungszeichen dagger畀 bigrave verleih-

(33) Ideo phonogramm 鼻 biacute Nase

(34) Ideophonogramm 嗅 xiugrave = [ɕograveu] schnupper-Das Quadratzeichen (26) 自 zigrave war urspruumlnglich ein Piktogramm das von vorn gesehen eine Nase mit Nasenruumlcken und Nasenfluumlgeln abbildete Aus die sem Piktogramm wurden in zwei Richtungen Quadratzeichen gebildet

In die eine Richtung wurde Dagger自 zu einer Zeit da es noch Nase bedeutete wegen der phonetischen Uumlbereinstimmung bzw Aumlhnlichkeit fuumlr den Sinn selbst entlehnt so entstand das Lautentlehnungszeichen (31) 自 selbst das heute zigrave ausgesprochen wird Von da an hatte man synchron die homo graphen Quadratzeichen 自 (26) und (31) nebeneinander ndash zum einen fuumlr die pri maumlre Bedeutung DaggerNase zum anderen fuumlr die sekundaumlre Bedeu-tung selbst Spaumlter wurde dann zur schriftlichen Disambiguierung dem

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Abbildung 1 Beispiele zur Veranschaulichung der Entwicklung chinesischer Qua drat-zeichen Spalte A Piktogramme Spalte B Zusammengesetzte Ideogramme Spalte C Laut entlehnungszeichen Spalte D Ideophonogramme

101Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

自-Qua dratzeichen wo es DaggerNase bezeichnete ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems (27)(32) dagger畀 hinzugefuumlgt das fuumlr sich allein bigrave lautet In dem so entstandenen Ideophonogramm (33) 鼻 biacute Nase dient es lediglich als Lauttraumlger Fuumlr das heutige muttersprachliche Emp finden ist dieser Lautentlehnungsvorgang allerdings nicht mehr durchschau bar denn entweder hat sich der Anglitt der Aussprache des bdquoWortesldquo selbst im Laufe der Zeit aus irgendwelchen Gruumlnden gewandelt oder der Lautwert des bdquoWor tesldquo Nase ist durch Einfluss des lauttragenden Zeichen morphems (27)(32) dagger畀 bigrave abgeaumlndert worden (Leseaussprache) Das Quadrat zeichen (32) dagger畀 bigrave verleih- uumlbrigens ist seinerseits vermutlich von dem Pikto-gramm (27) dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze lautentlehnt Fuumlr den Begriff verleih- verwendet man heute ein gaumlnzlich anderes Quadratzeichen

In die andere Richtung wurde das Schrumpfallomorph des Pikto gramm (26) 自 zigrave DaggerNase mit dem Allomorphkuumlrzel eines weiteren Pikto gramms naumlm lich (28) 犬 quǎn Hund zu einem zusammengesetzten Ideo gramm vereint Das komponierte Ideogramm (30) 臭 spricht sich daggerxiugrave = [ɕograveu] aus ohne irgendwie lautentlehnt zu sein und bedeutet daggerschnupper- Von der pri maumlren Bedeutung daggerschnupper- ist spaumlter (vielleicht durch pejora tive Be deutungs verengung) die sekundaumlre Bedeutung stinkend ab gelei tet wor den Nun stand das Schriftzeichen (30) 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] synchron fuumlr zwei sinn verwandte aber aus sprache verschiedene Bedeu tungen daggerschnup-per- und stinkend Fuumlr die primaumlre Bedeutung schnupper- wurde dann verdeutlichend das Ideophonogramm (34) 嗅 xiugrave gebildet welches links das Schrumpfallomorph des Piktogramms (29) 口 kǒu Mund (Sinn-traumlger) und rechts das Schrumpfallomorph des zusammen gesetz ten Ideo-gramms (30) 臭 daggerxiugrave (Lauttraumlger) birgt Das Schrift zeichen (30) 臭 mit der Lautung chograveu = [ʈʰ ograveu] beschraumlnkt sich seither ausschlieszlig lich auf die sekundaumlre Bedeutung naumlmlich stinkend Dadurch war die zeit weilige Mehr deutigkeit des Schriftzeichens (30) 臭 wieder beseitigt

Gaumlnzlich unabhaumlngig von der Anzahl der Zeichenmorpheme die es bilden wird ein Qua dratzeichen im gegenwaumlrtigen chinesischen Schriftsystem einer und genau einer Sprechsilbe zugeordnet Alle Quadratzeichen vertreten also je eine Silbe Die Entwicklung geht dahin dass wegen der hohen Silben-Homo phonie und der dadurch bedingten potenziellen Mehrdeutigkeit der zeit genoumlssischen chinesischen Sprechsprache immer mehr verdeutli chende oder zT auch nur rhythmisch als erwuumlnscht betrachtete Silben zu einem Silben syntagma zusammengefuumlgt werden solche Silben syntagmen ent-sprechen im Deutschen ungefaumlhr den Ableitungen oder den Kom po sita Da fuumlr jede Sprechsilbe (mindestens) ein Quadratzeichen vorhanden ist schreibt

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man fuumlr jede einzelne Silbe eines Silbensyntagmas auch genau ein Qua-drat zeichen nieder Gerade bei euphonisch oder eurhythmisch bedingten Silben (im Deut schen ist synchron vielleicht das -e- in Strahlemann ver-gleich bar das -s- in Hochzeitsnacht das -n- in Hoffnung oder das -t- in dt eigentlich im Frz das -t- in a-t-il bdquohat erldquo) die ja keine Eigen be deu-tung haben ist es gelegentlich fraglich welches Quadrat zeichen man fuumlr sie schreiben solle

In einer fruumlhen Entwicklungsstufe der chinesischen Schrift waren die meisten der heutigen Quadratzeichen-Bestandteile freie Zeichenmor-pheme Das heiszligt sie fungierten einerseits als selbstaumlndige Quadrat zeichen und ndash spaumlter ndash zusaumltzlich andererseits als Quadratzeichen-Bestand teile Im Laufe der Zeit kamen mehrere davon nur noch als gebundene Zeichen-morpheme im Bestandteilverbund eines Quadratzeichens vor (aumlhnlich wie im Deutschen heute das Suffix -heit oder das Praumlfix ur- nur noch gebunden vorkommen) Manche entwickelten sich dagegen zu Allomorphen die teils frei teils gebunden sind Manche nur-gebundene Allomorphe sind heute sogar unikal (etwa wie im Deutschen -stuumlber in Nasenstuumlber)

3 Zur Normierung chinesischer SchriftzeichenformenIm Laufe ihrer Entwicklung sind die chinesischen Schriftzeichen mehr mals nor miert worden (vgl Abbildung 2) In antiken Epochen wurde eine amt liche Standardisierung meist zu Beginn einer Dynastie vorgenom men damit sich die Befehle und Maszlignahmen von der zentralen Regierung in er oberten Laumlndern erteilen und ohne Missverstaumlndnis durchsetzen lieszligen Als die jeweilige Dynastie allmaumlhlich zerfiel schwaumlchelte auch ihre Macht und damit ihr Einfluss auf Fuumlrstenlaumlnder und deren Bevoumllkerung Die fest gelegte Schreiblehre wurde dann auch nicht mehr so genau beachtet und irgend welche oumlrtlichen Gelehrten dachten sich neue Quadrat zeichen aus wenn sie sich der vordem zentral vorgegebenen Zeichen nicht mehr er innern konnten Gleichzeitig sind mit dem Fortschreiten der Zivilisa tion Neu heiten (Dinge und Sachverhalte) aufgekommen oder ins Bewusstsein der Men schen geruumlckt fuumlr die gesprochene und geschriebene Bezeich nungen be noumltigt wurden Fuumlr diese ersannen Gelehrte Quadratzeichen und zwar mei stens durch neue Zusammenstellung vorhandener Zeichen mor-pheme Weil es oft genug an einer zentralen Steuerung dieser Entwicklung fehlte ver lief die Zeichenbildungstaumltigkeit haumlufig unsystematisch Kam schlieszlig-lich eine neue Dynastie ans Ruder so vereinheitlichte der neue Herr scher das eine Zeitlang wildgewachsene Schriftsystem dann wieder

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Abbildung 2 Zur Entwicklung chinesischer Schriftzeichenformen (aus Fazzioli 2003 15)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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31 Vereinheitlichung in Richtung Vereinfachung

Bei den amtlichen Regelungen welche die Quadratzeichengestalt be treffen han delt es sich nicht nur um Vereinheitlichung Oumlfter wurde zu gleich auch versucht die Schriftzeichen zum leichteren Lernen und Schrei ben zu ver-ein fachen Schon seit fruumlher Zeit in der man noch nicht unbe dingt von bdquoQuadrat zeichenldquo sprechen kann ist zB eine immer wieder ange wandte Aumln derungs art der Abbau zeichen gestalterischer Kom plexitaumlt ent weder wird die Anzahl urspruumlnglich ikonisch vermehrfachter Ele mente oder Element teile wieder vermindert oder die Strichzahl sehr auf wendig auf-gebauter Bestandteile wird anderweitig reduziert auf diese Art sind denn auch die Allomorphkuumlrzel entstanden

(35) 集 jiacute versammel- ein zusammengesetztes Ideogramm besteht oben aus dem Schrumpfallomorph des veralteten Piktogramms dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel und unten aus dem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum

Urspruumlnglich war das Quadratzeichen 木 mugrave Holz das Piktogramm eines DaggerBau mes mit Wurzel und Aumlsten Die urspruumlngliche Form des Zeichens 集 ver sammel- zeigte allerdings drei Voumlgel auf dem Baum dh drei Voumlgel die sich auf einem Baum bdquoversammelnldquo Da das Zeichen morphem dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel bereits strichreich ist laumlsst es sich in drei facher Ausfuumlhrung innerhalb eines neuen Zeichens unvereinfacht kaum unter bringen spaumlter wurde das verdreifachte Zeichenmorphem in dem Zeichen deshalb durch ein einziges ersetzt Dadurch war es zwar weniger bild haft dafuumlr aber besser handhabbar

(36) 塵 cheacuten Staub ein zusammengesetztes Ideogramm zeigt oben das Schrumpf allomorph des Piktogramms 鹿 lugrave Hirsch und unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 土 tǔ Erdreich

Auch das urspruumlngliche zusammengesetzte Ideogramm fuumlr Staub zeig te zu naumlchst drei Hirsche auf dem Erdboden das heiszligt beim Ren nen wirbelt eine Herde Hirsche auf der Erde bdquoStaubldquo auf In der moder ni-sier ten Form des heutigen Quadratzeichens 塵 cheacuten Staub ist da von nur noch ein einziges Zeichenmorphem 鹿 lugrave Hirsch uumlbrig

(37) 豪 haacuteo Stachelschwein ein Ideophonogramm besteht unten aus dem Schrumpfallomorph des Piktogramms dagger豕 shǐ Eber als Sinn-traumlger und oben aus dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 高 gāo hoch als Lauttraumlger welches nur den Oberteil des ihm entsprechenden Voll allo morphs zeigt

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Der Lauttraumlger das Allomorphkuumlrzel des freien Zeichenmor phems 高 gāo hoch oben im Ideophonogramm 豪 haacuteo Stachel schwein ist gegenuumlber dem Vollallomorph gestalterisch um seinen Unterteil geschmaumllert worden Genauer gesagt im Vollallomorph zeigt das Piktogramm 高 gāo noch einen Daggerzwei stoumlcki gen Bau die beiden kleinen Strichkomplexe (in Form eines Vier ecks) sind gewissermaszligen Fenster im ersten bzw zweiten Stock Als Laut sym bol-Allomorphkuumlrzel eingefuumlgt in das Ideophonogramm 豪 haacuteo Sta chel schwein verliert es dann das untere bdquoFensterldquo

Als ein weiterer Punkt ist zu beachten dass chinesische Schrift zeichen oumlfter dadurch vereinheitlicht worden sind dass man Zeichen for men unter-schied lichen etymologischen Ursprungs zusammenfallen lieszlig indem man sie graphisch nicht mehr auseinanderhielt man koumlnnte von bdquoZeichen-morphem-Zusammenfallldquo bdquo-Synkretismusldquo bdquo-Kreuzungldquo oder bdquo-Kon ta-mi nationldquo sprechen So werden die zwei bdquoFensterldquo in dem Pikto gramm 高 gāo hoch mit einem Strichkomplex geschrieben der gestalte risch vom Piktogramm 口 kǒu Mund (bzw von seinem Schrumpf allo morph) nicht zu unterscheiden ist Waumlhrend Fenster und Mund sich immer hin noch unter dem Begriff bdquoOumlffnungenldquo zusammenfassen lassen wird der-selbe Strichkomplex (zT in unverhaumlltnisgerecht geschrumpfter Ge stalt) in anderen Quadratzeichen daruumlber hinaus aber noch fuumlr ganz ande res an ge wandt zB fuumlr Geraumlusch Auge eines Strudels menschli ches Ge sicht menschlichen Kopf Tierkoumlrper Steinmesser Schuumls sel Topf Trommel Behausung von Mauern umgrenzte Stadt oder der Strichkomplex des Vierecks wird ganz abstrakt als ein Zeichen mor phem zur Disambiguierung ansonsten formgleicher Quadrat zeichen ein gesetzt

Betrachtet man die Sache nicht von daher welche Geltungen ein Zeichen-morphem in Quadratzeichen annehmen kann sondern aus der Warte der Bedeu tungen so ist eine aumlhnliche Mehrfachanwendung von Elementen fest-zu stellen bei etlichen Quadratzeichen wird beispielsweise die Bedeu tung Ge raumlusch nicht einheitlich durch den Strichkomplex 口 den wir aus heu-tiger Sicht als das Schrumpfallomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund deu ten be zeichnet sondern manchmal auch durch einen Strichkomplex 日 welcher zumindest synchron aussieht wie das Zeichenmorphem 日 rigrave Son ne und deshalb heute als ein Schrumpfallomorph dieses Zeichen-morphems ge wertet wird Derlei Faumllle gibt es viele und die synchron empfun-dene Mehr deutigkeit von Elementen geht oft auf Entwicklungs vor gaumlnge dieser Art zuruumlck auch solcherart bdquoZusammenlegungs-Standardisie run-genldquo haben demnach die Bedeutung chinesischer Quadratzeichen(bestand-teile) ver dunkelt und belasten heute beim Lernen die Form-Inhalts-Bezie-

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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hung Moumlchte man eine Parallele zum Deutschen ziehen so kann man die gra phische Zusammenlegung von ltgraumlulichgt von grau‑artiger Farbe und ltgreu lichgt grauenerregend in ltgraumlulichgt durch die Rechtschreib reform von 199620042006 vergleichen

32 Auswirkungen auf die Quadratzeichengestaltung

Die Standardisierungen der chinesischen Schriftzeichen und ihrer Bestand-teile betreffen weitgehend die Formgebung von Quadratzeichen und diese wie derum bildet die Grundlage fuumlr synchrone zeichenmorpholo gische Ana lysen Da die Zeichenmorpheme durch manche Vereinheitli chungs-schrit te richtiggehend bdquoumgemuumlnztldquo worden sind praumlgen sie entspre chend auch Bewusstsein und Wahrnehmung der Schriftanwender um Im Fol gen-den eroumlrtern wir bei der zeichenmorphologischen Betrachtung von Qua-drat zeichen wie sich solche Zeichenform-Normierungen auf die objektive sprach wissenschaftliche Auswertung und auf die subjektive anwender-seitige Wertung der Quadratzeichengestalt auswirken

Wenn man versucht Quadratzeichen moumlglichst weitgehend aufzutrennen so gelangt man ndash ggf uumlber Zeichenmorpheme unterschiedlicher Komplexi-taumlt ndash letzten Endes zu Zeichenmorphemen welche zwar noch eine morpho-lo gische Bedeutung tragen sich allerdings ndash synchron betrachtet ndash nicht wei ter in ihre Strichzuumlge zerlegen lassen ohne dass sie ihre morpho logi sche Gel tung einbuumlszligen wuumlrden Diese kleinsten Einheiten sind die Grund mor-pheme Zwei oder mehr Grundmorpheme koumlnnen zusammengefuumlgt werden um ein neues komplexeres Zeichenmorphem zu bilden Von da an stehen bei der chinesischen Schriftzeichenbildung nicht nur Grundmorpheme son-dern auch komplexere Morpheme zur Verfuumlgung Das heiszligt als Bestand teile von Schrift zeichen duumlrfen sowohl Zeichenmorpheme die aus bloszlig einem Grund morphem bestehen als auch Zeichenmorpheme die ihrerseits schon aus zwei oder mehr Grundmorphemen zusammengesetzt sind dienen Ein durch Zusammenfuumlgung von zwei oder mehr Zeichenmorphemen gebil-detes Quadratzeichen laumlsst sich wiederum als ein idiomatisierter Kom-plex verwenden und als Zeichenmorphem fuumlr weitere Quadratzeichen-bil dung einsetzen Es werden somit Komplexe aus Zeichenmorphemen immer wieder neu idiomatisiert und als neue Einheiten in houmlhere Komposi-tions-Hier archien uumlbernommen Theoretisch kann so jedes eigen staumln dige Schrift zeichen als Bestandteil fuumlr komplexere Schriftzeichen ver wandt werden Vergleichbar ist hier in der deutschen Morphologie die Ablei-tung von einer Ableitungsbasis Basis Handhabe als nicht mehr auftrenn-barer Komplex abgeleitet zu handhaben dann Basis hand haben als

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nicht mehr auftrennbarer Komplex abgeleitet zu hand hab bar schlieszlig-lich Basis handhab bar als nicht mehr auftrennbarer Komplex abge leitet zu Handhab barkeitOft geht man davon aus dass Piktogramme und einfache Ideo gramme aus lediglich einem einzigen Grundmorphem bestuumlnden Pikto gramme wie sen ur spruumlnglich einen Dinge aus der Natur abbildenden Strich kom-plex auf den man aus heutiger Sicht als das Abbild eines Ganzen werten duumlrfte und das entspraumlche dem was uumlblicherweise in Grund mor phemen vorliegt Waumlhrend bdquoeinfacheldquo Piktogramme tatsaumlchlich immer nur ein ein ziges Grundmorphem enthalten (wie in 日 rigrave Sonne und 月 yuegrave Mond) empfinden Lerner und Benutzer chinesischer Quadrat zeichen es heute so dass besonders strichreiche Piktogramme aus meh reren Grund-morphemen zusammengesetzt seien Diese Erscheinung ist dadurch zustande gekommen dass bei der gestalterischen Normierung von Quadrat zeichen-formen bdquoBestandteileldquo in manchen dieser strichreichen Kom plexe so zu sagen bdquomorphemisiertldquo worden sind aus einem Komplex hat man durch eine Art Morphemspaltung meh rere Bestand teile herausabstrahiert die man nun jeden fuumlr sich wie der in anderen Quadratzeichen-Kompositionen als Kompositionsglieder nut zen kann ndash und umgekehrt

Beispielsweise war das Piktogramm 鹿 lugrave Hirsch urspruumlnglich das Ab bild eines Hirsches mit Geweih Kopf Koumlrper und Beinen (sie he Ab bil dung 2) Bei spaumlteren Normierungen wurden oben Geweih Kopf und Koumlrper zwar weiterhin als ein Strichkomplex belassen (dieser stellt heute ein nur-gebunden vorkommendes Zeichenmorphem dar) der Unter teil indes die abstrakt die vier Beine darstellenden Striche war rein gestalterisch zufaumlllig dem zusammengesetzten Ideogramm 比 bǐ ver-gleich- recht aumlhnlich Und so hat man im Zuge einer Normie rung diese Striche durch ein Schrumpfallomorph des Quadrat zeichens 比 bǐ ver-gleich- ersetzt und dadurch den urspruumlnglichen als zusammengehoumlrig zu be trach tenden Strichkomplex von Hirsch in zwei Bestandteile zerlegt deren jeder heute synchron die Geltung eines Zeichenmorphems besitzt Das zusammengesetzte Ideophonogramm 比 bǐ vergleich- uumlbrigens zeigte urspruumlnglich zwei Menschen im Wettlauf miteinander

Uumlblicherweise werden auch saumlmtliche einfachen Ideogramme als Qua drat-zeichen mit nur einem einzigen Grundmorphem ange se hen Ge schicht lich gesehen bargen allerdings wohl alle einfachen Ideogram me ur spruumlng lich zwei zeichenmorphologische Bestandteile in sich naumlm lich Bezugs grund-lage und Hinweis An dieser Stelle sollte man den Tiefen grad bedenken mit dem man die Zusammenfuumlgung zweier Bestand teile betrach ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder108

moumlchte wenn man zeichenetymologisierend vorgeht kann man Ein-heiten freilich tiefergehend sinnvoll auftrennen als wenn man das syn-chrone Schreiberbewusstsein zugrunde legt Aus heutiger Sicht sind naumlm-lich Bezugsgrundlage- und Hinweis-Bestandteil nicht zuletzt in folge nor mierender Umgestaltung zu einem Zeichen morphem zusam men-geschmolzen das als ein einziges Grundmorphem betrachtet wird und des halb spricht man eben von bdquoeinfachenldquo Ideogrammen Ist der Hin weis-Be stand teil noch durchsichtig vom Grundlage-Bestandteil abzutren nen so sollte man indessen meinen das Ideogramm goumllte als aus zwei (ggf mehr) Grundmorphemen zusammengesetzt Das widerspricht aber der her koumlmm lichen Sichtweise Der Status der einfachen Ideogramme ist in dieser Hinsicht womoumlglich revisionsbeduumlrftig Diese naumlhere Betrach tung hat uns bewogen im vorliegenden Aufsatz zwischen bdquoGrund morphemenldquo und bdquoStrichenldquo zu unterscheiden

Im Gegensatz zu den Piktogrammen und einfachen Ideogrammen beste hen die zusammengesetzten Ideogramme sowie die Ideophonogramme aus zwei oder mehr Zeichenmorphemen sind also Polymorphe Lautent lehnungs-zeichen wieder um haben teils ein und teils mehr als ein Grund morphem je nachdem von wel cher Schriftzeichen-Basis sie entlehnt worden sind

4 Naumlhere Betrachtung der Ideophonogramm-BildungIdeophonogramme herrschen in der chinesischen Schriftzeichenbildung vor und bestimmen somit die Charakteristik der chinesischen Quadratzeichen am meisten sowie das Bewusstsein der Schriftanwender am nachhaltigsten

Zur Bildung eines Ideophonogramms fuumlr eine gesprochene Silbe werden zwei Zeichen morpheme zusammengesetzt ein Sinntraumlger und ein Laut-traumlger Das sind die beiden Zeichenmorphem(komplexe) ersten Ranges Beide muumls sen um fuumlr die Komposition verwendet werden zu koumlnnen abstra hiert wer den Der als Sinntraumlger bestimmte Komplex muss von seiner bis heri gen Lau tung frei gestellt werden um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf das Signifieacute die nen zu koumlnnen (und dabei nicht etwa dadurch zu be irren dass mit ihm zu saumltzlich eine Lautung assoziiert wird) Der als Laut traumlger bestimm te Kom plex muss von seiner Bedeutungs-Assoziation frei ge stellt wer den um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf die unge faumlhre Lau tung die nen zu koumlnnen (und nicht dadurch zu stoumlren dass er zusaumltz liche Bedeu tungs-Assoziationen hervorruft) Die In-etwa-Aussprache auf welche der Laut traumlger verweist muss natuumlrlich zur Silbe des neuen Gesamt kom ple xes des durch die Komposition

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entstandenen Ideophono gramms stimmen ndash zumindest zum Zeitpunkt der Zeichenbildung

Gelegentlich kommt es vor dass in einem Ideophonogramm nicht nur ein son dern zwei Zeichenmorpheme als Sinntraumlger zur Bedeutung des Ideo-pho no gramms beitragen Im Folgenden sei ein besonders verwickelter Fall ge schil dert der aber gut als Beispiel fuumlr diese Zeichenbildungsart dienen kann

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des sei ner seits schon ein Ideophonogramm darstellenden Vollallo morphs 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpfallo morph des Laut ent lehnungszeichens 平 piacuteng flach als Lauttraumlger

Der Sinntraumlger 言 yaacuten Wort des Ideophonogramms 評 piacuteng ein-schaumltz- ist wie erwaumlhnt selbst ein Ideophonogramm das unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund (Sinn trauml ger) und oben ein gebundenes heute unikales Allomorph eines obsole ten Zeichen-mor phems mit der Lautung Daggeryǎn (Laut traumlger) in sich birgt Der Laut-traumlger des Ideo phonogramms 評 piacuteng ein schaumltz- naumlm lich das Zeichen-morphem 平 piacuteng flach stammt ur spruumlng lich von einem Pikto gramm 平 piacuteng DaggerWasserlinse das spaumlter auf grund lautlicher Uumlber ein stim mung fuumlr die sekundaumlre Bedeutung flach laut ent lehnt wurde Fuumlr die pri maumlre Bedeutung Wasserlinse wur de dann ent zwei deutigend das Ideo pho no-gramm dagger苹 piacuteng gebildet das wie der um durch Hinzufuumlgung des Allo-morph kuumlrzels des ver alte ten Zeichen mor phems dagger艸 cǎo Gras ober-halb des Laut ent leh nungs zei chens 平 piacuteng flach zustande gekommen war Weil auch das Ideo pho nogramm dagger苹 piacuteng Wasserlinse heute wiederum ver altet ist wird gegen waumlrtig fuumlr Wasserlinse das Quadrat-zeichen 萍 piacuteng geschrie ben

Das letztentstandene Ideophonogramm 萍 piacuteng Wasser linse nun kann syn chron auf zweierlei Art aufgetrennt werden Einerseits so dass es links aus dem Allomorph kuumlrzel des Pikto gramms 水 shuǐ Was ser (Sinn-traumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Ideophono gramms dagger苹 piacuteng Wasserlinse (Lauttraumlger) besteht Andererseits laumlsst es sich ndash zu mindest rein for ma listisch ndash so ana lysieren dass das Allo morph kuumlr zel des Pikto gramms 水 shuǐ Wasser verdeutlichend hinzugefuumlgt wur de um neben dem bereits vorhandenen Sinntraumlger dagger艸 cǎo Gras einen zu saumltz lichen Hinweis auf die Bedeutung des Ideophono gramms 萍 piacuteng Was ser linse zu geben Waumlhlt man diese Sichtweise so duumlrfte man das Allo morph kuumlrzel des veralteten Zeichenmorphems dagger艸 cǎo Gras so wie

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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das Allomorph kuumlrzel des Piktogramms 水 shuǐ Wasser beide fuumlr gleich-ran gige Sinntraumlger des Ideophonogramms 萍 piacuteng Wasserlinse und das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach fuumlr den Laut traumlger halten man haumltte hier also schon bei Auftrennung ersten Ran-ges ein dreigliedriges Ideophonogramm

Das ideophonographische Verfahren bewaumlhrt sich seit langer Zeit als eine nuumltz liche Methode chinesischer Quadratzeichenbildung Mit ihr ist das vor erst letz te quadratzeichen morphologische Entwicklungs sta dium des heutigen chine sischen Schrift systems erreicht Das zeichen morphe misch-sylla bi sche Ver fahren ist seit seiner Einfuumlhrung staumlndig ausge baut worden Die aumllte sten bisher gefundenen chinesischen Schrift zeichen sind wie oben bereits an ge deutet wurde in Rinderknochen (vor al lem auf Schul ter blatt-Kno chen so genannte bdquoOrakel knochenldquo) und Schild kroumlten panzer (zur Weissagung von Jagdgluumlck u auml) eingeritzt Bereits in der Orakel kno-chen schrift machen die Ideophonogramme einen betraumlcht lichen Teil des Schriftzeichen-Bestandes aus In der Gegenwart stellen die Ideo phono-gramme bis zu 90 Prozent aller chinesischen Qua drat zei chen Doch heut-zutage ist auch diese Bildeweise zum Erliegen gekommen denn neue Qua-drat zeichen werden praktisch nicht mehr geschaffen Heute ist neben der Hin ter ein anderreihung von Qua dratzeichen zur Wie dergabe von Mehr-Silben-bdquoWoumlrternldquo (man koumlnnte von bdquoSyntax woumlrternldquo sprechen von Silben-syn tagmen welche durch eine Art Sinn-Univerbierung mehr oder minder lexi kali siert sind heute neigt man dazu in der Schriftsprache aus Paral-lelitaumlt zur Sprechsprache mehr Silben fuumlr bdquoWoumlrterldquo zu schreiben) nur noch das Ver fahren der Lautentlehnung produktiv durch dieses aller dings ver-mehrt sich ja der Quadratzeichenbestand nicht weiter Typischer weise ange-wandt wird dieses Verfahren erwaumlhntermaszligen zB wenn die Lau tungen frem der bdquoWoumlr terldquo und fremder Eigennamen ins Chinesische umzusetzen sind

41 Klassenkoumlpfe

bdquoKlassenkopfldquo ist eine rein formalistisch abstrahierte graphische Grouml szlige ohne tie feren sprachlichen Wert nach der ein Quadrat zeichen im chinesi-schen Woumlrter buch klassifiziert ist um es (vergleichbar der Reihen folge der Buch staben im Alphabet) leichter nachschlagen zu koumlnnen Im Deut-schen wird bdquoKlassen kopfldquo oft mit dem Terminus bdquoRadikalldquo wieder-gegeben In jedem Qua dratzeichen ist entweder ein Strichzug ein Zeichen-morphem oder das ganze Quadrat zeichen (wo dieses aus einem einzigen freien Klassenkopf besteht) als Klassenkopf festgelegt Theoretisch koumlnnte also jedes Zeichenmorphem als Klassenkopf festgelegt werden Saumlmt liche

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Quadrat zeichen in einer Zeichenklasse beinhalten somit einen iden tischen Zeichen bestandteil (naumlmlich den Klassenkopf oder eines seiner Allo morphe) Eine Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe bietet Abbildung 3

Abbildung 3 Erste Seite der Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe (aus Couvreur 1911 1063)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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Die Nachschlagmethode mit Klassenkoumlpfen ist aus den Kompositions-eigen schaften chinesischer Quadratzeichen heraus entwickelt wor den und diese wiederum sind am wesentlichsten durch die bei weitem zahlen-staumlrkste Zeichengattung der Ideophonogramme gepraumlgt Die uumlber wiegende Mehr heit chinesischer Quadratzeichen sind Kompositionen von Zeichen-morphemen die sich bei der Zeichenbildung als (ggf zeichen allo morphisch aus ge formte) Bestandteile wiederholen Des weite ren stellen wie erwaumlhnt Ideo phono gramme die weitaus zahlenstaumlrkste Quadrat zeichen gruppe dar Manche sinntragende Zeichenmorpheme treten dermaszligen haumlu fig auf dass sich die von ihnen mitgebildeten Quadratzeichen nach die sen Sinn traumlgern gruppieren lassen Diesen Umstand macht man sich zu nutze um Quadratzeichen in den herkoumlmmlichen chine sischen Woumlrter buumlchern nach einigen hochfrequenten Zeichenmorphemen zu ordnen Das heiszligt es werden Quadratzeichen mit demselben Zeichen mor phem (-Bestand teil) zusam men geordnet Da die meisten Quadrat zeichen mehr als ein Zeichen-morphem beinhalten wird formalistisch aus jedem mehrglied rigen Qua-drat zeichen ein bestimmtes Zeichenmorphem als fuumlr die Woumlrterbuch-Ein-rei hung maszlig geblich festgelegt Dieses Zeichen morphem bezeichnet man als bdquoKlas sen kopf (des Quadrat zeichens)ldquo Unter einem bestimmten Klassen kopf wer den Quadratzeichen weitergehend nach der Strichzahl geordnet

Aus Ideophonogrammen waumlhlen Herausgeber chinesischer Woumlrter buumlcher vor nehmlich den Sinntraumlger als Klassenkopf aus selten den Laut traumlger Die se Handhabung ist der Grund dafuumlr dass im Bewusstsein chinesi scher Schrei ber das Klassenkopf-Prinzip und das ideophonographische Prin zip eng verwoben sind und das wiederum hat uns veranlasst die Er laumlu te-rung von bdquoKlassenkoumlpfenldquo in dem Abschnitt der Ideophono gramme zu be han deln Weiters fungieren als Klassenkoumlpfe pragmatischer weise et liche kom plexere Zeichen morpheme (einschlieszlig lich solcher die ihrer seits von Ideo phono grammen abgeleitet sind) welche haumlufig als Bestand teile von Qua drat zeichen vor kommen bzw deren Bestand teile um staumlndlich zu zer glie dern waumlren Nicht zuletzt gibt es Quadrat zeichen die mit nur sehr duumlrf tigen Strichzuumlgen geschrieben werden und sich schwerlich aus ein-ander trennen lassen (zB das Quadrat zeichen 七 qī fuumlr die Zahl sie ben) Wuumlr den viele solcher Quadratzeichen als Klassen koumlpfe aufge nom men so stuumln den im Woumlrterbuch etliche Klassenkoumlpfe die nur sehr wenige Ein-traumlge unter sich vereinigen wuumlrden Aus derartigen Quadrat zeichen wird des wegen oft ein einziger Strichzug zum Klassenkopf erklaumlrt auch wenn die unter ihm zusammen sortierten bdquoStrichzug-Klassen koumlpfeldquo zeichen-etymo logisch nichts miteinander gemein haben moumlgen (zB steht der

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Strich zug aus dem das freie Zeichen morphem 一 yī eins besteht als Klassen kopf auch fuumlr das Quadratzeichen 七 qī sieben) Die Anzahl der Klassen koumlpfe belaumluft sich heute auf rund 200 Zahlschwankungen sind dar auf zu ruumlck zu fuumlh ren dass zwischen den einzelnen Woumlrterbuch-Herausgebern Mei nungs ver schie den heiten daruumlber herrschen ob einige Strich zuuml ge Strichzug kom plexe oder gar Zeichen morpheme als Klassen-koumlpfe auf zu nehmen seien

42 Laut-Morphem-Entsprechungen in Ideophonogrammen

Waumlhrend die Formen der chinesischen Quadratzeichen seit knapp 2000 Jah ren verhaumlltnismaumlszligig stabil geblieben sind haben sich im Laufe der Zeit Gebrauch und Aus sprache der Silben stark veraumlndert Wenn sich die Laut bilder einer seits eines Ideophono gramms und andrerseits seines als freies Quadrat zeichen auftretenden Lauttraumlgers allmaumlhlich aus einander ent-wickel ten dann hatte das zur unausbleiblichen Folge dass der Lauttraumlger die Lau tung des von ihm mitgebildeten Komplexes (naumlmlich den Lautwert der Silbe des Ideo phono gramms) mit der Zeit immer ungenauer wieder gibt Das laumlsst sich mit der allmaumlhlichen Auseinanderentwicklung von Schrei-bung und Lau tung auch in Kultursprachen mit Alphabetschriften (wie Fran zouml sisch oder in viel geringerem Maszlige Deutsch) vergleichen

Gilt es die Laut-Morphem-Entsprechung in Ideophonogrammen zu be ur-teilen so sollte man folgende zwei Aspekte in Betracht ziehen erstens ob das Ideo phonogramm und sein Lauttraumlger wenn er in freier Stellung als Qua drat zeichen auftritt homo(io)phon seien und zwei tens ob alle Ideo-phono gramme die das gleiche Zeichenmorphem als Laut traumlger auf weisen ho mo(io)phon seien

Die folgenden Beispiele bilden einige Fallgruppen die grob nach diesen zwei Kri terien sortiert sind Geordnet sind sie hier letztlich nach der Komplexi-taumlt ihrer phonetischen Verhaumlltnisse

(38) Freies Zeichenmorphem 皇 huaacuteng Kaiser als Lauttraumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon徨 huaacuteng unsicher 煌 huaacuteng glaumlnzend 蝗 huaacuteng Heu-schrecke 凰 huaacuteng Phoumlnix 遑 huaacuteng geschweige denn 隍 huaacuteng Graben 湟 huaacuteng Sumpf 惶 huaacuteng aumlngst-lich

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(39) Freies Zeichenmorphem 番 fān barbarisch als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

翻 fān umwaumllz- 幡 fān schmale haumlngende Fahne 旛 fān Wim pel 蕃 fān exotisch

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon藩 faacuten Zaun

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon播 bograve streu-

(40) Freies Zeichenmorphem 青 qīng dunkelgruumln hellblau als Laut-traumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon清 qīng deutlich 蜻 qīng Wasserjungfer 鯖 qīng Ma krele

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon情 qiacuteng Gefuumlhl 晴 qiacuteng klar (in bezug auf Wetter)

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon請 qǐng bitt-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend精 jīng Extrakt Essenz 菁 jīng Quintessenz 睛 jīng Au ge

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend靖 jigraveng befried-

(41) Freies Zeichenmorphem 需 xū brauch- als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend

儒 ruacute Gelehrte(r) 蠕 ruacute sich schlaumlngel- 孺 ruacute Klein kind 濡 ruacute ein tauch- 嚅 ruacute murmel-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon懦 nuograve feige 糯 nuograve Klebreis

(42) Freies Zeichenmorphem 台 taacutei Podest als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

抬 taacutei aufheb- 跆 taacutei trampel- 邰 taacutei ein bestimmter Nach-name 颱 taacutei Taifun

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon苔 tāi Moos 胎 tāi Foumltus

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c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend怠 dagravei faulenz- 殆 dagravei gefaumlhrlich 迨 dagravei bis

d Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt笞 chī peitsch-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon怡 yiacute froumlhlich 貽 yiacute hinterlass- 飴 yiacute Konfekt

f Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon冶 yě schmied-

g Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon治 zhigrave verwalt-

(43) Freies Zeichenmorphem 出 chū her-hinaus als Laut trauml ger ge bunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon絀 chugrave unterlegen 黜 chugrave amtsentheb-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend und mit aumlhn li-chem An glitt屈 qū beug-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt拙 zhuoacute ungeschickt 茁 zhuoacute gedeih-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon咄 duograve ein bestimmtes lautmalerisches Wort

(44) Freies Zeichenmorphem 且 qǐe und als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit demselben Anglitt

蛆 qū Made b Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt und

demselben Ton狙 jū einen Anschlag veruumlb-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt齟 jǔ sich streit- 沮 jǔ niedergeschlagen 咀 jǔ kau-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon租 zū miet-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon阻 zǔ hinder- 祖 zǔ Ahn 俎 zǔ Schneidbrett 詛 zǔ ver fluch‑ 組 zǔ Satz (bei Maszligangaben)

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In den obigen Beispielen liegt das Augenmerk darauf welches lautliche Ver haumllt nis zwischen einem Ideophonogramm und seinem Lauttraumlger wenn er frei vorkommt besteht In aumlhnlicher Weise koumlnnte man das Hauptaugen merk dar auf legen in welchem Verhaumlltnis die Lautungen aller Ideophono gram me wel che ein und denselben Lauttraumlger nutzen zueinander stehen

In unseren Beispielreihen sind saumlmtliche Ideophonogramme einer durch Buch staben gekennzeichneten Reihe homophon und weisen den glei-chen Lauttraumlger auf so ist zum Beispiel bei (42) die Lautung saumlmt li cher Ideo phonogramme in Reihe a taacutei in b tāi in c dagravei in d chī in e yiacute in f yě und in g zhigrave Die Ideophonogramme mit dem sel ben laut-tragenden Zeichenmorphem in a taacutei und b tāi sind homoio phon Die Ideo phonogramme in a taacutei und b tāi reimen sich mit denen in c dagravei und besitzen zumindest aumlhnliche Anglitte (t und d) Die Ideo phono-gramme in d chī e yiacute und g zhigrave reimen miteinander Die Quadrat-zeichen in e yiacute und f yě teilen den gleichen Anglitt y waumlh rend der Anglitt in d ch dem in g zh aumlhnelt (bis auf [aspiriert] in al len phono-logischen Merkmalen gleich)

Augenscheinlich lassen sich die Ideophonogramme mit dem freien Zei chen-morphem 台 taacutei Podest (46) in zwei Gruppen unter gliedern Diejenigen in a taacutei b tāi und c dagravei weisen denselben Reim ai untereinander und mit dem frei auftretenden Lauttraumlger taacutei auf waumlhrend sich die Anglitte t und d (in IPA [t ] und [t]) lediglich in dem phonologischen Merkmal [aspi-riert] unter scheiden Dementgegen zeigen die Ideophonogramme in d chī e yiacute f yě und g zhigrave entweder denselben Reim i oder den gleichen bzw einen aumlhnlichen Anglitt (y bzw ch und zh) weder der Reim i noch die An glitte y ch oder zh klingen nach dem frei vorkommenden Laut-traumlger taacutei Wahrscheinlich ist das laut tragende Zeichenmorphem 台 taacutei Po dest durch einen Zusammenfall (Synkretismus) von zwei zeichen etymo-logisch verschiedenen Zeichenmorphemen zustande gekommen oder aus zwei urspruumlnglich geschiedenen Zeichenmorphemen kon tami niert Auch ist denkbar dass die Lautung des freien Zeichen morphems durch Fremd-einfluss (Fremd lautung oder Uumlber nahme mundartlicher Faumlrbung) oder aus einem uns heute verdunkelten historischen Grund veraumlndert wurde Die von ihm abgeleiteten Lauttraumlger waumlren dann zu unter schiedlichen Zei ten (und entsprechend mit unterschiedlicher Lautung) in Ideophono gram me ein gebaut worden

Aus den obengenannten Beispielen laumlsst sich ersehen dass nicht jeder Lauttraumlger einen zuverlaumlssigen Hinweis auf den Lautwert seines Ideo-

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phono gramms gibt Die Zuverlaumlssigkeit mit der ein laut tragendes Zeichen-morphem an einer bestimmten Lautung (oder einem Lautungs buumlndel) verankert werden kann ndash und umgekehrt ndash ist abhaumlngig ua von a) der Anzahl der Ideophonogramme die den gleichen Lauttraumlger aus weisen und phonetisch miteinander uumlbereinstimmen und b) der Haumlufig keit mit der diese Ideophonogramme im Gebrauch vorkommen und damit als Induk-tions basis fuumlr den Anwender dienen koumlnnen

Beispiels weise weisen die Ideophonogramme 提 tiacute heb- bring- erwaumlhn- auf werf- und 堤 tiacute Damm die sehr haumlufig gebraucht werden den gleichen Laut traumlger 是 shigrave sei- auf Daraus ziehen Lerner und Benutzer chine sischer Quadrat zeichen den vorlaumlufigen Schluss dass Ideophono-gramme die den Laut traumlger 是 shigrave sei- enthalten ungefaumlhr mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden sollten ndash obgleich die Lauttraumlger lautung mit der freien Lautung nur im Silbengipfel (hingegen weder im Anglitt noch im Tone) uumlberein stimmt in seiner Eigenschaft als Lauttraumlger haftet dem Zeichen morphem somit eine andere Lautung an als dort wo es frei auf tritt Diese Schluss folgerung finden Quadrat zeichen benutzer bestaumltigt wenn sie seltenere Ideophono gramme wie 醍 tiacute Butter fett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln und 禔 tiacute Gluumlck kennenlernen Stoszligen sie dann auf die ihnen womoumlglich gaumlnzlich (also auch in der Lautung) unbe-kannten Tier namen 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel so sprechen sie beim Vorlesen die fuumlr sie offenkundig als Ideophono gramme erkenn-baren Quadrat zeichen in Analogie ebenfalls mit der Silbe tiacute aus und in diesem Falle stimmt diese Leseaussprache auch Sehen sie nun aber ein anderes ihnen unbekanntes fuumlr sie nicht minder offensichtlich als Ideo-phono gramm zu deutendes Quadratzeichen 湜 shiacute rein (in bezug auf Was ser) so ordnen sie wiederum in Analogie zur oben geschil derten Erfah rung dem Ideophonogramm gleichermaszligen die Silbe tiacute zu ndash dies-mal aber irriger weise denn im Gegensatz zu dem uumlblichen Muster wonach die den Lauttraumlger 是 enthaltenden Ideophonogramme immer mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden bezieht das Ideophono gramm 湜 shiacute rein (in bezug auf Wasser) ungewoumlhnlicherweise seine Lautung unmittelbar aus dem Lautwert des freien Quadratzeichens 是 shigrave sei- wird folglich zu diesem homoiophon mit der Silbe shiacute ausgesprochen

Zu Verwirrungen kann es nicht nur innerhalb der Kategorie der Ideo phono-gramme kommen sondern es geschieht weil ja im Chinesi schen die Ideo-phono gramme dermaszligen vorherrschend sind gelegentlich auch dass ein Leser zusammengesetzte Ideogramme deren Quadratzeichen er noch nicht kennt als Ideophono gramme missdeutet In solchen Faumlllen kann zweier lei

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geschehen Entweder laumlsst der Leser sich vom bdquoPseudo-Lauttraumlgerldquo der maszligen beeinflussen dass er dem ihm unbekannten Quadrat zeichen als Leseaussprache sekundaumlr eine Lautung beimisst welche er mit dem Pseudo-Lauttraumlger verbindet oder aber ndash und das duumlrfte bedeu tend seltener geschehen ndash erkundigt sich der Leser uumlber die sprech sprach lich richtige Lautung des Quadratzeichens und ordnet in seinem Bewusst sein dem Lautungs buumlndel des Pseudo-Lauttraumlgers dann zusaumltzlich diese neue Lautung zu

5 Zur Kombinatorik von ZeichenmorphemenDie uumlberwiegende Mehrheit der chinesischen Quadratzeichen ist durch Kompo si tion von zwei oder mehr Zeichenmorphemen entstanden Aller-dings sind die Zei chen morpheme eines Quadratzeichens im Schreibquadrat nicht willkuumlrlich son dern nach gewissen zeichenmorphotaktischen Regeln platziert

Die kombinatorischen Eigenschaften eines Zeichenmorphems wo es als Kom posi tions glied im Quadratzeichen auftritt sind von zwei Fakto ren ab haumlngig erstens ob das Zeichenmorphem nur gebunden oder aber auch frei vorkommt und zweitens ob das Zeichenmorphem als Bestand teil eines Qua drat zeichens immer ein und dieselbe Position inner halb des Schreib-qua drates einnimmt (stellungsstarr) oder aber an mehreren Posi tionen vor-kommen kann (mehr-Stellungs-faumlhig)

Ein Zeichenmorphem welches nur gebunden als Kompositionsglied im Qua drat zeichen genutzt werden kann ist in aller Regel stellungsstarr Betrachten wir nachfolgend zunaumlchst diese Faumllle nur-gebundener Allo-morphe

(45) Ehemals freies Piktogramm dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette kommt heut zutage nur mehr gebunden vor und ist stellungs starr

a immer am linken und zugleich oberen Quadratzeichenrande wie in 疾 病 瘋 癲 疲 疼 痛 疚 疤 痕 痊 癒 癱 瘓 瘦 疫 療 癮

(46) Ehemals freies Piktogramm dagger卩 daggerjieacute Daggerknieendersitzender Mensch kommt heutzutage nur mehr gebunden vor und ist stellungsstarr

a immer auf der rechten Seite im Quadratzeichen wie in 卯 印 即 卲 卸 卹 卻

Sofern ein Zeichenmorphem auch als eigenstaumlndiges Quadrat zeichen (in Ge stalt eines Vollallomorphs) vorkommt haumlngt seine Stellungs frei heit inner halb des Schreibquadrates davon ab welcher Allomorphart es ange-

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houmlrt den Schrumpfallomorphen oder den Allomorphkuumlrzeln In der Regel nimmt ein Allomorph kuumlrzel nur eine einzige Stelle im Schreib qua drat ein ist also stellungsstarr waumlhrend sich ein Schrumpfallomorph nicht auf eine feste Positio nierung beschraumlnken muss (allenfalls kann) mithin poten ziell mehr-Stellungs-faumlhig ist Das ist der Grund dafuumlr warum die Zeichen morphem gattung bdquoAllomorph kuumlrzelldquo im Bewusstsein chinesi scher Schreiber eine besondere Rolle spielt Nachfolgend fuumlhren wir Bei spiele fuumlr die Platzierung von Schrumpf allomorphen und Allomorph kuumlrzeln im Qua dratfeld an

(47) Piktogramm 山 shān Berg kommt auch frei als Vollallomorph vor so wie als

a Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 屹 崎 嶇 峽 嶼

b Schrumpfallomorph an der Oberkante des Quadratzeichens wie in 嶺 崇 岸 崗

c Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 岡 巒 岳 岔 島

d Schrumpfallomorph auf der rechten Seite im Quadratzeichen (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 訕 汕 疝

(48) Piktogramm 手 shǒu Hand kommt auch frei als Vollallomorph vor sowie als

a Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 摩 拳 拿 掌 擎 摯 擊 攀

b Schrumpfallomorph auf der linken und rechten Seite (im Rahmen der seltenen Komposition aus drei gleichrangigen Gliedern) des Quadratzeichens 掰

c Schrumpfallomorph in der Quadratzeichenmitte und dabei oben so wie beidseits uumlberragt wie in 承

d Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 拜 welches rechts mit einem nur-gebundenen unikalen Allo morph be stuumlckt ist das seinerseits wiederum ur spruumlng lich ebenfalls von dem Pikto gramm 手 shǒu Hand abge leitet ist

e Allomorphkuumlrzel (stellungsstarr) zeichenmorphotaktisch nur im mer am linken Quadratzeichenrande wie in 打 扒 扔 扣 扛 拖 抖 扯 把 抓 攪 拌 捕 捉 握 抽 抵 押

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Die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommen den Zeichen-morphem dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette zusammen gesetzter Qua drat-zeichen sind etwa 病 Krankheit 瘋 verruumlckt 疲 muumlde 痛 Schmerz 疤 Nar be 癒 verheil- 癮 Sucht die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommenden Zeichenmorphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersit zen der Mensch sind zB 印 Stempel 即 sofort 卸 entlad- 卹 troumlst- 卻 hingegen die Bedeutungen solcher Quadrat zeichen mit dem auch frei vorkom menden Zeichen morphem 山 shān Berg sind bei spiels-weise 崎 felsig 峽 Tal 嶼 Inselchen 嶺 Gebirgs zug 岸 Ufer 岳 ho her Berg 島 Insel und Qua drat zeichen mit dem auch frei vor kom-menden Zeichen morphem 手 shǒu Hand koumlnnen folgendes be deuten 拜 anbet- 摩 mit der Hand reib- 拳 Faust 拿 hol- 打 schlag- 捉 einfang-Was Ideophonogramme anlangt kann man meistens aus ihren Kompo si-tions struk turen und den Eigenschaften des Zeichenmorphems schlie szligen ob ein als Kompositionsglied genutztes Zeichenmorphem der Sinn- oder aber der Lauttraumlger eines Ideophonogramms sei Diesbezuumlglich ver su chen wir im Fol genden einige brauchbare Richtlinien aufzustellen und diese an hand der oben aufgelisteten Beispiele zu erlaumlutern Zu beachten ist dass nicht alle Quadrat zeichen in (45) (46) (47) und (48) Ideo phonogramme sind Die Er laumluterung bezieht sich ausschlieszliglich auf die ideo phonographi schen unter den angegebenen Quadratzeichen Saumlmtliche Quadratzeichen in (45) (47) a b und d sowie (48) e stellen Ideophono gram me dar In (46) sind zB folgende Quadratzeichen Ideophonogramme 即 卲 卹 in (47) c 巒 島 und in (48) a 摩 擎 摯

Richtlinie 1 Bei bestimmten Kompositionsstrukturen finden sich der Sinn- und der Lauttraumlger jeweils in bestimmten Stellungen In Ideophono-gram men in denen ein Kompositionsglied das andere (teilweise) um saumlumt (bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition) nimmt der Sinntraumlger die Auszligen- und der Laut traumlger die Innen stellung ein wie in (45) In ideophonogra phi schen Kom posita in denen die Kompositionsglieder senkrecht voneinander zu tren nen sind (bdquoLinksrechtsldquo-Komposition) befinden sich der Sinn traumlger links und der Laut traumlger rechts wie in (47) a und d sowie in (48) e Bei Ideo phono grammen in denen die Kompositionsglieder waage recht von-ein ander zu trennen sind (bdquoObenuntenldquo-Komposition) haumlngt die Unter-brin gung der sinn- und lauttragenden Zeichenmorpheme weniger von ab strakt beschreibbaren Regeln ab sondern sie bdquoklebtldquo eher am einzel nen Zeichen morphem In solchen Faumlllen muss man gewissermaszligen zu jedem Zeichen morphem ein Buumlndel Zusatzeigenschaften kennen zu denen auch

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die eben erwaumlhnte Po sitio nierung im Zeichen quadrat bei bdquoObenuntenldquo-Kom position gehoumlrt (vgl (47) b und c sowie (48) a)

Richtlinie 2 Es gibt eine beschraumlnkte Anzahl haumlufig gebrauchter Zei-chen mor pheme die ausschlieszliglich oder uumlberwiegend nur einer der bei den Funktionen (Sinn- oder Lauttraumlger) dient Beispielsweise handelt es sich in (45) (46) und (48) um Zeichen morpheme die aus schlieszlig lich als Sinn traumlger erscheinen In (47) tritt das Zeichen morphem 山 shān Berg ungleich haumlufiger als Sinn- (wie in (47) a b und c) denn als Laut traumlger (wie in (47) d) auf nicht zuletzt ist es in seiner selteneren Funktion als Laut traumlger aus schlieszliglich auf der rechten Seite im Schreib quadrat auszumachen (wie in (47) d) wobei noch dazu seine Kompositionspartner auf der linken Seite alle samt gebraumluchliche Sinntraumlger sind und somit die obengenannte Stel-lungs regel bei der bdquoLinksrechtsldquo-Komposition eingehalten wird

Richtlinie 3 Stellungsstarre Kompositionsglieder seien es Allomorph kuumlr-zel wie in (48) e oder nur-gebundene Zeichenmorpheme wie in (45) und (46) dienen in ideophonographischen Quadratzeichen in aller Regel als Sinn traumlger In (46) bestehen die Ideophonogramme aus zwei Kom posi tions-gliedern jeweils einem auf der linken und einem auf der rechten Seite Nach Richtlinie 1 sollte ein Leser den linken Bestandteil als Sinn traumlger und den rechten als Laut traumlger deuten koumlnnen Nun werden bei den Ideo phono gram-men in (46) allerdings die jeweils linken Zeichen morpheme erstens selten als Kompositions glieder in Quadrat zeichen eingesetzt und zweitens falls doch dann sind sie fast nie Sinn traumlger Dem gegen uumlber stellt das stellungs-starre Zeichen morphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersitzender Mensch das stets die rechte Stel lung einnimmt einen gebraumluchlichen Sinn traumlger dar der erfah rene LeserSchreiber hat bei diesem (und anderen) Zeichen also nicht nur die Form sondern zugleich auch etwaige an dieser Form bdquoklebendeldquo Eigen schaften wie bdquoSinn traumlgerldquo und bdquoStellung inner halb des Quadrat feldesldquo ver inner licht Diese Kenntnisse fuumlhren ihn dann zur Schluss folge rung dass die Ideo phono gramme in (46) so komponiert worden seien dass ndash im Gegensatz zur gewoumlhnlichen Positionierung ndash der Sinn traumlger auf der rechten Seite und der Lauttraumlger auf der linken Seite stehe

Wenn sie die obengenannten Richtlinien verinnerlicht haben nehmen Lerner und Benutzer chinesischer Schriftzeichen nur selten das sehr haumlu-fige Quadrat zeichen 題 tiacute Aufgabe als Ideophonogramm wahr Zeichen-etymolo gisch betrachtet besteht dieses Quadratzeichen naumlmlich rechtsinnen aus dem Schrumpf allomorph des Laut entlehnungs zeichens 頁 yegrave Seite als Sinn traumlger und linksauszligen aus dem Allomorph des zu sam men-gesetz ten Ideo gramms 是 shigrave sei- als Lauttraumlger Warum aber erkennt

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man diesen ideophonographischen Aufbau von 題 tiacute Aufgabe nun aber meist nicht Das Zeichen mor phem 是 shigrave sei- tritt als Laut traumlger in aller Regel auf der rechten Seite von Ideo phono grammen mit bdquoLinksrechtsldquo-Komposition auf diese Eigen schaft des Zeichen mor phems laumlsst sich aus etlichen Beispielen indu zieren 提 tiacute heb- 堤 tiacute Damm 醍 tiacute Butterfett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln 禔 tiacute Gluumlck 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel Aller dings im Qudratzeichen 題 tiacute Aufgabe steht 是 shigrave einzig artiger weise auf der linken Seite obgleich es in dieser Kom position gleicher maszligen Laut traumlger ist auf faumllligerweise wird zu dem der untere Strich des Allo morphs von 是 shigrave sei- nach rechts unten weitergezogen Dieser weiter gezogene Strich veranlasst den Leser das Quadratzeichen 題 tiacute Auf gabe nicht mehr als bdquoLinksrechtsldquo-Komposition sondern eher als eine (auch anderweitig uumlbliche) bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition zu erachten und da mit ist das Allo morph des Zeichen-morphems 是 shigrave sei- als aumlu szligerer Bestand teil und das Schrumpf allo morph des Zeichen morphems 頁 yegrave Sei te als innerer Bestandteil zu wer ten Wie oben erlaumlutert dient bei Ideo phono grammen mit solcher bdquoAu szligenin nenldquo-Komposition in der Regel das aumluszligere Zeichen morphem (hier 是 shigrave sei-) als Sinn- und das innere (hier 頁 yegrave Seite) als Lauttraumlger Im Qua-drat zeichen 題 tiacute Auf gabe in des sen ist es gerade umgekehrt denn hier nimmt der Laut traumlger die sonst fuumlr den Sinn traumlger uumlbliche Stellung ein und umgekehrt Deshalb wertet der Leser wie erwaumlhnt dieses Quadrat-zeichen schwer lich als Ideo phono gramm son dern nimmt es einfach als Ein heit hin ohne es zu ana lysieren Dieser Ver zicht des Anwenders sich den ideophonographischen Zeichenaufbau zu ver durch sich ti gen liegt umso naumlher als es sich beim Ideophonogramm 題 tiacute Auf gabe um ein uumlber-aus gelaumlufiges Qua drat zeichen handelt sehr gelaumlufige sprachliche Grouml szligen idiomatisiert man bekanntlich schneller und nimmt sie dann eher als gege-bene Einheiten wahr ohne dass man das Beduumlrfnis hegte sich ihren Auf-bau bei jedem Auftreten neu zu vergegenwaumlrtigen

6 Mehr-Zeichen-Komposita und chinesische TexteJedes chinesische Einzelschriftzeichen wird unabhaumlngig von der Zahl sei-ner Bestand teile (Zeichen morpheme) und Strichzuumlge zu einem theore tisch gleich groszligen quadratischen Block gestaltet Anlaumlsslich dieser Eigen schaft wird es im vorliegenden Beitrag ein gaumlngig bdquoQuadrat zeichenldquo genannt Die Rege lung dass alle Quadrat zeichen theoretisch ein gleichgroszliges Feld aus fuumlllen wird beim Drucken und beim Lernen streng eingehalten Diese Diszi plinie rung scheint trivial zu sein sie ist fuumlr die Aufrecht erhaltung der

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Funktions weise der chinesischen Schrift jedoch von nicht zu unter schaumlt-zender Bedeutung Dadurch dass alle Zeichen morpheme eines zusammen-gesetz ten Schrift zeichens in einem gedachten Quadrat bestimmter Groumlszlige ange ordnet werden vermeidet man dass seine Bestandteile gra phisch aus-ein ander fallen

61 Schriftliche Wiedergabe lexikalischer mehrsilbiger Komposita

In klassischen chinesischen Texten steht jedes Quadratzeichen fuumlr einen Be griff Etliche Quadratzeichen repraumlsentieren als Homographe meh rere Bedeu tungen also mehrere bdquoWoumlrterldquo (meist Homonyme) Je nach Kon text wird die angemessenste Bedeutung dahinter verstanden Um diese Mehr-deutigkeit zu mindern wurden zuerst neue Quadrat zeichen konstruiert welche die Begriffe eindeutiger abbilden konnten Wohl gemerkt ein Qua-drat zeichen obgleich (heute) mit einer Silbe ausgesprochen bildete zunaumlchst nicht unbe dingt eine einzige Silbe ab sondern stand damals noch fuumlr ein Abbild des Inhalts fuumlr einen Begriff der Inhaltsseite welcher ausdrucks-seitig durch passende bdquoWoumlrterldquo (Einsilbler oder Silben syntagmen) ausge-druumlckt werden konnte Nach und nach hielt das Tempo der Quadrat zeichen-bildung nicht mehr mit der sprunghaften Vermehrung neuer bdquoWoumlrterldquo Schritt auch wuumlrden zu viele Ein-Begriff-ein-Quadratzeichen-Entspre-chun gen zu Lasten des Gedaumlchtnisses gehen Aus diesem Grund haben sich Gelehrte auf die feste Hinterein ander reihung mehrerer Quadrat zeichen verlegt ndash und jedes dieser Quadrat zeichen entsprach dann nur noch einer ein zigen Silbe Mehr silbige bdquoWoumlrterldquo konnten und mussten nun also mit einer ihrer Silben zahl entsprechenden Reihe von Quadratzeichen geschrie-ben werden Durch den rekursiven Einsatz vorhandener Quadratzeichen lassen sich so nahe zu unbegrenzt neue Einheiten bilden ohne dass man den Bestand der Quadrat zeichen weiter erhoumlhen muumlsste Als Ergebnis ent-stehen Mehr-Zeichen-Komposita aus zwei drei oder mehr Quadratzeichen Im der deutschen Wortbildung lassen sich mehrgliedrige Komposita (und Mehrfach-Ableitungen) vergleichen

Da zu Anfang als die Schrift noch bildhafter war und eher Begriff lichkeiten denn Lautwoumlrter ausdruumlckte und jedes Zeichen einen Begriff dar stellte (hinter dem sich mehrere Sprechwoumlrter vereinen lieszligen) war keine begren-zende Leere zwischen Quadratzeichen in einer Zeile noumltig Auch als spaumlter die genann ten Mehr-Zeichen-Komposita ent standen blieb dieser Zu stand un veraumlndert So gibt es auch heute beim Schreiben keine Markie rung zwi-schen lexikalischen Einheiten zwischen enger und weniger eng Zu sammen-gehoumlren dem Jedes Quadrat zeichen ist vom anderen gleich weit ent fernt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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gleich ob ein zwei oder mehr Quadrat zeichen zu einem lexika lischen Kom positum zusammengehoumlren Bis auf Anfuumlhrungszeichen fuumlr bdquoneueldquo bzw erklaumlrungsbeduumlrftige bdquoWoumlrterldquo wird auch niemals ein Binde strich oder ein entspre chendes Verdeutlichungs zeichen angewandt welches die Zusammen gehoumlrigkeit eines Mehr-Zeichen-Kompositums kenn zeichnen wuumlrde

62 Interpunktion im chinesischen Text

Die Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen stellt nicht die einzige Schwierig keit beim Lesen klassischer Texte dar Sind schon die Wort gren-zen nicht markiert (und damit zB die haumlufigen Mehr-Zeichen-Komposita nicht als zusammengehoumlrig kennzeichenbar) so gilt dasselbe in klassi schen Tex ten obendrein fuumlr die Grenzen zwischen Saumltzen Des weiteren wurden klassi sche Schriftwerke wohl schon wegen des teuren Schreib materials in einer sprachlich sehr gedraumlngten Form (einer Art bdquoTelegramm stilldquo) verfasst die sich uns heute ohne Kenntnis der damaligen Umstaumlnde heraus nicht mehr von selbst erklaumlrt Daruumlber hinaus gibt es im Chinesischen als isolie-render Sprache kein Kasussystem welches die Rolle der Satz glieder unter-stuumltzend anzeigen koumlnnte Waumlhrend in der heutigen Schriftsprache (in Ent sprechung zur Sprechsprache) wenig Spielraum hinsichtlich dessen herrscht in welcher Folge man Quadratzeichen im Satz anordnen kann kennt die klassische Schreibung kaum Regeln fuumlr die Anordnung der Qua-drat zeichen die schriftliche Fixie rung des Sinnes ist sehr unscharf und da durch sind viele und oft genug stark unterschiedliche Aus legun gen moumlg-lich bzw noumltig fuumlr alle bdquoWort artenldquo ist theoretisch die syntaktische Rolle in einem Satz jederzeit austauschbar Je nach Interpretationsbedarf werden die passendste Bedeutung und Anwendung gewaumlhltDie Sinn-Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen der Mangel an Wort-grenzen Satzzeichen und Kasus die relativ freie Quadratzeichen=bdquoWortldquo-Stel lung sowie die spaumlrliche Schreibweise ndash und nicht zuletzt auch der im Laufe der Zeit eingetretene Sprachwandel in der Sprech sprache ndash er schweren chinesischen Gelehrten die Ausdeutung klassischer Texte seit Ge nera tionen Der Volksmund nimmt diesen Umstand mit folgender Geschichte aufs Korn Es war einmal ein Mann der als es heftig regnete bei einem Besuch im Hause seines Gastgebers dort auch fuumlr die Nacht unterkam Der Regen indes dauerte und dauerte an so wohnte der Besucher Tag um Tag weiter in dem gastfreien Hause Aus Houmlflichkeit wollte der Gastgeber seinem Besu-

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder

125

cher nicht von Angesicht zu Angesicht mitteilen dass er jetzt langsam denn doch nach Hause zuruumlckkehren sollte also klebte er einen Zettel an die Zimmertuumlr des klettigen Gastes Darauf stand

(49) 下雨天留客天留我不留

a 下 xiagrave herabfall- b 雨 yǔ Regen c 天 tiān Himmel Tag d 留 liuacute (jemanden) halt- e 客 kegrave Besucher f 我 wǒ Pronomen der 1 Person g 不 bugrave nicht bu eine Fragepartikel

Der Gastgeber wollte damit ausdruumlcken

(50) 下雨天留客天留我不留

Es regnet Der Himmel haumllt den Besucher [hier bei mir fest] Der Himmel will [dich] halten ich [aber] nicht

Allerdings hatte der kleine Text (49) klassischerweise keine Interpunktion Der gewitzte Besucher indes fuumlgte eine solche auf folgende Weise hin zu

(51) 下雨天留客天留我不留

Tage an denen es regnet [sind] Tage da der Besucher [im Hau se] behalten [werden sollte] [Sollst du als Gastgeber] mich hal ten oder nicht Jawohl [eigentlich Halten]

Das Quadratzeichen 天 tiān Himmel hat weitere Bedeutungen wie Tag Wet ter und Gott Das Quadrat zeichen 留 liuacute fuumlr das Verb halt- laumlsst sich intran sitiv im Sinne von bleib- verwenden Selbst das Quadrat-zeichen 不 bugrave fuumlr die Ver neinungs partikel nicht findet Anwendung auch als Frage partikel wobei dann beim Sprechen die Silbe nebentonig wird Es ist (vor allem im klassischen Text) nicht erforderlich dass alle Satz glieder wie syntak tisches Subjekt oder Objekt eines Satzes ausgedruumlckt werden Hat sie der Textver fasser nicht hingeschrieben so muss sie der Text leser selbst aus dem Kon text erschlieszligen Je nach Hintergrund oder Bedarf ergeben sich unterschiedliche ggf widerspruumlchliche Inter pretationen des-selben Tex tes

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

63 Laufrichtungen von Quadratzeichenfolgen und Textzeilen

Die Schreibrichtung der chinesischen Quadratzeichen ist traditionell in der Regel senkrecht von oben nach unten und die so entstehenden senkrechten Zeilen sind von rechts nach links angeordnet Seit ca 100 Jahren werden chine sische Texte neben der althergebrachten Schreibrichtung auch in Zeilen von links nach rechts und mit von oben nach unten angeordneten Zeilen geschrieben ndash wie in europaumlischen Buumlchern

Dank der Tatsache dass wegen der Form der Quadratzeichen die Zei-chen eines Textes wie die Kaumlstchen in einem Kreuzwortraumltsel angeord net sind sind bei einem chinesischen geschriebenen Text etliche spieleri sche Lesun gen und Schreibungen moumlglich Solche Spielereien sind bei Chine-sen traditionell uumlblich daher sei ihrer hier erwaumlhnt Nicht nur die Zei-chen an Zeilen anfaumlngen oder Zeilenenden sondern auch zB die jeweils sieben ten Quadrat zeichen aller Zeilen stehen in einer Flucht Sie bilden also quer durch die Zeilen laufende bdquo(Diagonal-)Spaltenldquo Das graphische bdquoAkro syllabonldquo dehnt sich uumlber den ganzen Text hin aus Man kann darin die Leserichtungen wechseln oder geometrische Figuren oder auch Endlos schleifen konstruieren So lassen sich beispielsweise auch die fuumlnf Quadrat zeichen in (52) spielerisch dergestalt niederschreiben dass sie in der ange gebenen Abfolge einen Kreis bilden der ndash das legen wir fest ndash im Uhrzeigersinn gelesen wird

(52) 清 心 也 可 以

a 清 qīng reinig- b 心 xīng Geist c 也 yě auch eine Bestaumltigungspartikel d 可 kě koumlnn- e 以 yǐ mittels eine Art Modalpartikel

Wieder dank der Mehrdeutigkeit und der vielfachen Anwendbarkeit kann jedes Quadratzeichen an den Anfang eines Satzes zu stehen kommen

(53) Die fuumlnf moumlglichen Lesarten der Kette aus fuumlnf Quadratzeichen in (52) sind somit folgende (die syntaktischen Komplexe sind durch zusaumltzliche Binde striche verdeutlichend getrennt)

a 清心也可以 (清心-也-可以) Den Geist zu reinigen [ist hiermit] eben falls moumlglich

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder126

b 心也可以清 (心也-可以-清) Der Geist ndash [er] ebenfalls ndash kann [hier-mit] gereinigt werden

c 也可以清心 (也-可以-清心) Ebenfalls kann [hiermit] der Geist ge rei nigt werden

d 可以清心也 (可以-清心-也) [Hiermit] kann der Geist gereinigt wer den jawohl

e 以清心也可 (以-清心-也可) [Hier]mit den Geist zu reinigen [ist] eben falls moumlglich

Das bdquoWortldquo 可以 in den ersten vier Saumltzen bedeutet koumlnn- wobei das Qua-drat zeichen 以 yǐ als rhythmische Partikel keinen Beitrag zur Bedeu tung leistet Das Quadrat zeichen 也 yě im vierten Satz ist ledig lich eine Bestaumlti-gungs partikel wenn es in klassischen Texten am Satz ende hin zuge fuumlgt wird Dieser etwas spielerische volkstuumlmliche Spruch findet sich auf einer chine sischen Teekanne Mit ihm ist gemeint dass guter Tee nicht nur den Durst stille sondern auch den Geist reinige

127Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder128

7 SchrifttumBlakney Raymond B (1948) A course in the analysis of chinese cha rac-ters Peiping The College of Chinese StudiesCouvreur Seacuteraphin (31911) Dictionnaire classique de la langue chinoise Zhili Ho Kien FouFazzioli Edoardo (2003) Gemalte Woumlrter 214 chinesische Schriftzeichen ndash vom Bild zum Begriff Wiesbaden Fourier-VerlagKarlgren Bernhard (22001) Schrift und Sprache der Chinesen Ber lin Springer-VerlagLin Hsin-Hwa (1996) Der sinnhafte Aufbau der chinesischen Schrift Frank furt am Main Peter LangRudolph Joumlrg-Meinhard (2004a) Das groumlszligte Geheimnis Chinas I Ludwigs hafen Ostasieninstitut der FH LudwigshafenRudolph Joumlrg-Meinhard (2004b) Das groumlszligte Ge heimnis Chinas II Ludwigshafen Ostasieninstitut der FH Lud wigs hafenWang Hongyuan (1997) Vom Ursprung der chinesischen Schrift Peking Sino lingua BeijingWieger Leacuteon SJ (1965) Chinese characters Their origin etymology his tory classification and signification A thorough study from Chinese do cu ments New York DoverYan Zhenjiang (2000) Schriftsystem Literalisierung Literalitaumlt Frank furt am Main Peter Lang

Danksagung Die Verfasser danken herzlich den KorrekturlesernMeike Brehmer Jost Gippert Joshua Kraumlmer und Andreas Schabalin

Dr Chung-Shan KaoDepartement fuumlr PsychologieUniversitaumlt Freiburg im UumlechtlandRue Petermann-Aymon de Faucigny 2CH-1700 FreiburgSchweizchung-shankaounifrch+41 (0)26300 74 94

Thorwald PoschenriederTausendschoumln-Verlag

Dorfstraszlige 39D-17509 LodmannshagenPommernDeutschlandTausendschoen-VerlagT-OnlineDe+49 (0)383 73266 88

Geschichte der Morphologie

Rosemarie Luumlhr1

The present approach to history of morphology centres around a certain term namely syncretism because this term plays a major role in modern linguistics under the name of underspecification In the following the phenomenon of underspecification will be dealt with firstly by means of Latin nominal mor-phology and secondly by reference to Old Indic This is supposed to indicate that the Old Indic grammarians already knew essential aspects of underspeci-fication

EinleitungDie Behandlung der Geschichte der Morphologie erfolgt anhand eines be-stimmten Begriffs naumlmlich anhand des Synkretismus weil dieser Begriff unter dem Terminus Unterspezifikation in der modernen Linguistik eine groszlige Rolle spielt Das Phaumlnomen der Unterspezifikation wird im folgenden erstens anhand der lateinischen nominalen Morphologie erlaumlutert zweitens anhand der altindischen Dabei soll gezeigt werden daszlig die altindischen Grammatiker schon wesentliche Aspekte der Unterspezifikation erkannt haben

Das griechische Substantiv συγκρητισμός Vereinigung von kretischen Ver-baumlndenrsquo dann Vereinigung zweier streitender Parteien gegen einen dritten Feindrsquo wurde von Erasmus von Rotterdam neu belebt im Sinne von Ver-mischung von religioumlsen Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbildrsquo Er hat das Wort volksetymologisch an griech συγκεράννυμι vermischersquo σύγκρατος vermischtrsquo angeschlossen Im 19 Jh erfuhr der Begriff eine Ausdehnung Die Anwendung auf die Sprachwissenschaft stammt von August Pott 18362

Eine uumlbliche Definition von Synkretismus findet sich in Abrahams bdquoTermi-nologie zur neueren Linguistikldquo (Abraham 1988 S 849)

bdquohistor Zusammenfall von urspruumlnglich verschiedenen grammatischen For-men mit verschiedenen Bedeutungen so daszlig sprachgeschichtlich Morphem- oder Phonemhomonymie zustande kommt synchron allerdings ist die Lizenz dieses Wandels daszlig eine der gesonderten Bedeutungen oder grammatischen

1 Herr Dr Bernd Wiese hat mir die das Latein betreffenden Graphiken zur Verfuumlgung gestellt und autorisiert Ich danke ihm herzlich dafuumlr2 BaermanBrownCorbett 2005 S 3f

Rosemarie Luumlhr130

Funktionen aufgegeben wird Dies zeigt sich im altgriech Kasussystem das den aumllteren idg Vokativ im Nominativ den Ablativ im Dativ aufgenommen hat Siehe dagegen das Lateinische wo Vokativ und Ablativ noch als gesonderte Kasus existierenrdquo

Auch das Deutsche zeigt bekanntlich Synkretismen vgl die Flexion des Artikels

(1)

[-pl] [+pl]

[+mask] [+neut] [+fem] [+mask] [+neut] [+fem][+nom] -er -es -e -e -e -e

[+acc] -en -es -e -e -e -e[+dat] -em -em -er -en -en -en[+gen] -es -es -er -er -er -er

Klassifiziert man nach Genus Numerus und Kasus erhaumllt man 24 Kom-binationen Doch verwendet man heute anstelle des Begriffs Synkretis-mus den genannten Terminus Unterspezifikation und versucht homo-nyme Endungen unter einer bdquonatuumlrlichen Klasseldquo zusammenzufassen Eine natuumlrliche Klasse ist dann gegeben wenn man weniger Merkmale braucht um diese Klasse zu spezifizieren als ein einzelnes Element hat das zu dieser Klasse gehoumlrt (Hall 2000 S 122) ZB hat die Endung -em in (1) die Merkmale [+dat +mask -pl] und [+dat +neut -pl] Streicht man die gemeinsamen Merkmale weg bleiben [+mask] und [+neut] uumlbrig Dem-nach bilden Maskulinum und Neutrum eine bdquoKlasseldquo die vom Femininum unterschieden ist In einem naumlchsten Schritt wird das Merkmal [+neut] auf-gegeben und das Neutrum anhand der Merkmale [plusmnmask] und [plusmnfem] defi-niert Demnach steht [+mask -fem] fuumlr das Maskulinum [-mask +fem] fuumlr Femininum [-mask -fem] fuumlr Neutrum Wenn man nun diese Merkmals-klassifikation auf die Endung -em anwendet ist diese durch den Merk-malssatz [+dat -fem -pl] ausgezeichnet und es ergibt sich ein Synkretismus oder eine Unterspezifikation in Hinblick auf die Genusmerkmale

Auch bei den Kasusmerkmalen ist der Begriff Unterspezifikation anwend-bar Fuumlr das Slawische hat zuerst Jakobson (1962) Merkmale wie [+nom] [+acc] [+dat] und [+gen] in die allgemeineren Merkmale [plusmngov(erned)] [plusmnobl(ique)] uumlbergefuumlhrt Eine Kreuzklassifikation fuumlhrt dann fuumlr die einzelnen Kasus zu folgenden Merkmalen Nominativ [-gov -obl] Akku-sativ [+gov -obl] Dativ [+gov +obl] Genitiv [-gov +obl] Auf diese Weise

Geschichte der Morphologie 131

entstehen die natuumlrlichen Klassen Nominativ Akkusativ vs Dativ Genitiv und zwar nicht oblique ([-obl]) vs oblique ([+obl]) Kasus Ein Flexions-marker kann so unterspezifizierte Kasus-Information zum Ausdruck brin-gen zB [+obl -mask +fem -pl] fuumlr -er im Dativ Genitiv Singular Femi-ninum (Muumlller Gunkel Zifonun 2004 S 2 6ff) Nimmt man nun fuumlr die Merkmalsklassifikation nur die positiven Merkmale erhaumllt man ein noch einfacheres Schema

(2)

o=oblique[ ]

Nominativ

o

Genitivg=governed g

Akkusativ

og

Dativ

Man sieht daszlig der Dativ gegenuumlber den anderen Kasus durch zwei Merk-male charakterisiert ist oblique und governed An dieser Stelle kommt die Natuumlrlichkeitstheorie ins Spiel Die These ist daszlig die Flexionsendun-gen partiell ikonisch sind (Gallmann 2004 S 125) Dh die Kasus die die meisten Merkmale haben sollten auch formal am meisten komplex sein In der Tat ist der Nasal -m gegenuumlber -n markiert und die Endung -em so ein bdquoschweres Affixldquo (Wiese 1999 S 14)

Die Frage ist nun ob derartige Analysen auch in der Geschichte der Morphologie eine Rolle spielen Man wird schnell fuumlndig Schon die altindischen Grammatiker haben wesentliche Hinweise zur Analyse der altindischen Nominalflexion gegeben Zunaumlchst einmal ist festzu-halten daszlig die bdquoElsewhere-Bedingungldquo ein uumlbergeordnetes Prinzip in der modernen Linguistik auf den genialen Grammatiker Pāṇini zuruumlckgeht Sie besagt bdquoWenn sowohl eine spezifischersquo Regel als auch eine generellersquo Regel auf eine zugrundeliegende Form angewendet werden koumlnnen dann operiert die spezifische Regel vor der generellen Regelldquo (Hall 2000 S 146) Daszlig der Vorrang deskriptiver Regeln von ihrer relativen Anordnung abhaumlngt sieht man zB an den lateinischen nominalen Endungen im Neu-trum und Maskulinum

Rosemarie Luumlhr132

(3) a NOM SGACC SG = X b X = stem + -um c NOM SG in masculine = stem + -usHier steht die Endung -us des Maskulinums der Default-NominativAkku-sativ-Endung -um gegenuumlber (BaermanBrownCorbett 2005 S 135f)

Bleiben wir zuerst beim Lateinischen und pruumlfen wie die bdquoElsewhere-Bedingungldquo im einzelnen wirkt Eine bemerkenswerte Analyse stammt hier von Bernd Wiese Diese soll nun vorgestellt werden

1 Analyse der lateinischen NominalflexionDie lateinische Nominalflexion ist bekanntlich ein komplexes morpholo-gisches System bdquodas alle Symptome des flektierenden Syndromsrsquo zeigt (homonyme synonyme und kumulative Exponenten Genuseinteilung unterschiedlich strukturierte Deklinationsklassen defektive Paradig-men)ldquo Nach Wiese (2002) helfen bei der morphologischen Beschreibung weder regelbasierte Ansaumltze weiter noch bieten morphembasierte Analysen Einsichten in die sbquoLogikrsquo solcher fusionierender Flexionssysteme da die Auffassung von morphologischen Markern als sbquoSaussuresche Zeichenrsquo bei Paradigmen wie den lateinischen nicht haltbar ist Jedoch hat de Saussure (1976 S 122) am Beispiel der deutschen Pluralbildung Gast Gaumlstersquo einen ent scheidenden Hinweis fuumlr Wieses Analyse solcher Formen gegeben bdquoce nrsquoest pas lsquoGaumlstersquo qui exprime le pluriel mais lrsquoopposition sbquoGast Gaumlstersquordquo Die Funktion morphologischer Markierungen laumlge also in derartigen Faumlllen nicht darin als sbquoExponentenrsquo von sbquoInhaltenrsquo zu fungieren sondern in der Unterscheidung von Formen unterschiedlicher Funktion Es wird eine funktionale Distinktion zum Ausdruck gebracht die mit einer formalen Differenzierung korreliert Folgerichtig stellt Wiese so unabhaumlngig begruumln-dete funktionale und formale Ordnungen der lateinischen Flexionsendun-gen auf und bezieht sie aufeinander Dabei kann er die Feststellung einer diagrammatischen Form-Funktions-Korrelation praumlzisieren und die prima facie verwirrende Vielfalt der bdquoAbhaumlngigkeiten und Querverbindungenldquo so Ernst Risch zur lateinischen Flexion (Risch 1977 S 236) auf eine einfache Abbildungsbeziehung im Sinne Buumlhlers zuruumlckfuumlhren

Zunaumlchst nimmt Wiese eine merkmalsbasierte Analyse vor wobei er sich fuumlr die Ausdifferenzierung obliquer Kasus auf Blakes (1994 S 158) Untersuchun-gen zu Kasussystemen stuumltzt In Systemen mit zwei obliquen Kasus steht der

Geschichte der Morphologie 133

Genitiv gewoumlhnlich in Opposition zu einem allgemeinen multifunktionalen Obliquus den Blake den elsewhere-casersquo im Sinne Pāṇinis nennt

(4)(a) Kasusdifferenzierung im Singular und Plural

(4)(b) Ausdifferenzierung obliquer Kasus Synkretismus im Lateinischen

Das lateinische System findet sich unter (4)(b) an letzter Stelle Bei (5) wird deutlich daszlig im Lateinischen non-oblique und oblique Kasus im allge-meinen gut unterschieden werden In den meisten Teilparadigmen gibt es fuumlr die jeweiligen drei Kasus jedoch nur je zwei verschiedene Formen Dies trifft durchgaumlngig fuumlr den Plural zu wo Vokativ und Nominativ ei-nerseits und Dativ und Ablativ andererseits identisch sind Als Einzelkasus gekennzeichnet sind der Genitiv als Attributskasus und der Akkusativ als Objektskasus Kasus denen als bdquovergleichsweise unspezifische Sammelformldquo der VokativNominativ und DativAblativ gegenuumlbersteht Die bdquoSammel-formldquo faszligt Wiese dabei als unmarkiertes Glied der jeweiligen Opposition auf Gegenuumlber dem Plural wird im Singular zusaumltzlich der Objektskasus Dativ formal gekennzeichnet und im non-obliquen Bereich bdquoder Subjekti-

Rosemarie Luumlhr134

vus also der Nominativldquo Fuumlr die einzelnen Deklinationsklassen ergeben sich so folgende Synkretismus-Felder

(5) Paradigmengliederung (Synkretismusfelder)

V N A Ab D G VPl NPl APl AbPl DPl GPl

ictus u-Dekl (7 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

rēx C-Dekl (8 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

diēs ē-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNAPl AbDPl GPl

capra ā-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNPl APl AbDPl GPl

ignis i-Dekl (8 Felder) VN A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

lupus o-Dekl (8 Felder) V N A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

Wieses naumlchster Analyseschritt ist nun die formale Bestimmung der Formenkategorien

(6) Bau der lateinischen Deklinationen (Uumlberblick)

Streicht man den Themavokal ab enthaumllt man in Spalte 3 zB die Laumlnge als formales Kennzeichen der Endung bei der o- ā- u- und ē-Deklination

135Geschichte der Morphologie

(7)(a) FormentypenMarkerParadigmenfelder in der u- C- und i-Deklination (ohne VNA Pl Ntr)

u-Deklination

Formtyp 0 1 2 3b 4 5b 6+ 7

Marker s m L vL Ls X-s vm

Endung -u -us -um -ū -ūi -ūs -ibus -uum

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

C-Deklination

Formtyp 0 1 2 3a 4 5a 5b 6+ 7Marker s m v vL vs Ls X-s vm

Endung - -s -[e]m -e -ī -is -[ē]s -ibus -um

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

i-DeklinationFormtyp 0 1 2 3b (=4) 5a 5b 6 6+ 7

Marker s m L (=vL) vs Ls vLs x-s vm

Endung -e -is rarrC-Dekl -ī -is rarrC-Dekl -īs -ibus -ium

Felder VNANtr VN A AbD G NPl APl AbDPl GPl

(7)(b) EndungstypenMarkerEndungen (formale Ordnung)

Formtyp 0 1 2 3b 4 5 6 6+ 7 7+Marker s m L vL Ls vLs -X-s vm -X-mu-Dekl -u -us -um -ū -uī -ūs -ibus -uume-Dekl -ēs () -em -ē -ei -ēs -ēbus -ēruma-Dekl -a -am -ā -ae -ās -īs -ārumo-Dekl -e -us -um -ō -ī -ōs -īs -ōrum

u-Dekl VNANtr VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

e-Dekl VN A Ab DG VNAPl AbDP GPl

a-Dekl VN A Ab DG VNPl APl AbDP GPl

o-Dekl V N A AbD G VNPl APl AbDP GPl

a b c d e f g h

Paradigmenfelder (funktionale Ordnung)

Rosemarie Luumlhr136

Wieses Interpretation lautet nun folgendermaszligen

Der houmlchstrangigen Position Genitiv Plural Feld h ist eine Form des Typs 7 eine schwere Nasalform zugeordnet dem Ablativ-Dativ-Plural-Feld g eine Form des Typs 6 eine hochmarkierte sigmatische Form Das in der Hierarchie folgende Synkretismusfeld f ist mit einer Form des Typs 5 besetzt und so fort bis zum Nominativ Singular der hier wie sonst gewisse Unregelmaumlszligigkeiten aufweisen kann In der ē-Deklination ist der Thema-vokal anders als sonst im Nominativ Singular lang In der ā-Deklination fehlt die einfache sigmatische Form in diesem Fall und dort wo eine besondere kasus-unmarkierte Neutrum-Form oder ein besonderer Voka-tiv unterschieden wird kommt die 0-Form oder mit Hermann Hirt zu sprechen der casus indefinitus zum Zuge3

In der Tat stimmen nun formale und funktionale Markiertheit uumlberein So ist der Genitiv Plural mit der schweren Nasalform die markierte Form im obliquen Plural waumlhrend etwa die Endungen auf kurzen Vokal in Spalte 0 die formal am wenigsten charakterisierten Endungen sind sie stehen innerhalb der nicht-obliquen Kasus fuumlr die Nicht-Objekts-Kasus

Wieses Fazit lautet so

bdquoFormtypen nehmen einen Platz in der Endungsordnung ein sie besitzen aber nicht notwendig einen festen Inhalt der etwa durch Angabe einer bestimmten Menge morphosyntaktischer Merkmale zu repraumlsentieren waumlre Erst indem eine Form eine Stelle im Paradigma besetzt gewinnt sie einen definitiven Stellenwert Die Position die eine Form im Paradigma einnimmt bestimmt ihren Funktionswert nicht umgekehrtrdquo

Damit kehrt Wiese das traditionelle Bild um Waumlhrend bdquotraditionelle Darstellungen sich gewoumlhnlich mehr oder minder strikt an ein fuumlr alle Deklinationen einheitliches Zwoumllf-Felder-Schema [halten und sich] die Unterschiede zwischen den Deklinationen hellip dann ganz vorrangig als Divergenzen in der Formenbildung dar[stellen]ldquo bietet seine Darstellung bdquoein einheitliches System von Formkategorienldquo

2 Analyse der altindischen NominalflexionWenn wir uns nun der altindischen Nominalflexion zuwenden so haben die altindischen Grammatiker bereits das wesentliche Organisationsprinzip erkannt Die altindischen Grammatiker haben die Kasus mit den entspre-chenden Ordinalzahlwoumlrtern bezeichnet zB prathamā erstersquo (vibhaktiḥ

3 Vgl etwa Hirt 1925

Geschichte der Morphologie 137

Teilung Unterscheidung Abwandlungrsquo) = Nominativ ṣaṣṭhī sechstersquo = Genitiv und nach der Reihenfolge Nominativ Akkusativ Instrumental Dativ Ablativ Genitiv und Lokativ angeordnet weil dies die einzige Folge ist bei der uumlberall die Kasus mit gemeinsamen Endungen also unterspezi-fizierte Formen beisammen sind Instrumental und Dativ (und Ablativ) im Dual Dativ und Ablativ im Plural (und Dual) Ablativ und Genitiv im Sin-gular Genitiv und Lokativ im Dual Nicht mitgezaumlhlt wurde der Vokativ Dieser Kasus gibt anders als die anderen Kasus keine Beziehung im Satz an sondern ist selbst Satzaumlquivalent Vgl die altindischen a- und ā-Staumlmme

(8)(a) a-Staumlmme Maskulinum

Singular Dual Plural Vok deacuteva deacutevau deacutevāḥ Nom devaacuteḥ devaacuteu devḥ I Akk devaacutem devaacuteu devn II Instr deveacutena devbhyām devaacuteiḥ III Dat devya devbhyām deveacutebhyaḥ IV Abl devt devbhyām deveacutebhyaḥ V Gen devaacutesya devaacuteyoḥ devnām VI Lok deveacute devaacuteyoḥ deveacuteṣu VII

(8)(b) a-Staumlmme Neutrum

Singular Dual Plural Vok yuacutega(m) yuacutege yuacutegāni Nom yugaacutem yugeacute yugni Akk yugaacutem yugeacute yugni(8)(c) ā-Staumlmme Femininum

Singular Dual Plural Vok seacutene seacutene seacutenāḥ Nom seacutenā seacutene seacutenāḥ I Akk seacutenām seacutene seacutenāḥ II Instr seacutenayā seacutenābhyām seacutenābhiḥ III Dat seacutenāyai seacutenābhyām seacutenābhyaḥ IV Abl seacutenāyāḥ seacutenābhyām seacutenābhyaḥ V Gen seacutenāyāḥ seacutenayoḥ seacutenānām VI Lok seacutenāyām seacutenayoḥ seacutenāsu VII

Rosemarie Luumlhr138

Zweitens lassen die altindischen Grammatiker die obliquen Kasus mit dem Instrumental und nicht etwa mit dem Lokativ beginnen denn der Instrumen-tal entspricht beim Passiv dem Subjektsnominativ beim Aktiv (Wackernagel Debrunner 19291930 S 11)

21 Merkmalsbasierte Analyse

Versucht man nun eine merkmalsbasierte Analyse so ergibt sich fuumlr die haumlufigsten Staumlmme im Altindischen die a- und ā-Staumlmme folgendes Bild

(9)(a) +Sg -Pl a-Stamm

(9)(b) +Sg -Pl ā-Stamm

Geschichte der Morphologie 139

(9)(c) -Sg -Pl a- ā-Staumlmme

(9)(d) -Sg +Pl a-Stamm

22 Formanalyse

Wir betrachten zuerst die Genus-Unterspezifikation und dann die Kasus-Unterspezifikation

221 Genus‑UnterspezifikationIm Falle der Genus-Unterspezifikation bleiben der Nominativ Plural Maskulinum devḥ und der NominativAkkusativ Plural seacutenāḥ auszliger Betracht da im Femininum in bestimmten Positionen die Endung -āḥ noch zweisilbig ist (WackernagelDebrunner 19291930 S 123) Einzig und allein die Endung des Genitiv Plural ist bei den a- und ā-Staumlmmen vollkommen identisch [+Pl +obl +Gen] devnām seacutenānām Warum das so ist hat moumlglicherweise folgenden Grund In vielen Sprachen die Genussys-teme haben ist im Plural generell die Genusunterscheidung aufgegeben Daszlig aber speziell im Genitiv Plural keine Genusunterscheidung durchge-fuumlhrt ist liegt wohl an der Funktion Partitiv die der Genitiv haben kann

Rosemarie Luumlhr140

Der Plural ist in dieser Funktion als kollektiver Plural auffaszligbar weshalb kein Bedarf an einer Genusdifferenzierung besteht

Doch sind sonst die Genera Femininum und Nicht-Femininum dh Maskulinum und Neutrum bei den a- und ā-Staumlmmen deutlich geschieden4 Auszligerdem treten bei den a-Staumlmmen Kasusendungen auf die sich in anderen Stammklassen nicht finden Auch dies hat einen einfachen Grund Die maskulinen neutralen a- und femininen ā-Staumlmme haben auch einen wesentlichen Anteil an der Bildung der Adjektiva Wie ai priyaacuteḥ priy priyaacutem liebrsquo griech νέος νέα νέον lat novus nova novum zeigt ist dieser Adjektivtyp indogermanisches Erbe Dh in der altindischen Flexion der a- und ā-Staumlmme sind Kasusformen zu erwarten die speziell der Genusunterscheidung dienen Tatsaumlchlich gibt es solche Endungen wie man schon lange gesehen hat

In der Indogermanistik nimmt man im allgemeinen an daszlig die Uumlber-tragung pronominaler und damit bestimmter Genusendungen auf das Substantiv durch pronominal flektierende Adjektive wie viacuteśva- allersquo also sogenannte Pronominaladjektive zustande kam weil ein Adjektiv naumlher beim Substantiv steht als ein Determinierer In der Tat kann man einen schrittweisen Uumlbergang vom Determinativ uumlber das Adjektiv zum Sub-stantiv annehmen wenn man Seilers (1978) Adjektivklassifikation folgt

(10)

Determinativ Adjektiv SubstantivArtikelklassifikatoren Qualifikativa Nominalklassifikatoren

diediesemeine

erwaumlhnten zehn schoumlnen dicken roten houmllzernen Kugeln

Zahlwoumlrter wie zehn zB sind weit vom substantivischen Pol entfernt und gehoumlren zu den Artikelklassifikatoren Das Zahlwort impliziert zwar Zaumlhlbarkeit der Referenzobjekte gibt aber keine weitere Eigenschaft der in Rede stehenden Objekte an Ein Zahlwort wie zehn sagt vielmehr etwas uumlber die Art der Bezugnahme naumlmlich uumlber die Anzahl der Objekte auf die der Sprecher Bezug nimmt aus Aumlhnliches gilt fuumlr textverweisende Aus-druumlcke wie etwa erwaumlhnt Dies ist der Bereich der Festlegung von Eigen-schaften des Referenzakts wie etwa der Festlegung auf ein bestimmtes Genus hierfuumlr sind aber insbesondere die Determinative im Indogerma-nischen die Demonstrativpronomina zustaumlndig (Wiese 2004) So ist die 4 Zur Sonderstellung des femininen Genus in der Morphologie vgl Wiese 2004a Thieroff 2004

Geschichte der Morphologie 141

Formkategorie worin Sprachen am deutlichsten das Genus ausdruumlcken das Pronomen Selbst Sprachen die keine Genusunterscheidung bei den Substantiven haben haben oftmals beim Pronomen eine solche Differen-zierung Es ist so anzunehmen daszlig solche Woumlrter zunaumlchst die Substan-tive in ihrer Flexion beeinfluszligt haben und erst in einem naumlchsten Schritt erfolgte die Beeinflussung der Adjektive durch die Substantive Damit duumlrfte eine pronominale Endung wie im Falle des Instrumentals -ena bei den a-Staumlmmen also zuerst auf die Substantive uumlbergegangen sein und erst dann auf Adjektive

Geht man nun auf die Unterschiede in der Flexion zwischen Nicht-Femi-nina und Feminina ein so waumlren bei den ā-Staumlmmen etliche Kasusformen bei normaler Entwicklung mit dem Maskulinum zusammengefallen Ein solcher Genus-Synkretismus oder eine solche Genus-Unterspezifikation wurde aber vermieden indem das feminine Substantiv weitgehend umge-staltet wurde und zwar eben zumeist nach dem Demonstrativpronomen

(11)InstrSg seacutenayā anstelle von seacutenā asymp aumllter mask dev vgl taacuteyā vom Pron taacute- dieserrsquo DatSg seacutenāyai anstelle von seacutenai asymp aumllter mask devaacutei vgl taacutesyai vom Pron taacute- LokSg seacutenāyām anstelle von seacutene5 asymp mask deveacute vgl taacutesyām vom Pron taacute-

Eine andere Neubildung ist der VokSg seacutene anstelle von seacutena6 asymp mask deacuteva vgl aksl ženo gr νύμφα

Doch auch das Maskulinum hat Umbildungen nach dem Pronomen erfahren

(12)zB DatAblPl deveacutebhyaḥ anstelle von devaacutebhyaḥ vgl teacutebhyaḥ vom Pron taacute-

Warum bei den altindischen a- und ā-Staumlmmen Genus-Unterspezifikatio-nen weitgehend aufgehoben wurden ist sicher auf die Funktion des Genus als Signal fuumlr syntaktische Kongruenz zuruumlckzufuumlhren7

5 Vgl dazu Luumlhr 19916 Luumlhr 19917 Corbett 1991 S 4 bdquoIf a language distinguishes gender there is always agreement with respect to genderldquo Auszligerdem ist Genus wichtiger als Numerus da bdquogender is inherently fixed for a noun whereas [number] is usually instantiated and gives rise to different word forms in the paradigm of a nounldquo Auf der anderen Seite wird aber Genus arbitraumlr zuge-wiesen (Ortmann 1998 S 62)

Rosemarie Luumlhr142

222 Kasus‑UnterspezifikationNach WackernagelDebrunner (19291930 S 1f) besteht bei der altindischen Deklination bdquofast uumlberall die Neigung Form und Bedeutung eindeutig aufeinander zuzuordnenldquo Dh die Funktionen der nominalen Endungen sind klar erkennbar wodurch sich das Altindische wesentlich vom Latei-nischen unterscheidet Betrachtet man aber die Endungen im Uumlberblick so ist wie in anderen Sprachen auch die Obliquus-Form bei den a- und ā-Staumlmmen stets laumlnger oder schwerer als die entsprechende Nicht-Obli-quus-Form Ohne auf Einzelheiten einzugehen findet man im Maskulin- Paradigma (devaacuteḥ) im Singular im Nicht-Obliquus nur kurze Vokale waumlhrend der Obliquus Langvokale im Ablativ und Lokativ und dreisil-bige Formen im Instrumental Dativ und Genitiv aufweist und zwar teils mit langem Vokal in der Mittelsilbe Entsprechend ist das Verhaumlltnis im Feminin-Paradigma (seacutenā) nur daszlig hier den langvokalischen Formen im Nicht-Obliquus durchaus schwere zweisilbige Endungen im Obliquus entsprechen Auch im Dual und Plural ist der Gegensatz Nicht-Obliquus vs Obliquus deutlich ausgepraumlgt Einsilbigen Endungen mit Langvokal im Nicht-Obliquus stehen zwei- oder dreisilbige Endungen teils wiederum mit Langvokalen im Obliquus gegenuumlber Nun sind in einer Akkusativsprache wie es das Altindische ist die nicht-obliquen Kasus die unmarkierten die obliquen aber die markierten Kasus Demnach laumlszligt sich festhalten daszlig dem Mehr an Form in den obliquen Kasus ein Mehr an Merkmalen entspricht

Damit sind die Endungen der nominalen a- und ā-Staumlmme im Altin-dischen als ikonisch einzustufen Daszlig dies tatsaumlchlich ein Bildeprinzip des altindischen Nomens ist sieht man daran daszlig einsilbige Endungen die sich bei einer regelrechten Entwicklung aus dem Indogermanischen ergeben haumltten im Altindischen umgebildet worden sind vgl zB

(13) InstrSgMask(Neut) deveacutena anstelle des Instr dev DatSgMask(Neut) devya anstelle des Dat devaacutei GenPlMask(Neut) devnām anstelle des Gen devm

Doch ist noch ein Weiteres festzustellen vgl

(14)AblGenSgFem seacutenāyāḥ anstelle des Gen seacutenāḥ vgl griech GenSgf τιμῆς GenPlFem seacutenānām anstelle des Gen seacutenām

Geschichte der Morphologie 143

Die zu erwartende Form seacutenāḥ waumlre synkretistisch mit dem Nicht- Obliquus Plural seacutenāḥ zusammengefallen Ein Genitiv Singular Femini-num seacutenāḥ mit den Merkmalen [+sg +obl +gen] und ein VokativNomina-tivAkkusativ Plural Feminum seacutenāḥ mit den Merkmalen [+pl -obl] bilden jedoch keine bdquonatuumlrliche Klasseldquo weil diese Formen auszliger dem Genus keine Merkmale gemeinsam haben Aumlhnliches gilt fuumlr einen Genitiv Plural Femi-ninum seacutenām da dieser mit dem Akkusativ Singular Femininum seacutenām zusammengefallen waumlre8 Somit bleibt festzuhalten Im altindischen Nomi-nalparadigma der a- und ā-Staumlmme wird Kasus-Unterspezifikation bei Formen die keine natuumlrliche Klasse bilden nicht geduldet Dies ist sicher der Grund weshalb die altindischen Grammatiker die Formen der a- und ā-Staumlmme in die genannte Reihenfolge bringen konnten

FazitWir halten fest Der von August Pott in die Sprachwissenschaft eingefuumlhrte Terminus Synkretismus hat eine lange Tradition Schon die altindischen Grammatiker haben diesen Terminus im Sinne des heutigen Begriffs Unter-spezifikation angewandt um uumlbereinstimmende Kasusformen nebenein-ander anzuordnen Doch sind im Altindischen Unterspezifikationen im Paradigma der a- und ā-Staumlmme relativ wenig ausgepraumlgt weil wegen der Uumlbereinstimmung mit dem Adjektiv und Pronomen hier Genusunter-scheidungen viel deutlicher als bei anderen Stammklassen zum Ausdruck kommen Anders verhaumllt es sich im Lateinischen Es gibt eine Fuumllle von synkretistischen oder unterspezifizierten Kasusformen Gemeinsam ist aber beiden Sprachen daszlig einem Mehr an Merkmalen ein Mehr an Form entspricht Dies wird im Altindischen an der komplexeren Form der Kasus obliqui gegenuumlber den Nicht-Obliqui deutlich Auch im Altindischen koumlnnen also Form und Funktion korreliert werden

8 Luumlhr 2002 S 131f

Rosemarie Luumlhr144

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Rosemarie Luumlhr Universitaumlt Jena RosemarieLuehruni-jenade

Ostgermanische Morphologie

Magnuacutes Snaeligdal

The title of this paper is East-Germanic morphology but as explained in the introduction East-Germanic morphology is in fact Gothic Morphology as our knowledge of other languages in that group is minimal Section 2 deals with the size of the Gothic corpus word number and frequency etc This informa-tion is used in section 3 to discuss what we know about Gothic morphology and section 4 to discuss what we dont know about Gothic morphology Section 5 contains some concluding remarks

1 Einleitung

Ostgermanische Morphologie ist eigentlich gotische Morphologie weil mit Ausnahme des Gotischen die Sprachen der Ostgermanen nur wenig bekannt sind Zu diesen Sprachen gehoumlren die Sprachen der Gepiden Wandalen Burgunder Heruler Rugier und Skiren und es handelt sich dabei fast ausschlieszliglich um Eigennamen die in nicht germanischen Quellen uumlberliefert sind Das sogenannte sbquogotische Epigrammrsquo wird jedoch als wandalisch angesehen

(1) Inter eils Goticum scapia matzia ia drincan non audit quisquam dignos edicere versos

Auf Gotisch waumlre das vermutlich

Hails Skapja Matja jah drigkan sbquoHeil Kellner Essen und Trinkenrsquo

Auch die Formel froia arme die auf Bibel-Gotisch frauja armai lauten sollte dh κύριε ἐλέησονsbquo Herr erbarme dichrsquo ist vielleicht Gotisch durch Wandalen vermittelt (vgl Tiefenbach 1991 S261) Da die Wandalen nicht gerade fuumlr ihre Barmherzigkeit beruumlhmt waren kann man es wohl als einen Anticlimax bezeichnen daszlig von ihrer Sprache fast nur dieses Gebet uumlberliefert ist

Einige Runeninschriften werden als ostgermanisch oder gotisch angesehen Ich nenne an dieser Stelle nur zwei davon (vgl Ebbinghaus 1990 S207 bis 210)

Magnuacutes Snaeligdal148

1 Die Speerspitze von Kowel in der Ukraine Darauf ist die Inschrift tilarids zu lesen (linkslaufend) Doch ist hier die Deutung einiger Runen dunkel und unsicher

2 Der Goldring von Pietroassa Darauf steht die Inschrift gutaniowihailag zu lesen Selbstverstaumlndlich wird es wegen des Anfangs in Verbindung mit den Goten gebracht doch ist keines dieser Worte in den gotischen Bibeltexten uumlberliefert nicht einmal hailags (sondern weihs) Einigkeit uumlber die Deutung dieser Inschrift besteht jedoch nicht

2 Der Umfang des gotischen KorpusDie gotischen Sprachdenkmaumller sind klein und einfoumlrmig Die Gesamtheit der gotischen Uumlberlieferung umfaszligt weniger als 70000 Woumlrter Als minimale Grundlage einer digitalen grammatischen Analyse muumlssen mindestens 70000 Woumlrtern analysiert werden Wenn man also den ganzen gotischen Text analysiert hat reicht dieses Material kaum fuumlr eine digitale Analyse ndash und welche Texte sollten uumlberhaupt damit analysiert werden Die Einfoumlrmigkeit der Sprachdenkmaumller besteht darin daszlig es sich fast nur um eine Uumlbersetzung des Neuen Testaments handelt Der Text der Evangelien ist manchmal aumlhnlich und einige Teile der Paulus-Briefe sind parallel in zwei Handschriften uumlberliefert Deshalb gibt es viele Loumlcher in unserer Kenntnis des gotischen Wortschatzes Wir wissen zB nicht was sbquoPferdrsquo auf Gotisch heiszligt da dies weder in den Evangelien noch in den Briefen vorkommt Das Wort aiƕatundi sbquoβάτος Dornstrauchrsquo enthielt als erstes Glied der Stamm aiƕa- sbquoPferdrsquo (vgl Lat equus Gr ἵππος usw) was auf aiƕs deuten koumlnnte aber dies war nicht notwendigerweise das uumlbliche Wort fuumlr Pferd

21 Woumlrter asymp Tokens und Wortformen asymp Typen

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 ist die erste digitale Bearbeitung des gotischen Textes und baut voumlllig auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 auf1 Das Resultat besteht darin daszlig die Anzahl der Woumlrter (asympTokens) 67438 betraumlgt und die der Wortformen (asympTypen) 9462 Es sei hervorgehoben daszlig sie Faumllle wie zB thornatuthorn-thornan sbquound auch diesrsquo und sumaih sbquound einigersquo als jeweils ein Wort zaumlhlen thornatuh thornan aber als zwei Woumlrter

1 Sie beziehen jedoch das Speyerer Blatt und die neuen Lesarten von Bennetts Skeireins-Ausgabe mit ein und nennen S XI Fn 2 auch W Estabrooks und J W Marchands nicht veroumlffentlichte Computertexte

Ostgermanische Morphologie 149

In dem gotischen Text der Snaeligdal bdquoConcordanceldquo 2005 (CBG) zugrunde liegt (ebenfalls auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 basierend) betraumlgt die Zahl der Woumlrter 68133 und die der Wortformen 9421 (mit einer Zahl von 356506 Buchstaben in Woumlrtern) Hierin werden Faumllle wie zB thornatuthorn thornan und thornatuh thornan als jeweils zwei Woumlrter gezaumlhlt die nachgestellten Partikeln -u (30) und -uh (214 mit Varianten) auch als selbstaumlndige Woumlrter doch nicht von Pronomen und Adverbien getrennt Wenn man diese abzieht betraumlgt die Zahl der Woumlrter noch 67889 die Wortformen werden jedoch etwas zahlreicher (und naumlhern sich der Anzahl bei TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976) Nun kommen auch Wortformen wie bi-thorn-thornan-gitanda vor (1 KorA 1515 εὐρισκόμεθα δὲ καί Wir werden aber auch hellip erfundenrsquo) und es ist vielleicht nur natuumlrlich diese als drei Woumlrter zu zaumlhlen da die Partikeln sonst wie selbstaumlndige Woumlrter gezaumlhlt sind (Solche Woumlrter sind 28 von 24 Typen) Wenn diese eingeschobenen Partikeln mitgerechnet werden muss man folgendes Material hinzufuumlgen

1 -ba1 ƕa1 ni1 nu

12 thornan1 thornau4 -u

20 -uh -h -uthorn -thorn41

Tab 1 Die Zahl der eingeschobenen Partikeln

Das heiszligt also 41 Tokens Der Text umfasst dann 68174 Woumlrter Man muss auch die Wortformenzahl korrigieren und 13 abziehen was zu einem Ergebnis von 9408 fuumlhrt2 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang daszlig in den Paulus-Briefen immer -uh-thornan- (und dessen Varianten

2 Wird -uh- von at-uh-gaf entnommen bleibt atgaf uumlbrig aber diese Wortform ist schon gezaumlhlt worden Wenn dementsprechend auch -h von sumai-h entnommen wird bleibt die Form sumai uumlbrig die ebenfalls gezaumlhlt worden ist Wird dagegen -u- von bi-u-gitai entnommen bleibt bigitai uumlbrig das nicht gezaumlhlt worden ist oder -uh-thornan- von diz-uh-thornan-sat was dizsat ergibt das nicht gezaumlhlt worden ist nur dissat Vergleiche auch solche Beispiele wie usiddja uz-uh-iddja wo us- sich vor -uh- zu uz- aumlndert aber nicht vor iddja Das letzte Beispiel ist dann vergleichbar mit Filippauz-uh Wenn -uh davon entnommen wird bleibt Filippauz uumlbrig und wird neben Filippaus als eine selbstaumlndige Type gezaumlhlt Dieses Beispiel zeigt auch dass Type und Wortform nicht ganz gleichbe-deutend sind

Magnuacutes Snaeligdal150

insgesamt 10 Beispiele) eingeschoben ist auszliger in at-uh-gaf EphA 48 Interessant ist daszlig diese eingeschobenen Formen so selten sind daszlig sie nur in den groumlszligten Handschriften vorkommen dh dem Codex Argenteus und den Codices Ambrosiani A und B

211 Zufuumlgungen und AuslassungenAn diese Stelle muss ein ABER eingefuumlgt werden

Im Text der CBG wurden 148 Woumlrter eingefuumlgt (in spitzen Klammern gedruckt) die nicht in den Handschriften vorkommen von denen aber Streitberg (so wie auch andere Herausgeber vor ihm) meint daszlig sie zwar auf Grund der Ungeschicktheit des Schreibers weggefallen sind sie vom griechischen Text her jedoch erfordert werden Am haumlufigsten handelt es sich dabei nur um ein einzelnes Wort in einigen Faumlllen jedoch auch um mehrere zB wenn der Schreiber vermutlich eine ganze Zeile uumlberspringt Dies macht ungefaumlhr 02 des Textes aus An dieser Stelle sollte auch angefuumlhrt werden daszlig Streitberg 162 Woumlrter aus dem Text streichen will (in eckigen Klammern gedruckt)

Es gibt jedoch auch noch andere Hinzufuumlgungen Hier geht es um die Rekonstruktionen von verschollenen Textstellen die wegen der Beschaumldigung einiger Handschriftenblaumltter verloren sind Insgesamt muumlssen daher weitere 150 Woumlrter weggenommen werden was weitere 02 des Textes ausmacht

Ein stark beschaumldigtes Blatt des Codex Argenteus enthaumllt einen Teil des 11 Matthaumlus-Kapitels der verlorene Text ist jedoch rekonstruiert worden insgesamt 44 komplette Woumlrter (und 37 Wortteile)

Aus den Bruchstuumlcken des 23 und 24 Kapitels des Lukas-Evangeliums im Codex Gissensis wurden 79 komplette Woumlrter rekonstruiert (und 14 Wortteile aus diesem Fragment sind 19 komplette Woumlrter belegt sie enthalten jedoch beschaumldigte Buchstaben)

Im Codex Carolinus wurden die meisten Blaumltter am oberen Blattrand abgeschnitten Deshalb sind 6 Woumlrter in der ersten Zeile beschaumldigt aber 6 sind verloren gegangen und rekonstruiert worden

In 1 TimA 612ndash14 muumlssen 13 Woumlrter abgezogen werden da sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf dem Handschriftenblatt vorhanden sind

Ostgermanische Morphologie 151

Weitere vier Faumllle ergeben 5 rekonstruierte Woumlrter anthornaris lithornus RoumlmC 125 mag 1 TimB 616 im 2 TimB 416 diakuna 4 Unterschrift der Urkunde von Neapel

In Faumlllen wie zB (Mt 1115)

(2) saei habai au[sona hausjandona ga]hausja[i] ὁ ἔχων ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω Wer Ohren hat zu houmlren der houmlre

wo das was in die eckigen Klammern steht rekonstruiert wurde ist nur ein ganzes Wort hinzugefuumlgt worden dh hausjandona Uumlberreste wie au zaumlhlt man als ein Token im Text der Handschrift und stattdessen kommt das rekonstruierte au[sona] das keinen Einfluss auf die Anzahl der Woumlrter hat Die Buchstabenzahl veraumlndert sich dabei allerdings etwas Die Anzahl solcher Wortuumlberreste betraumlgt 96 wovon 5 Wortformen sonst nicht belegt sind Bethorn[saiumldan] Mt 1121 analag[jandans] Lk 1030 [usso]kjands LkG 2314 [qis]teins Mk 144 rahnjai[dau] 2 TimA 416

Der Text ist damit um 298 Tokens oder 04 geschrumpft Das Resultat besteht damit aus 67835 Tokens 9404 Typen und 356649 Buchstaben in Woumlrtern Wenn man mit den eingeschobenen Partikeln gerechnet hat betraumlgt das Ergebnis 67876 Tokens und 9391 Typen Jede Type hat dann im Durchschnitt sieben Tokens Dies ist keine groszlige Abweichung von den urspruumlnglichen Zahlen und das Resultat kann nicht als vollkommen genau angesehen werden ZB werden Buchstaben die einen erhaltenen Wortteil vollenden in die Buchstabenzahl miteinbezogen Einige Konjekturen werden mit eingerechnet aber sie beeinflussen das Resultat nur unwesentlich

212 Die RandglossenWoumlrter in den Randglossen werden in diesen Zahlen mitgerechnet Drei Glossen werden jedoch weggenommen weil ich es fuumlr relativ sicher halte daszlig sie nicht vorhanden sind andwaih RoumlmA 913 salja 2 KorA 616 lustau KolA 35 Insgesamt betragen die Glossen 103 Tokens 96 Typen 741 Buchstaben3 In den Glossen sind 13 ἅπαξ λεγόμενα und 18 Wortformen enthalten die sonst nicht belegt sind In Lk 732 steht die Gl hufum zu gaunodedum und das ist auszliger Mt 1117 huf[um] die einzige belegte Form dieses Verbs (hiufan θρηνεῖν Klagelieder singenrsquo) In der Glosse zu Lk 934

3 Im Codex Ambrosianus A sind es 52 Glossen 81 Woumlrter 609 Buchstaben im Codex Argenteus sind es 15 Glossen 22 Woumlrter 142 Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal152

wird milhmam (drei weitere Beispiele) als Fehlschreibung fuumlr milhman (milhma sbquoνεφέλη Wolkersquo) angesehen aber diese Form ist sonst nicht belegt Die Glossen fuumlgen deshalb unserer Kenntnis von der gotischen Morphologie etwas hinzu

213 Die ZahlzeichenIn diesen Ziffern sind die Zahlzeichen im Text auch enthalten 145 Tokens (78 Typen) oder ungefaumlhr 02 der Tokens Die Zahlzeichen kommen verhaumlltnismaumlszligig am haumlufigsten in Nehemia besonderes in 7 Kapitel 51 (105 der Tokens in Nehemia) im Kalender 40 (506 der Tokens) und im Codex Vindobonensis 12 (40 der Tokens) vor Im Codex Argenteus betragen sie 17 im Codex Ambrosianus A 7 Cod Ambr B 1 Cod Ambr E 6 in der Urkunde von Neapel 8 der Urkunde von Arezzo 1 den Gotica Veronensia 2 Dagegen werden die Zahlen am Rande die die Aufteilung des Textes in Leseabschnitte oder andere Sektionen markieren nicht mitgerechnet

214 Lexeme Fremdwoumlrter NamenIm Gotischen gibt es 3612 NachschlagswoumlrterLexeme 3537 wenn die Zahlzeichen (75) nicht mitgezaumlhlt werden und 3058 wenn auch die Lehnwoumlrter abgezogen werden Dies ist dann der ostgermanische Wortschatz den das Gotische uumlberliefert

Die Lehnwoumlrter (auszliger Namen) und davon abgeleiteten Woumlrter betragen 146 308 Typen die 1102 Tokens ergeben Diese Gruppe ist aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt von alten Lehnwoumlrtern die sich in den Ohren eines gewoumlhnlichen Goten wohl kaum fremdartig anhoumlrten bis hin zu Woumlrtern die unveraumlndert aus dem griechischen Text entnommen wurden Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 53 oder 363 der Lexeme und 48 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich werden die meisten von ihnen der letzten Gruppe zugeteilt Ein gotisches Produkt sind 22 abgeleitete Woumlrter und Komposita mit einem Lehnwort als zweitem Glied Die Verben aiwaggeljan und praufetjan sind in Anlehnung an Gr εὐαγγελίζεσθαι und προφητεύειν gebildet aber sie koumlnnen nicht einfach als Lehnwoumlrter bezeichnet werden Von diesen sind 8 ἅπαξ λεγόμενα Zu den Lehnwoumlrtern kann dann hinzugefuumlgt werden 44 laiktsjo (6)laiktjo (38) lectio Leseabschnittrsquo und peika- in peikabagms sbquoφοίνιξ Palmbaumrsquo Hier sind 4 unvollstaumlndige Woumlrter

Ostgermanische Morphologie 153

anzufuumlhren and[bahtja] 2TB 411 si[ponjans] Mt 101 sipon[jos] Mk 1416 und [praufe]te Neh 614

Personennamen Ortsnamen und davon abgeleitete Nomina die aus der Vorlage entnommen und mit gotischen Buchstaben transkribiert wurden betragen insgesamt 333 Lexeme 569 Typen die 2350 Tokens ergeben Iesus und Xristus stehen fuumlr insgesamt 961 Woumlrter oder 409 Die haumlufigsten dieser Namen waren wohl weit verbreitet andere jedoch eher selten oder unbekannt Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 181 oder 543 der Lexeme und 77 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich sind die meisten von ihnen im 3 Kap Lukas und 7 Kap Nehemia enthalten Ein gotisches Erzeugnis sind fuumlnf Woumlrter die davon abgeleitet sind aber zum Teil mit gotischem Material jedoch mit griechischen Woumlrtern als Vorbild fwnikiskssbquo Φοινίκισσα phoumlnikischrsquo judaiwisks sbquoἰουδαϊκός juumldischrsquo iudaiwisko sbquoἰουδαϊκῶς auf juumldische Weisersquo iudaiwiskon sbquoἰουδαΐζειν juumldisch lebenrsquo und galiugaxristus sbquoψευδόχριστος falscher Christusrsquo Diese sind hier gezaumlhlt und ergeben 6 Woumlrter Hierunter gibt es auch 8 unvollstaumlndige Woumlrter Aze[ris] Neh 745 Bethorn[saiumldan] Mt 1121 Iohan[nes] Jh 1118 Kafarna[um] Mt 1123 [Iairu]salem LkG 2413 [Herode]s LkG 2312 [Peilata]u LkG 2311 und [Seidon]e Mt 1121

Insgesamt umfassen die Fremdwoumlrter 475 Lexeme 869 Typen und 3447 Tokens Das ist 131 der Lexeme 925 der Typen und 5 der Tokens

Zur Uumlbersicht diene folgende Tabelle

Tokens Typen LexemeTollenaere Jones 67438 9462CBG 68174 9408 3613Ohne Hinzufuumlgungen

67876 9391 3612

Tab 2 Vergleich von Tollenaere Jones CBG und Text ohne Hinzufuumlgungen

22 Der Umfang einzelner Handschriften

Die oben behandelten Zahlen sind im Vergleich mit den Handschriften nicht ganz genau da darin einige Konjekturen mitgerechnet sind wie bereits erwaumlhnt wurde Es ist jedoch auch nicht einfach die Woumlrter und Buchstaben in Handschriften zu zaumlhlen Ist ƕa|ƕazuh ein Wort oder zwei Besteht der Fehler darin daszlig der Schreiber erst die ersten Silbe ƕa geschrieben hat und dann das ganze Wort ƕazuh oder hat er erst das Wort ƕa und dann das Wort ƕazuh geschrieben Wie viele Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal154

sind in sīd (= sind) erhalten Ist der Nasalstrich ein selbstaumlndiger Buchstabe oder sollte er als eine Variante von n (und m) angesehen werden Dazu kommen auch die Ligaturen und die Abkuumlrzungen von nomina sacra Wenn die Woumlrter in den Paralleltexten nur einmal gezaumlhlt werden betraumlgt das Resultat 59623 Tokens 9363 Typen und 311498 Buchstaben

Die Zahlen in Tab 3 gelten fuumlr den Umfang des editierten Textes aus einzelnen Handschriften Nasalstriche Ligaturen und nomina sacra sind aufgeloumlst

Tokens Typen Bstaben Tok BstCod Arg (incl F Spir) 35338 5673 178777 520 503Cod Ambr A (incl Kal) 15247 3978 82126 224 231Cod Ambr B 13649 3519 74478 201 209Cod Ambr E (Skeireins) 1957 867 10764 29 30Cod Carolinus (Rom) 597 338 3102 09 09Cod Ambr D (Nehemia) 483 286 2730 07 08Cod Ambr C (Matth) 346 202 1728 05 05Urkunde von Neapel 113 31 689 02 02Gotica Veronensia 62 43 299 009 008Cod Gissensis 33 32 188 005 005Cod Vindobonensis 30 25 135 004 004Urkunde von Arezzo 21 19 126 003 003

67876 355142 9991 100Tab 3 Tokens Typen und Buchstaben in einzelnen Handschriften

Hier kann man sehen daszlig die Texte von Codex Argenteus Codices Ambrosiani AndashE und Codex Carolinus zusammen 996 des gotischen Textes ausmachen unabhaumlngig davon ob man von der Woumlrter- oder Buchstabenzahl ausgeht aber die Buchstabenzahl ist ein bisschen zu hoch (die Nasalstriche und Ligaturen sind aufgeloumlst) Dann wird auch klar daszlig der Teil der Codices Ambrosiani A und B etwas ansteigt wenn man von der Buchstabenzahl ausgeht (die Briefe haben ein bisschen laumlngere Woumlrter) Die letzen fuumlnf Bruchstuumlcke sind geradezu erstaunlich klein sie machen nur 04 aus

Ostgermanische Morphologie 155

In Tab 3 wird das Folium Spirense als ein Teil des Codex Argenteus gezaumlhlt Es enthaumllt 142 Woumlrter und 110 Wortformen sowie 819 Buchstaben Um diese Zahl wurde der gotische Text im Jahre 1970 vermehrt Von diesen Wortformen sind 18 nicht anderswo belegt Davon sind drei ἅπαξ λεγόμενα aber nur ein neues Morphem farw sbquoGestaltrsquo

Neue Lexeme Neue Wortformenagljai Mk 1618 (agljan sbquoβλάπτω schadenrsquo) farwa Mk 1612 (farw n sbquoμορφή Gestaltrsquo) ingibe Mk 1618 (ingif n ingifs m sbquoθανάσιμον toumldliches Giftrsquo)

afargaggandeins Mk 1620 afargaggithorn Mk 1617 afdomjada Mk 1616 drigkaina Mk 1618 gasaiƕandam Mk 1614 gaskaftai Mk 1615 gawaurstwin Mk 1620 idweitida Mk 1614 niujaim Mk 1617 tulgjandin Mk 1620 ufdaupithorns Mk 1616 ungalaubein Mk 1614 uslagjand Mk1618 usnumans Mk 1619 waurmans Mk 1618

Tab 4 Neue Lexeme und Wortformen im Folium Spirense

Mit dem Codex Ambrosianus A (und Taurinensis) ist der Kalender gezaumlhlt Darin sind 79 Tokens (meistens Zahlzeichen) 65 Typen und 426 Buchstaben Dies macht 05 des Textes in A aus wenn man von Tokens oder Buchstaben ausgeht aber 15 von den Typen aus gesehen Die ἅπαξ λεγόμενα sind meistens Namen Bairaujai 1911 (Bairauja) Batwin 2910 (Batwins) bilaif 2910 (bileiban oder was) Daurithornaius 611 Frithornareikeis 2310 Jiuleis inc11 Kustanteinus 311 Naubaimbair inc11 und Werekan 2910 (Wereka) Einige Wortformen kommen nur hier vor aipisks 611 auszliger wenn man es als aipiskaupaus oder -us aufgeloumlst ist das einzige Beispiel fuumlr den GSg von aipiskaupus (zwar hat der Kalender -us im GSg von u-Staumlmmen auszliger bei Filippaus 1511) althornjono (1911 Konjektur fuumlr althornjano) fullaizos 2910 gabrannidai 2910 papan 2910 Nicht belegt ist weiter Gutthorniuda 23 2910 An dieser Stelle steht auch Andriiumlns 2911 aber Andraiiumlns in Mk 129 und DSg Jairupulai 1511 im Vergleich mit Iairaupaulein KolAB 413

Magnuacutes Snaeligdal156

Die Urkunde von Arezzo enthaumllt die ἅπαξ λεγόμενα frabauhtaboka und husis (hus Konjektur fuumlr hugsis) aber gudhus ist im Codex Argenteus beleget auszligerdem die Namen Gudilub Alamoda und Kaballarja Die einzigen eigentlichen ἅπαξ λεγόμενα in der Urkunde von Neapel sind die Namen Ufitahari Sunjafrithornas Merila und Wiljarithorn die Urkunde ist zugleich das einzige Dokument das alamothorns (alamoda) sbquoVertreterrsquo hat und die Wortformen andnemum saiwe wairthorn und das Lehnwort kawtsjo sbquocautiorsquo sind nicht in anderen Dokumenten vorhanden Den beiden Urkunden gemeinsam sind die Wortformen ufmelida (ufmeljan sbquounterschreibenrsquo) und skilliggans (skilliggs sbquosolidus Schillingrsquo) Die Morpheme sind doch weitgehend bekannt

Die Gotica Veronensia enthalten als einzige Quelle die Wortform blothornarinnandin (fuumlr -ein 713) aber der NSg ist in Mt 920 belegt Die Formen horans und motarjans (1930) sind Konjekturen und die belegten Formen horos und motarjos sind aus einigen Beispielen bekannt Interessant ist auch die Form martwrans (2769) die es wahrscheinlich macht daszlig man in Kal 23 2910 marwtre in martwre korrigieren sollte

Nur im Codex Vindobonensis 795 ist die Form libaida sbquoἔζησε lebtersquo erhalten aber am interessantesten ist hier vielleicht das Zahlzeichen uarr fuumlr 900

Der Codex Gissensis enthaumllt als einziger die Wortformen bairhtaim (LkG 2311) und ufkunthornedeina (LkG 2416) ein neues Wort ist dort jedoch nicht zu finden

Diese kleinen Bruumlckstuumlcke stellen keine groszligen Zusaumltze zu unserer Erkenntnis der gotischen Morphologie dar aber etwas ist nur dort belegt Da die gotischen Quellen so eingeschraumlnkt sind muss man immer beachten was belegt ist und was nicht

23 Die am haumlufigsten vorkommenden Woumlrter

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 S335 und 337 erstellen auch eine Liste der 6 Woumlrter die eine so groszlige Frequenz aufweisen daszlig jedes von ihnen mehr als 1 des gesamten Textes ausmacht Diese 6 Woumlrter sind jah in ni du izwis und ithorn Sie gehen von Typen aus aber wenn man von Lexemen und deren Varianten ausgeht (zB jah jab jad jag jal jam jan jar jas jathorn) und Flexionsformen zusammenstellt ergibt dies 14 Lexeme

Ostgermanische Morphologie 157

TollenaereJones MSn 2006Type Zahl Lexem Zahl Typen

jah 4429 65 jah 4479 66 (10)sa 3090 45 (17)

in 2315 34 in 2340 34is 2162 32 (17)

wisan 1947 29 (49)ni 1507 22 ni 1527 225 (2)

qithornan 1195 176 (39)izwis 873 13 jus 1094 16 (4)

du 1061 16 du 1058 156saei 1040 15 (18)

ik 970 14 (4)alls 728 11 (14)guthorn 690 10 (3)

ithorn 688 10 ithorn 685 10Tab 5 Die haumlufigsten Woumlrter im Vergleich mit TollenaereJones

Diese 14 am haumlufigsten vorkommenden Lexeme ergeben insgesamt 23997 Tokens oder 353 des ganzen Textes Zwar macht izwis fuumlr sich genommen noch 13 des Textes aus (867 Beispiele) die Form hat jedoch zwei Funktionen Akkusativ und Dativ und unterscheidet sich deswegen von den anderen Woumlrtern in der Liste von TollenaereJones Es stuumlnde zwischen ik und alls Die flektierten Woumlrter werden unten weiter eroumlrtert

Solche Informationen zur Wortfrequenz muumlssten miteinbezogen werden falls die Absicht darin bestuumlnde einem Computer Gotisch beizubringen Ich habe jedoch die Tatsache nicht beruumlcksichtigt daszlig einige dieser Flexionsformen eines Lexems haumlufig vorkommen waumlhrend andere nur sehr selten vorkommen oft nur einmal Es ist auch so daszlig das was im gotischen Text vorkommt von der griechischen Vorlage bestimmt ist Diese Informationen sagen uns jedoch etwas daruumlber wie der gotischen Text zusammengesetzt ist

3 Was wissen wir von gotischer MorphologieDie gotischen Quellen ermoumlglichen es uns trotz ihrer oben diskutierten Eingeschraumlnktheit das morphologische System des Gotischen relativ gut zu kennen Es ist den Systemen der anderen uns bekannten altgermanischen

Magnuacutes Snaeligdal158

Sprachen weitgehend aumlhnlich wobei es allerdings altertuumlmlicher ist und Kategorien bewahrt die in den anderen germanischen Sprachen verloren gegangen sind

31 Die Substantive

Das am haumlufigsten vorkommende Nomen ist guthorn sbquoGottrsquo was fuumlr einen biblischen Text natuumlrlich nicht erstaunlich ist Eigentlich geht es hier um 4 Typen guthorn guthorna guthorns und guda Die Substantive weisen drei Genera auf und werden in vier Kasus und zwei Numeri dekliniert Der fuumlnfte Kasus der Vokativ faumlllt meistens mit dem Nominativ zusammen hat aber in einigen Deklinationsklassen im Singular dieselbe Form wie der Akkusativ (aiund-Staumlmme) Der Vokativ als selbstaumlndiger Kasus ist in den anderen germanischen Sprachen nicht uumlberliefert Ein Substantiv im Gotischen kann also houmlchstens acht verschiedene Kasusformen aufweisen wobei viele im Vokativ nicht belegt sind (und aus semantischen Gruumlnden nicht zu erwarten waumlren) Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen sind 23 (9 Maskulina 8 Neutra 6 Feminina) Diese werden hier aufgefuumlhrt und dabei zeigen skalks und sunus den Vokativ

Maskulinum Neutrum Femininum

manna ndash 350 Mann sunus ndash 295 Sohn atta ndash 252 Vater dags ndash 198 Tag ahma ndash 193 Geist brothornar ndash 176 Bruder hlaifs ndash 74 Brot skalks ndash 58 Knecht praufetus ndash 50 Prophet

waurd ndash 210 Wort waurstw ndash 102 Werk hairto ndash 93 Herz barn ndash 84 Kind namo ndash 81 Name mel ndash 70 Zeit waldufni ndash 67 Gewalt frathorni ndash 17 Verstand

managei ndash 143 Menge mahts ndash 94 Macht frawaurhts ndash 90 Suumlnde thorniuda ndash 59 Volk aikklesjo ndash 58 Gemeinde qino ndash 46 Weib

Tab 6 Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen nach der Frequenz geordnet

Auch sollten in diesem Zusammenhang Beispiele wie aba (29) sbquoEhemannrsquo genannt werden wo der APl nicht belegt ist obgleich die Form abans einmal als NPl vorkommt Es ist eindeutig daszlig es keine direkte Beziehung gibt zwischen der Zahl der Beispiele und dem was von dem Paradigma belegt ist Von frathorni gibt es zB nur 17 Beispiele aber von frauja sbquo(der)

Ostgermanische Morphologie 159

Herrrsquo 450 doch ist der GPl fraujane nicht belegt Von guthorn fehlen der D und GPl

32 Die Adjektive

Die Adjektive werden stark und schwach dekliniert wie in den anderen altgermanischen Sprachen auch Fuumlr kein Adjektiv ist das komplette Paradigma uumlberliefert Das Pronominaladjektiv alls sbquoallrsquo zeigt die starken Formen wird aber nicht schwach dekliniert Es fehlt hier der GSgm da von den 33 Tokens des Types allis 6 zum GSgn und 27 zur Konjunktion allis gehoumlren

33 Die Pronomina

Alle 24 Flexionsformen des Demonstrativpronomens sa sbquoder dieserrsquo sind belegt Wegen des Synkretismus wuumlrde man 15 verschiedene Formen erwarten es tauchen jedoch 17 auf Die zwei zusaumltzlichen Formen sind die Variante thornizei (11) im GPlm amp n fuumlr thornize (122) und thornat- (17) im N amp ASgn fuumlr thornata (485) in thornatist und thornatain

Die Flexionsformen des Relativpronomens saei sbquoderrsquo betragen 23 wobei der GPlf nicht belegt ist (thornizoei) Von dieser Form abgesehen waumlren 14 verschiedene Formen zu erwarten es tauchen jedoch 18 auf Die 4 zusaumltzlichen Formen sind thornane (1) im ASgm fuumlr thornanei (69) thornize (9) im GSgm amp n fuumlr thornizei (39) thornizeiei (1) im GPlm fuumlr thornizeei (18) und thornoze (1) im APlf fuumlr thornozei (13) Von den Tokens von thornatei houmlren 206 zum Relativpronomen saei und weitere 443 zur Konjunktion thornatei sbquodaszligrsquo von den 109 Tokens von thornammei gehoumlren 92 zum Pronomen aber 17 zur Konjunktion von den 51 Tokens von thornizei gehoumlrt ein zur Konjunktion die anderen wurden bereits oben behandelt Die Konjunktion thornatei thornammei thornizei weist damit 461 Tokens auf

Die Flexionsformen des Personalpronomens issiita sbquoersieesrsquo betragen 22 der APln ist nicht belegt sollte aber mit dem N uumlbereinstimmen ija das gleiche gilt fuumlr den NPlf der dem A entsprechen sollte ijos Zu erwarten waumlren 15 verschiedene Formen es tauchen jedoch 17 auf Die zusaumltzlichen Formen sind imm- (2) im DSgm fuumlr imma (595) in immuh und izei (3) im GPlm fuumlr ize (115) Von den 23 Tokens von izei gehoumlren dann 20 zu dem Relativpronomen izei sbquoderrsquo mit 14mal ize von 129 Mit den 48 Tokens von sei betragen die Tokens von diesem Pronomen 82 Von den 514 Tokens von is sind 139 NSgm 320 GSgm sowie 7 GSgn und 48 sind die 2PSg

Magnuacutes Snaeligdal160

von wisan Von den 479 Tokens von im sind 341 DPlm 17 DPln sowie 9 DPlf und 112 sind die 1PSg von wisan

Zu jus sbquoihrrsquo (176 + juz 1) werden izwis (867) und 50 Tokens von izwara gezaumlhlt weitere 66 gehoumlren zum Pron izwar Die Formen der 2PSg betragen 414 und die des Du 8 insgesamt fuumlr die Pronomina der zweiten Person 1516 (22)

Zu ik sbquoichrsquo (324) werden mik (271) mis (360) und 15 Tokens von meina gezaumlhlt weitere 64 houmlren zum Pron meins Die Formen der 1PDu sind 8 und der Pl 368 insgesamt fuumlr die Pronomina der ersten Person 1346 (2)

34 Die Verben

In der Konjugation hat das Gotische zwei Kategorien bewahrt die sonst in den germanischen Sprachen nicht vorkommen Diese Kategorien sind der Dual und das Passiv (nur im Praumlsens auch sollte hier die dritte Person Singular und Plural Imperativ genannt werden) Dualformen gibt es nur wenige ndash 32 Tokens von 24 Typen ndash und sie kommen am meisten im Lukas- und Markus-Evangelium vor Es fehlen verschiedene Formen zB der Optativ Praumlteritum Das Passiv wird jedoch haumlufig gebraucht Dafuumlr gibt es insgesamt 331 Tokens (05) von 190 Typen (2) von 144 Verben Die Verben die am haumlufigsten im Passiv vorkommen sind bigitan sbquofindenrsquo (10 Tokens 3 Typen 5 Kategorien) und haitan sbquonennenrsquo (25 Tokens 5 Typen 6 Kategorien) Die Beispiele sind folgendermaszligen auf Personen Numeri und Modi verteilt

1 2 3IndSg 11 4 142 Pl 14 10 36

OptSg 13 6 60 Pl 10 8 17

Tab 7 Die Anzahl und Distribution der Passivformen

Fuumlr kein Verbum ist das komplette Paradigma uumlberliefert aber die haumlufigsten sind wisan sbquoseinrsquo und qithornan sbquosagenrsquo

Von wisan sind 49 Typen belegt die 40 Stellen im Paradigma ausmachen Dabei gibt es wie man sieht verschiedene Varianten Wenn wir vermuten daszlig dieses Verb kein Passiv keinen Imperativ und kein Partizip Praumlteritum gehabt hat fehlen auf jeden Fall 7 finite Dualformen Vorhanden sind dann 25 Formen von 32 wegen des Synkretismus (was) sollten sie 31 sein Im Partizip

Ostgermanische Morphologie 161

Praumlsens sind 15 Stellen von 24 gefuumlllt Dort gibt es 11 (12) verschiedene Formen die jedoch 14 betragen sollten Dazu kommt dann noch der Infinitiv Insgesamt sind 40 Stellen von 57 (70) abgedeckt oder 36 Wortformen von 46 (78)

1 wisan svInf wisan

pers 1 2 3Prindsg im is ist nist

du siju sijutspl sijum sium sijuthorn siuthorn siud sind

optsg sijau siau sijais siais sijai siaidu sijaiwa sijaitspl sijaima sijaithorn sijaid sijaina

Ptindsg was wast wasdu wesu wesutspl wesum wisum wesuthorn wesun weisun

optsg wesjau weisjau weseis weiseis wesidu weseiwa weseitspl weseima weseithorn weseina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSgm wisands -a wisandan wisandin wisandinsPlm wisandans wisandans wisandam wisandaneSgn wisando wisando wisandin wisandinsPln wisandona wisandona wisandam wisandaneSgf wisandei wisandein wisandein-din wisandeinsPlf wisandeins wisandeins wisandeim wisandeino

Tab 8 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von wisan

In dem Paradigma von qithornan gibt es 124 Stellen (wenn man die 1PDuImp mitzaumlhlt vermutlich qithornos) Es waumlre auch moumlglich die 1 amp 2PDu amp Pl nicht mitzuzaumlhlen da diese immer gleich dem Indikativ sind Die Paradigmastellen betruumlgen dann 120 Doch ist auch die Variante qithornanata im PzPtNASgn moumlglich und vielleicht die schwache Form qithornanda im PzPrNSgm Belegt sind 39 Typen die 39 Stellen abdecken (man beachte jedoch die Konjektur qithornando die eigentlich zu qithornano gezaumlhlt werden sollte) Ungefaumlhr 32 der Stellen sind gefuumlllt Mit Komposita koumlnnen weitere

Magnuacutes Snaeligdal162

sieben Stellen gefuumlllt werden insgesamt 37 Von dem zweithaumlufigsten Verb sind also nur ungefaumlhr ein Drittel der Formen belegt

qithornan sv5Inf qithornan

Pers 1 2 3Pr Ind Sg qithorna qithorn- qithornis qithornithorn

Du qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornid qithornand

Opt Sg qithornau qithornais qithornaiDu qithornaiwa qithornaitsPl qithornaima qithornaithorn qithornaina

Imp Sg qithorn qithornadauDu qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornandau

Pass Ind Sg qithornada qithornaza qithornadaPl qithornanda qithornanda qithornanda

Opt Sg anaqithornaidau qithornaizau qithornaidauPl qithornaindau qithornaindau qithornaindau

PtIndSg qathorn qast qathornDu qethornu qethornutsPl fauraqethornum qethornuthorn qethornun

Opt Sg qethornjau qethorneis qethorniDu qethorneiwa qethorneitsPl qethorneima qithorneithorn qethorneina qithorneina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSg m qithornands -a qithornandan qithornandin qithornandinsPl m qithornandans fraqithornandans qithornandam qithornandaneSg n qithornando qithornando qithornandin qithornandinsPl n qithornandona qithornandona qithornandam qithornandaneSg f qithornandei qithornandein qithornandein qithornandeinsPl f qithornandeins qithornandeins qithornandeim qithornandeino

Ostgermanische Morphologie 163

PzPt

Sg m sw

qithornans qithornana

faurqithornanana qithornanan

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl m sw

fraqithornanai fraqithornanans

qithornanans qithornanans

qithornanaim fraqithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg n sw

qithornan -ata qithornano

qithornan -ata qithornano

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl n sw

qithornana qithornanona

qithornana qithornanona

qithornanaim qithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg f sw

qithornana qithornano

qithornana qithornanon

qithornanai qithornanon

qithornanaizos qithornanons

Pl f sw

qithornanos qithornanons

qithornanos qithornanons

qithornanaim qithornanom

qithornanaizo qithornanono

Tab 9 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von qithornan

4 Was wir nicht wissenAn dieser Stelle moumlchte ich Folgendes einfuumlgen Wenn ich einen islaumlndischen Text analysiere dann kenne ich zB den ASg aethgang und ich weiszlig daszlig der NSg aethgangur heiszligt (bdquoZutrittldquo) Auch kann ich jemanden fragen oder in einem Woumlrterbuch nachschlagen falls ich im Zweifel bin Wenn ich einen gotischen Text analysiere kann ich nicht wissen welchen Nominativ der ASg atgagg hat wenn er nicht im Text vorkommt ist er atgagg n oder atgaggs m Die erste Form stuumltzt sich auf gagg DSgAPl gagga Die zweite Form ist auch moumlglich vgl Isl aber wenn so wie war das Wort dann eigentlich dekliniert War es ein a- oder ein i-Stamm In solchen Faumlllen stuumltzt man sich auf die anderen germanischen Sprachen wenn das Wort dort belegt ist Das kann jedoch problematisch sein Im Gotischen findet man zB DSg sinthorna und DPl sinthornam Ist der NSg sinthorn n wie Isl sinn oder sinthorns m wie Ahd sind sbquoMalrsquo Weiter kann man an einem Beispiel wie wahtwom (Lk 28) nicht sehen ob es ein ō-Stamm oder ein ōn-Stamm ist NSg wahtwa oder wahtwo sbquoWachersquo Schlieszliglich nenne ich ein Beispiel wie gards sbquoHausrsquo Im Gotischen liegt ein i-Stamm vor aber garethur ist ein a-Stamm im Islaumlndischen und Westgermanischen was wahrscheinlich urspruumlnglicher ist Gotisch bewahrt nicht immer das Aumllteste Man kann sagen daszlig wir das Deklinationssystem der Gotischen im Groszligen und Ganzen kennen Die Schwierigkeit besteht eher darin daszlig

Magnuacutes Snaeligdal164

wir wegen der begrenzten Quellen nicht ohne weiteres sagen koumlnnen wie jedes gotisches Wort dekliniert wurde

Es ist auch ein gewisses Problem daszlig der Text meistens nur in einer Handschrift uumlberliefert ist Deswegen ist es oft unmoumlglich zu sehen ob ein Schreibfehler vorliegt oder nicht vgl(3) ἰδοὺ ἐξῆλθεν ὁ σπείρων τοῦ σπεῖραι Mk 43 (CA) sai urrann sa saiands du saian Ver 2235 bi thornatei qithornithorn sai urrann saianltdsgt du saltigtan Luther Siehe es ging ein Saumlmann aus zu saumlen Elberfelder Siehe der Saumlmann ging aus um zu saumlen Lk 85 urrann saiands du saian

In diesem Fall waumlre der Artikel in Gotischen nicht zu erwarten da der Saumlmann hier zum ersten Mal genannt wird (vgl Lk 85) Vielleicht bewahrt die veronesische Randglosse (Gotica Veronensia) hier die urspruumlngliche Form aber der Schreiber des Codex Argenteus hat einen Fehler gemacht Er schrieb erst sa und dann das ganze Wort saiands Im Zweifelsfall kann sa auch ein selbstaumlndiges Wort sein Ist dies die Silbe sa oder das Morphem sa

Noch ein Beispiel(4) Joh 1816ndash17 16 hellip thornaruh usiddja ut sa siponeis anthornar saei was kunthorns thornamma gudjin jah qathorn daurawardai jah attauh inn Paitru 17 thornaruh qathorn jaina thorniwi so daurawardo du Paitrau

16 hellip ἐξῆλθεν οὖν ὁ μαθητὴς ὁ ἄλλος ὃς ἦν γνωστὸς τῷ ἀρχιερεῖ καὶ εἶπεν τῇ θυρωρῷ καὶ εἰσήγαγεν τὸν Πέτρον 17 λέγει οὖν ἡ παιδίσκη ἡ θυρωρός τῷ Πέτρῳ

16 hellip Da ging der andere Juumlnger der dem Hohenpriester bekannt war hinaus und sprach mit der Tuumlrhuumlterin und fuumlhrte Petrus hinein 17 Da spricht die Magd die Tuumlrhuumlterin zu Petrus

Hier ist es wahrscheinlich daszlig daurawardo ein Schreibfehler fuumlr daurawarda ist von so verursacht aber selbstverstaumlndlich ist es nicht ausgeschlossen daszlig beide Formen im Gotischen uumlblich waren Aber da wir hier nur eine Handschrift haben ist es schlichtweg unmoumlglich ein endguumlltiges Urteil zu faumlllen Im Fall des jan-Stamms waurstwja sbquoἐργάτης Arbeiterrsquo der 17 Mal vorkommt gibt es auch aber nur einmal den reinen n-Stamm waurstwa (1 TimA 518) Bevor man dies als Schreibfehler

Ostgermanische Morphologie 165

verurteilt sollte man gawaurstwa (13) sbquoσυνεργός Mitarbeiterrsquo und die Moumlglichkeit von wrakja (8) wraka (5) sbquoδιωγμός Verfolgungrsquo uumlberlegen Hier leben anscheinend ein jō-Stamm und ein ō-Stamm Seite an Seite vgl die folgenden Parallelstellen(5) 2 Tim 311ndash12

2 TimA 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakjos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

2 TimB 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

In einigen wenigen Faumlllen gibt es unverstaumlndliche Formen die in Morpheme zerlegbar sind aber deren Wurzeln ganz isoliert sind ZB

(6) a Phlm 22

bijandzuthorn thornan manwei mis salithornwos ἅμα δὲ καὶ ἑτοίμαζέ μοι ξενίαν Zugleich aber bereite mir auch eine Herberge

b 2 ThessB 32

jah ei uslausjaindau af gastojanaim jah ubilaim mannam καὶ ἵνα ῥυσθῶμεν ἀπὸ τῶν ἀτόπων καὶ πονηρῶν ἀνθρώπων und daszlig wir errettet werden von den schlechten und boumlsen Menschen

Im ersten Fall ist die Form bijands problematisch Sie scheint ein Partizip Praumlsens zu sein aber wie kann ein solches Partizip das griechische ἅμα uumlbersetzen Zu erwarten waumlre das Adverb samana sbquozusammen zugleichrsquo Dieses bij- ist ganz isoliert auszliger falls es ein Schreibfehler fuumlr bidjandz- ist das bliebe ebenfalls eine merkwuumlrdige Uumlbersetzung

Im zweiten Fall geht es um gastojanaim Eigentlich scheint es ein starkes Partizip Praumlteritum des schwachen Verbs (ga)stojan sbquo(be- ver-) urteilenrsquo zu sein Semantisch waumlre dies wieder eigentuumlmlich Das griech Adj ἀτόπος ist sonst zweimal im Neuen Testament belegt (Lk 2341 und Apg 286) aber beide Stellen sind im gotischen Korpus verloren gegangen

Zum Schluss nenne ich das Beispiel des Verbs kaurjan βαρεῖν druumlckenrsquo wo die Quellen die Frage nicht beantworten koumlnnen ob der Stamm lang oder

Magnuacutes Snaeligdal166

kurz ist Die entscheidenden Formen kaurjiskaureis kaurjithornkaureithorn sind nicht belegt (vgl Snaeligdal 2002 S37) Die Konjugationsklasse einiger Verben ist auch unsicher

In der Lemmatisierung der CBG habe ich diese Probleme bdquogeloumlstldquo indem ich einfach die Form die ich als die wahrscheinlichste dachte als Grundform gewaumlhlt habe Dabei ist immer klar ob die Form belegt ist oder nicht

5 Zum SchlussIm Project Wulfila (httpwwwwulfilabegothicbrowse) kann man durch Anklicken die grammatische Analyse jedes Wortes haben Es waumlre wuumlnschenswert einen annotierten Text herzustellen denn dann koumlnnte man nach grammatischen Kategorien suchen hier zum Beispiel fuumlr Phlm 11ndash134

(7) Phlm 11hellip ithornltCgt nultDgt thornusltRP DS thornugt jahltCgt misltRP DS ikgt bruksltA NSM bruksgt THORNanuhltRD ASM sahgt insandida ltV XAI1S insandjan gt Phlm 12 ithornltCgt thornultRP NS thornugt inaltRP ASM isgt thornat-ltRD NSN sagt istltV PAI3S wisangt meinosltA APF meinsgt brustsltN APF brustsgt meinaltA APN meinsgt h[air]thornraltN APN hairthornragt andnimltV PAD2S andnimangt Phlm 13 thornaneiltRR ASM saeigt ikltRP NS ikgt wildaltV XAI1S wiljangt atltPgt misltRP DS ikgt gahabanltV PAN gahabangt eiltCgt faurltPgt thornukltRP AS thornugt misltRP DS ikgt andbahtidediltV XAO3S andbahtjangt inltPgt bandjomltN DPF bandigt aiwaggeljonsltN GSF aiwaggeljogt

Am besten sollte ein solcher Text mit dem annotierten Text der griechischen Vorlage kombinierbar sein

(8) Phlm 11 hellip νυνὶ ltDgt δὲ ltCgt σοὶ ltRP DS σύgt καὶ ltCgt ἐμοὶ ltRP DS ἐγώgt εὔχρηστον ltA ASM εὔχρηστοςgt Phlm 12 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἀνέπεμψα ltV AAI1S ἀναπέμπωgt σὺ ltRP NS σύgt δὲ ltCgt αὐτόν ltRP ASM αὐτόςgt τοῦτrsquo ltRD NSN οὗτοςgt ἔστιν ltV PAI3S εἰμίgt τὰ ltRA APN ὁgt ἐμὰ ltA APN ἐμόςgt σπλάγχνα ltN APN σπλάγχνονgt προσλαβοῦ ltV AMD2S προσλαμβάνομαιgt Phlm 13 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἐγὼ ltRP NS ἐγώgt ἐβουλόμην ltV IMI1S βούλομαιgt πρὸς ltPgt ἐμαυτὸν ltRP ASM ἐμαυτοῦgt κατέχειν ltV PAN κατέχωgt ἵνα ltCgt ὑπὲρ ltPgt σοῦ ltRP GS σύgt μοι ltRP DS ἐγώgt διακονῇ

4 Erklaumlrung der Abkuumlrzungen ltCgt = Konjunktion ltDgt = Adverb ltPgt = Praumlposition ltRP DSgt = Personalpronomen Dativ Singular ltRD ASMgt = Demonstrativpronomen Akkusativ Singular Maskulinum ltA NSMgt = Adjektiv Nominativ Singular Maskulinum ltN DPFgt = Nomen Dativ Plural Femininum ltV XAI1Sgt = Verb Praumlteritum Aktiv Indikativ erste Per-son Singular usw im Griechischen zB ltV AAI1Sgt = Verb Aorist Aktiv Indikativ erste Per-son Singular ltV AMD2Sgt = Verb Aorist Medium Imperativ zweite Person Singular usw

Ostgermanische Morphologie 167

ltV PAS3S διακονέωgt ἐν ltPgt τοῖς ltRA DPM ὁgt δεσμοῖς ltN DPM δεσμόςgt τοῦ ltRA GSN ὁgt εὐαγγελίου ltN GSN εὐαγγέλιονgt

LiteraturBennett William H (1960) The Gothic Commentary on the Gospel of John skeireins aiwaggeljons thornairh iohannen A Decipherment Edition and Translation New York The Modern Language Association of America (Monograph series XXI)

Ebbinghaus Ernst A (1990 2003) lsquoThe Question of Visigothic Runic Inscriptions Re-examinedrsquo in General Linguistics 41990 (Band 30) The Pennsylvania State University (Neudruck (2003) in Ebbinghaus Ernst A Gotica Kleine Schriften zur gotischen Philologie Piergiuseppe Scardigli mdash Wolfgang Meid (eds) Innsbruck S 180-188) S 207-214

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Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology

Luděk Vaciacuten

The present paper studies the status and role of the sun-god in Mesopotamian royal ideology It scrutinizes the development of the sun-godrsquos image from Early Dynastic times until the Old Babylonian period and discusses its depen-dence on current ideological schemes The focus of the paper is the Ur III image of the sun-god in this period the deification of kings resulted in a merge of king and sun-god with the former replacing the latter Since this merge was a by-product of the notion of divine kingship it was abandoned during the Old Babylonian period together with the concept of royal divinity as a whole in favour of traditional ideology

Ancient Near Eastern royal ideology is one of the most complex important and interesting issues for any scholar in the field as it sheds light on the ways used in that region for millennia to justify the rule of peoples by a single man the monarch1 The fundamental importance of legitimacy for a ruler is amply documented in a wealth of written and material sources which record various ideas of kingship and its sacred basis eg royal inscriptions date formulae ideologically charged literary compositions statues reliefs stelae etc Thus the theme of royal ideology offers a wide range of topics to focus on This brief paper deals with the relationship between the king and the sun-god specifically with the attribution of some of the sun-godrsquos features to the king in Ur III Mesopotamia2 Its basic substance is much indebted to a more general article by Claudia Fischer at the end of which the author states that one of the aims of her paper was lsquoto provide impetus for other researchers to explore the themes presented here or to offer their

1 Despite a number of studies on the royal ideologies of ancient Near Eastern cultures their changes over the time and their adaptation to the needs of certain dynasties or even individual rulers the only monograph attempting to cover this huge theme in all its com-plexity is still Henri Frankfortrsquos seminal but outdated book (Frankfort 1978) 2 I am grateful to D Schwemer for suggesting this topic to me For a general characteri-sation of early Mesopotamian royal ideology see Postgate 1995 395-403 407 Cf Edzard 1972-5 Krecher 1976-80 Caplice - Heimpel 1976-80 Edzard 1980-3a Edzard 1980-3b Cf further the recent volume containing several illuminating articles on divine kingship Brisch 2008

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own interpretationsrsquo3 The present article is a response to that call refining several points Fischer made and discussing some additional ones

First we shall review the most important aspects and functions of the sun-god in general The solar god (Utu in Sumerian and Šamaš in Akkadian) is attested in tandem with another astral deity the moon-god (Nanna in Sumerian and Sursquoen in Akkadian) already in archaic texts from Uruk and Ur and subsequently in all the later god lists But despite the importance of the object that he represented the sun-god did not attain the kind of prominence in myth and ritual enjoyed by the moon-god in the third mil-lennium Perhaps this can be explained by the significance of the moon for the calendar the influence of moon phases on ebb and flow and fertility of crops and livestock (sowing crops and mating animals were by preference done during moon waxing) on the mental state of humans (especially women during menstruation) and possibly also by the similarity of moon phases with the course of human life Thus unlike the Egyptian one the early Mesopotamian sun-god stood in the shadow of the moon-god but it does not mean at all that he was always seen as subordinate to the moon-god

He was venerated in the majority of Mesopotamian cities for millennia the centres of his cult being his temple complexes in Larsa and Sippar both called Ebabbar (lsquoThe Shiny Housersquo) His aspects and functions were deter-mined by the obvious features and activities of the solar disc The sun dis-pels darkness and thus wards off danger and evil Its rays reach every corner of the world Accordingly UtuŠamaš was the omniscient god who saw and knew everything while tirelessly roaming the universe day and night he was the guardian and overseer of cosmic order These two capacities made him the natural guarantee of justice the divine supreme judge and the patron of travellers This basic picture of the Mesopotamian sun-god is present in a number of literary compositions which often elaborate on it sometimes over several hundred lines Among the most telling examples are a Sumerian incantation to Utu and the Akkadian Šamaš Hymn4 We will briefly summarize the characteristics of the sun-god described in these texts as it is important for our subsequent discussion of royal ideology

The initial (and lengthy) part of the Sumerian incantation to the sun-god invokes him as the source of light and juridical authority It proceeds to extol him as a protector of animals and humans He inspects the universe and guards orphans and widows Without him there would be no justice

3 Fischer 2002 133 4 For an edition of the former see Alster 1991 For the latter see Lambert 1960 121-38

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no river ordeal no regalia no kingship the cultic personnel would not be selected wild animals would not catch their prey people would not get their sustenance fowlers and fishermen would not catch anything weavers would not make cloth people would not be able to live and die they would not be able even to recognize each other it would not be pos-sible to wage war there would be no order in Sumer no one would take care of the poor Significantly this section ends with an image of the poor and homeless as well as widows and orphans again directing their eyes towards Utu and seeking assistance (cf Alster 1991 30f)

The Akkadian Šamaš Hymn represents the most comprehensive summary of Mesopotamian solar theology It praises the sun-god as the provider of light who brings blessings to the fields and illumines the mountains He herds all breathing creatures he is the guardian of all above and below crossing the skies unceasingly All mankind bows low to him and longs for his radiance His words are righteous decrees he stands by pilgrims walking difficult roads protects merchants from storms shows shelter to refugees and supports captives His ultimate juridical authority is glorified by the examples of a remorseless judge whom he punishes and a prudent judge whom he makes oversee the palace and live among princes Another example is that of a deceitful merchant whose fraudulence loses him his assets and an honest merchant whose fairness gains him everything in a good measure Šamaš is futher extolled as a protector of those who are away from their homes and therefore weakened hunters travellers even highwaymen

The above functions of the sun-god are apparently a sum of an ideal kingrsquos features Hence already some Old Sumerian semi-legendary as well as historical rulers strove for Utursquos support and called him lsquotheir lordrsquo Meskiaĝgašer of Uruk was the lsquoson of Utursquo according to the Sumerian King List5 Similarly the ruler of Uruk Enmerkar (Meskiaĝgašerrsquos son in the SKL) is the lsquoson of Utursquo in several literary compositions6 He is even referred to as the lsquosun-god of the landrsquo in lsquoEnmerkar and the Lord of Arattarsquo (line 309) The sun-god further acts as a protector and helper of Lugalbanda and Gilgameš in literature pertaining to them7 He also helps his brother-in-law

5 For the sake of brevity we refer only to the ETCSL treatment of the majority of Sumerian texts discussed in this paper The reader will find references to the respective critical edi-tions there See ETCSL 211 lsquoThe Sumerian King Listrsquo lines 96f 6 See ETCSL 1823 lsquoEnmerkar and the lord of Arattarsquo passim 1822 lsquoLugalbanda and the Anzud birdrsquo passim 1821 lsquoLugalbanda in the mountain caversquo passim 7 For the tales of Lugalbanda see the previous note Concerning the Sumerian tales of Bilgames see especially ETCSL 1815 lsquoGilgameš and Huwawa (version A)rsquo passim 18151

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Dumuzi escape the netherworld demons8 However it must be stressed that we do not know the extent to which Old Sumerian compositions might have been altered by the time of the manuscripts on which they are extant today Indeed some of them show signs of the moon-godrsquos superiority over the sun-god not ascertainable in texts from earlier times9 Therefore literary texts dealing with the above rulers cannot be taken as a reflection of the relationship between an Old Sumerian ruler and the sun-god with-out due caution Finally king Lugalzagesi who unsuccessfully attempted to create the first territorial state in Mesopotamia called himself the one lsquonamed by Utursquo and the lsquomilitary governorrsquo of Utu stressing the sun-godrsquos warlike aspect also present in the first section of the Sumerian incantation summarized above (cf Fischer 2002 130f with references)

As we have seen in Early Dynastic times the sun-god played the usual roles of divine father guardian and helper for the king Such functions were ful-filled by many major as well as minor deities throughout Mesopotamian history But in this case the sun-godrsquos capacity to take care of those far from home on dangerous missions and his heroic aspect came to the fore10 However apart from the unique attestation concerning Enmerkar no one seems to have attempted to appropriate that aspect for himself and thus become an lsquoearthly sun-godrsquo dispossessing the heavenly one

The situation changed fundamentally when the Old Akkadian king Narāmsursquoen held sway over Mesopotamia His deification meant that he himself became a heroic god and protective deity of Akkad His reign is the likely point of time when the sun-god became the moon-godrsquos son and thus

lsquoGilgameš and Huwawa (version B)rsquo passim 1814 lsquoGilgameš Enkidu and the nether worldrsquo passim For the Akkadian Gilgameš Epic see George 2003 8 See ETCSL 143 lsquoDumuzidrsquos dreamrsquo passim 141 lsquoInanarsquos descent to the nether worldrsquo lines 368-83 9 Particularly the father-son relationship referred to in line 152 (lsquohero Ningalrsquos sonrsquo) of lsquoLugalbanda in the Mountain Caversquo line 238 (lsquoyoung warrior Utu the son born by Ningalrsquo) of lsquoBilgames Enkidu and the Netherworldrsquo and Utursquos obvious subordination to Nanna in line 206 (lsquoFather Nanna gives the direction for the rising Utursquo) of lsquoLugalbanda in the Moun-tain Caversquo are typical features of the post-Sargonic solar theology The notion that the sun-god was a son of the moon-god seems to have originated during the reign of Narāmsursquoen Further the fact that the sun-god was regarded as a lsquominorrsquo deity in Sargonic and Ur III times speaks for itself See Fischer 2002 130 with nn 37 and 39 10 With regard to the kingrsquos person these two features can be seen as closely connected because war was definitely one of the dangerous missions in which the king would have needed the sun-godrsquos protection as well as his military prowess Hence it is not surprising that Utu was the divine father of adventurous rulers of the heroic age and that he should have chosen Lugalzagesi a king with imperial aspirations

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the superiority of Nanna-Sursquoen over UtuŠamaš was established11 The sun-god was suppressed precisely because his characteristics perfectly fitted the image of an ideal king now a deity The most striking act of Narāmsursquoenrsquos displacement of the sun-god was the erection of his famous victory stela depicting the king as a martial god climbing a mountain (a posture used for astral deities in visual art mainly glyptic) in the sun-godrsquos city Sippar (perhaps even in his temple) in celebration of the kingrsquos new status the victorious sun-god of his land (Fischer 2002 131)

One might surmise that the act of assuming features proper to a deity could be a way of glorifying that deity rather than suppressing it The logic would more or less be that lsquoimitation is the sincerest form of flatteryrsquo This does not seem to apply to our case however Imitation might function as a form of glorification when the imitator was human (as in the case of Hammurāpi and other later kings see below) But Narāmsursquoen was divine He not only took over functions from the sun-god but also presented him-self in a posture normally reserved to the latter Thus what he did amounts to the substitution of one deity (the sun-god) with another (himself)

The kings of the Ur III dynasty adopted many measures formerly used by Old Akkadian monarchs to create and sustain an empire and this one was no exception In fact it was only natural for rulers coming from the moon-godrsquos city to turn Nanna into the most important astral deity and con-versely apply the sun-godrsquos features to the king at the expense of Utursquos cult Accordingly the old tradition of Nanna as Enlilrsquos son was revived and fixed in myth12 whereas Utursquos heroic and juridical aspects were appropriated by the king While the former event took place during the reign of Urnamma the second occurred under Šulgi in connection with his deification and was

11 See Fischer 2002 128 and n 19 130 and n 37 Note that in pre-Sargonic tradition the sun-god was regarded as Anrsquos or Enlilrsquos son12 See Krebernik 1993-7 364 for evidence of the Abū Ṣalābīkh tradition of Enlil and Ninlil as Nannarsquos parents (ref courtesy AR George) For a detailed discussion of the Ur III genealogy of Nanna see Klein 2001 especially 283f where he deals with the myth lsquoEnlil and Ninlilrsquo (ETCSL 121) describing the rape of the virgin goddess by Enlil which resulted in the birth of Nanna-Sursquoen as the first-born son of Enlil Klein states (2001 284) lsquoWe get the impression that the theologians of Urnammu or Šulgi who composed this piquant myth were at utmost pain to prove the firstborn status of Suen probably to refute a contradicting theological traditionrsquo Note however that Klein missed the ancient tradi-tion regarding Nanna as a son of Enlil when he ascribed the lsquoearliest explicit references to NannaSuen as Enlilrsquos sonrsquo (2001 280 see also 289ff 296 n 93) to Urnamma It is clear that Urnamma merely revived the old genealogy very suitable for his political goals indeed and developed it accordingly

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fully developed by the end of Amarsursquoenarsquos reign13 Although the king is never equated with Utu in royal hymns the sun-godrsquos inferiority is made clear by calling him the kingrsquos lsquobrother and friendrsquo (like Gilgameš)14 That is the result of the kingrsquos identity with Dumuzi on the mythological level which made him the husband of Inana and thus the brother-in-law of Utu The kingrsquos intimate relationship with Utursquos sister was undoubtedly responsible for Utursquos regular cult in the palace along with Inanarsquos and Nin-egalrsquos (a hypostasis of Inana) while his cult at Ur beyond the palace was only marginal and he was never worshipped along with his father in Ur III times (Fischer 2002 130 cf Sallaberger 1993 223 n 1061 tab 75 in vol 2) Utursquos lower status and the kingrsquos takeover of his functions are further apparent in a hymnal simile comparing Šulgi to the rising sun15 Utu is otherwise referred to in the Šulgi hymns as a provider of martial prowess and strength in battle often in his capacity of the kingrsquos companion and constable of the gods16 a further sign of his ancillary status Interestingly Šulgi seems to have appropriated Utursquos juridical aspect only indirectly The king as supreme judge was identified with Ištarān17 not with Utu but his characteristics are the same as Utursquos given in compositions pertaining to 13 The place name dŠulgi-dUtuki (lsquoŠulgi is the sun-godrsquo) given by Fischer (2002 132) as evi-dence for the kingrsquos explicit identification with Utu already by the time of Šulgi is inconclu-sive for we know of a site called dŠulgi-dNannaki as well See Edzard - Farber 1974 18414 Šulgi A line 79 Šulgi B lines 40 123 See Klein 1981 198f ETCSL 24202 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi B)rsquo Although the bulk of Ur III royal hymns is preserved on Old Babylonian tablets and therefore the possibility that the original Ur III traditions were dis-torted by Old Babylonian traditions always has to be reckoned with it does not seem that the tradition with which we are dealing here was subject to any distortion The hymnal evidence is corroborated not only by a piece of Ur III visual evidence (see n 16 below) but also by Ur III administrative texts coupling the offerings brought to Utu in the palace to those delivered on behalf of Inana and Ninegal for an interpretation of which see above Further divine Amarsursquoena was called lsquothe sun-god of his landrsquo in a royal inscription (see below) surely intact by any later tradition15 Šulgi C line 25 iri-ĝu10 dutu-gin7 ba-ta-egrave-egraven (lsquoI rose over my city like Utursquo) ETCSL 24203 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi C)rsquo 16 The bestowal of glory in battle and even of kingship in the land is the main theme of the fragmentary adab () hymn to Utu (Šulgi Q) ETCSL 24217 lsquoAn adab () to Utu for Šulgi (Šulgi Q)rsquo Could this hymn have been composed for use in the palace cult mentioned above Note also that Šulgi is depicted on a seal given by him to his consort Gemeninlila in the posture taken up by Narāmsursquoen on his victory stela and therefore as a victorious divine king in an astral dimension For a drawing of the seal see Mayr - Owen 2004 167 no 2 Noteworthy is also that Šulgi lsquoascended to heavenrsquo upon his death according to a contemporary administrative record and that there was a lsquostar of Šulgirsquo in Old Babylonian lexical tradition See Horowitz - Watson 1991 410f 413 17 This could have resulted from political considerations because Ištarān a deity of foreign origin (perhaps Elamite) was the city-god of Dēr a strategic centre at the unstable north-eastern fringe of the statersquos core territory Thus the king may have attempted to

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the sun-god18 The final step in this development was taken by Šulgirsquos suc-cessor Amarsursquoena who called himself explicitly lsquothe righteous god the sun-god of his landrsquo (see Frayne 1997 263 E321316)

The concept of the king taking over some of the sun-godrsquos functions con-tinued after the demise of the Ur III kingdom in the Isin-Larsa period but as it was closely tied to the deification of kings it gradually disappeared together with divine kingship itself Although eg Hammurāpi called him-self the lsquosun-god of Babylonrsquo the lsquosun-god of his peoplersquo and the one desig-nated lsquoto rise like Šamaš over the black-headed ones to illuminate the landrsquo (Fischer 2002 132 Beckman 2002 39f with references) these references should be taken as metaphorical for the Old Babylonian king was not dei-fied In other words he imitated the sun-god in his capacity of a protec-tor of the people and supreme judge but unlike Narāmsursquoen and some of the Ur III kings he did not and could not strive to replace him because he lacked the necessary precondition to do so ie he did not consider himself a divine being Thus in stark contrast to the depictions of divine kings Narāmsursquoen and Šulgi on his famous law code stela Hammurāpi was depicted as a respectful servant of the sun-god The textual references to Hammurāpi as sun-god can be interpreted as a form of flattery for a human king imitating a deity undoubtedly glorifies the latter This is also the case with similar passages in the inscriptions of later Mesopotamian kings because though they also adopted the idea of the rulerrsquos close bond with the sun-god they never attempted to replace him

Thus the post-Ur III period kings were just earthly reflections of the great astral deity symbolizing stability harmony justice and order ie the values inherent in the sun-godrsquos daily and immutable movement across the sky (cf Fischer 2002 132f)

show his desired unequivocal sovereignty over that area by means of identifying himself with Ištarān in his propagandistic texts 18 The most telling example comes from Šulgi X lines 142-9 lsquoHe the Ištaran of Sumer the omniscient one from birthfor the land he renders a firm judgementfor the land he obtains firm decisions(so that) the strong does not oppress the weakthe mother says pleas-ing (words) to her sonthe son speaks truth to his fatherunder him Sumer is filled with abundanceUr abounds in prosperityrsquo Klein 1981 144f

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Luděk Vaciacuten Department of the Near and Middle East Faculty of Languages and Cultures School of Oriental and African Studies University of London ludekvacinseznamcz

ERRATA ET CORRIGENDAIm Artikel bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo von Šaacuterka Velhartickaacute im Chatreššar 2006 wurden ohne Absprache und Zustimmung der Autorin zahl-reiche Aumlnderungen vorgenommen Der Korrektor hatte vor allem den urspruumln-glichen Titel des Artikels geaumlndert (zu bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) womit der Eindruck entsteht es gaumlbe mehrere Versionen dieses Rituals Die Autorin behaumllt sich vor den Artikel unter seinem urspruumlnglichen und kor-rekten Titel in Zukunft zu zitierenEin weiterer Fehler besteht darin dass der Korrektor in allen Faumlllen den Deter-minativ vor dem Wettergott statt bdquoDldquo auf bdquoDUldquo aumlnderte (in zwei Faumlllen auf DIM S 83) wodurch die Transkription unverstaumlndlich wurde An vielen Stellen kam es zu Veraumlnderungen bei der Schreibung der Kursive und umgekehrt und es gibt auch Fehler bei den Hochschreibungen In dem Kommentar zur Uumlbersetzung des hethitischen DUGpahhunalli- hatte der Korrektor willkuumlrlich die Uumlberset-zung der Autorin veraumlndert Daneben wurden auch mehrere Saumltze veraumlndert

Die Redaktion bedauert die oben genannten Veraumlnderungen Die Autorin stellt die korrekte und urspruumlngliche Version des Artikels allen Interessenten gern zur Verfuumlgung (velhartickacentrumcz) Diese ist auch unter httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf zu finden

V člaacutenku bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo Šaacuterky Velhartickeacute v Chat-reššaru 2006 byly bez vědomiacute a souhlasu autorky učiněny četneacute korektury Korektor pozměnil předevšiacutem titul člaacutenku (na bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) čiacutemž vznikaacute dojem že existuje viacutece verziacute tohoto rituaacutelu Autorka si vyhrazuje praacutevo citovat v budoucnu tento člaacutenek pod jejiacutem původ-niacutem a spraacutevnyacutem naacutezvem

Dalšiacute chyba spočiacutevaacute v tom že korektor ve všech přiacutepadech pozměnil determi-nativ před bohem bouřky z bdquoDldquo na bdquoDUldquo (ve dvou přiacutepadech na DIM s 83) čiacutemž se transkripce stala nesrozumitelnou Na mnoha miacutestech došlo ke změ-naacutem ve psaniacute kurziacutevy a opačně a vyskytly se chyby v psaniacute horniacuteho indexu V komentaacuteři k překladu chetitskeacuteho DUGpahhunalli- pozměnil korektor sveacutevolně autorčin překlad Vedle toho byly pozměněny i četneacute věty

Redakce vyslovuje politovaacuteniacute nad zmiacuteněnyacutemi uacutepravami Autorka poskytne raacuteda spraacutevnou a původniacute verzi člaacutenku k dispozici všem zaacutejemcům (velhar-tickacentrumcz) Tu je možneacute vyhledat i na straacutenkaacutech Uacutestavu srovnaacutevaciacute jazykovědy (httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf)

Chatreššar 2009

Edited by the Institute of Comparative Linguistics

Charles University in Prague Faculty of Arts

ISSN 1803-005X

EDITORIAL BOARDJost Gippert Goethe University Frankfurt aMHans Christian Luschuumltzky University of ViennaPetr Vavroušek Charles University PragueMartin Worthington University of CambridgeAndrzej Zaborski University of CracowPetr Zemaacutenek Charles University Prague

EXECUTIVE EDITORSJan Bičovskyacute Pavel Čech

PROFILE

Chatreššar is a scholarly peer-reviewed journal dedicated to publishing original research in the fields of Indo-European and Semitic linguistics and philology especially for ancient languages Areas of interest include comparative linguistics cultural history sociolinguistics electronic corpora and computational linguistics lexicography and other subjects Chatreššar is published in the form of a printed book selected articles will be accessible on-line depending on the authorsrsquo consent English summaries will be available on-line along with information on the contributors Chatreššar has been published yearly since 1997

More details on the journal including the journals policy information on the submission procedure as well as the purchase possibility can be found at httpenlilffcuniczchatressar

Page 5: Chatreššar 2009 - Univerzita Karlovausj.ff.cuni.cz/system/files/chatrssar2009.pdfJan Bičovský Pavel Čech Published by the Charles University in Prague, Faculty of Arts. Printed

Acknowledgments

The publication of the Journal has been financially supported by the project MSM 0021620823 ldquoČeskyacute naacuterodniacute korpus a korpusy dalšiacutech jazykůrdquo [The Czech National Corpus and Corpora of Other Languages] of the Ministry of Education of the Czech Republic

International Conference on Morphology and Digitisation

Free University of Berlin7 and 8 July 2007

Preface

International Conference on Morphology and Digitisation

On the 7 and 8 July 2007 an International Conference on Morphology and Digitisation was held at the Free University of Berlin covering several scientific fields in addition to linguistics in which the concept of morphology plays an important role The topics of the papers ranged from basic linguistic subjects to the structure of clouds The interdisciplinary character of the conference together with the innovative combination of morphology and digitisation enabled the participants to launch test baloons without the obligation of submitting articles for publication The result of this liberty was that many of the high fliers disappeared from the screen whilst others kept on mdash and keep on mdash growing and a few participants have finally submitted a printable text Six articles that have been received by Phillip Chilson Jost Gippert Hans Henrich Hock Chung-Shan Kao and Thorwald Poschenrieder Rosemarie Luumlhr and Magnus Snaeligdal are published in the following pages of Chatreššar Our thanks are due to Petr Vavroušek and his team who fostered the publication of the articles in the journal and Thorwald Poschenrieder who co-organized the conference in Berlin

Matthias Fritz Jost Gippert

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie

Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

How does one understand the concept of morphology in the field of meteorology It depends upon whom you ask The Glossary of Meteorology published by the American Meteorological Society (AMS 2000) simply states bdquoA study of the structure form or shape of meteorological phenomena such as clouds or ice crystalsrdquo Here we explore morphology not only in this context but also in the context of the dynamical evolution that brings about these structures How one perceives structure is critically dependent upon the spatial and temporal scales of interest For example it is possible to describe the structures in clouds over 100lsquos of kilometers as seen from satellites or the fractal dimensionality of clouds over scales of 100lsquos of meters or even the distribution of individual cloud particles over scales of 100lsquos of millimeters The same principle holds for atmospheric dynamics Large-scale atmospheric motions eventually release their energy to smaller and smaller scales in a cascade effect until all that remains is the thermal motions of molecules in the form of heat These concepts are discussed while drawing upon several examples taken from actual meteorological phenomena such as fine-scale turbulence the formation of snowflakes atmospheric waves and the atmospheric boundary layer

KurzfassungWie ist der Begriff der bdquoMorphologierdquo im Rahmen der Meteorologie zu verstehen Nun da kommt es darauf an wen man fragt Das bdquoGlossary of Meteorologyrdquo (herausgegeben von der Amerikanischen Meteorologischen Gesellschaft AMS 2000) nennt schlicht folgendes Morphologie ist die Untersuchung des inneren Aufbaus der Anordnung oder der aumluszligeren Gestalt von meteorologischen Erscheinungen wie beispielsweise Wolken oder Eiskristalle In diesem Beitrag soll die Morphologie nicht allein in diesem Zusammenhang erkundet werden als vielmehr auch im Hinblick auf die dynamischen Entwicklungsvorgaumlnge welche zu diesen Erscheinungen fuumlhren Wie man eine Erscheinung wahrnimmt haumlngt entscheidend davon ab welche raumlumlichen und zeitlichen Ausdehnungen betrachtet werden So lassen sich beispielsweise Wolken-Formationen die sich uumlber hunderte von Kilometern erstrecken so beschreiben wie man sie vom Satelliten aus wahrnimmt oder die fraktalen Dimensionen in den Wolken uumlber hunderte von Metern oder gar die Verteilung einzelner Wolkenteilchen im 100-

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Millimeter-Bereich Dasselbe gilt im Grunde fuumlr die Bewegungen in der Atmosphaumlre Die Energie groszligraumlumiger atmosphaumlrischer Bewegungen wird in einer Art Kaskade an nachfolgende Bewegungen von immer kleineren Maszligstaumlben abgegeben bis schlieszliglich alles in die Bewegungsenergie von Molekuumllen in Form von Waumlrme umgewandelt ist Solche Betrachtungen werden in diesem Beitrag vorgestellt dazu werden reichlich Beispielfaumllle beigezogen die von echten Wetter-Phaumlnomenen stammen wie die Turbulenz im kleinen Maszligstab die Formation von Schneeflocken die atmosphaumlrischen Wellen und die atmosphaumlrische Grenzschicht

1 Einfuumlhrung Bevor wir uns dem Thema der Morphologie in der Meteorologie widmen soll uns zuerst ein kurzer geschichtlicher Ruumlckblick uumlber die Verbundenheit des Menschen mit Wetter und Natur darauf vorbereiten Schon seit jeher wohnt dem Menschen ein ungemeines Interesse fuumlr das Wetter und die damit verbundenen Vorgaumlnge inne Das ist natuumlrlich keine Uumlberraschung wenn man bedenkt wie eng sein Uumlberleben und Wohlbefinden an die natuumlrlichen Gegebenheiten wie Hitze und Kaumllte Regen und Duumlrre sowie stuumlrmisches und ruhiges Wetter gebunden sind Gewisse sich wiederholende Vorgaumlnge des Wetters sind sicherlich schon sehr fruumlhzeitig erkannt worden und zwar nicht nur die taumlglichen Zyklen betreffend sondern auch jene die nur nach einem laumlngerem Zeitraum wiederkehren So folgten den kalten und unfruchtbaren Monaten des Winters die warmen und fruchtbaren Zeitraumlume des Fruumlhjahrs In bestimmten Gegenden mit erheblichen jaumlhrlichen Niederschlaumlgen folgte die mit Sehnsucht erwartete Regenzeit den Duumlrreabschnitten Durch das Beobachten und Wahrnehmen dieser Vorgaumlnge wurde es dem Menschen moumlglich sich den Bedingungen des Wetters anzupassen So erkannte er beispielsweise die Notwendigkeit in klimatisch mildere Gegenden zu ziehen oder sich im Lande auf das Kommen des Winters vorzubereiten Wahrscheinlich wurde durch die langjaumlhrig gesammelten Beobachtungen auch eine gewisse Erwartung oder Vorfreude auf das Wiederkehren bestimmter natuumlrlicher Vorgaumlnge erweckt wie zum Beispiel auf das Kommen des Fruumlhlings einer Regenzeit oder den Segen einer fruchtbaren Ernte In vielen Kulturen waren diese Ereignisse mit groszligen Feierlichkeiten verbunden

Nachdem der Mensch die der Natur innewohnenden Vorgaumlnge lange beobachtet hatte richtete er nun sein Interesse darauf die Naturkraumlfte welche solche Schauspiele bereiteten zu verstehen Er fragte sich nach den Hintergruumlnden der rhythmischen Veraumlnderungen in seiner Umgebung

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Gewoumlhnlicherweise wurde das Geschehen in der Natur irgendeinem uumlbernatuumlrlichen Wesen zugeschrieben welches auszligerdem meist noch als launenhaft oder sogar rachbegierig wahrgenommen wurde Diese Auffassung war im Einklang mit den unberechenbaren und oft verheerenden Geschehnissen in der Natur Wurden die Goumltter nicht bei guter Laune gehalten dann lieszligen sie ihren Zorn in der Form von schlechtem Wetter oder Naturkatastrophen an den Menschen aus Infolgedessen strebten jene fruumlhgeschichtlichen Voumllker danach mit den Goumlttern in Harmonie und Ausgeglichenheit zu leben So wurden den Goumlttern Gebete und Opfer dargebracht um sie zu besaumlnftigen und bei Laune zu halten Auszligerdem wurden feierliche Rituale durchgefuumlhrt mit dem Ziele guumlnstiges Wetter herbeizufuumlhren

Mit der Zeit verstand man dass viele Vorkommnisse in der Atmosphaumlre von denen man vorher annahm dass sie zufaumlllig waumlren durchaus erklaumlrbar waren So erkannte man die entsprechenden Vorboten fuumlr viele verschiedene Wetterverhaumlltnisse Man koumlnnte eigentlich sagen dass die Wetterkunde nichts weiter ist als eine gruumlndliche Untersuchung von erkennbaren sich wiederholenden Verhaltensmustern und Erscheinungen Der Bauer wie auch der Seemann der den Himmel scharf beobachtete konnte Wetterentwicklungen anhand von Wolkenformationen und Windverhaumlltnissen voraussagen Die erworbene Weisheit wurde an die naumlchste Generation weitergegeben und bildete somit die Grundlage fuumlr eine umfangreiche Geschichte der Wetterfolklore Diese Tradition hat eine lange Liste von Wetterweisheiten hervorgebracht Hier nur einige Beispiele

Bei rotem Mond und hellem Sterne sind Gewitter gar nicht fernebull Abendrot ndash Gutwetterbotrsquo ndash Morgenrot mit Regen drohtbull Hof um den Mond bedeutet Regen Hof um die Sonne groszlige Stuumlrmebull Steigt der Rauch ganz gerade nach oben bleibt das Wetter lange schoumlnbull Geht die Sonne feurig auf folgen Wind und Regen draufbull Je weiszliger die Schaumlfchen am Himmel gehrsquon je laumlnger bleibt das Wetter schoumlnbull

Natuumlrlich sind solche Weisheiten nicht immer oumlrtlich uumlbertragbar Sie entsprechen nicht unbedingt der absoluten Wahrheit sind aber oft eine gute Annaumlherung daran und basieren auszligerdem auf meteorologisch bewiesenen Grundsaumltzen

Manchmal wurden jenen Leuten die die Faumlhigkeit besaszligen Naturgeschehen richtig zu deuten groszlige Bedeutung beigelegt Nehmen wir Aumlgypten als Beispiel Die Zivilisation konnte in dieser Gegend wegen des nahrhaften

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Bodens auf Grund der alljaumlhrlichen Uumlberflutung des Nils gut gedeihen Dieses Geschehen war von solch groszligem Stellenwert dass man es dem Gott Hapi der fuumlr Fruchtbarkeit stand zuschrieb Die Priester dieser Zeit erkannten dass das abendliche Erscheinen des Sterns Sirius mit dem Beginn der Uumlberschwemmung des Nils zusammentraf Sie waren Priester aufgrund der Bedeutsamkeit ihrer Beobachtungen aber heute wuumlrde man sie als Gestirnforscher beschreiben

Obwohl die zuvor erwaumlhnten Bauern Seeleute und Priester in der Lage waren Verhaltensmuster in der Natur zu erkennen und diese meteorologischen Phaumlnomenen zuzuschreiben verstanden sie doch nicht unbedingt die dahinterliegenden Mechanismen und waren sich nicht im Klaren daruumlber inwieweit wirkliche Verbindungen bestanden So deuteten sie also die Ursachen und Wirkungen nicht immer richtig Im Falle der Uumlberschwemmung des Nils war die eigentliche Ursache nicht der Erscheinen des Sirius sondern der Einbruch der Regenzeit im aumlthiopischen Hochland Mit der Zeit hing die Deutung von Verhaltensmustern im Wetter immer weniger vom Zufall ab und es gelang immer mehr die zugrundeliegenden Verhaumlltnisse zu verstehen In diesem Zusammenhang werden wir nun mit der Untersuchung der Morphologie in der Meteorologie beginnen

2 Qualifizierende Wetter-Verhaltensmuster Die griechische Sehensweise Viele Zivilisationen haben erstaunliche Geschichten daruumlber wie sie begannen beobachtete Verhaltensmuster in der Natur zu quantifizieren Allerdings wollen wir hier nur auf eine einzige solche Zivilisation naumlher eingehen naumlmlich die der Griechen Es bietet sich an die Griechen hierfuumlr auszuwaumlhlen zumal sie ja die Grundsteine fuumlr die heutigen westlichen Zivilisationen gelegt haben Die alten Griechen begannen schon im Jahre 800 v Chr die Zusammenhaumlnge innerhalb ihrer eigenen Umgebung sehr genau zu uumlberdenken Man muumlsste allerdings einschraumlnken dass ein systematisches Herangehen an diese Sache erst in der Zeit des Aristoteles (384 ndash 322 v Chr) stattfand Aristoteles ist fuumlr viele bedeutende Erkenntnisse beruumlhmt geworden Fuumlr unsere Eroumlrterung hier ist vor allem sein groszliges Werk die Meteorologica von entscheidender Bedeutung In diesem Werk versuchte er verschiedene atmosphaumlrische Phaumlnomene wie beispielsweise Blitz Wolken Wind Regenboumlgen und auch Meteore zu quantifizieren Aristoteles argumentierte so wie andere Griechen vor ihm dass jegliche Materie aus folgenden vier Grundelementen bestehe Feuer Luft Wasser und Erde Eigentlich glaubte man noch an ein fuumlnftes Element naumlmlich den Aumlther der der Baustoff der himmlischen Materie sei Den Aumlther verstand

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man als ein Medium in dem alles vorhanden sein konnte denn man glaubte nicht daran dass die Natur aus einem Vakuum bestehen koumlnnte

Aristoteles glaubte dass alle meteorologischen Erscheinungen mit den vier Elementen erklaumlrt werden koumlnnten Sein Verstaumlndnis der Meteorologie ging weit uumlber das Wetter hinaus Es schloss alles ein was von oben auf die Erde kam oder uumlber der Erdehingldquo Jedes der vier Elemente wurde mit zwei der folgenden vier Eigenschaften in Verbindung gebracht heiszlig kalt nass und trocken (siehe Abbildung 1 zur Veranschaulichung) Auszligerdem glaubte man dass alle Elemente umwandelbar seien was durch Ablaumlufe der Kondensation und Verduumlnnung bewirkt werde Die Umwandlungen wuumlrden sich an bestimmte Richtlinien halten So wuumlrde sich also verduumlnnte Luft in Feuer umwandeln kondensierte Luft wiederum in Wind Wolken und Wasser Wasser koumlnnte sich dann weiter verfestigen und zu Erde werden Schlieszliglich gebe es eine klare Rangordnung der Elemente die dazu diente alles in Bewegung zu halten Feuer wuumlrde uumlber andere Elemente aufsteigen und Erde wuumlrde hinuntersinken Wasser wuumlrde uumlber Erde aufsteigen aber nicht uumlber Luft die Luft wiederum wuumlrde uumlber Wasser aufsteigen aber nicht uumlber Feuer Aus diesem Grunde wuumlrden sich die Wolken uumlber der Erde bilden und ebenso die Luftblasen im Wasser

Abbildung 1 Wechselbeziehungen zwischen den Elementen der Materie gemaumlszlig Aristoteles

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Aristoteles gemaumlszlig konnte sich die Luft zu Wasser kondensieren und dann als Regen auf die Erde fallen Das gleiche galt fuumlr den Tau der allerdings nicht herunterfallen musste Diese Ansichten erklaumlrten die verschiedenen Phasen von Wasser aber uumlber das Vorkommen von Hagel im Sommer war Aristoteles etwas verbluumlfft Seine Auffassungen waren gewiss sehr erfin-derisch und schoumlpferisch auch wenn sie letztendlich falsch waren Diese Anschauungen herrschten noch 2000 Jahre nach seinem Tod vor und behinderten sogar die Entwicklung der atmosphaumlrischen Wissenschaft Erst durch Galileo Galilei wurden die aristotelischen Ansichten verdraumlngt und durch ein neues Wissenschaftsverstaumlndnis ersetzt

3 Wetterverhaltensmuster uumlber raumlumliche und zeitliche SkalenUm eine vollstaumlndige Einsicht uumlber die Rolle der Morphologie innerhalb von Wettersystemen zu erzielen ist es notwendig zuerst uumlber die unglaublich weitreichenden raumlumlichen und zeitlichen Ausmaszlige nachzudenken Zum Beispiel muss man fuumlr weite raumlumliche und lange zeitliche Skalen atmosphaumlrische Bewegungen ins Auge fassen deren Laumlngen mit dem Durchmesser der Erde vergleichbar sind und deren Zeiten in der Groumlszligenordnung von Tagen stehen Zu den wesentlichen Einfluumlssen in diesem Bereich gehoumlren die Erdumdrehung die ungleichmaumlszligige Erhitzung der Erde und die Verteilung von Landmassen und groszligen orographischen Erscheinungen Im anderen Extrem wenn man sich mit Vorgaumlngen im Millimeterbereich und mit Laufzeiten im Sekundenbereich beschaumlftigt wird es noumltig die molekularen Wechselbeziehungen der einzelnen atmosphaumlrischen Teilchen mit in Erwaumlgung zu ziehen Es gibt nicht nur eine Vielzahl von atmosphaumlrischen Prozessen sondern es muss auch beachtet werden dass diese sich gegenseitig beeinflussen

Anfangs hat es den Anschein dass es fast unmoumlglich sei die Atmosphaumlre in solch einem Ausmaszlig zu eroumlrtern Um Fortschritte im Verstehen der Atmosphaumlre und der dazugehoumlrigen Morphologie zu machen ist es entscheidend den Fragebereich in kleinere uumlberschaubare Untereinheiten zu zerlegen Dann besteht die endguumlltige Herausforderung darin die relative Bedeutung der einzelnen Faktoren die diese Untereinheiten beeinflussen richtig einzuschaumltzen Wenn man beispielsweise versucht die Staumlrke und Lage des Jetstreams in Europa waumlhrend der naumlchsten 24 Stunden vorherzusagen koumlnnte man auch den Einfluss der Getreidefelder in Bayern auf den niedrigen Wind mit einbeziehen aber dies waumlre nur

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ein minimale Beeinflussung Allerdings bietet es sich schon an die Oberflaumlchenerwaumlrmung der gleichen Getreidefelder zu beachten wenn man die allgemeinen Strukturen von konvektiven Wolken wie sie sich im Sommer bilden eroumlrtertBeim Unterteilen der Atmosphaumlre in Untereinheiten fanden es die Meteorologen zweckmaumlszligig mehrere allgemeine raumlumliche Skalen zu definieren Diese sind in Tabelle 1 aufgefuumlhrt Die vier Haupt- gruppierungen sind die planetarische Skala die synoptische Skala die Mesoskala und die Mikroskala aber wie man schon aus der Tabelle ersehen kann koumlnnen auch diese wiederum in weitere Untereinheiten zerlegt werden Um ein besseres Gefuumlhl fuumlr die raumlumlichen und zeitlichen Skalen zu bekommen und einige der damit verbundenen atmosphaumlrischen Erscheinungen zu erklaumlren haben wir Abbildung 2 eingefuumlgt Diese Abbildung wurde von Dr Czeckowsky am Max-Planck-Institut fuumlr Aeronomie (heute Max-Planck-Institut fuumlr Sonnensystemforschung) bereitgestellt Wie wir daraus ersehen koumlnnen haben kleine raumlumliche Erscheinungen entsprechende kurze zeitliche Skalen und umgekehrt Es waumlre nicht sinnvoll allgemeine Gleichungen zu erstellen die man uumlber den ganzen Bereich dieser Skalen verwenden wuumlrde Im Grunde formen jene verschiedenen Arbeitsgebiete die fundamentalen Bausteine der atmosphaumlrischen Analyse und die Grundlage fuumlr die Morphologie in der Meteorologie

Groumlszliger als Skala Name20000 km Planetarische Skala2000 km Synoptische Skala

200 km Meso-α Mesoskala20 km Meso-β Mesoskala

2 km Meso-γ Mesoskala200 m Mikro-α Turbulenz in der Grenzschicht

20 m Mikro-β Turbulenz in der Bodenschicht2 m Mikro-γ Turbulenz im Traumlgheitsbereich

2 mm Mikro-δ Kleinskalige TurbulenzLuftmolekuumlle Molekular Viskoser Dissipations-Teilbereich

Tabelle 1 Die raumlumlichen Groumlszligenordnungen bzw Skalenbereiche zum Beschreiben atmosphaumlrischer Phaumlnomene

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Im Folgenden zeigen wir zwei Beispiele in denen ein bestimmtes atmosphaumlrisches Phaumlnomen in der passenden Groumlszligenordnung analysiert wird Erwaumlgen wir zuerst die Entstehung und Ausbreitung eines Systems von Gewittern Gewitter koumlnnen erzeugt werden wenn warme feuchte Luft durch irgendeinen Vorgang nach oben gefuumlhrt wird Dieser Vorgang koumlnnte Oberflaumlchenerwaumlrmung oder die Einfuhr eines kalten dichten Luftstroms sein Wenn die Bedingungen richtig sind dann werden diese aufstroumlmenden Luftmassen durch Auftriebkraumlfte weiter nach oben gezogen Des Weiteren kuumlhlen sich die Luftmassen beim Aufsteigen wesentlich ab was zur Kondensation des verfuumlgbaren Wasserdampfes fuumlhrt Die Abgabe von Waumlrme bei diesem Vorgang erwaumlrmt die Luft noch weiter und foumlrdert die Aufwaumlrtsbewegung der Luftmassen Das Ergebnis ist ein starker Aufwind und eine rasche Kondensierung des Wasserdampfes was wiederum zur Praumlzipitation und zur Trennung elektrischer Ladungen fuumlhrt An der Erdoberflaumlche entsteht durch den Niederschlag ein Gebiet kalter Luftmassen welches aus dem Gewitter herausstroumlmt Wenn die vorherrschenden Bedingungen richtig sind dann kann dieser kalte Luftschub weitere Gewitter hervorrufen Alle soeben beschriebenen dynamischen und thermodynamischen Vorgaumlnge spielen sich innerhalb des Mesoskalenbereichs ab Wenn es jedoch notwendig wird die gesamten meteorologischen Bedingungen die fuumlr ein Gewitter bedeutsam sind zu erwaumlgen dann muumlssen wir auch auf Erscheinungen im synoptischen Skalenbereich zuruumlckgreifen Die zugrundeliegende atmosphaumlrische Physik ist in beiden Faumlllen die gleiche aber die analytischen Werkzeuge sind dem jeweiligen Skalenbereich angepasst Als zweites Beispiel betrachten wir die Staumldte-Meteorologie Man muss vielleicht vorhersehen koumlnnen wie ein Windfeld auf Gebaumlude oder Straszligenschluchten einwirkt aber es ist nicht einfach solche Wechselbeziehungen im Kleinskalenbereich zu ermessen Allerdings koumlnnen die gesamten im Mesoskalenbereich vorhergesagten Windfelder als Eingabe-Parameter fuumlr den erwuumlnschten Mikroskalenbereich verwendet werden Es koumlnnen sozusagen Vorgaumlnge die in verschiedenen Skalenbereichen ablaufen synergistisch uumlber ihre eigenen Grenzen hinaus miteinander verbunden werden

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Abbildung 2 Darstellung von gewoumlhnlichen Phaumlnomenen in der Atmosphaumlre innerhalb uumlblicher zeitlicher und raumlumlicher Skalen

Als ein Beispiel wie eine Kopplung sich uumlber Skalen hinaus in der Atmosphaumlre offenbart betrachten wir nun die Wechselbeziehungen zwischen dynamischen Vorgaumlngen wie sie innerhalb der planetarischen Grenzschicht uumlblich sind Wenn wir von der Grenzschicht sprechen meinen wir jenen Teil der Atmosphaumlre welcher in starker Beziehung zur Erdoberflaumlche steht und von Reibung und Waumlrmeeinwirkungen beeinflusst wird Uumlblicherweise ist die Dicke der Grenzschicht uumlber Land ungefaumlhr 100-200 m waumlhrend des Abends und ungefaumlhr 1-2 km waumlhrend des Tages Diese Werte haumlngen letztendlich von den allgemeinen atmosphaumlrischen Bedingungen und den Oberflaumlchen-Gegebenheiten ab Natuumlrlich ist die Grenzschicht ein houmlchst bedeutender Bereich der Atmosphaumlre wenn man bedenkt dass sie unser Lebensraum ist

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Besonders waumlhrend des Tages sind atmosphaumlrische Luftbewegungen innerhalb der Grenzschicht stark von der Turbulenz beeinflusst Die Turbulenz umfasst die chaotischen stochastischen Bewegungen in Fluumlssigkeiten und steht mit einer schnellen Aumlnderung von Druck Temperatur und Geschwindigkeit in Verbindung Die Geschwindigkeit der Fluumlssigkeit ist zu einem beliebigen Zeitpunkt bestaumlndig unregelmaumlszligigen Schwankungen ausgesetzt Aus diesem Grunde wird die Atmosphaumlre in der Meteorologie als eine Fluumlssigkeit betrachtet Wenn wir die atmosphaumlrische Turbulenz sehen koumlnnten dann wuumlrden wir eine Ansammlung von Wirbeln sehen die innerhalb eines raumlumlichen und zeitlichen Skalenbereichs angesiedelt sind Es waumlre offensichtlich dass diese Wirbel nebeneinander bestehen und bestaumlndig aufeinander einwirken Eine Darstellung dieser Wechselwirkungen von Wirbeln ist in Abbildung 3 zu sehen

Abbildung 3 Veranschaulichung atmosphaumlrischer Turbulenz

Stochastische Systeme wie sie in Turbulenzen vorkommen sind von Natur aus nicht deterministisch aber es koumlnnen trotzdem sinnvolle Parameter errechnet werden Da es unmoumlglich ist die Bewegungsablaumlufe von einzelnen Teilchen in einer Fluumlssigkeit zu berechnen haben sich Wissenschaftler zu einer statistischen Vorgehensweise entschlossen Nehmen wir an wir haben eine bestimmte Menge von Gas in einem festen Behaumllter von gleichbleibendem Volumen eingeschlossen Man hat herausgefunden dass hier die Waumlrmeenergie der gesamten Gasteilchen in einer Beziehung zur Temperatur des Gases steht Deshalb kann man zusammenfassend sagen dass die zufaumllligen Zusammenstoumlszlige der Teilchen mit der Wand des Behaumllters statistisch als Druck quantifiziert werden koumlnnen Tatsaumlchlich ist in diesem Beispiel der Druck einzig von der Temperatur abhaumlngig Die unmoumlgliche

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Aufgabe die Lage und die Geschwindigkeit der Gasteilchen zu verfolgen ist somit auf eine ganz einfache Gleichung zuruumlckgefuumlhrt worden naumlmlich P = ρ R T wobei P der Druck ist ρ die Dichte des Gases und R eine Konstante die sich auf das jeweilige Gas bezieht Wenn man sich diese taumluschend einfache Gleichung ein bisschen genauer ansieht dann laumlsst sich daraus eine reichhaltige Vielfalt statistischer Physik erschlieszligen

Die Auswirkungen der Turbulenz und stochastischer Vorgaumlnge findet man uumlberall in der Natur und sie waren und sind noch immer das Thema langer Reihen von Erkundungen Allerdings ist die Turbulenz trotz dieser Bemuumlhungen eines der am wenigsten verstandenen Gebiete in der klassischen Physik geblieben Warum ist das so Schon 1755 gelang es dem Schweizer Mathematiker Euler ein System von Gleichungen aufzustellen das die Bewegungen von Fluumlssigkeiten beschrieb Er hatte jedoch die Auswirkungen der Viskositaumlt welche ein Maszligstab fuumlr den Widerstand einer Fluumlssigkeit ist nicht miteinbezogen Das mathematische Bezugssystem das heute haumlufig gebraucht wird um zaumlhfluumlssige und waumlrmeleitende Fluumlssigkeiten zu beschreiben nennt man die Navier-Stokes-Gleichungen sie wurden zwischen 1822 und 1845 von dem Franzosen Navier und dem Briten Stokes formuliert Diese Gleichungen sind das Herz und die Seele aller hydrodynamischen Modelle mit denen man newtonsche Fluide wie Wasser Luft oder Oumll beschreibt jedoch werden auch sie der Verflochtenheit der Turbulenz nicht gerecht Ein halbes Jahrhundert nach dem Werk von Navier und Stokes wurden Wissenschaftler wegen des Mangels an neuen Erfolgen in ihrem Verstaumlndnis der Turbulenz wieder entmutigt Waumlhrend einer Ansprache vor der britischen Gemeinschaft fuumlr wissenschaftlichen Fortschritt (British Association for the Advancement of Science) im Jahre 1932 soll der bekannte und geschaumltzte britische Physiker Horace Lamb folgendes gesagt haben bdquoI am an old man now and when I die and go to Heaven there are two matters on which I hope for enlightenment One is quantum electrodynamics and the other is the turbulent motion of fluids And about the former I am really rather optimisticrdquo (Heute bin ich ein alter Mann und wenn ich einst sterbe und in den Himmel komme moumlchte ich dort gerne zwei Fragen beantwortet haben die eine uumlber die Quanten-Elektrodynamik und die andere uumlber die Turbulenz von Fluumlssigkeiten Hinsichtlich der ersten Frage bin ich noch recht optimistisch)

Ein gewisser Erfolg kam endlich als der russische Wissenschaftler Komogrov im Jahre 1950 in der Lage war die Turbulenz teilweise zu charakterisieren Komogrov zufolge kommt der groumlszligte Teil der kinetischen Energie in einem Fluid (wir meinen hier die Atmosphaumlre) in groumlszligeren

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Skalen vor Diese Energie wird dann an kleinere und noch kleinere Skalen weitergegeben Die kinetische Energie wird also von den groumlszligeren Wirbeln an kleinere Wirbel abgegeben und zwar durch eine Reihe von Vorgaumlngen die man als Energiekaskade bezeichnet Die Energie wird bestaumlndig an kleinere Skalen abgegeben bis die turbulenten Wirbel so klein sind dass molekulare diffusive Kraumlfte eine wichtige Rolle spielen und die Energie in Form von Waumlrme abgegeben wird Eine graphische Darstellung des Kaskadenvorgangs ist in Abbildung 4 zu sehen Die y-Achse des Diagramms bezeichnet den Betrag der kinetischen Energie pro Wirbel fuumlr eine bestimmte Groumlszlige Die Wellennummer befindet sich auf der x-Achse Fuumlr unsere gegenwaumlrtige Eroumlrterung kann man sich die Wellennummer k als die inverse charakteristische Groumlszlige der turbulenten Wellen denken und zwar innerhalb der Grenzschicht Dies ist aumlhnlich wie die Beziehung zwischen Zeit und Frequenz Eine Erhoumlhung der Wellenzahl entspricht also einer Abnahme der Groumlszlige Den Bereich der Wellenzahlen (Groumlszligen) fuumlr welche der Kaskadenvorgang stattfindet nennt man Traumlgheitsbereich (inertial subrange) und dieser ist sehr wichtig fuumlr die atmosphaumlrische Dynamik In der atmosphaumlrischen Grenzschicht werden kinetische Energien in der Groumlszligenordnung von 100-200 m angeregt und eine Erwaumlrmung tritt ungefaumlhr dann auf wenn die Wirbel 1 mm groszlig sind Die Energiekaskade beschreibt die Umwandlung von turbulenter kinetischer Energie innerhalb raumlumlicher Skalen die sich um fuumlnf Groumlszligenordnungen bzw Zehnerpotenzen voneinander unterscheiden

Abbildung 4 Darstellung des Energiegehalts turbulenter Stroumlmungen als eine Funktion der Wellenzahl

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4 Fruumlhzeitige Wettervorhersage-ModelleIm Jahre 1904 wies der Norweger Bjerknes darauf hin dass es moumlglich sein sollte quantitative und objektive Wettervorhersagen zu machen die auf der deterministischen Theorie der atmosphaumlrischen Bewegung und den Navier-Stokes Gleichungen basieren Er behauptete also dass es moumlglich sei das Wetter anhand analytischer Modelle vorherzusagen Diese Vorgehensweise gleicht also nicht den Vorhersagen von erfahrenen Leuten die sich auf Wetterkarten beobachtete Daten und den Himmel verlieszligen Die Aussicht auf eine Erstellung von objektiven Wettervorhersagen fuumlhrte den Begriff der Morphologie in ein neues Zeitalter Nun wurde es zum ersten Male sinnvoll nach den zugrunde liegenden Beziehungen zwischen den Verhaltensmustern die man jahrhundertelang beobachtet hatte zu suchen Es ist allerdings fraglich ob Bjerknes eine starke Hoffnung auf das Zustandekommen solcher Vorhersagen hatte Weitere 30 Jahre mussten vergehen bis Konrad Zuse den ersten binaumlren Rechner in Deutschland entwickelte Das erste Geraumlt wurde noch mechanisch betrieben und erst einige Jahre spaumlter wurde daraus der erste elektronische Rechner bzw Computer

Zu Beginn des 20 Jahrhunderts begann Lewis Fry Richardson mit einem Plan fuumlr objektive Wettervorhersagen welche auf den Ergebnissen von Bjerknes beruhten und zwar ohne mechanischen oder elektronischen Rechner Er veroumlffentlichte diese wegweisenden Vorstellungen im Jahre 1922 Weil es zu der Zeit noch keine physikalischen Rechner gab stellte sich Richardson menschliche Rechner vor Nach seinen Berechnungen braumluchte man 64000 Menschen die rund um die Uhr arbeiteten um angemessene Wettervorhersagen zu erstellen Er stellte sich vor dass diese Personen zusammen in einer groszligen Halle arbeiten wuumlrden wobei jeder einzelne eine relativ kleine Aufgabe der Gesamtarbeit uumlbernaumlhme Laumlufer wuumlrden dann die Ergebnisse zwischen den menschlichen Rechnern uumlbermitteln Ein Hauptleiter wuumlrde die einzelnen Vorgaumlnge uumlberwachen und die Arbeitsablaumlufe aufeinander abstimmen Richardson schrieb in dem Buch Weather Prediction by Numerical Processes folgendes (Richardson 2007) bdquoImagine a large hall like a theater except that the circles and galleries go right round through the space usually occupied by the stage The walls of this chamber are painted to form a map of the globe hellip From the floor of the pit a tall pillar rises to half the height of the hall It carries a large pulpit on its top In this sits the man in charge of the whole theatrerdquo (Stellen wir uns eine groszlige Halle vor etwa so wie ein Theater aber die Kreise und Emporen gehen ganz herum auch da wo normalerweise der

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Schauplatz ist Die Waumlnde sind so bemalt wie unsere Weltkugel Vom Boden des Parketts erstreckt sich eine hohe Saumlule bis zur halben Houmlhe der Halle Auf der ist obendrauf eine groszlige Kanzel Hier sitzt der Mann der das ganze Theater leitet) Richardson war sich wohl bewusst dass es zu seiner Zeit fast unmoumlglich gewesen waumlre dieses Vorhaben durchzufuumlhren Im Vorwort zu seinem Buch schrieb er (Richardson 1922) bdquoPerhaps some day in the dim future it will be possible to advance the computations faster than the weather advances and at a cost less than the saving to mankind due to the information gained But that is a dreamrdquo (Vielleicht wird es eines Tages in ferner Zukunft moumlglich sein die Berechnungen schneller zu beschleunigen als die Fortschritte der Wetterforschung und um einen Preis der geringer ist als die Gewinne die die neuen Erkenntnisse fuumlr die Menschheit erbringen Aber das ist ein Traum) Vielleicht war es nur ein Traum aber einer den er ernsthaft in Betracht zog In seinem Buch legte Richardson systematisch die Grundlage fuumlr ein neues Gebiet der Wetterforschung naumlmlich die numerische Wettervorhersage die auch noch heute betrieben wird Lewis Fry Richardson wird von vielen sogar als der Urheber dieses Forschungsgebietes angesehen

Mit der Entwicklung des ENIAC (Elektrischer und Numerischer Integrator und Rechner) im Jahre 1946 durch eine Gruppe von amerikanischen Ingenieuren der Elektrotechnik geleitet von Mauchly und Eckert konnte Richardsons Traum endlich Wurzel fassen und beginnen Wirklichkeit zu werden Mit der Abloumlsung mechanischer Relais und Schalter durch die Vakuumroumlhre wurde der ENIAC tausendmal schneller als die zeitgenoumlssischen Rechner Der ENIAC wurde vom Militaumlr fuumlr die Aufgabe entwickelt aufwendige ballistische Flugbahnen auszurechnen John von Neumann ein Mathematiker an der Universitaumlt Princeton erkannte sofort dass der ENIAC auch fuumlr die Modellierung von Wettervorhersagen gut geeignet sein wuumlrde Er nahm die Hilfe des amerikanischen Meteorologen Jule Charney in Anspruch und die beiden lieferten im Jahre 1950 die erste numerische Wettervorhersage mittels des ENIAC Es dauerte noch ein Jahrzehnt bis die numerischen Modelle fuumlr die Wettervorhersagen besser wurden und in der Lage waren Vorhersagen zu liefern die sich mit den subjektiven Analysen menschlicher Meteorologen messen konnten

Heutzutage sind Computermodelle eine Hauptquelle fuumlr die Meteorologie und die Wettervorhersage Es gibt allerdings noch kein Modell das alle phaumlnomenologischen und morphologischen Skalen der Atmosphaumlre behandeln wuumlrde Deshalb ist der Grundsatz die Umgebung in uumlberschaubare Skalen (wie in Tabelle 1 aufgefuumlhrt) zu unterteilen bestehen geblieben In

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der raumlumlichen Skala von ungefaumlhr 1 mm bis zu hunderten von Metern kann man turbulente Stroumlmungsmuster mit einem groszligen Genauigkeitsgrad mittels direkter numerischer Simulation (DNS) ausrechnen Fuumlr groumlszligere Skalen verwendet man die Groszlig-Wirbel-Simulation (LES = large eddy simulation) Mit dieser Herangehensweise werden alle Vorgaumlnge von kleineren Skalen von mehreren 10 Metern mit Parametern versehen (nicht direkt berechnet) und dafuumlr verwendet fluumlssige Stroumlmungen innerhalb einer Skala von mehreren 10 Kilometern zu untersuchen Zusaumltzlich zur DNS und LES gibt es auch noch mesoskalige Modelle synoptische Modelle erdumfassende Umlauf-Modelle usw Wenn der Bereich in dem ein Modell verwendet wird an Groumlszlige zunimmt dann nimmt auch die Groumlszlige der kleinsten Einheit des Modells zu Deshalb wird es immer wichtiger das gewonnene Wissen uumlber die kleinen Skalen (von Simulationen) zu nuumltzen um Parameter-Systeme fuumlr die Verwendung in Modellen groumlszligerer Skalen zu entwickeln

5 Die Geburt des ChaosIn den spaumlten fuumlnfziger und fruumlhen sechziger Jahren gerade als die elektronische Computertechnologie sich eingebuumlrgert hatte und die Zukunft von numerischen Wettervorhersagen rosig aussah kam es in den Hallen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu einer unerwarteten Wendung Ein Meteorologe mit dem Namen Ed Lorenz entwickelte seine eigenen Modelle fuumlr die Wettervorhersage an einem geraumluschvollen Computer in seiner Amtsstube Weil Lorenz nur eine beschraumlnkte Auswahl von Hilfsmitteln zur Verfuumlgung hatte hielt er sein Modell sehr schlicht Seine simulierte Atmosphaumlre enthielt nur 12 Gleichungen und die Variabeln (Regelgroumlszligen) die errechnet werden konnten waren lediglich einzelne Groumlszligen wie Druck Temperatur und Windvektoren Mit jeder Wiederholung in simulierter Zeit erstellte der Computer eine groszlige Menge von Zahlen die Werte der errechneten Parameter anzeigten Lorenzrsquo Wettersimulationen gaben Aufschluss uumlber gewisse Beziehungen von atmosphaumlrischen Erscheinungen und seine Ergebnisse gaben ihm die noumltigen Einsichten um Verhaltensmuster im Wetter zu suchen

Eines Tages waumlhrend seine Simulationen liefen machte Lorenz eine Entdeckung die spaumlter zu einem voumlllig neuen Zweig der Mathematik fuumlhren sollte An jenem Tage versuchte er eine Simulation zu wiederholen

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die er schon vorher durchgefuumlhrt hatte Jedoch wollte er das Modell mit der neuen Simulation uumlber einen laumlngeren Zeitraum laufen lassen Um den Vorgang zu beschleunigen entschied sich Lorenz fuumlr eine Abkuumlrzung Er initialisierte die neue halbwegs fertig gelaufene Simulation dadurch dass er die ausgedruckten Parameter die also schon erstellt waren eingab Er tippte die Zahlen in sein Programm schaltete den Computer ein und verlieszlig seine Amtsstube um sich eine Tasse Kaffee zu holen Als er eine Stunde spaumlter zuruumlckkam bemerkte er etwas Uumlberraschendes Die Ergebnisse der neuen Simulation waren voumlllig anders als was er zuvor errechnet hatte

Nachdem er sicherstellte hatte dass kein Fehler vorlag kam Lorenz zur Schlussfolgerung dass der Unterschied der Ergebnisse ein Rundungsfehler sein muumlsste der durch das Eintippen der Parameter in der Mitte der Simulation entstanden war So wurde zum Beispiel ein Wert von 05783214 als 0578 ausgedruckt Konnte denn ein Rundungsfehler in den Tausender Dezimalstellen zu solch tiefgreifenden Abweichungen in den simulierten Ergebnissen fuumlhren Dieser Rundungsfehler war doch kleiner als die Fehler in den zahlreichen meteorologischen Beobachtungen die fuumlr das Wettervorhersage-Modell benutzt wurden Es bleib jedoch unuumlbersehbar dass die Ergebnisse der beiden Simulationen enorme Abweichungen zeigten Welche Folgen wuumlrde dies fuumlr die Zukunft der numerischen Wettervorhersagen haben

Als geschickter Mathematiker verstand Lorenz dass diese neue Art der Unvorhersehbarkeit irgendwo in den Zahlen verborgen lag Man nennt diese Erscheinung die bdquoEmpfindlichkeit gegenuumlber den Anfangsbedingungenldquo (sensitive dependance on initial conditions) Das bedeutet dass kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen das langfristige Verhalten eines Verfahrens wesentlich veraumlndern koumlnnen Heute nennt man das den Schmetterlingseffekt da man sich vorstellen kann dass das Schwingen eines Fluumlgels eines Schmetterlings grundsaumltzlich einen tiefgreifenden Einfluss auf das Wetter nehmen kann das zu spaumlterer Zeit beobachtet wird Hieraus entwickelte sich spaumlter die Chaosforschung

Um diese Auswirkung besser zu verstehen versuchte Lorenz seine Vorhersage-Modelle so weit wie moumlglich zu vereinfachen ohne jedoch die empfindsamen Abhaumlngigkeiten der Anfangsbedingungen zu

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 27

vernachlaumlssigen Es gelang ihm die Gleichungen die die Konvektion bestimmen auf drei zu beschraumlnken diese wurden dazu benutzt um Werte von drei verschiedenen physikalischen Parametern vorherzusagen Das erweckt den Anschein dass die endguumlltigen Gleichungen allzu simpel seien aber die Verhaltensmuster die diese vorhersagen sind keineswegs einfach zu verstehen Abbildung 5 zeigt ein Beispiel Die drei vorhergesagten Parameter sind als x y und z gekennzeichnet und in einem dreidimensionalen Raum eingetragen Die Lage des Punktes der von x y und z bestimmt ist bewegt sich in unvorhersehbarer Weise zwischen den Iterationen Allerdings wird die Gesamtheit aller Punkte vom Raum begrenzt und daraus bildet sich ein gewisses Verhaltensmuster Solch ein Verhalten veranschaulicht ein deterministisches Chaos und wird ein seltsamer Attraktor genannt Das besondere Beispiel in Abbildung 5 zeigt den sogenannten Lorenz-Attraktor

Abbildung 5 Der Lorenz Attraktor veranschaulicht die verschiedenen Muster die bei chaotischem Verhalten vorkommen

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson28

Wie wir wissen hat die Entdeckung chaotischer Systeme in der Atmosphaumlre numerische Wettervorhersagen nicht abgeloumlst Wissenschaftler wussten schon Hunderte von Jahren vor der Lorenzschen Chaostheorie von den zufaumllligen Bewegungen der Turbulenz Allerdings hat diese Entdeckung die Hoffnung der Meteorologen auf genaue langfristige Vorhersagen auch groumlszligere Skalen betreffend etwas gedaumlmpft Dennoch koumlnnen wir darauf zaumlhlen dass die heutigen Grenzen der Vorhersagen fuumlr Wetterentwicklungen in der Zukunft weiter hinausgeschoben werden koumlnnen Durch eine Verbesserung der Rechenleistungen fortschrittlicher Computer durch eine feinere Einstellung der Modelle und durch die Entwicklung atmosphaumlrischer Geraumlte die genauere Messungen zulassen wird dies moumlglich sein Man muss sich natuumlrlich bewusst sein dass verstrickte chaotische Geschehen immer die Oberhand haben werden

6 Selbst-Aumlhnlichkeit in der AtmosphaumlreEine weitere fesselnde Erscheinungsform von Chaos in der Natur und in der Atmosphaumlre ist die sogenannte Selbstaumlhnlichkeit Einen Gegenstand oder eine Gestalt nennt man selbst-aumlhnlich wenn ersie aumlhnlich (oder bei mathematisch erzeugten Gegenstaumlnden gleich) erscheint unabhaumlngig davon in welcher Groumlszligenordnung ersie betrachtet wird Ein Beispiel dafuumlr sind die Fensterbilder die das Eis an kalten Wintertagen hinterlaumlsst Die Muster erscheinen aumlhnlich (wenn auch nicht deckungsgleich) wenn man sie mit einem Vergroumlszligerungsglas oder auch mit dem bloszligen Auge ansieht

Selbstaumlhnliche Gegenstaumlnde besitzen in rein rechnerischem Sinne viele fesselnde Eigenschaften Wir sprachen soeben von der Skalen-Invarianz In manchen Faumlllen kann man kaum sagen wo der Beruumlhrungsbereich eines Gebildes beginnt und wo er endet Vielleicht ist eine der sonderbarsten Eigenschaften solcher Gestalten ihre fraktionale Dimensionalitaumlt (weiter unten erklaumlrt) Wegen dieser Eigenschaft nennt man selbst-aumlhnliche Gebilde oft Fraktale Man kann sich daruumlber streiten ob die Selbst-Aumlhnlichkeit der Kern der Morphologie in der Meteorologie ist

Zugleich muss zwischen rein rechnerischen Selbst-Aumlhnlichkeiten und der Annaumlherung von Selbst-Aumlhnlichkeit in der Natur unterschieden werden Offenkundig ist der Begriff der Skalen-Invarianz in der Natur raumlumlich beschraumlnkt Turbulente Stroumlmungen koumlnnen zum Beispiel als selbst-aumlhnlich beschrieben werden wenn man nur die Skalen innerhalb des Traumlgheitsbereichs betrachtet In diesem Fall kann man nicht zwischen groszligen und kleinen Wirbeln unterscheiden ohne eine Art von Bezugs-

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 29

Skala heranzuziehen Weitere klassische Beispiele fuumlr die Selbst-Aumlhnlichkeit beziehen sich auf Wolkenstrukturen Gebilde von Schneeflocken Wechselbeziehungen zwischen der Grenzschicht und der freien Atmosphaumlre (Entrainment) usw In vielen dieser Faumllle koumlnnen durch rein rechnerische Modelle Annaumlherungen an diese Erscheinungen gefunden werden

Wir wollen die Selbst-Aumlhnlichkeit am Beispiel von Schneeflocken die als Fraktale betrachtet werden koumlnnen veranschaulichen Wir beginnen dies damit indem wir ein einziges Streckenstuumlck wie es in der oberen linken Ecke von Abbildung 6 zu sehen ist betrachten Das mittlere Drittel dieser Strecke wird durch zwei Streckenabschnitte (die beide ebenfalls ein Drittel der Gesamtlaumlnge einnehmen) in abgewinkelter Weise entsprechend einem gleichseitigen Dreieck ersetzt Aus einer Strecke sind also vier geworden und so haben wir vier deckungsgleiche Abbildungen Die Groumlszlige dieser neuen Strecken ist zur urspruumlnglichen um den Faktor drei verschieden Man sagt der Vergroumlszligerungsfaktor ist drei Wenn dieser Vorgang wiederholt wird dann werden die daraus entstehenden Gegenstaumlnde zunehmend unuumlberschaubar (siehe Abbildung 6) Es ist offensichtlich dass man wenn wenn man einen beliebigen Teil der ganzen Gestalt vergroumlszligern wuumlrde wieder aumlhnliche Formen (in diesem Fall sogar deckungsgleiche) vorfinden wuumlrde und zwar ungeachtet der jeweiligen Vergroumlszligerung Auszligerdem wird diese Strecke unendlich lang und bleibt nur vom Raum begrenzt Dies ist die sogenannte Koch-Kurve (nach dem schwedischen Mathematiker Koch benannt) und sie gehoumlrt zur Familie der Fraktale Wie gesagt kann man solche Muster an vereisten Fenstern finden Mit dem gleichen Vorgang koumlnnen wir eine vernuumlnftige Darstellung einer Schneeflocke hervorbringen Diesmal benutzen wir aber ein Dreieck anstelle einer Strecke als Ausgangspunkt Nach nur drei Wiederholungen werden die entstehenden Muster den echten Schneeflocken wie sie in Wolken beobachtet werden bereits aumlhnlich Dies ist allerdings nur ein Beispiel fuumlr Veranschaulichungs-Zwecke Mittels Fraktalen koumlnnen weitaus echter aussehende Schneeflocken gebildet werden

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson30

Abbildung 6 Entstehung der Koch-Kurve und der Kochrsquoschen Schneeflocke

Was bedeutet es zu sagen dass selbst-aumlhnliche Gegenstaumlnde eine fraktale Dimension haben Nun wir wissen schon dass ein Punkt nulldimensional ist eine Strecke eindimensional eine Ebene zweidimensional und ein Wuumlrfel dreidimensional aber was bedeutet der Begriff der Dimensionalitaumlt wirklich Einfachheitshalber arbeiten wir in den nachfolgenden Beispielen mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei Das bedeutet eine selbstaumlhnliche Abbildung der naumlchsten Groumlszlige ist um den Faktor zwei verschieden Nehmen wir zwei gleiche Streckenstuumlcke der Laumlnge eins Aneinandergefuumlgt bilden diese ein selbst-aumlhnliches Streckenstuumlck der Laumlnge zwei Mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachtet finden wir also zwei selbst-aumlhnliche Streckenstuumlcke vor Genauso koumlnnen wir ein Quadrat aus vier gleichgroszligen Quadraten bilden Wenn wir das groumlszligere Quadrat mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachten dann sehen wir vier selbst-aumlhnliche Abbildungen (2x2) Schlieszliglich koumlnnen wir diesen Vorgang fuumlr einen Wuumlrfel wiederholen In diesem Fall liefert ein Vergroumlszligerungsfaktor von zwei genau acht (2x2x2) selbst-aumlhnliche Abbildungen Wir bemerken die Entwicklung eines Musters das wir mathematisch auf folgende Weise beschreiben koumlnnen

Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile = (Vergroumlszligerungs-Faktor)D

D steht dabei die Dimension zB ist die Dimension fuumlr einen Wuumlrfel drei Im Fall der Koch-Kurve ist der Vergroumlszligerungsfaktor drei und die Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile vier Aus diesen beiden Groumlszligen koumlnnen wir nun die Dimensionalitaumlt berechnen Aus 3 = 4D folgt D = 1262 Das gilt fuumlr die

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 31

Koch-Kurve und fuumlr die kochsche Schneeflocke Ein sehr bemerkenswertes Ergebnis aber kann man es in der Natur anwenden

Meteorologen beschaumlftigen sich immer haumlufiger mit der Selbst-Aumlhnlichkeit Wenn wir verstehen warum und wie fraktale Muster in der Natur vorkommen dann koumlnnen wir auch die zugrundeliegende Physik und die gegenseitigen Wechselbeziehungen der dazugehoumlrenden Kraumlfte besser verstehen Die fraktale Dimension von Eisteilen koumlnnte eine wichtige Einsicht geben wie diese sich formen und wie sie wachsen vorausgesetzt wir beachten bestimmte Umgebungsbedingungen wie Auszligentemperatur Wasserdampfgehalt fluumlssiger Wassergehalt und turbulente Betriebsamkeit Die sogenannte Kalte-Wolken-Mikrophysik ist oft schwierig zu verstehen aber sie ist besonders wichtig fuumlr Niederschlagsvorhersagen Die gleichen Aussagen gelten fuumlr die Analyse von Wolken welche ebenfalls selbst-aumlhnliche Gebilde sind Bei einem Versuch wurde durch das Auswerten von Lichtbildern erkannt dass die fraktalen Dimensionen von Wolkenquerschnitten dem Wert 43 neigen Wir koumlnnen hier nicht naumlher auf die Gruumlnde eingehen doch folgt weil die Wolken als selbst-aumlhnliche Gebilde angenommen werden koumlnnen fuumlr die fraktale Dimension volumetrischer Wolken D = 43 +1 oder D = 73 Nun fragt man sich ob dies als allgemeiner Parameter gelten kann Die Antwort ist wahrscheinlich nein weil die fraktale Dimension von der Umgebung in der sich die Wolken bilden abhaumlngt und folglich von der Wolkenart

7 ZusammenfassungDie Atmosphaumlre ist fortwaumlhrend in einem Zustand des Uumlbergangs und der Bewegung begriffen da sie nach einem Zustand der Ausgeglichenheit zwischen den einzelnen Kraumlften die auf sie einwirken strebt Ebenso wie fuumlr den vom Schicksal getroffenen Tantalos in der griechischen Mythologie bleibt der Zustand der Ausgewogenheit fuumlr unsere Atmosphaumlre unerreichbar Die kreisende Erde wird ungleichmaumlszligig erhitzt Oberflaumlchengegebenheiten fuumlhren zu Reibungsaumlnderungen das Strahlungsgleichgewicht wird durch die An- oder Abwesenheit von Wolken veraumlndert und die Menschheit erschuumlttert die Ausgeglichenheit der Atmosphaumlre durch Umwelteinfluumlsse Das Ergebnis dieser verschiedenen Einfluumlsse ist ein wundervoll vielschich-tiges dynamisches System das sich uumlber einen weiten Bereich zeitlicher und raumlumlicher Skalen offenbart Die Aussicht darauf unsere Atmosphaumlre gruumlndlich zu verstehen und eine angemessene Wettervorhersage zu machen bleibt dennoch eher duumlster Je mehr man in die Tiefe geht um die verwickelten Wechselbeziehungen des Wettergeschehens zu verstehen

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson32

desto schlechter scheinen die Aussichten auf Erfolg zu sein Die Rettung kommt durch die Verhaltensmuster die hinter dem zugrunde liegenden Chaos zum Vorschein kommen

So wird aus der Kunde vom Wetter die Kunde der statistischen Analyse und der geschickten Erkennung von Verhaltensmustern Auf grundlegender Ebene ist es wichtig die Grenzen der Theorie der Turbulenz weiter zuruumlckzuschieben und ein verlaumlssliches Modell zur Beschreibung atmosphaumlrischer Selbst-Aumlhnlichkeit zu erstellen Fortschritte auf diesem Gebiet sind entscheidend um einen klaren Gesamteindruck der Natur zu erhalten Letztendlich muumlssen wir uns damit abfinden dass immer Luumlcken in unserem Verstaumlndnis der Atmosphaumlre bestehen bleiben werden Ferner schraumlnkt die den atmosphaumlrischen Stroumlmungen innewohnende chaotische Natur unsere Moumlglichkeiten ein deterministisches System mit Gleichungen die das Wetter beschreiben zu schaffen erheblich ein Aus diesem Grunde muumlssen die Meteorologen noch immer auf ihr Gespuumlr vertrauen wenn sie die verfuumlgbaren Beobachtungen zusammen mit den Ergebnissen numerischer Wettervorhersagen auswerten Obwohl wir einsehen muumlssen dass wir nicht immer wissen koumlnnen wie die Atmosphaumlre sich verhaumllt koumlnnen wir das Wetter von morgen oder uumlbermorgen doch schon mit groszliger Wahrscheinlichkeit voraussagen Dies setzt oft ein gruumlndliches Verstehen bestimmter morphologischer Muster und von deren Bezug zum Wetter voraus Am liebsten wuumlrden wir diese Erkenntnisse wissenschaftlich eingliedern und fuumlr objektive Wettervorhersagen verwenden aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das menschliche Mitwirken noch immer eine wichtige Zutat in der Einschaumltzung der Witterung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 33

LiteraturverzeichnisAmerican Meteorological Society (22000) Glossary of Meteorology Todd S Glickman managing editor Boston

Richardson Lewis Fry (1922) Weather Prediction by Numerical Process Cambridge Cambridge University Press

Prof Dr Phillip B Chilson School of Meteorology Christa Chilson Department of Modern Languages Literatures and Linguistics University of Oklahoma Norman OK USA

Sprachliche Morphologie digitalisiert

Jost Gippert (Frankfurt)

The article discusses the question how and to what extent the digitisation of morphological features of natural languages is able to support linguists in both teaching and research Within the scope of applied linguistics it focusses on the impact of digitised morphological data on optical character recognition speech recognition spell and grammar checking machine translation and teaching sce-narios The implementation of digitised means in linguistic research is thema-tised with respect to lexicography and grammar writing as well as diachronic investigations of various kinds The perspectives of applying digitisation to linguistic morphology can be summarised in two theses a) the more linguistic data are provided with a thorough morphological (and beyond that syntacti-cal semantical pragmatical metrical etc) analysis the more reliable the basis for theoretical investigations will be both in synchronical-descriptive and in diachronical-comparative linguistics b) the digital preparation of large data sets is an urgent methodological prerequisite for the verification and falsification of linguistic hypotheses

Fuumlr manch einen Auszligenstehenden hat die Sprachwissenschaft spaumltestens mit dem Strukturalismus eine Ausrichtung angenommen die Goethe und Schiller in ihren Xenien schon lange vorher andeuteten als sie den bdquoSprach-forscherldquo so apostrophierten1

Anatomieren magst du die Sprache doch nur ihr Cadaver Geist und Leben entschluumlpft fluumlchtig dem groben Scalpell

Mit dem Einsatz digitaler Verarbeitungsverfahren duumlrfte sich das Schreckensbild einer immer tiefergehenden bdquoanatomistischenldquo Zerlegung sprachlicher Aumluszligerungen in den Augen vieler eher noch weiter verfestigt haben Im folgenden soll gezeigt werden daszlig eine digital basierte Morphologie natuumlrlicher Sprachen im Gegensatz zur Einschaumltzung unserer Klassiker durchaus nicht mit Geist- und Leblosigkeit einherzugehen braucht sondern

1 Xenie Nr 141 Goethe Werke 1889-1896 I Abtlg Bd V 1 Abtlg 1893 S 225 Schiller Werke 1943ndash Bd I 1943 S 326 Ob das Distichon von Goethe oder Schiller verfaszligt wurde scheint nicht sicher geklaumlrt Corkhill 1991 S 248 schreibt es offensichtlich Goethe zu der damit bdquodie klinisch anmutende fachliche Sprachbetrachtung persiflieren wollteldquo

Jost Gippert36

gerade dazu dienen kann sprachliche Inhalte genauer zu beleuchten und den Umgang mit Sprache in unterschiedlichen Bereichen zu unterstuumltzen

1 Anwendungsbezogene Zielsetzungen digital basierter MorphologieFuumlr eine digital basierte sprachwissenschaftliche Morphologie kommen im wesentlichen fuumlnf anwendungsbezogene Zielsetzungen in Betracht naumlmlich die Unterstuumltzung von Texterkennung (bdquoOCRldquo = bdquoOptical Character Recognitionldquo) Spracherkennung Rechtschreibung (bdquoSpell-checkingldquo) automatische Uumlbersetzung sowie Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht In verschiedenen dieser Anwendungsbereiche wird digitalisierte Morphologie seit laumlngerem bereits mit stetig steigendem Erfolg eingesetzt Einige wenige Grunduumlberlegungen verdienen es dennoch hier kurz abgehandelt zu werden

11 Texterkennung

Digitale Texterkennung dh die retrograde Umwandlung bereits gedruck-ter oder geschriebener Textmaterialien in eine digitale Form zum Zwecke der Weiterverarbeitung setzt typischerweise den folgenden Ablauf voraus Nach dem Einscannen einer Druckseite als Rasterbild muumlssen in diesem zunaumlchst die groben Einheiten des Schriftbilds herausisoliert werden dies geschieht durch die Erfassung von Zonen ohne schwarze Bildpunkte (bdquoPixelldquo) durch die Abstaumlnde zwischen Zeilen Woumlrtern Buchstaben Satzzeichen etc gekennzeichnet sind sowie umgekehrt durch die Erfas-sung zusammenhaumlngender Pixelstrukturen die Buchstaben Satzzeichen etc repraumlsentieren Letztere muumlssen dann mit Mustern verglichen werden um die repraumlsentierten Zeichen im einzelnen zu bestimmen Hierbei ist immer mit einer gewissen Fehlerquote zu rechnen die zB von der druck-technischen Qualitaumlt der Vorlage oder den in ihr benutzten Zeichenformen und -saumltzen abhaumlngt Eine Reduzierung der Fehlerquote die auch heute nach rund 20 Jahren fortschreitender Entwicklung von OCR-Verfahren2

2 Seit 1987 habe ich kontinuierlich kommerzielle OCR-Programme getestet und mit mehr oder weniger groszligem Erfolg sowohl auf lateinschriftliche als auch auf andere Quellen ange-wendet Erwaumlhnen moumlchte ich SPOT 31 (Flagstaff Engineering 1989) ein auf Zeichenfor-men bdquotrainierbaresldquo DOS-basiertes Programm das ich sehr erfolgreich an die georgische Schrift anpassen konnte und dessen Leseergebnisse die Grundlage fuumlr zahlreiche uumlber den TITUS-Server (su Fn 9) verfuumlgbare elektronische Texteditionen darstellen das Kurzweil Scanner-System in den fruumlhen 90er Jahren das Non-Plus-Ultra der PC-basierten OCR mit dem verschiedene lateinschriftlich gedruckte TITUS-Texte eingelesen wurden sowie den Fine Reader (ABBYY) der sich in den letzten Jahren als die leistungsfaumlhigste OCR-Software fuumlr multilinguale Anwendungen herausgestellt hat (derzeit verfuumlgbar in Version

Sprachliche Morphologie digitalisiert 37

noch immer betraumlchtlich sein kann3 setzt verschiedene Arten von Plausi-bilitaumltspruumlfungen voraus bei denen das Leseresultat auf seine sprachliche Korrektheit hin getestet wird Ein typisches Beispiel waumlre die bdquoVerlesungldquo der deutschen Wortform Muumlndern (DatPl) als Mundem sowohl die Igno-rierung des Diakritikums die auf der Diskontinuitaumlt des Buchstabenbildes ltuumlgt beruht als auch die irrige Zusammenlesung der Buchstabenfolge rn als m sind charakteristische Probleme von OCR-Anwendungen Um die gelesene Wortform Mundem nun auf ihre Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen bieten sich zwei Verfahren an Das in kommerziellen OCR-Programmen meist genutzte Verfahren ist rein bdquolexikalischldquo Zum Abgleich wird eine (mehr oder weniger umfangreiche) Wortformenliste der betr Sprache benutzt in der natuumlrlich neben Lemmaformen auch flektierte Formen aller Art enthalten sein muumlssen Die der gelesenen Form am naumlchsten kom-mende wird dann vorschlagsweise eingesetzt im gegebenen Fall duumlrfte dies die Form Munden sein die sich von Mundem nur in einem Buchstaben unterscheidet damit freilich aber noch nicht bdquokorrektldquo ist und somit bereits die Grenzen eines rein lexikalischen Abgleichs aufzeigt Es kommt hinzu daszlig keine Wortformenliste des Deutschen jemals vollstaumlndig sein kann da insbesondere die Moumlglichkeiten der Komposition das deutsche Lexikon unendlich groszlig gestalten

Um eine bessere Lesegenauigkeit zu erzielen ist deshalb ein anderes mehrstufiges Verfahren vonnoumlten das neben einer lexikalischen Daten-basis auch andere Vorinformationen darunter morphologische verar-beiten kann Ein solches Verfahren das ich bdquogemischtldquo nennen wuumlrde muumlszligte neben einem Basislexikon der Wortstaumlmme zunaumlchst die gramma-tischen Regeln der Morphologie dh der Formen- und Wortbildung der betr Sprache beruumlcksichtigen daruumlber hinaus bdquographischeldquo und bdquographo-

9) Die spezifischen Beduumlrfnisse von Sprachwissenschaftlern (va in Bezug auf transkriptive Sonderzeichen) sind allerdings bis heute nirgends zufriedenstellend beruumlcksichtigt 3 Eine Fehlerquote von 2 bedeutet zB zwei Fehler innerhalb von zwei normalen Druckzeilen eines Buches Welche Schwaumlchen oberflaumlchlich angewandte OCR-Verfahren nach wie vor haben und zu welchen Irrtuumlmern sie fuumlhren koumlnnen zeigt deutlich das ehrgeizige Projekt bdquoGoogle Booksldquo (httpbooksgooglecom) Sucht man hier nach SCHLEICHERs Compendium so werden verschiedene Eintraumlge aus Kuhns Zeitschrift fuumlr Vergleichende Sprachwissenschaft ausgegeben in denen das Werk ua als bdquoCompendium tier vergleichenden grammatikldquo und sein Band I als ein bdquoKurzer abrilldquo einer lautlehre der indogermanischen ldquo erscheint entsprechend liefert eine Suche nach bdquoCompendiumldquo und bdquoTierldquo genau den erstgenannten Eintrag zuerst noch vor zoologischen Werken (Stand 2532007 1751h) [Korrekturzusatz Der gleiche Eintrag lautet am 8102009 1319h wie folgt August Schleicher compendium der vergleichenden grammatik der indogermanischen sprachen Bd I Kurzer abrifs einer lautlehrc der Die Ergebnisse der (fortschreitenden) Texterkennung bei Google Books bleiben also unzuverlaumlssig]

Jost Gippert38

taktischeldquo Regeln Gehen wir wieder von unserem Beispiel der Wortform Muumlndern aus die sich als Dativ Plural von Mund in drei Morpheme das Lexem Mund das Pluralsuffix er und die Dativendung n zerlegen laumlszligt und gleichzeitig das Phaumlnomen des bdquoUmlautsldquo von u zu uuml aufweist das im morphologischen Sinne als ein Ablautphaumlnomen aufzufassen ist Ein bdquogemischtesldquo Analyseverfahren muumlszligte die eingelesene Form Mundem nun von hinten beginnend schrittweise verkuumlrzen bis eine Uumlbereinstimmung mit einem im Basislexikon enthaltenen Wortstamm gegeben ist dies waumlre der vierbuchstabige Stamm Mund Daraufhin waumlre zu uumlberpruumlfen ob der verbleibende Rest em im Morpheminventar verankert ist ndash dies ist zwar der Fall da die deutsche Nominalflexion ein solches postlexematisches Mor-phem kennt (vgl gutem schoumlnem) es ist jedoch nicht mit dem gefundenen Basisstamm Mund kompatibel da dieser kein Adjektiv darstellt Dasselbe Verfahren muumlszligte dann iterativ weiter durchgefuumlhrt werden (Mun ndashdem etc) kaumlme aber allein noch zu keinem Ergebnis An dieser Stelle nach nega-tivem erstem Durchlauf waumlre das Leseresultat (Mundem) dann auf seine graphische Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen wobei zunaumlchst bdquountypischeldquo Zeichenfolgen zu eruieren waumlren solche sind im gegebenen Beispiel nicht vorhanden laumlgen aber zB in einer Verlesung IVIund vor die aufgrund allgemeinen Vorwissens uumlber Zeichenformen der Lateinschrift und ihre Verteilung in Wortformen unmittelbar plausibel in Mund zu korrigieren waumlre Bei bdquogelesenemldquo Mundem muumlszligten umgekehrt die graphotaktisch unproblematischen aufgrund desselben Vorwissens fuumlr Verlesungen jedoch als besonders anfaumlllig geltenden Buchstaben ltmgt und ltugt versuchsweise durch ihre naumlchstaumlhnlichen bdquoPartnerldquo ltrngt und ltuumlgt ersetzt und die sich so ergebenden Wortformen wieder der iterativen Analyse unterzogen werden Dies wuumlrde bereits fuumlr Mundern die moumlgliche Verknuumlpfung eines Lexems (Mund) mit bdquopassendenldquo Flexionsmorphemen er-n ergeben jedoch noch keine korrekte Wortform da der Plural von Mund eben Umlaut aufweist Erst ein dritter Durchlauf mit der Abaumlnderung von ltugt zu ltuumlgt ergibt dann das richtige Resultat Vorausgesetzt ist dabei daszlig auch die Information uumlber das Umlaut- bzw Ablautverhalten der Staumlmme im lexikalischen und morphologischen Basiswissen verankert sein muszlig

Hinsichtlich der bdquographotaktischenldquo Wissensbasis auf die ein solches Ver-fahren zwingend zuruumlckgreifen muszlig sei noch einmal festgehalten daszlig diese sowohl schriftspezifische dh durch die Aumlhnlichkeiten von Buch-stabenformen gegebene Probleme als auch sprachspezifische Regelun-gen umfassen muszlig die jeweils statistisch erfaszligt werden koumlnnen Zu den ersteren gehoumlren zB in der Lateinschrift neben den bereits behandel-

Sprachliche Morphologie digitalisiert 39

ten Verwechslungspaaren solche bei denen sich Buchstaben und Ziffern gegenuumlberstehen wie zB ltSgt und lt5gt oder ltOgt und lt0gt (null) Eine Plausi-bilitaumltspruumlfung kann in diesen Faumlllen ohne weiteres davon ausgehen daszlig eine lt1gt (eins) die mitten in einem bdquoWortldquo und von sicher gelesenen Klein-buchstaben umrankt zu stehen scheint eher ein kleines ltLgt repraumlsentieren duumlrfte waumlhrend eine Folge von lt7gt und dreimaligem Buchstaben ltOgt eher bdquosiebentausendldquo meinen wird4 Entsprechende Vorhersagen werden fuumlr andere Schriften wie zB die Kyrillische nicht unbedingt zutreffen hier wird zB eher eine Verwechslung der Buchstaben ltлgt (asymp ltlgt) ltпgt (asymp ltpgt) ltнgt (asymp ltngt) und ltиgt (asymp ltigt) untereinander anzunehmen sein

Der sprachspezifische Anteil der Wissensbasis kann zB allgemeine statistische Erkenntnisse uumlber die Verteilung von Graphemen in Wortformen der betr Sprache verwenden danach wuumlrde etwa ein gelesenes ltsehoumlngt im Deutschen ohne weiteres zu schoumln nicht aber zu sehen zu korrigieren nahegelegt da das ltoumlgt aufgrund seiner Seltenheit gewissermaszligen eine lectio difficilior gegenuumlber ltegt darstellt (und schwerlich fuumlr dieses verlesen sein kann) waumlhrend von den beiden Zeichenfolgen ltsehgt und ltschgt die letztere eine klare statistische Praumlponderanz fuumlr sich hat Im gleichen Sinne koumlnnten Regelungen der Groszlig- und Kleinschreibung beruumlcksichtigt werden die ihrerseits mit der morphologischen Bestimmung einhergehen sollten so haumlngt zB bei einer Verlesung von Guumltern als Gutem die Plausibilitaumlt der letzteren Form davon ab ob sie ndash als Adjektiv ndash in einer Umgebung erscheint die einen initialen Groszligbuchstaben erwarten laumlszligt oder nicht

Damit ist bereits angedeutet daszlig eine wirklich zuverlaumlssige Texterken-nung bei der Plausibilitaumltsanalyse noch einen Schritt weiter gehen muszlig naumlmlich bis hin zu einer syntakto-semantischen Uumlberpruumlfung Gutem ist ja eine vollkommen korrekte Wortform des Deutschen kommt allerdings im Vergleich zu Guumltern obwohl ebenfalls ein Dativ mit groszligem ltGgt in nur sehr reduzierten syntaktischen Konstellationen vor naumlmlich entweder satzeinleitend als Adjektiv ohne vorangehenden Artikel (etwa Gutem Brauch folgend schlieszligt sich der Landrat)5 oder als substantiviertes Adjektiv ebenfalls ohne Artikel (etwa bdquoob er nach Gutem oder Boumlsem

4 Erstaunlicherweise werden in den meisten kommerziellen OCR-Programmen nicht einmal derartig banal anmutende Regelungen beruumlcksichtigt Auch lassen sie sich nicht in die von den Programmen verwendete Wissensbasis integrieren da selbst bdquotrainierbareldquo Programme normalerweise nur Zeichenformen zu speichern erlauben nicht jedoch spezi-fische distinktive Merkmale von Zeichen oder graphotaktische Regeln5 S httpwwwodenwaldkreisdeindexpfunktion=presseartikelphpampselected =1ampid=848 (1912007)

Jost Gippert40

jagtldquo)6 Eine Entscheidung zwischen Guumltern und Gutem setzt also eine syntaktische Analyse voraus die zumindest die umgebenden Wortfor-men mit beruumlcksichtigen muszlig hierbei koumlnnen statistische Angaben uumlber sog bdquoKollokationenldquo Entscheidungshilfen bilden7 In anderen Faumlllen wie etwa bei dem ndash graphisch minimalen ndash Unterschied zwischen Tochter und Toumlchter wird nicht einmal durch Informationen aus der syntaktischen Umgebung immer eindeutig geklaumlrt werden koumlnnen ob eine gegebene bdquoLesungldquo richtig ist man vgl zB die Lesungen ltdie juumlngere Tochtergt und ltdie juumlngeren Tochtergt wo die Endungen der attributiven Adjektive im Verbund mit den Artikelformen Eindeutigkeit herstellen waumlhrend in gelesenem ltIch sehe seine Tochtergt (gegenuumlber ltIch sehe seine Toumlchtergt) ohne Kenntnis des Kontextes keine Entscheidung fuumlr die Singular- oder die Pluralform moumlglich ist Wie sehr die morphologische Bestimmung von syn-takto-semantischen Vorgaben abhaumlngen kann zeigt sich nicht zuletzt bei homonymen Wortformen die unterschiedlichen morphologischen Klas-sen zugehoumlren man vgl zB das Verb zugreifen gegenuumlber dem Komposi-tum Zugreifen = Zug + Reifen oder das Partizipialadjektiv vereinzelt gegenuumlber dem Kompositum Vereinzelt = Verein + Zelt

Auch das bdquogemischt-morphologischeldquo Verfahren zur Unterstuumltzung der Texterkennung hat also Grenzen die auch mit groszligen Datenmengen nicht leicht zu uumlberbruumlcken sein werden Hier duumlrften auf laumlngere Sicht Verfahren der statistischen Untermauerung durch Kollokationen eine entscheidende Rolle spielen Morphologisches Wissen bleibt dabei aber mit Sicherheit ein unverzichtbarer Bestandteil

12 Spracherkennung

Der Einsatz morphologischer Verfahren unterliegt bei der Spracherkennung ganz aumlhnlichen Bedingungen wie bei der Texterkennung Auch hier geht es um eine eindeutige Bestimmung sprachlicher Formen bei der digitalen

6 Goethe Werke I Abtlg Bd II 1888 S 246 ndash Theoretisch sollte ein gut fundiertes bdquogemischtesldquo System auch in der Lage sein Druckfehler stillschweigend zu korrigieren dies duumlrfte jedoch immer dann ausgeschlossen sein wenn das verdruckte Wort eine morphologisch bdquokorrekteldquo Form darstellt wie etwa im Falle von fuumlr ltVerballhornungengt verdrucktem ltVerbalhornungengt = VerbalHornungen Hier mag selbst eine kollokationsbasierte semantische Analyse scheitern wenn der Druckfehler in einem sprachwissenschaftlichen Kontext auftritt der ua auch Woumlrter wie Verbalflexion aufweist (so bei Hoffmann Altiranisch S 10 = Aufsaumltze I S 67 Z 6 vu bzw S 16 73 Z 11)7 Vgl hierzu das Projekt bdquoKollokationen im Woumlrterbuchldquo der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften s httpwwwbbawdebbawForschungForschungspro-jektekollokationendeueberblick

Sprachliche Morphologie digitalisiert 41

Erfassung von Aumluszligerungen Ein Unterschied zur Texterkennung besteht nur darin daszlig die graphische Komponente entfaumlllt da die zugrundelie-genden Daten nicht schriftlich dh zeichenkettenbasiert sondern muumlndlich (und als akustisches Signal digitalisiert) vorliegen An die Stelle der bdquographo-taktischenldquo Entscheidungshilfen muumlszligten hier wenn man ein bdquogemischtesldquo Verfahren anstrebt deshalb phonotaktische Statistiken treten Die Not-wendigkeit einer Einbindung morphologischer Analyseverfahren bleibt davon unberuumlhrt

13 Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung

Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Anwendungsbereichen setzt die Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung eine Stufe spaumlter an naumlmlich bei einem schon existierenden digital vorliegenden Text Unabhaumlngig davon ob dieser von Hand eingegeben oder via OCR oder Spracherkennung generiert wurde geht es hier jedoch wieder um genau dieselbe Art von Plausibilitaumltspruumlfung wie sie oben als Bestandteil des Erkennungsprozesses beschrieben wurde Ein klarer Unterschied besteht gegenuumlber der Texterkennung lediglich in der Hinsicht daszlig bei von Hand eingegebenen Texten nicht dieselben bdquographotaktischenldquo Vorgaben gelten da beim bdquoTippenldquo systematisch andere Buchstaben verwechselt werden als beim optischen Einlesen naumlmlich typischerweise die auf der Tastatur benachbarten Zeichen (etwa ltigt und ltogt oder ltbgt und ltvgt) Die Einsetzbarkeit morphologischer Verfahren der og Art ist von diesem Unterschied nicht betroffen und solche Verfahren werden von gaumlngigen Textverarbeitungsprogrammen heute bereits weitgehend wenn auch nicht immer zufriedenstellend ausgenutzt8

14 Automatische Uumlbersetzung

Noch eine Stufe spaumlter setzt der Einsatz digitaler Morphologie bei der automatischen Uumlbersetzung an Anders als bei den Plausibilitaumltspruumlfun-gen zur Etablierung eines bdquokorrektenldquo Texts wird hier ein solcher bereits vorausgesetzt bei der morphologischen Analyse geht es dann statt dessen um die Herstellung der Basis fuumlr eine adaumlquate Uumlbersetzung Es entfallen somit grapho- und phonotaktische Begleitverfahren die Probleme rund um

8 So ergibt zB die Uumlberpruumlfung des fehlerhaften Satzes bdquoDas Wortform sbquoMundemrsquo ist unsinigldquo in MS-Word 2003 lediglich die Zuruumlckweisung von bdquoMundemldquo sowie von bdquounsinigldquo der Artikel das wird nicht als falsch erkannt

Jost Gippert42

Homonymien etc bleiben jedoch bestehen und auch hier muumlssen syntakto-semantische Verfahren vorrangig einbezogen werden

15 Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht

Daszlig die Morphologie ein unabdingbarer Bestandteil des Fremdsprachen-unterrichtsund mehr noch der sprachwissenschaftlichen Ausbildung ist duumlrfte keinem Zweifel unterliegen Digitale Verfahren koumlnnen hier in zweierlei Weise unterstuumltzend eingesetzt werden naumlmlich bei der Analyse fremdsprachiger Textmaterialien im Hinblick auf gegebene Wortformen und umgekehrt bei der Erzeugung von Wortformen Die hierfuumlr zu schaffenden Datenbasen sind im Prinzip dieselben wie die bereits oben beschriebenen Fuumlr weniger anspruchsvolle Anwendungen wird man zunaumlchst mit einem bdquostatischenldquo rein lexikalischen Verfahren operieren koumlnnen das lediglich eine bestimmte (aber erweiterbare) Menge von manuell vordefinierten Wortformen umfaszligt um eine morphologische Analyse beliebiger Wortformen zu ermoumlglichen wird hingegen wieder ein bdquogemischtesldquo Verfahren eingesetzt werden muumlssen bei dem neben Listen lexematischer und nicht-lexematischer Morpheme auch deren Verknuumlpfungsregeln (gegebenenfalls unter Einschluss von Um- und Ablautsphaumlnomenen) verarbeitet sind Beide Verfahren seien kurz an Implementationsbeispielen aus der TITUS-Textdatenbank9 illustriert

151 TocharischWie auch andere TITUS-Texte sind diejenigen des A-tocharischen Corpus10 mit einer relationalen Datenbank verknuumlpft die die Belegstellen jeder einzelnen Wortform umfaszligt und somit einen unmittelbaren Zugriff auf die Beleglage derselben ermoumlglicht dies geschieht durch einfaches Anklicken der betreffenden Wortform im Text oder durch Eingabe in eine Suchmaske Daruumlber hinaus ist das A-tocharische Corpus bereits mit morphologischen Informationen versehen die die Bestimmung von Verbalformen betreffen Klickt man zB auf die in Abb 1 enthaltene Verbalform kumsentildecauml11 so

9 Die Textdatenbank des TITUS-Projekts (bdquoThesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialienldquo) ist online uumlber httptitusuni-frankfurtdetextetexte2htm verfuumlgbar10 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcstochtochatochahtm11 Da der Unicode-Standard noch nicht alle fuumlr die traditionelle Transkription des Tochar-ischen erforderlichen Zeichen umfaszligt sind die toch Texte in der TITUS-Datenbank vorerst in einer Behelfsumschrift wiedergegeben hier vertritt zB ein Majuskel-ltAumlgt das bdquostummeldquo ltaumlgt neben Virāma im Auslaut

Sprachliche Morphologie digitalisiert 43

erfolgt ein Datenbankaufruf der die Analyse der Form ausgibt (s Abb 2) Die Einbettung der Form in ihren paradigmatischen Zusammenhang (sowie ihr Verhaumlltnis zu den entsprechenden B-tocharischen Formen) kann durch ein weiteres Anklicken der Wurzel (kaumlm) abgerufen werden (s Abb 3) Das dahinter stehende Verfahren ist im Sinne der obigen Definition rein bdquolexikalischldquo da jede Verbalform mit ihrer Bestimmung sowie mit dem Verweis auf das jeweilige Lemma (Wurzel) fuumlr sich bereits in der Datenbank abgelegt ist eine eigentliche morphologische Analyse findet also nicht beim Aufruf statt sondern ist bereits vorher (manuell) in die Datenbank eingeflossen (lediglich gewisse graphische Alternationen werden beim Aufruf automatisch bdquoabgefangenldquo)12 Dieses Verfahren empfiehlt sich bei einer Corpussprache mit begrenztem Wortformenvorrat wie dem Tocharischen durchaus zumal wenn die verbale Formenbildung wie in dieser Sprache in erheblichem Maszlige durch ablautbedingte und andere Stammvariationen gekennzeichnet ist und viele Irregularitaumlten aufweist

152 VedischWaumlhrend die bdquohalbautomatischeldquo Analyse im Falle des Tocharischen noch auf das Verbum beschraumlnkt ist steht fuumlr die vedischen Texte in der TITUS-Kollektion bereits ein weitergehendes morphologisches Retrievalsystem zur Verfuumlgung das zumindest die Wortformen der Rgveda-Samhitā voll-staumlndig erfaszligt Auch diese Datenbank ist bdquolexikalischldquo indem saumlmtliche Wortformen in ihr vorab bestimmt und auf ihr jeweiliges Lemma bezo-gen enthalten sind13 lediglich die durch Sandhi entstehende Variation wird durch einen eigenen Regelmechanismus beim Aufruf abgeglichen Dieser kann wiederum durch einfaches Anklicken einer im Text gegebenen Wort-form erfolgen (vgl Abb 4 mit RV 111andashc) ausgegeben wird dann zunaumlchst eine morphologische Bestimmung mit Bedeutungsangabe wie in Abb 5 fuumlr agnim14 Daruumlber hinaus steht bereits eine lemmabezogene Suchmaschine zur Verfuumlgung die fuumlr ein Lexem wie agni- bdquoFeuerldquo saumlmtliche bezeugten

12 Dies betrifft generell den Wechsel zwischen den sog bdquoFremdzeichenldquo und den eigentli-chen Brāhmī-Akṣaras aber auch zB das oe bdquostummeldquo ltaumlgt im In- und Auslaut13 Grundlage ist die RV-Konkordanz von A Lubotsky Bedeutungsangaben greifen zusaumltzlich auf ein von P Schreiner (Zuumlrich) erarbeitetes Digitalisat des Sanskrit-Woumlrter-buchs von K Mylius (mit Ergaumlnzungen des Autors) zuruumlck Die Programmierarbeit wurde im Rahmen des Projekts bdquoAvesta und Rgveda Elektronische Analyseldquo (AUREA 1995-1998 cf httptitusuni-frankfurtdecurricaureaaureahtm) von R Gehrke erbracht14 Die morphologische Bestimmung ist (auch abgesehen von unklaren Wortformen) noch nicht in allen Einzelfaumlllen endguumlltig verifiziert die Retrievalergebnisse sind deshalb als noch nicht verlaumlszliglich gekennzeichnet

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Formen abzurufen gestattet vgl Abb 6 die den Aufruf des bdquoThesaurus-Sucheldquo ausgehend von der Akkusativ-Form agnim zeigt15 und Abb 7 die das mit der Nominativ-Form agniḥ beginnende Suchresultat darstellt Es versteht sich von selbst daszlig eine Datenbank die allein die in der Rgveda-Samhitā auftretenden Wortformen umfaszligt den kompletten vedischen For-menbestand nicht erschlieszligen kann eine Ausweitung im Sinne eines ge-mischten bdquolexikalisch-morphologischenrdquo Verfahrens ist also unumgaumlnglich wenn man die altindische Uumlberlieferung in groumlszligerem Umfang abdecken will Dies gilt umso mehr als eine Ausdehnung auf das epische buddhis-tische und klassische Sanskrit durch die Moumlglichkeiten der Wortkomposi-tion praktisch wieder lexikalische Unendlichkeit mit sich bringt

153 Alt- und NeugeorgischEin bdquogemischtesldquo lexikalisch-morphologisches Verfahren ist in der TITUS-Datenbank zB fuumlr das umfangreiche altgeorgische Textmaterial implementiert worden und zwar fuumlr dessen nominale Bestandteile Hierzu wurde zunaumlchst der Wortbestand der Sammlungen von I Abuladze Z Sarjveladze und H Faumlhnrich16 als Lemmaliste mit deutschen Uumlbersetzungen digitalisiert dann wurden saumlmtliche in der nominalen Formenbildung auftretenden Morpheme (Suffixe Endungen) mit ihren Kombinationsmoumlglichkeiten in einer eigenen Datentabelle erfaszligt Ruft man diesen Datenverbund nun uumlber das Anklicken einer Form wie ġaġadebisay in Mk 13 innerhalb der altgeorg bdquoProtovulgataldquo ab (s Abb 8)17 so erhaumllt man die korrekte Analyse wie in Abb 9 dargestellt ausgegeben Dabei ist zu beachten daszlig bei der Ruumlckfuumlhrung auf das Lemma ġaġadeba‑y bdquoRufenrdquo zunaumlchst die Nominativ-Endung -y und das stammauslautende -a- dieses Verbalnomens (bdquoMasdarrdquo) durch den Endungskomplex -isay verdraumlngt sind und letzterer seinerseits in drei Morpheme zerfaumlllt naumlmlich die Genetivendung is deren sog bdquoemphatischerdquo Erweiterung a sowie die Nominativendung i die nach a als ltygt = [j] repraumlsentiert ist Daszlig die Genetivendung ihrerseits um eine Nominativendung erweitert ist ist im Altgeorgischen durch die Regeln der sog bdquoSuffixaufnahmerdquo bedingt der Genetiv bdquodes Rufensrdquo ist an der gegebenen Stelle von dem im Nominativ

15 S httptitusfkidg1uni-frankfurtdesearchqueryhtm16 Abulaʒe Masalebi 1973 Sarǯvelaʒe Masalebi 1995 Sardschweladse Faumlhnrich Woumlrter-buch 1999 Zugrunde liegt eine elektronische Fassung des letzteren Woumlrterbuchs das die Materialien der beiden erstgenannten mit umfaszligt fuumlr die Bereitstellung sei H Faumlhnrich und Z Sarǯvelaʒe auch an dieser Stelle herzlich gedankt 17 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcacaucageontcinantcinanhtm

Sprachliche Morphologie digitalisiert 45

erscheinenden qmay bdquodie Stimmerdquo als Attribut abhaumlngig18 und diesem nachgestellt und erfordert deshalb die zusaumltzliche Markierung fuumlr den Kasus seines Bezugsworts Die einzelnen Analyseelemente seien noch einmal zusammengefaszligt

Lemmaform ltġaġadebaygt ġaġadebai bestehend aus Verbal-Wz bull +Praumls-Stammbildungssuffix+Masdar-Suffix+Nom-Endung

zu analysierende Form ltġaġadebisaygt ġaġadebaisai bestehend aus bull Verbal-Wz+Praumls-St+Masdar-S+Gen-E+bdquoemphldquo El+Nom-E

Regel Masdar-Suffix gt Oslash_Gen-Endung | Instr-Endungbull

Daszlig ein entsprechendes Analyseverfahren fuumlr das altgeorg Verbum noch nicht entwickelt wurde liegt an der enormen Formenfuumllle durch die dieses gekennzeichnet ist wobei Praumlfixe Suffixe Infixe und Ablaut involviert sind Auch ein solch komplexes System kann jedoch als Regelapparat pro-grammiert werden wie die von Paul Meurer (Bergen) implementierte Verbalformenanalyse des Neugeorgischen beweist19 Man vgl zB die in Abb 10 wiedergegebene Ausgabeseite die die paradigmatische Einbettung der Wortform daumalavs zeigt Die Form ist in korrekter Weise doppelt erfaszligt naumlmlich a) als Futurform bdquoersiees wird ihnsieessie vor ihmihr verbergenldquo und b) als Perfektform bdquoersiees soll ihnsiees sie (Sachen) verborgen habenldquo Dabei ist zu beruumlcksichtigen daszlig sich die beiden For-men allein dadurch unterscheiden daszlig die Markierung des handelnden Subjekts (Agens) in ersterer in der Endung -s steckt in letzterer jedoch in dem praumlradikalen -u- das in der Futurform ein indirektes (bdquoversionalesldquo) Objekt bdquovor ihmihrihnenldquo bezeichnet

Futur daumalavs bull Praumlv+indObjV3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +Subj3Sg

Perfekt daumalavs bull Praumlv+Subj3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +dirObj3Sg

18 Mit der bdquoStimme des Rufens in der Wuumlsteldquo (statt bdquodes Rufersldquo griech τοῦ βοῶντος) zeigt die altgeorg Bibel an der gegebenen Stelle einem Zitat aus Is 403 im uumlbrigen eine bemerkenswerte Uumlbereinstimmung mit der armen Bibel (jayn barbary wtl bdquoStimme des Sprechensrdquo) die auf eine syrische Vorlage weist 19 Die Analyse beruht auf einer Implementierung der morphologischen Angaben in K Tschenkelis Woumlrterbuch s httpmaximosaksisuibnoAksis-wikiGeorgian _ Gram-mar _ Project

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Es sei noch hinzugefuumlgt daszlig auf der Basis eines derartigen umfassenden morphologischen Formengenerators auch eine tiefgehende syntaktische Analyse programmierbar ist ein Prototyp fuumlr das Georgische ist von Paul Meurer als Finite-State-Anwendung auf der Basis der bdquoLexical-Functional Grammarldquo (LFG)20 entwickelt worden (vgl Abb 11)

2 Linguistische Zielsetzungen digital basierter MorphologieAlle bisher behandelten Anwendungsbeispiele setzen linguistisches Wissen voraus fuumlhren jedoch selbst allenfalls in begrenztem Maszlige zu einer Wei-terentwicklung unseres Wissens uumlber einzelne Sprachen oder menschliche Sprache im allgemeinen Dennoch kann die Digitalisierung morpholo-gischer Strukturen auch ihrerseits in erheblichem Maszlige zu linguistischem Kenntnisgewinn beitragen Die betreffenden Einsatzbereiche seien im fol-genden kurz umrissen

21 Einsatzbereich Lexikographie

Elektronische Textcorpora schaffen eine hervorragende Basis fuumlr lexiko-graphische Untersuchungen aller Art bis hin zur Erstellung vollstaumlndi-ger Konkordanzen Um das Textcorpus einer Sprache mit reichhaltiger Flexionsmorphologie lexikographisch in konsistenter Weise auszuwerten bedarf es einer Lemmatisierung die nur dann automatisch erfolgen kann wenn eine korrekte Bestimmung saumlmtlicher Wortformen gewaumlhrleistet ist21 Hierfuumlr ist es erforderlich Verfahren zu implementieren wie sie oben am Vedischen und weitergehend am Georgischen illustriert wurden

22 Einsatzbereich Grammatikographie

Auf der Basis von Textcorpora kann eine Digititalisierung morpholo-gischer Strukturen praktisch in allen Bereichen zur Unterstuumltzung einer grammatischen Beschreibung der betr Sprache eingesetzt werden Dies betrifft zum einen die Morphologie der Sprache selbst insofern je nach Umfang des Corpus mehr oder weniger erschoumlpfende Aussagen zur Gestal-tung und Distribution von Morphemen moumlglich werden Daruumlber hinaus ist

20 S dazu zB Kroeger Approach 200421 Vgl den 1994 publizierten Wortformenindex zu den Schriften Galens (Gippert Index Galenicus) bei dessen Erarbeitung noch nicht auf eine automatische Lemmatisierung des Altgriechischen zuruumlckgegriffen werden konnte Heute 15 Jahre nach der Erarbeitung dieser Wortformenkonkordanz wuumlrden geeignete Mittel fuumlr eine automatische Lemma-tisierung bereitstehen

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die Syntax betroffen insofern sie (als Morphosyntax) die funktionale Ver-wendung von Morphemen zum Gegenstand hat Auch fuumlr die Phonologie kann digitalisierte Morphologie Erkenntnisse bringen soweit sie zB die lautliche Auspraumlgung von Allomorphen und phonotaktische Phaumlnomene an Morphemgrenzen zu untersuchen erlaubt

Dabei ist es zweckmaumlszligig zwei Verfahren zu unterscheiden Das erste das ich bdquointrinsischldquo nennen wuumlrde basiert wieder auf der digitalen Grundstruktur von Text naumlmlich der bdquoZeichenketteldquo (String) ein darauf aufbauendes Auswertungsverfahren (bdquozeichenkettenbasierte Sucheldquo) wird allerdings nur bei (nahezu) eindeutiger Form dh variantenloser Schreibung und bei (nahezu) eindeutigem klar definierbaren Zeichenkontext zufriedenstellende Ergebnisse zeitigen Dies sei am Beispiel gotischer Passivformen illustriert

221 Gotisches PassivDie (wenigen) synthetischen Passivformen des Gotischen sind bekanntlich durch spezifische Endungen gekennzeichnet naumlmlich im Praumlsens Indikativ -za fuumlr die 2PsSg -da fuumlr die 1 und 3PsSg und -nda fuumlr die Pluralpersonen Will man diese Endungen als solche abfragen so muszlig zunaumlchst sichergestellt werden daszlig sich die Abfrage nur auf wortfinales -za bzw -(n)da bezieht diese Einschraumlnkung kann in der TITUS-Suchmaschine durch die Eingabe eines Sternchens als Stellvertreterzeichen fuumlr eine beliebige Zeichenfolge markiert werden das den Wortkoumlrper repraumlsentiert (bdquoWildcardldquo vgl Abb 12 mit der Eingabe fuumlr die Endung -za in der Form za) Die daraufhin ausgegebene Wortformenliste zeigt auf den ersten Blick (s den Ausschnitt in Abb 13) die Unzulaumlnglichkeit dieses Verfahrens auf denn neben den (zwei) gewuumlnschten Passivformen (haitaza bdquodu wirst genannt (werden)ldquo Lk 17622 und us-maitaza bdquodu wirst abgehauen (werden)ldquo Roumlm 1122) finden sich hier in weitaus groumlszligerer Zahl andere Formen die auf -za auslauten wie zB die Komparative maiza und minniza bdquogroumlszliger mehrldquo und bdquokleiner minderldquo (Mt 1111 uouml) oder die substantivischen Dativformen riqiza bdquoder Finsternisldquo (Mt 1027 uouml) und Moseza bdquo(dem) Moseldquo (2Tim 38) Noch weitaus diffuser ist die Liste die bei der Abfrage nach da ausgegeben wird (s den Ausschnitt in Abb 14) denn hier erscheinen insbesondere Praumlteritalformen auf -da (wie zB gaweihaida bdquoer hat geheiligtldquo Jo 1036) in groszliger Zahl

22 Im intr heiszligen = bdquogenannt werdenldquo (gegenuumlber trans jdn (etw tun) heiszligen) mani-festiert sich im Deutschen offensichtlich noch eine Reminiszenz an die fruumlhere Existenz eines (Medio-)Passivs des gotischen Typs

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222 Annotative VerfahrenAngesichts solcher Ergebnisse ergibt sich die Notwendigkeit ein besser geeignetes Verfahren anzuwenden nahezu von selbst Als ein bdquoextrinsischesldquo Verfahren das bereits weithin genutzt wird bietet sich die durchgehende Annotation von Textdaten an Hierbei werden durch ein sog bdquoTaggingldquo vorzugsweise auf der Basis der sog bdquoExtended Markup Languageldquo (XML) die fuumlr eine gezielte Abfrage erforderlichen Daten (Formenbestimmungen Lemmaangaben) in den Text eingebunden so daszlig sie fuumlr gezielte Abfragen verfuumlgbar sind Der Vorteil eines derartigen Verfahrens besteht in der rel frei definierbaren und anpassungsfaumlhigen Informationsstruktur Das Tagging kann in nahezu beliebiger Weise explizit (dh als lesbarer bdquoKlartextldquo) oder implizit (in Form von Abkuumlrzungen Siglen etc) gehalten werden nur Konsistenz muszlig gewahrt bleiben Abb 15ndash16 zeigen zur Illustration eines maximal expliziten Taggings einen Ausschnitt aus dem Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus23 in verschiedenen Darstellungsformen24 Als Beispiel fuumlr ein besonders wenig explizites Annotationsverfahren kann man denselben Ausschnitt aus der urspruumlnglichen Fassung des Corpus (Abb 17) oder den von Han Steenwijk aufbereiteten Slovenischen (Resischen) Katechismus (Abb 18) vergleichen Eines muszlig natuumlrlich klargestellt werden Wie explizit auch immer das Tagging ist ndash es reflektiert auf jeden Fall bereits vorher akkumuliertes linguistisches Wissen

Inwiefern kann ein annotationsbasiertes Retrieval dann uumlberhaupt selbst zum linguistischen Erkenntnisgewinn beitragen Eine ganz wesentli-che Funktion liegt in der Verifikation und Falsifikation von Hypothesen die das Verfahren erlaubt Dabei geht es insbesondere um eine statistische Untermauerung dh die Frage nach der Stringenz linguistischer Annah-men im Hinblick auf in Corpora enthaltene Daten Warum ein Retrieval auf der Basis von Annotationen dabei einer einfachen Suche nach objekt-sprachlichen Zeichenketten uumlberlegen ist sei wiederum an einem Beispiel illustriert

23 S httpwwwikpuni-bonndedtforschfnhd24 Die Ausgabe von XML-Strukturen haumlngt von dem jeweiligen Verarbeitungspro-gramm ab hier dargestellt sind die frei verfuumlgbaren XML-Editoren von firstobject (httpwwwfirstobjectcomdn _ editorhtm) und XMLFox (httpwwwxmlfoxcomdownloadhtm) Auf der Seite httptitusuni-frankfurtdeldlinkshtm sind online verfuumlgbare XML-Werkzeuge zusammengestellt

Sprachliche Morphologie digitalisiert 49

223 Echofragen im KaukasusWer die georgische Sprache erlernt wird sich uumlber kurz oder lang wundern daszlig Echofragen in dieser Sprache in spezifischer Weise ausgepraumlgt sind insofern sie mit den auf sie folgenden Antworten durch die Konjunktion da bdquoundldquo verbunden werden man vgl das folgende Beispiel25

Frage ras aḳetebt axla tkven bdquoWas tut ihr geradeldquo

Echofrage+Antwort čven ras vaḳetebt da meored motibul tivas vparcxavt bdquoWas wir tun sbquoUndrsquo ndash wir rechen die zweite Mahd zusammenldquo

Wollte man derartige Konstellationen nun in einem groumlszligeren Corpus des (gesprochenen) Georgischen abfragen so wuumlrde man mit einer rein zeichenkettenbasierten Suche schwerlich in vertretbarer Zeit zum Erfolg kommen da eine Suche nach selbstaumlndigem da sowohl saumlmtliche Belege fuumlr die Konjunktion (und damit das haumlufigste Wort uumlberhaupt) als auch solche fuumlr das homonyme da bdquoSchwesterldquo (NomSg) erbringen wuumlrde Noch schwieriger wuumlrde sich die entsprechende Suche im Svanischen einer der Schwestersprachen des Georgischen gestalten das einen genau entsprechenden Gebrauch der Konjunktion bdquoundldquo kennt Diese lautet hier normalerweise i wie in der woumlrtlichen Entsprechung des obigen Beispiels

Frage im xašdbad atxe sgaumly Echofrage+Antwort nauml im xwašdbad i mēris xwipcxidIn der Position nach vokalischem Auslaut wird das i nun aber als [j] real-isiert und sofern svanische Texte niedergeschrieben werden als solches an das vorhergehende Wort angehaumlngt so daszlig eine Suche nach (selbstaumlndigem) i diese Faumllle nicht erbringen wuumlrde

Frage si zurāl im xašdba bdquoDu Frau was tust du (gerade)rdquo Echofrage+Antwort im xwašdbay ulyāks xwaumlpšwde bdquoWas ich tue lsquoUndrsquo ndash ich schere ein Schafrdquo

25 Die folgenden Beispiele sind dem im Rahmen des Projekts bdquoEndangered Caucasian Languages in Georgialdquo (s httptitusfkidg1uni-frankfurtdeeclingeclinghtm) gesammelten originalsprachlichen Material entnommen Die Beispiele wurden nicht gezielt eruiert sondern sind jeweils Bestandteil ungesteuerter Konversation

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Noch komplexer ist die Sachlage in einer zweiten ihrerseits nicht ver-wandten Nachbarsprache des Georgischen dem Tsova-Tuschischen oder Batsischen Auch hier koumlnnen moumlglicherweise unter georgischem Einfluszlig Echofragen mit den folgenden Antworten durch bdquoundrdquo verbunden sein die Konjunktion liegt dabei jedoch nicht als eigenstaumlndiges Wort (und somit als eindeutig abgrenzbare Zeichenkette) vor sondern manifestiert sich jeweils unterschiedlich in der Laumlngung des auslautenden Vokals des vorangehenden Wortes der seinerseits in anderen Konstellationen getilgt sein kann man vgl das folgende Beispiel

Frage men yar o psṭuyn bdquoWer war diese Fraurdquo Echofrage+Antwort men yarē xaxabuyren bdquoWer sie war (lsquoUndrsquo) ndash sie war aus Xaxabordquo

Es kommen jedoch auch Echofragen ohne eine derartige Laumlngung vor

Frage qēn nānas vux dīen bdquoWas tat (seine) Mutter dannrdquo Echofrage+Antwort nānas vux dīen ndashnān korlacyīen bdquoWas (seine) Mutter tat (Seine) Mutter wurde verhaftetrdquo

Die sich hieraus unmittelbar ergebende Frage nach der Konsistenz des Gebrauchs kann durch eine Zeichenkettensuche in keiner Weise beant-wortet werden da eben kein zu suchendes Zeichen gegeben ist Man wird also um das Phaumlnomen der Echofragen im Kaukasus im Hinblick auf seine Regelhaftigkeit weiter zu untersuchen nicht umhin koumlnnen eine Anno-tation vorzusehen die nicht nur die morphologischen Elemente sondern sogar syntaktische Einheiten (eben Echofragen als solche) markiert

23 Digitale Morphologie und diachrone Untersuchungen

Einen weiteren Einsatzbereich digitalisierter Morphologie innerhalb der Linguistik stellen diachrone Untersuchungen dar Dabei gilt wieder das Grundprinzip daszlig der Einsatz digitaler Verfahren va zur Verifizierung bzw Falsifizierung von an Einzelfaumlllen erarbeiteten Hypothesen dienen kann Auch dies sei durch ein Anwendungsbeispiel aus dem kaukasischen Raum illustriert

Das Svanische faumlllt unter den kartvelischen oder suumldkaukasischen Sprachen insbesondere dadurch auf daszlig es in mehrere Dialekte mit houmlchst unterschied-licher phonologischer Struktur zerfaumlllt Die historischen Veraumlnderungspro-

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zesse die diese Diversitaumlt herbeigefuumlhrt haben umfassen houmlchst komplexe Umlautungen Assimilationen sowie Syn- und Apokopeerscheinungen So wuumlrde man etwa die Form aumlǯhīdx bdquosie sind uumlber euch gekommenldquo des ober-balischen Dialekts auf eine historisch zugrundeliegende Form adǯihīdex zuruumlckfuumlhren die sich uumlber die folgenden vier chronologisch aufeinander-folgenden an das Altirische erinnernden Schritte veraumlndert haben duumlrfte

Umlautung aumldǯihīdex Apokope (Tilgung des Vokals der Auslautssilbe) aumldǯihīdx Synkope (Tilgung kurzer Vokale in geraden Silben) aumldǯhīdx Clustervereinfachung aumlǯhīdxDabei ist zu bemerken daszlig ein anderer Dialekt der lenṭechische die Syn-kope noch nicht vollzogen hat und in aumllteren svanischen Volksliedtexten sogar noch Formen ohne Apokope begegnen

Die historisch anzusetzende bdquoursvanischeldquo Grundform ist nun zugleich auch diejenige die man bei einer morphologischen Analyse von aumlǯhīdx zugrundelegen muszlig Tatsaumlchlich zerfaumlllt diese Form in insgesamt sechs morphologische Elemente naumlmlich das Praumlverb ad bdquoherldquo das Zeichen eines Objekts der 2 Person verbunden mit dem Zeichen der bdquoobjektiven Versionldquo ǯ+i bdquoin Bezug auf dich euchldquo die Verbalwurzel hīd bdquokommenldquo das Suf-fix des Aorists e sowie das Zeichen fuumlr ein Subjekt der 3 Person Plural x von denen aber eben nicht mehr alle in der heutigen oberbal Form als solche bdquosichtbarldquo sind Schematisch

I II III IV V VIad + ǯ + i + hīd + e + xPraumlv + 2PsObj + ObjV + Wz + AorSuff + 3PlSubjaumlǯhīdx

Wie in diesem Fall ist zu erwarten daszlig eine konsistente morphologische Analyse regelmaumlszligig Formen liefern wird die den mutmaszliglichen historischen (ursvanischen) Ausgangsformen zumindest nahekommen Sie koumlnnen damit als Inputformen fuumlr eine (automatische) Verifizierung der postulierten lautgesetzlichen Entwicklungen vom Ursvanischen zu den einzelnen heutigen Dialekten wie auch fuumlr die postulierten interdialektalen Lautentsprechungen dienen26

26 Vgl bereits Gippert Divergences 2000 mit einigen Fallbeispielen

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3 ResuumlmeeDie Perspektiven die die Anwendung digitaler Morphologie in der Sprach-wissenschaft eroumlffnet lassen sich auf der Grundlage der oben behandelten Fallbeispiele in zwei Thesen zusammenfassen

These I Je mehr sprachliche Daten mit morphologischer (und daruumlber hinaus syntaktischer semantischer pragmatischer metrischer) Analyse digital aufbereitet sind auf desto sichererem Boden steht die Theo-riebildung in synchron-deskriptiver und diachron-vergleichender Linguis-tik

These II Durch die Digitalisierung groszliger Datenmengen wird eine (statistische) Verifizierung bzw Falsifizierung sprachwissenschaftlicher Hypothesen nicht nur moumlglich sondern geradezu als methodisches Postu-lat erzwungen

Durch eine entsprechende Aufbereitung sprachlicher Daten die Voraus-setzungen hierfuumlr zu schaffen sehe ich als eine der vorrangigen Aufgaben der heutigen Linguistik an

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Jost Gippert54

Abbildungen

Abb 1 A-tocharischer Textausschnitt (THT 634r 1-3)

Abb 2 Aufruf der Datenbank

Sprachliche Morphologie digitalisiert 55

Abb 3 Paradigma-Ausgabe

Abb 4 Vedischer Textausschnitt (RV 111a)

Jost Gippert56

Abb 5 Bestimmung der Form agnim

Abb 6 Aufruf der Thesaurus-Suchmaschine

Sprachliche Morphologie digitalisiert 57

Abb 7 Ausgabe der Thesaurus-Suche

Abb 8 Mk 12ndash3 in der altgeorgischen bdquoProtovulgataldquo

Jost Gippert58

Abb 9 Bestimmung der altgeorg Wortform ġaġadebisay

Abb 10 Verbformengenerator fuumlr das Neugeorgische (Paul Meurer)

Sprachliche Morphologie digitalisiert 59

Abb 11 Georgische Syntaxanalyse (Paul Meurer)

Abb 12 Abfrage der gotischen Endung -za

Jost Gippert60

Abb 13 Ausgabeliste von Wortformen auf -za

Abb 14 Ausgabeliste von Wortformen auf -da

Sprachliche Morphologie digitalisiert 61

Abb 15 Annotation (Tagging) im Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus

Abb 16 Dasselbe in systematischer Darstellung

Jost Gippert62

Abb 17 Dasselbe in nicht explizitem Tagging

Abb 18 Implizites Tagging Slovenischer Katechismus

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre

Verbalstammbildung und das Kausativ

Hans Henrich Hock

Since the time of Whitney (1889) western scholarship generally assumes that lsquosecondaryrsquo verb inflections of Sanskrit such as the causative are based on derived stems which are not available in all tense categories while lsquoprimaryrsquo verbs based on roots are not restricted in this way (with certain idiosyncratic exceptions) This approach contrasts with that of Pāṇini according to which lsquosecondaryrsquo formations are based on derived roots rather than stems and these roots behave just like ordinary roots being inflectable in all tense categories I show that Pāṇinirsquos approach provides a more satisfactory account of the Sanskrit facts even though the notion lsquoderived rootrsquo is unorthodox from the present-day perspective and thus constitutes a certain challenge to modern linguistics In addition my paper demonstrates that in the investigation of Sanskrit grammar the work of the indigenous Indian grammarians must be regarded as earlier scholarship on a par with that of western scholars such as Whitney

0 EinleitungSeit Whitney (1889) wird im Allgemeinen angenommen daszlig im Sanskrit (oder Altindoarischen) ein Unterschied besteht zwischen bdquoprimaumlrerrdquo und bdquosekundaumlrerrdquo Verbalstammbildung Etwas vereinfachend kann der Unterschied so dargestellt werden daszlig Sekundaumlrverben (Kausative Desiderative Intensive und Passive) abgeleitete Verbalstaumlmme und daher nicht in allen Tempuskategorien verwendbar sind waumlhrend Primaumlrverben mit gewissen idiosynkratischen Ausnahmen dieser Beschraumlnkung nicht unterliegen Im Gegensatz dazu analysiert Pāṇinis Generativgrammatik (Pāṇini bdquoGrammatikrdquo) die Sekundaumlrverben als nicht auf abgeleiteten Staumlmmen basiert sondern auf abgeleiteten Wurzeln

In diesem Aufsatz versuche ich darzustellen daszlig Pāṇinis Ansatz fuumlr die synchronen Tatsachen eleganter aufkommt und bessere Verallgemeinerungen macht obwohl er mdash und das muszlig zugegeben werden mdash aus heutiger Sicht bdquounorthodoxrdquo anmutet und daher eine gewisse Herausforderung fuumlr die moderne Morphologie darstellt In diesem Zusammenhang ist das Kausativ von besonderer Bedeutung da es den besten Beweis zu liefern scheint fuumlr

Hans Henrich Hock64

die Ansicht daszlig Sekundaumlrkonjugationen sich von der Primaumlrkonjugation grundlegend unterscheiden Mein Aufsatz zielt daher im allgemeinen nur das Kausativ an1

Zusaumltzlich zu der Verteidigung von Pāṇinis Ansatz sollten meine Ausfuumlhrun-gen klar stellen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker keineswegs vernachlaumlssigt werden duumlrfen sondern genauso wie die Arbeiten von Gelehrten wie Whitney als fruumlhere Forschungsansaumltze beruumlcksichtigt wer-den muumlssen

1 Die traditionelle westliche Standard-AnsichtWie bekannt hat das Sanskrit eine Reihe von bdquosekundaumlrenrdquo Verbal- formationen naumlmlich Kausativ Desiderativ und Intensiv zu denen haumlufig auch das Passiv gefuumlgt wird (s aber weiter unten) Vergleiche die Uumlbersicht der von der Wurzel bhr- abgeleiteten Praumlsensflexionen in [1]

[1] a bdquoPrimaumlr-Flexionrdquo bhaacuter-a-ti und biacute-bhar-ti2 traumlgtrsquo b Kausativ bhār-aacutey-a-ti laumlszligt tragenrsquo c Desiderativ buacute-bhūr-ṣa-ti will tragen ist dabei zu tragenrsquo d Intensiv bhaacuteri-bhr-ati sie tragen immer wiederrsquo e Passiv bhri-yaacute-te wird getragenrsquo

Seit Whitney (1889) wird das Verhaumlltnis zwischendiesen Formatio-nen allgemein dahingehend erklaumlrt daszlig die in [1a] Primaumlrverben und die in [1b-e] Sekundaumlrverben seien und daszlig diese Sekundaumlrverben auf einem abgeleiteten Verbalstamm basieren siehe [2]

[2] bdquoSecondary conjugations are those in which a whole system of forms like that already described as made from the simple root [dh die bdquoPrimaumlrformationenrdquo] is made with greater or less com-pleteness from a derivative conjugation-stem and is also usually connected with a certain definite modification of the original radi-cal sensersquo (Whitney 1889 S 360-361)

1 Damit die Darstellung nicht all zu spezialisiert und kompliziert wird beschraumlnke ich mich im allgemeinen auf die Finitformen des Verbums die wichtigste Nicht-Finitform ist das ta-Partizip manchmal auch faumllschlich als Passiv-Partizip des Perfekts bezeichnet (bei Intransitiven ist es aktiv und im fruumlhen Sanskrit hat es eher Gemeinsamkeiten mit dem Aorist)2 Im Unterschied zu den meisten anderen Verbalwurzeln hat bhr- zwei verschiedene bdquoprimaumlrerdquo Praumlsensbildungen

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 65

Whitneys Ansicht wird weitgehend geteilt Zum Beispiel behandeln ThumbHauschild (1959 S 330-357) Mayrhofer (1978 S 93-95) und Renou (1984 S 463-490) alle unter [1b-e] angefuumlhrten Formationen zusammen aber getrennt von der Primaumlrflexion wobei ThumbHauschild und Mayrhofer explizit den Terminus bdquoabgeleitete Konjugationenrdquo verwenden

Eine Variante findet sich bei Macdonell (1916 S 195-207 vs 178-180) Sten-zler (1970 S 52-54 vs 51) und Gonda (1966 S 73-74 vs 72-73) die das Pas-siv separat behandeln (Die Einstellung von Morgenroth (1973 S 158-168) ist in dieser Beziehung ambig)

Waumlhrend in den meisten Faumlllen die Behandlung der Verben in [1b-e] (oder [1b-d]) als Sekundaumlrkonjugationen ohne weitere Diskussion als selbstver-staumlndlich angesehen wird stellt Morgenroth (1973 S 185) bei der Bespre-chung des Kausativs ausdruumlcklich fest daszlig diese Formation bdquozu den sekundaumlren Verben [gehoumlrt] dh zu Verben deren Staumlmme von Verbal-wurzeln abgeleitet sind und eine spezielle Bedeutung habenrsquo

Bevor wir uns weiteren Folgen der westlichen Standard-Ansicht zuwenden ist es vielleicht angebracht kurz die Variante zu besprechen die das Passiv separat behandelt Explizite Ausfuumlhrungen fehlen in den zitierten Veroumlffentlichungen aber es lassen sich wenigstens zwei solcher Begruumlndungen anfuumlhren Die erste hat mit der Tatsache zu tun daszlig das Passiv im Unterschied zu den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo morphologisch auf das Praumlsenssystem und die dritte Person Singular Aktiv des Aorists beschraumlnkt ist auszligerhalb dieser Formationen kann das Passiv nur durch das Medium dargestellt werden das aber auch andere Funktionen erfuumlllt In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert daszlig sich dieses Argument auch bei Whitney findet der sich aber dann doch entscheidet das Passiv bei den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo einzuordnen

[3] bdquoThe passive is classed here as a secondary conjugation because of its analogy with the others in respect to specific value and free-dom of formation although it does not like them make its forms outside the present system from its present-stemrsquo (Whitney 1889 S 361)

Eine weitere Begruumlndung waumlre die folgende Die einheimische indische Grammatik erlaubt Desiderative und Kausative von Intensiven [4a] Kau-sative von Desiderativen [4b] und Desiderative von Kausativen [4c] und die meisten dieser Formation sind auch in Texten bezeugt Kausative von Desiderativen und Desiderative von Kausativen relativ haumlufig die anderen

Hans Henrich Hock66

Formation eher selten3 Zu jeder dieser Formationen kann im Prinzip auch ein Passiv gebildet werden [4arsquo-4crsquo] aber vom Passiv koumlnnen keine anderen bdquoSekundaumlrformationenrdquo abgeleitet werden

[4] a Wurzel vid- wissenrsquo Intensiv ve-vid- Desid des Int ve-vid-i-ṣa-ti Kaus des Int ve-vid-aya-ti b Wurzel āp- erreichenrsquo Desiderativ īp-sa-ti Kaus des Des īp-s-aya-ti c Wurzel pā- trinkenrsquo Kausativ pāy-aya-ti Des des Kaus pi-pāy-ayi-ṣa-ti arsquo Pass des Int ve-vid-ya-te brsquo Pass des Desid īp-s-ya-te crsquo Pass des Kaus pāy-ya-teDiese Verhaumlltnisse sprechen daher fuumlr eine Trennung des Passivs von den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo

2 Empirische Begruumlndung der traditionellen westlichen Standard-AnsichtDie Begruumlndungen fuumlr die separate Einstufung der bdquoSekundaumlrformationenrdquo in der traditionellen westlichen Sanskrit-Grammatik sind eher duumlrftig Wie schon vorher angedeutet ist ein Hauptargument daszlig diese Verbfor-mationen eine spezielle semantische Bedeutung haben die sich von der (unmarkierten) Bedeutung der bdquoPrimaumlrverbenrdquo unterscheidet Wie schon gesehen wuumlrden auf Grund dieses Arguments das Passiv und die anderen bdquoSekundaumlrverbenrdquo zusammen gegliedert obwohl das Passiv in der Deriva-tion ein ganz anderes Verhalten zeigt

Das einzige weitere haumlufiger angebrachte Argument ist historischer Art Es beruht auf der Ansicht daszlig die sogenannten Sekundaumlrverben urspruumlnglich auf das Praumlsenssystem (Praumlsens Imperfekt und vom Praumlsens abgeleitete Partizipen) beschraumlnkt waren und erst sekundaumlr auf andere Tempussysteme ausgedehnt wurden Siehe z B das folgende Zitat von Whitney

3 Beispiele von Whitney 1889 S 372 377 386

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 67

[5] bdquoIn these [secondary or derivative conjugations] a conjugation stem instead of the simple root underlies the whole system of inflection Yet there is clearly to be seen in them the character of a present-system expanded into a more or less complete conjuga-tion and the passive is so purely a present-system that it will be described in the chapter to that part of the inflection of the verbrsquo (Whitney 1889 S 203-204)

Indirekt wird diese Ansicht unterstuumltzt durch das besondere Verhaumlltnis des dem Kausativ zugehoumlrigen reduplizierten Aorists der dem Anschein nach nicht vom Kausativstamm gebildet wird sondern suppletiv direkt von der Wurzel Siehe zB das Verhaumlltnis zwischen [6a-d] und [6e]

[6] a Praumlsens bhārayati b Futur bhārayiṣyati c Passiv bhāryate d ta-Partizip bhārita- e Perfekt bhārayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist abībharat (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Vergleiche in dieser Hinsicht die Ausfuumlhrungen von Whitney und Macdonell wobei die letztere durch ihre historische Begruumlndung besonders auffaumlllt

[7] bdquoThe aorist of the causative conjugation is the reduplicated which in general has nothing to do with the causative stem but is made directly from the rootrsquo (Whitney 1889 S 383)

[8] bdquoThough (with a few slight exceptions) unconnected in form with the causative it has come to be connected with the causative in sense helliprsquo (Macdonell 1916 S 173)

Ein weiteres historisches Argument wird von ThumbHauschild angedeutet naumlmlich daszlig das periphrastisch gebildete Perfekt [6e] erst sekundaumlr dem Kausativsystem zugefuumlgt ist

[9] bdquohellip und somit ist das periphrastische Perfekt nur das Ergebnis einer sprachlichen Auslese welche es ermoumlglichte zu abgeleiteten Verben (wie den Causativstaumlmmen) hellip ein besonderes Perfekt zu bildenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 295)

Ein aumlhnlicher Vorschlag findet sich wiederum bei ThumbHauschild in Bezug auf das Passiv [6c] das zwar dieselbe Wurzelform wie die anderen

Hans Henrich Hock68

nicht-aoristischen Formen hat bei dem aber das normale Suffix -aya- fehlt4

[10] bdquoDaszlig es sich auch hier hellip um junge Neubildungen handelt ergibt sich schon aus der Chronologie dieser Formen sie beginnen erst in den Brāhmaṇas gelegentlich aufzutretenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 344)

3 Probleme des traditionellen westlichen AnsatzesObwohl die historischen Erklaumlrungen fuumlr die verschiedenen Formen im groszligen Ganzen stimmen sind solche historischen Begruumlndungen synchron belanglos Die synchrone Grammatik sollte nur fuumlr die synchronen Tatsachen- verhaumlltnisse aufkommen

Sehen wir uns also kurz an was der traditionelle westliche Ansatz uumlber diese Verhaumlltnisse auszusagen hat und welche Probleme sich dabei herausstellen

Um die Futurformen [6b] und aumlhnliche Formationen wie den Infinitiv zu erklaumlren wird allgemein angenommen daszlig das -a- des Praumlsenssuffixes -aya- abgeworfen wird und zwischen das -ay- und das Futursuffix der sogenannte Bindevokal (bdquounion vowelrdquo) eingeschoben wird der sich fakul-tativ oder obligat in vielen anderen Formen findet

Wie schon oben angedeutet nimmt man fuumlr das Passiv [6c] an daszlig das ganze Praumlsenssuffix abgeworfen wird so daszlig das Passivsuffix direkt an die Kausativwurzel angefuumlgt wird Die Analyse ist aumlhnlich fuumlr das ta-Partizip [6d] nur daszlig hier der Bindevokal vor das ta-Suffix eingeschoben wird

Die Tatsache daszlig das Perfekt periphrastisch gebildet wird mit dem urspruumlnglichen Akkusativ Singular eines vom Praumlsensstamm abgeleiteten deverbalen Nomens plus Auxiliar [6e] wird in manchen Veroumlffentlichungen (zB Whitney und ThumbHauschild) verglichen mit aumlhnlichen aber etwas selteneren Formationen die direkt von der Wurzel gebildet werden wie zB die in [11] angefuumlhrten

[11] vid- wissenrsquo (Praumls vetti5) Perf vidāṁ cakāra īkṣ- schauenrsquo (Praumls īkṣate) Perf īkṣāṁ cakre

4 Fuumlr das ta-Partizip [6d] siehe Sektion 35 Neben dem unreduplizierten Perfekt veda das wie vetti Praumlsensfunktion hat

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 69

Die Formation die die groumlszligten Schwierigkeiten verursacht ist der redu-plizierte Aorist [6f] Waumlhrend beim Passiv und ta-Partizip die Gestalt der Wurzel die gleiche ist wie im Praumlsensstamm (zB bhār- wie in bhārayati) scheint die Wurzelform des reduplizierten Aorists (abībharat mit Voll-stufe bhar) voumlllig verschieden zu sein von der Wurzel des Praumlsensstamms (bhārayati mit Dehnstufe bhār) Das Verhaumlltnis scheint also suppletiv zu sein und die synchrone Analyse scheint daher mit der historischen Inter-pretation uumlbereinzustimmen

Dieser Anschein aber truumlgt Wie aus Daten wie denen in [12] erhellt sind gewisse Wurzelveraumlnderungen des Praumlsensstammes6 nicht nur in den For-men zu finden die allgemein als vom Praumlsensstamm abgeleitet angesehen werden [12a-e] sondern auch im reduplizierten Aorist [12f]

[12] a Praumlsens sthā-p-aya-ti (Wurzel sthā ῾stehenrsquo) b Futur sthā-p-ayi-ṣya-ti c Passiv sthā-p-ya-te d ta-Partizip sthā-p-i-ta e Perfekt sthā-p-ayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist a-ti-ṣṭhi-p-a-t (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Die allgemeine Antwort auf dieses Problem liegt in der Annahme daszlig diese Form des Aorists synchron anomal und irgendwie aus dem Praumlsens-stamm uumlbertragen ist siehe zB [13] (Aumlhnliches bei Gonda 1966 S 65 und Stenzler 1970 S 47)

[13] bdquoIn a few cases where the root has assumed a peculiar form before the causative sign mdash as by the addition of a p or ṣ hellip mdash the redu-plicated aorist is made from this form instead of the simple root thus atiṣṭhipam from sthāp (stem sthāpaya) for sthā hellip the only other example from the older language is bībhiṣa from bhīṣ for bhīrdquo (Whitney 1889 S 384)

Die Folgen dieser Anschauung sind am deutlichsten in der Organisation von Whitneyrsquos (1885) zu erkennen wo bdquoregelmaumlszligigerdquo Formen wie [6f] als normale Aoristformen angefuumlhrt werden waumlhrend Formen wie [12f] unter dem Kausativeintrag erscheinen7 Siehe [14a] vs [14b] wo die relevan-ten Aoristformen durch (von mir zugefuumlgten) Fettdruck gekennzeichnet sind

6 Die meisten dieser Veraumlnderungen haben die Wurzelerweiterung -p- aber es gibt auch andere (zB -ṣ- fuumlr die Wurzel bhī fuumlrchtenrsquo)7 Siehe Whitney 1885 svv

Hans Henrich Hock70

[14] a Formen der Wurzel bhr tragenrsquo Pres [3] biacutebharti biacutebhrati hellip mdash [1] hellip bhaacuterati ndashte hellip mdash [2] bharti hellip Perf babhāra hellip Aor 1 bhartaacutem hellip mdash 3 bībharas hellip mdash 4 abhārṣīt hellip Fut 1 bhariṣyaacuteti hellip mdash 2 bhartā hellip hellip Sec Conj hellip Caus bhārayati

b Formen der Wurzel sthā stehenrsquo Pres [1] tiacuteṣṭhati hellip Perf tasthāuacute hellip Aor 1 aacutesthāt hellip mdash [4] [sthāsīṣṭa] hellip Fut 1 sthāsyaacuteti hellip mdash 2 sthātā hellip hellip Sec Conj hellip Caus sthāpayati hellip (aacutetisthipat etc VB hellip sthāpyate hellip -sthāpayiṣyati B)

Nur bei ThumbHauschild und Macdonell finden sich etwas bessere Beschrei-bungen siehe [15] Dabei wird aber vernachlaumlssigt daszlig die dem -p- vorangehende Wurzelform eben nicht mit der des Praumlsensstamms uumlbereinstimmt Auszligerdem werden die Konsequenzen der Annahme daszlig der Aorist den Praumlsensstamm oder einen Teil des Praumlsenssuffixes enthaumllt nicht durchgesprochen

[15] a bdquohellip der reduplizierte Aorist von p-Causativa hellip wird nicht von der Wurzel sondern von dem Causativstamm gebildetrsquo (ThumbHauschild 1959 S 343)

b bdquoThe initial of the suffix is retained from the causative stems jntildeā-paya hellip thus a-ji-jntildeip-at helliprsquo (Macdonell 1916 S 175)

Als Fazit laumlszligt sich also sagen daszlig der traditionelle westliche Ansatz zwar irgendwie fuumlr die synchronen Tatsachen aufkommt aber keine konse-

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 71

quenten grammatischen Verallgemeinerungen liefert die es ermoumlglichen koumlnnten die Aoristformen mit Wurzelerweiterung (Typus [12f]) zu erklaumlren

4 Der juumlngste westliche Versuch (Stump 2005)Obwohl der kuumlrzlich erschienene Aufsatz von Stump (Delineating 2005) als Hauptthema die theoretische Frage hat ob das Kausativsuffix -aya- Flexionsklasse oder Derivation markiert bespricht er auch noch einmal eingehend die verschiedenen Formationen des Kausativs und bietet zudem eine Alternativanalyse von -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassen-marker -a- an

Wie im tradionellen westlichen Ansatz sieht Stump den reduplizierten Aorist als suppletiv an Zusaumltzlich interpretiert er das Fehlen des Kausativ- suffixes -aya- im Passiv und im ta-Partizip als Anzeichen dafuumlr daszlig die-ses Suffix nur Flexionsklasse markiert (fuumlr die Formationen in denen es erscheint) und nicht der Ableitung dient Wie die meisten traditionellen westlichen Forscher behandelt er in diesem Verfahren die bdquoroot modifica-tionsrdquo (Dehnstufe der Wurzel und Wurzelerweiterung -p-) als im Effekt nebensaumlchlich Soweit der Hauptteil seines Artikels der sich also nicht wesentlich von dem traditionellen westlichen Ansatz unterscheidet

In einer Art Anhang aber erwaumlgt Stump eine Alternativloumlsung die wenig-stens das Potential zu einem neuen Ansatz hat Dies ist der Vorschlag daszlig -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassenmarker -a- analysiert wer-den kann Der Vorteil dieses Ansatzes ist daszlig die Futurform des Typus bhārayiṣyati [6b] leichter erklaumlrt werden kann naumlmlich als Kausativ-stamm bhār-ay- plus Futursuffix -syaṣya- (mit vorhergehendem Binde-vokal) Zusaumltzlich kann nun das ta-Partizip des Typus bhārita- [6d] vom Stamm bhār-ay- abgeleitet werden unter der Annahme daszlig das dem -ta- vorausgehende -i- die Nullstufe des Suffixes -ay- darstellt da Nullstufe vor dem ta-Suffix vorherrscht

Man koumlnnte sogar einen Schritt weitergehen und das Passiv bhār-ya-te [6c] vom Stamm bhār-ay-ableiten unter der Annahme daszlig auch hier das Kau-sativsuffix -ay- in der Nullstufe -i- erscheint da auch vor dem Passivsuffix Nullstufe vorherrscht Der Schwund dieses -i- koumlnnte dann erklaumlrt werden

Hans Henrich Hock72

als Parallelerscheinung zum Schwund des -i- der sogenannten seṭ-Wurzeln das auch im Passiv schwindet aber nicht im ta-Partizip8 siehe [16]

[16] Kausativ mit Suffix in Nullstufe seṭ-Wurzel Grundform bhār-i- pat-i-fliegen fallenrsquo ta-Partizip bhār-i-ta- pat-i-ta- Passiv bhār-ya-te pat-ya-teVom theoretischen Standpunkt ist aber Stumps Alternativloumlsung schwierig da er annimmt daszlig sowohl das Suffix -ay- als auch das fol-gende -a- Flexionsklassenmarker sind Eine solche Serialisierung von zwei Flexionsklassenmarkern scheint ziemlich ungewoumlhnlich und sollte durch eingehendere Argumente begruumlndet werden

Letzten Endes leidet Stumps Analyse also unter denselben Schwierigkeiten wie der traditionelle westliche Ansatz vor allem dadurch daszlig die im Aorist erscheinende Wurzelerweiterung -p- nicht motiviert ist

5 Die bdquoWurzelrdquo-Analyse von Pāṇini9

In manchen Gesichtspunkten beruumlhrt sich Pāṇinis Grammatik mit der Alternativloumlsung Stumps in anderen mit dem traditionellen westlichen Ansatz aber in Bezug auf die theoretische Perspektive ist sie grundver-schieden dadurch daszlig sie statt eines Kausativstamms eine abgeleitete Kausativwurzel postuliert

Pāṇinis Grammatik ist generativ und operiert mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen die oft grammatische Marker enthalten die nur dazu dienen gewisse Regeln in Kraft zu setzen oder zu steuern (wie zB Regeln uumlber Ablaut) die fuumlr viele phonetische Prozesse unsichtbar sind und die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Um das Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten zu erleichtern gebe ich im Folgenden statt Pāṇinis Sūtras (dh Regeln) Zusammenfassungen der durch diese Sūtras gemachten Verallgemeinerungen mit Hinweis auf Buch Kapitel und Sūtra

Pāṇini fuumlhrt verschiedene abgeleitete Verbalformationen in 315-3131 ein Diese schlieszligen das Desiderativ (315-7) Intensiv (3122-24) und fuumlr uns wichtig das Kausativ (3126) ein Das letztere wird eingefuumlhrt unter der

8 In Wurzeln mit Resonant vor dem seṭ -i finden sich im ta-Partizip kompliziertere Alternationen 9 Mit gewissen Veraumlnderungen findet sich Pāṇinis Ansatz in den meisten modernen indischen Grammatiken des Sanskrit wie zB Kale 1894

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 73

Bedingung daszlig ein bdquoVerursacherrdquo des Kausativs (hetu) vorliegt und die Formation enthaumllt einen Pratyaya (asymp Suffix10) ṇic wobei ṇ und c gram-matische Marker sind Der Pratyaya ist daher nur i das auf Grund des Ablautsystems mit e vorvokalisch ay alterniert11

Die Sūtras die diese Formationen einfuumlhren werden direkt gefolgt durch 3132 wonach all diese Formationen Wurzeln (dhātus) sind

Schlieszliglich fuumlhrt 7336 die Erweiterung -p- nach gewissen Wurzeln ein Wichtig ist dabei daszlig die Erweiterung zwischen die Wurzel und den Kausativ- Pratyaya i eingefuumlgt wird so daszlig der ganze dabei entstehende Komplex (zB sthā-p-i) nach 3132 als Wurzel gilt

Dieser Ansatz ist aus mehrerer Hinsicht nuumltzlich Erstens erklaumlrt er daszlig zB Desiderative von Kausativen gebildet werden koumlnnen genau wie von bdquoPrimaumlrwurzelnrdquo (s [4] oben) Zweitens wird dadurch daszlig das Praumlsenssuffix des Passivs in anderem Zusammenhang eingefuumlhrt wird (3167) die Tat-sache erklaumlrt daszlig Desiderative Kausative usw nicht vom Passiv abgeleitet werden koumlnnen Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste erlaubt es die Formation von reduplizierten Aoristen mit Wurzelerweiterung (-p- usw) zu erklaumlren wie weiter unter dargestellt werden soll

Dem Pratyaya des Kausativs folgt im aktiven Praumlsenssystem das bdquoDefaultrdquo-Suffix śap (Implikation von Sūtra 3168) wobei ś und p wiederum gram-matische Marker sind und das p auf Grund anderer Sūtras den Pratyaya i zu ay verstaumlrkt12 Dadurch kommt das -ay-a- des Praumlsenssystems zustande Die Tatsache aber daszlig das abschlieszligende -a- Praumlsenssuffix ist erklaumlrt dann seine Abwesenheit in auszligerpraumlsentischen Formationen wie dem Futur (zB bhāray-iṣya-ti)13 Interessanterweise macht Pāṇini nicht von der Moumlglichkeit Gebrauch das Fehlen des Pratyaya i im Passiv (zB bhār-ya-te) durch Vergleich mit

10 Im Folgenden wird das Sanskrit-Wort Pratyaya gebraucht um einer Fehlinterpreta-tion als Suffix im westlichen Sinne vorzubeugen11 Da fuumlr gegenwaumlrtige Zwecke nur die vorvokalische Variante von Belang ist wird in den folgenden Ausfuumlhrungen nur diese genannt12 In Pāṇinis Grammatik gilt im allgemeinen die Nullstufe (wie zB i) als Grundform und Vollstufe (zB eay) und Dehnstufe (zB aiāy) werden als bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo abge-leitet Zum leichteren Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten gebrauche ich den Terminus bdquoVer-staumlrkungrdquo fuumlr die fuumlr uns wichtige Guṇierung und bdquoNicht-Verstaumlrkungrdquo fuumlr den Gebrauch der Grundform13 Das periphrastische Perfekt wird erklaumlrt nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Eine Endung -ām wird an die Kausativwurzel mit vollstufigem Pratyaya (ay) angefuumlgt und darauf folgt dann die angemessene Perfektform der Wurzel kr tun machenrsquo

Hans Henrich Hock74

dem Fehlen des i in seṭ-Wurzeln (zB pat-ya-te s [16] oben) zu erklaumlren Statt dessen fuumlhrt er ein besonderes Sūtra ein (6451) wonach das i des Kausativs vor dem Passiv-Suffix -ya- getilgt wird wie auch vor anderen zT nominalen Suffixen einschlieszliglich des Aorist-Suffixes caṅ (s unten) Der Grund dafuumlr ist wohl die Tatsache daszlig Pāṇini die seṭ-Wurzeln nicht als besondere Klasse anerkennt sondern das bei ihnen regelmaumlszligig vor Konsonanten (auszliger y) vorkommende -i nicht von dem oft nur fakultativen i unterscheidet welches nachkonsonantisch vor fast allen konsonantisch anlautenden Suffixen eingeschoben werden kann wie zB in rakṣ-i-tum Infinitiv der Wurzel rakṣ- behuumlten kontrollierenrsquo14 (Dieser i-Einschub der Bindevokal der westlichen Tradition ist unter anderem fuumlr das -i- des Futurs bhāray-i-ṣya-ti und aumlhnlicher Formen verantwortlich) Fuumlr Pāṇini ist daher bei Formen wie pat-ya-te kein Grund zur Annahme einer i-Tilgung diese ist nur noumltig fuumlr das Kausativ Andererseits ist aber bei Pāṇini das Prinzip der Tilgung von Suffixen und anderen Element so fest verankert daszlig die i-Tilgung im Passiv des Kausativs (und aumlhnlichen Formen) keineswegs ad hoc ist Eine Uumlbersicht der relevanten Regel- anwendungen findet sich in [17] weiter unten

Auch im Falle des ta-Partizips nimmt Pāṇini nicht die Gelegenheit wahr das -i- in Formen wie bhār-i-ta- als das nicht verstaumlrkte -i- des Kausativ-Pratyayas zu interpretiern Statt dessen operiert er mit der Annahme eines i-Einschubs nach der Kausativ-Wurzel und vor der Endung -ta- Vor diesem i erleidet dann das Kausativ-i- dieselbe Art von Tilgung (in diesem Fall nach 6452) wie vor dem Passiv-Suffix -ya- Der Grund hierfuumlr mag zum Teil der sein daszlig auf diese Weise die Formation des ta-Partizips vom Kausativ parallel ist zu der entsprechenden Formation des Desiderativs und anderer abgeleiteter Wurzeln bei denen ebenfalls ein i vor dem ta-Suffix eingeschoben wird (Siehe die Illustration der Regelan-wendungen in [17] unten)

Zum Teil aber mag der Grund auch darin liegen daszlig die Annahme eines regelmaumlszligigen i-Einschubs vor mit t anlautenden Suffixen es ermoumlglicht fuumlr die Form des Absolutivs (oder Konverbs) des Kausativs aufzukommen wie zB bhāray-i-tvā getragen habend nach dem Tragenrsquo Das Schwierige an dieser Form ist daszlig das Suffix -tvā normalerweise die unverstaumlrkte Form der vorhergehenden Wurzel verlangt (wie z B in i-tvā gegangen seiend nach dem Gehenrsquo von der Wurzel i-) Das verstaumlrkte -ay- von bhāray-i-tvā verlangt daher nach einer besonderen Erklaumlrung Diese liegt bei Pāṇini in der Annahme daszlig eine Form mit -i-Einschub zu Grunde liegt (also

14 Die zustaumlndigen Sūtras sind 7235-100 mit 724-34

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 75

bhāri-i-tvā) und daszlig in dieser Konfiguration der normale Effekt des -tvā aufgehoben ist (1218) bhāri-i-tvā erleidet daher Verstaumlrkung des Kausativ-Pratyayas i zu -ay- wodurch bhāray-i-tvā zu Stande kommt Siehe die Zusammenfassung in [17]

[17] ta-Partizip Passiv Absolutiv bhāri-ta- bhāri-ya-te bhāri-tvā i-Einschub bhāri-i-ta- bhāri-i-tvā Verstaumlrkung bhāray-i-tvā i-Tilgung bhār-i-ta- bhār-ya-teAuf jeden Fall sollte bemerkt werden daszlig bei Pāṇini die Aumlhnlichkeit zwischen dem i-Pratyaya das Kausativs und dem -i- des ta-Partizips nur zufaumlllig ist

Bis zu diesem Punkt leistet Pāṇinis Grammatik ungefaumlhr dasselbe wie der traditionelle westliche Ansatz und vor allem wie Stumps Alternativloumlsung auszliger natuumlrlich der Tatsache daszlig er mit Wurzeln statt Staumlmmen arbeitet

Wenn wir uns der Erklaumlrung des reduplizierenden Aorists zuwenden koumlnnen wir sehen daszlig sich Pāṇinis Grammatik von westlichen Ansaumltzen grundlegend unterscheidet und daszlig die bdquoWurzeltheorierdquo erklaumlren kann was die bdquoStammtheorierdquo nicht erklaumlrt

Der Flexionsmarker des reduplizierten Aorists caṅ wobei c und ṅ gramma-tische Marker sind wird in 3148 nach dem Kausativ-Pratyaya und gewissen primaumlren Wurzeln eingefuumlhrt Die diesem Flexionsmarker vorausgehende Wurzel wird nach 6111 redupliziert und der Vokal der Reduplikations-silbe wird unter gewissen Umstaumlnden gelaumlngt (7493-94) Fuumlr uns wichtig ist was mit der zwischen Reduplikationssilbe und Flexionsmarker -a-15 stehenden Kausativwurzel geschieht

Erstens verliert die Wurzel ihr -i- nach 6451 derselben Regel die das i vor dem Passiv-Suffix -ya- tilgt (s oben) Zweitens wird ein Wurzelvokal gekuumlrzt dem nur ein Konsonant folgt (741) Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste lehrt das Sūtra 745 daszlig das ā der Wurzel sthā- unter denselben Umstaumlnden dh wenn nur ein Konsonant folgt durch i ersetzt wird Diese Regel kann aber nur dann zur Anwendung kommen wenn die Wurzel die Erweiterung -p- enthaumllt da nur unter diesen Umstaumlnden dem ā der Wurzel noch ein Konsonant folgt (Siehe die Darstellung in [18])

15 Das heiszligt caṅ ohne die grammatischen Marker c und ṅ

Hans Henrich Hock76

[18] Wurzel Wurzel ohne p-Erweiterung mit p-Erweiterung (bhr) (sthā) Aorist Einsatzform16 bhāri-a- sthāpi-a-i-Tilgung bhār-a- sthāp-a-Reduplikation bi-bhār-a- ti-ṣṭhāp-a-Wurzelschwaumlchung bi-bhar-a- ti-ṣṭhip-a-Oberflaumlchenform17 a-bī-bhar-a-t a-ti-ṣṭhip-a-t

Wir koumlnnen daher folgern daszlig im Gegensatz zu westlichen Ansaumltzen Pāṇinis Grammatik eine elegante und system-konsequente Erklaumlrung fuumlr das Vorkommen der kausativen Wurzelerweiterung p im reduplizierten Aorist bietet und daszlig in dieser Beziehung die bdquoWurzeltheorierdquo produktiv ist

6 Zusammenfassung und ImplikationenWie wir gesehen haben liefert Pāṇinis bdquoWurzeltheorierdquo eine methodische Erklaumlrung des kausativen Aorists die traditionellen westlichen bdquoStammtheorierdquo-Ansaumltzen bisher nicht gelungen ist Gleichzeitig aber muszlig betont werden daszlig die Annahme von abgeleiteten bdquoWurzelnrdquo aus der Perspektive der westlichen grammatischen Tradition(en) aumluszligerst ungewoumlhn- lich ist Es fragt sich daher ob und wie weit sich die Einsichten von Pāṇinis Ansatz in einer bdquoStammtheorierdquo replizieren lassen Ich uumlberlasse etwaige Antworten auf diese Frage anderen Forschern und wende mich nur kurz einigen weiteren Implikationen zu

Erstens erhebt sich die Frage inwieweit sich Pāṇinis Ansatz veraumlndern lieszlige so daszlig zB die Aumlhnlichkeit zwischen dem -i- des ta-Partizips und dem -iay- des Kausativs nicht zufaumlllig sondern signifikant waumlre Da Pāṇinis Grammatik im wahrsten Sinne des Ausdrucks ein Gebilde ist in dem bdquotout se tientrdquo wuumlrde ein Versuch die Erklaumlrung des ta-Partizips zu aumlndern dazu fuumlhren daszlig die gesamte Struktur der Grammatik uumlberdacht und umgeaumlndert werden muumlszligte Ein solches Unterfangen waumlre fuumlr normale Sterbliche unerreichbar

16 Zur Vereinfachung der Darstellung wird hier angenommen daszlig gewisse andere Regeln (wie die Tilgung der grammatischen Marker) schon eingetreten sind17 Dritte Person mit Anwendung weiterer Regeln

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 77

Zweitens wirft Pāṇinis Ansatz die Frage auf inwieweit die weit verbreitete Ansicht aufrecht zu erhalten ist daszlig Primaumlr- und Sekundaumlrflexion sich grundlegend unterscheiden In dieser Hinsicht ist beachtenswert daszlig selbst Whitney sich in dieser Hinsicht nicht so ganz sicher war wie das Zitat in [19] erhellt

[19] bdquohellip Nor is there any distinct division-line to be drawn between tense-systems and derivative conjugations the latter are present-systems which have been expanded into conjugations by the addi-tion of other tenses and of participles infinitives and so on hellip rsquo (Whitney 1889 S 361)

Schlieszliglich hoffe ich daszlig meine Ausfuumlhrungen zu der Einsicht verhelfen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker unter allen Umstaumlnden beruumlcksichtigt und als fruumlhere Forschung betrachtet werden muumlssen genau so wie die Arbeiten von Forschern wie Whitney oder Stump In allen Faumlllen haben wir natuumlrlich nicht nur das Recht sondern die Aufgabe fruumlhere Ansichten kritisch zu betrachten und mdash hoffentlich mdash mit neuen besseren Loumlsungen aufzuwarten Aber eine Vernachlaumlssigung der indischen grammatischen Tradition sollte im Grunde genommen nicht mehr zu rechtfertigen sein

In diesem Zusammenhang waumlre es natuumlrlich fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der indischen grammatischen Tradition hilfreich wenn Werke wie Pāṇinis Grammatik digital in einem geeigneten Format zur Verfuumlgung stuumlnden Zwar gibt es schon mindestens zwei digitale Ver-sionen dieser Grammatik die uumlber GRETIL (Goumlttingen Register of Elec-tronic Texts in Indian Languages httpwwwsubuni-goettingende ebene _ 1fiindologretilhtm) abgerufen werden koumlnnen Wie aber schon angedeutet arbeitet Pāṇini mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen und noch abstrakteren grammatischen Markern die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Dazu kommt daszlig die verschiedenen Regeln (oder Sūtras) thematisch ein-geordnet sind und nicht in der Anordnung in der sie bei bestimmten Formen zur Anwendung kommen Selbst wenn wir die vielen in den obigen Ausfuumlhrungen nicht weiter besprochenen Regeln vernach- laumlssigen (wie zB die fuumlr bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo [s Fn 12]) ist es leicht ersichtlich daszlig die Regeln fuumlr die Bildung der verschiedenen Kausativ-formen weit uumlber Pāṇinis Grammatik verstreut sind So findet sich die Einfuumlhrung des Kausativ-Pratyayas in 3126 und die Definition der resultierenden Formation als Wurzel in 3132 Die Wurzelerweiterung

Hans Henrich Hock78

-p- wird durch 7336 eingefuumlhrt Das auf Wurzel samt Erweiterung folgende Praumlsenssuffix wird auf Grund von 3168 angefuumlgt das Aorist-Suffix nach 3148 die Formation des Perfekts nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Die Reduplikation des Aorists wird durch 6111 festgelegt und weitere Konsequenzen werden in 7493-94 und 741745 behandelt Das -i- der Kausativwurzel wird nach 6452 vor gewissen Suffixen getilgt Und so weiter

Selbst wenn Pāṇinis Grammatik mit guten Indices versehen ist wuumlrde es Nicht-Experten auf diesem Gebiet schwer fallen all diese verschiedenen Regeln ausfindig zu machen und auf die richtige Art und Weise fuumlr die Derivation zusammenzubringen Traditionell ausgebildete Experten vollziehen diese Aufgaben im Kopfe sie haben den ganzen Text nicht nur auswendig gelernt sondern ihn auf solche Weise gespeichert daszlig sie gezielte Suchen durchfuumlhren und die Resultate wiederum im Gedaumlchtnis zusammen- bringen koumlnnen Wie mein Freund und Kollege Madhav Deshpande (Uni-versity of Michigan) berichtet wird dies dadurch ermoumlglicht daszlig das Auswendiglernen der Grammatik in taumlglichen Portionen von je 20 Sūtras stattfindet und die dadurch entstehende Division des Texts in kleinere Subdomaumlnen zur Suche verwendet werden kann Wenn man zB nach einem gewissen Sūtra in sagen wir Buch 3 Kapitel 2 sucht (welches 188 Sūtras enthaumllt) und weiszlig daszlig dieses ungefaumlhr im dritten Viertel zu finden waumlre braucht man nicht muumlhselig die Sūtras vom Anfang des Kapitels durchzusuchen sondern kann sofort auf die Zwanziger-Gruppe in der Naumlhe von Sūtra 140 peilen und diese durchsuchen Falls diese Suche nicht das Richtige erreichte peilt man die unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Zwanziger-Gruppen an Auf diese Weise bei der man die im Gedaumlchtnis gespeicherte Information wie eine Computerdatei behandelt kommt man schnell zum Erfolg

Fuumlr die von uns die einem solchen Auswendiglernen und einer solchen Text- manipulierung nicht gewachsen sind bestuumlnde die beste Annaumlherung an die traditionelle Arbeitsweise in einer relationalen Datei die bei jedem Sūtra Links zu den verschiedenen anderen Regeln bietet die bei der Ableitung anzubringen sind Soweit mir bekannt ist hat der amerikanische For-scher George Cardona 1990-1994 mit seinem damaligen Studenten Peter M Scharf an einem Projekt mit diesem Ziel gearbeitet und der letztere hat als Nachfolgeprojekt eine relationale Datei herausgebracht (Scharf 2001) die uumlber httpsanskritlibraryorg abgerufen werden kann Eine Antwort auf die Frage wie weit diese Datei fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 79

indischen grammatischen Tradition hilfreich sein kann steht meines Wis-sens noch aus

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Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Keeping with the Chinese linguistic tradition Chinese writing characters are categorized into six groups by their composition or their development Whereas picto grams and ideograms contribute merely to a small portion of the entire character inventory ideophonograms comprise the substantially large majority of Chinese characters The change in character constitution should shed light on how the Chinese characters pursuing the principle of writing economy have been evolving into a morphosyllabic writing system which bears to a cer-tain extent on the morphosyntactic features of the Chinese language Further-more the gradual remodelling of character forms also exerts influences on the characteristics of Chinese characters The present paper notably outlines the gra pho (no)tactics of character constituents as well as the phonetic connections be tween ideophonograms and their phonetic constituents

0 EinleitungZiel des vorliegenden Aufsatzes ist es einen Uumlberblick uumlber die wichtigsten Zuuml ge der chinesischen Schrift aus dem Blickwinkel der Zeichenbildungs-Mor phologie und -Morphotaktik zu geben Sein Wert duumlrfte weniger in neu en Erkenntnissen bezuumlglich Einzelfragen liegen sondern eher darin dass versucht ist die herkoumlmmliche chinesische Auf fassung von dem Gegen stand aus zeichenmorphologischer Sicht zu vermitteln und dabei gleich zeitig eine feingliedrige Terminologie zu bieten Grundsaumltzlich ist an gestrebt einen moumlglichst repraumlsentativen Querschnitt darzustellen durch den das Wesenhafte im Vordergrund Stehende gut herauskommt

周禮八歲入小學保氏教國子先以六書一曰指事指事者視而可識察而見意上下是也二曰象形象形者畫成其物隨體詰詘日月是也三曰形聲形聲者以事為名取譬相成江河是也四曰會意會意比類合誼以見指撝武信是也五曰轉注轉注者建類一首同意相受考老是也六曰假借假借者本無其事依聲託事令長是也

Dieses Zitat ist ein Auszug aus dem Vorwort zum ersten chinesischen Woumlrterbuch herausgegeben vom Gelehrten Shen Xu im Jahre 100 n Chr Mit diesen Worten erklaumlrt er wie chinesische Schriftzeichen nach ihrer Kom positions methode in sechs Kategorien eingestuft werden sollen

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder82

Im chinesischen Text stellt die eigenstaumlndige SchreibDruck- und Wahr neh-mungs einheit ein Quadrat dar Unabhaumlngig von Anzahl und Anordnung der das Einzelschriftzeichen bildenden Bestandteile und Strichzuumlge wird grund saumltzlich angestrebt bei jedem Einzelschriftzeichen die Form eines an naumlherungs weise quadratischen Rechtecks einzuhalten Dieses Feld nun ist nicht immer voll und gleichmaumlszligig mit Schrift-Elementen ausgefuumlllt doch der Platz bleibt an unbeschriebenen Stellen leer sodass man sich ein un sicht bares Quadratfeld um das Geschriebene herum zu mindest denken kann Beispielsweise ist das Feld des Quadratzeichens 冊 cegrave Band (eines Buches) weitgehend ausgefuumlllt Spaumlrlicher hingegen ist zB die Ausfuumlllung des Zeichenfeldes der Quadratzeichen 一 yī eins und 止 zhǐ bis Ein Quadratzeichen entspricht im gesprochenen Chinesischen der Sprech-sprache also genau einer Silbe Chinesische bdquoWoumlrterldquo (zu bdquoWortldquo siehe weiter unten) bestehen heutzutage haumlufig aus mehreren Silben und werden dann mit einer der Silbenzahl entsprechenden Anzahl Quadratzeichen geschrieben

Die Wurzel morph (gewonnen aus griechisch μορφή bdquoGestaltldquo) ist in der sprach wissenschaftlichen Terminologie von der bdquoGestaltldquo an sich abstrahiert und auf einen gewissen Aspekt der Wort-bdquoGestaltldquo von Sprache uumlbertragen wor den namentlich auf den Bereich von Stamm- und Formenbildung Dar-auf hat man mit der Zeit eine terminologische Sippe aufgebaut Morphem Mor pho logie Morphotaktik usw Diese terminologische Sippe wenden wir im vorliegenden Aufsatz nun wieder auf eine konkrete bdquoGestaltldquo an und zwar auf die Bestandteile der chinesischen Quadratzeichen Im Ge gen satz zu Alphabetsprachen in denen die (ein Morphem bildenden) Buch staben-ketten weitgehend nur eins zu eins den Lautwert abbilden (ein Morphem ent spricht ausdrucksseitig also einer Buchstaben=Laut-Kette) sind die chi ne sischen Strichzugkomplexe wenn sie auch rein schriftgestalterisch ab strakt wirken viel bildlicher und stellen in sich aufteilbare bdquoGestaltldquo-Groumlszligen dar - viel mehr als Buchstaben(ketten) es tun Diese graphischen Kom plexe aus denen chinesische Quadratzeichen aufgebaut sind sind es die wir in diesem Beitrag als unsere bdquoMorphemeldquo ansehen Zur Unterscheidung von sprachlichen bdquoMorphemenldquo im herkoumlmmlichen Sinne nennen wir sie Zeichen morpheme

Ein Zeichenmorphem kann frei oder gebunden sein Ein freies Zeichen-morphem erscheint als eigenstaumlndiges Quadratzeichen das (zumindest) einen festgelegten Lautwert hat Dementgegen dient ein gebundenes Zei-chen morphem ausschlieszliglich als Bestandteil zum Komponieren von Qua-drat zeichen fuumlr ein Zeichenmorphem das heute nur gebunden und nie mals (mehr) frei als Quadratzeichen vorkommt wird im Woumlrterbuch um es sprech-

83Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

sprach lich benennen zu koumlnnen ein behelfsmaumlszligiges Lautbild angegeben das aber ggf von Woumlrterbuch zu Woumlrterbuch variiert Ein Quadratzeichen birgt ein oder mehrere Zeichenmorpheme Ein Zeichenmorphem das einen Kom plex bildet kann immer wieder als Komplex in eine houmlherrangige Qua drat zeichen-Komposition eingebaut werden und zaumlhlt darin als ein ein ziger Bestandteil

Allomorphe sind gemeinhin ausdruckssprachliche Auspraumlgungen eines Morphems In der chinesischen Schrift finden wir auch wenn wir Duktus-Erschei nungen (wie relative Strichdicke oder Zierabschluumlsse an den Strich-Enden) ver nachlaumlssigen und uns auf die Skelettform eines Quadratzeichens (also die allernoumltigsten Strichzuumlge welche die typische Form eines Morphems erken nen lassen) beschraumlnken drei voneinander abgrenzbare Gruppen von Allomorphen eines Zeichenmorphems vor

Ein Vollallomorph ist die unverschlankte Auspraumlgung eines Zeichen-mor phems Bei einem freien Zeichenmorphem tritt sein Vollallomorph in der Regel in Form eines eigenstaumlndigen Quadratzeichens auf zB bei 火 huǒ Feuer In der Komposition mit anderen Zeichenmorphemen bil den Vollallomorphe zwei Arten von Tochter-Allomorphen aus naumlmlich Schrumpf allomorphe und Allomorphkuumlrzel

Schrumpfallomorphe Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Schrumpfallomorph ist die entweder lediglich in der Laumln ge gestauchte oder nur in der Breite gestauchte oder aber ver haumllt nis gerecht ver kleinerte Auspraumlgung eines Vollallo morphs Die Groumlszligen veraumlnde rungen wer den vorgenommen damit das Zeichen morphem zusaumltzlich zu einem oder mehreren ande ren Zeichen morphemen im Quadratfeld Platz finde Vom Voll allomorph 火 huǒ Feu er etwa gibt es ein waagerecht gestauch tes Schrumpfallomorph wel ches im Quadratzeichen 燒 shāo brenn- auf der lin ken Seite unter ge bracht ist Die Form eines Schrumpfallomorphs weicht selten von der seines Voll allomorphs ab houmlchstens wird ein Strich der zB im Vollallomorph waage recht ist im Schrumpfallomorph leicht gekippt Des weiteren be schraumlnkt sich ein Schrumpfallomorph meistens nicht auf eine feste Stel lung in Quadratzeichen das heiszligt es kann an mehreren Posi-tionen im Qua dratfeld auftreten und ist damit mehr-Stellungs-faumlhig

Allomorphkuumlrzel Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Allomorphkuumlrzel stellt eine Auspraumlgung mit veraumlnderter Skelett form dar die aus einem Vollallomorph vereinfacht ist um im Zeichen morpho-tagma eines Quadratzeichens leichter Platz zu finden und besser ver bindbar zu sein So wird zB das aus dem Vollallomorph 火 huǒ Feu er auf vier

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder84

hintereinander folgende kleine Striche zusammengestutzte Allo morph-kuumlrzel unten in das Quadratzeichen 焦 jiāo verbrannt eingebaut Die Form eines Allomorphkuumlrzels weicht immer vom Vollallomorph ab die Gestalt vereinfachung darf nicht nur aus einer (ggf unproportionalen) Ver-kleine rung bestehen sondern mindestens ein Strich im Vollallomorph muss merklich anders gestaltet sein (etwa erscheint er schraumlg statt zuvor waagerecht oder aber er wird ganz weggelassen) Nicht zuletzt erscheint das Allomorphkuumlrzel eines Zeichenmorphems in der Regel immer an ein und derselben Position innerhalb des Schreibquadrates ist damit stellungsstarr

Bei nur-gebunden vorkommenden Zeichenmorphemen ist es nicht sinnvoll zwischen den einzelnen Allomorphgattungen zu unterscheiden

Bestimmte Zeichenmorpheme stufen wir als Grundmorpheme ein Ein Grund morphem ist synchron betrachtet die kleinste Einheit bei der Qua-drat zeichenbildung der im zeichenmorphotaktischen Zusammenhang eine Geltung zugemessen werden kann Ein Grundmorphem laumlsst sich mit hin nicht in kleinere zeichenmorphemische Elemente zerlegen ohne dass es seinen Status verloumlre Aufgebaut ist der Strichzugkomplex des Grund mor-phems aus einem oder einigen (wenigen) Strichen allerdings ist nicht jeder be liebige Strich als Grundmorphem zu werten Im Rahmen der vor liegenden Ana lyse stellt ein (nicht als Grundmorphem zu wertender) Strich (zug) einen Schrift zug dar den wir nicht hinsichtlich seiner Geltung als Grundmorphem defi nieren eine unklassifizierte Verbindung aus Strichzuumlgen nennen wir ent-spre chend Strich(zug)komplex Ein Zeichenmorphem als Bestandteil von Quadratzeichen kann aus einem oder mehreren Grundmorphemen be stehen

Zu beachten sind Abweichungen von Quadratzeichenformen in manchen Rech ner schriften Zum Beispiel birgt das Quadratzeichen 臭 chograveu stin-kend zwei Bestandteile einen oberen und einen unteren Der untere Be stand teil soll ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems 犬 quǎn Hund sein Allerdings fehlt der rechts oben vorhandene Strich die ses Zeichenmorphembestandteils auf faumllligerweise in manchen typo gra-phi schen Auspraumlgungen des Quadratzeichens 臭 chograveu stinkend Damit unter scheidet sich dieser untere Bestandteil nicht mehr vom Schrumpf allo-morph des Quadratzeichens 大 dagrave groszlig Zeichenmorphemisch hat solch eine Abweichung indes nichts zu besagenEine Kultursprache lebt von der Ungebrochenheit ihrer Uumlberlieferung ndash auch ihrer schriftlichen Fixierung Saumlmtliche Quadratzeichen die wir im Text dieses Aufsatzes behandeln weisen die Form der sog bdquoLangzeichenldquo auf Sog bdquoKurzzeichenldquo wie sie ab dem Jahre 1956 bei der amtlichen Schrift-

85Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichenreform in China entstanden sind bzw festgelegt wurden werden im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht beruumlcksichtigt Die hier zur Ver anschaulichung verwendeten Quadratzeichen-Formen sind dem-nach allesamt unvereinfachte Langzeichen Der sprachwissenschaftliche Grund fuumlr diese Handhabung ist folgender Viele zeichenetymologische Zu sammen haumlnge sind in Kurzzeichen verunklaumlrt worden In einer Ab hand-lung wie der vorliegenden welche sich auch mit der geschichtlichen Ent-wick lung von Zeichen und ihrer Morphologie befasst ist es tunlicher ein ein deutigeres System in welchem mehr nuumltzliche Unterscheidungen be wahrt sind als Grundlage zu verwenden

Aus chinesischer Sicht ist ein bdquoWortldquo ein Lautbild (eine Silbe oder ein seman-tisch stark lexikalisiertes Silbensyntagma) welchem als kleinster selbstaumln di-ger Sprach einheit inhaltsseitig ein semantischer oder grammatischer Be griff fest zugeordnet ist Im Unterschied zu synthetischeren Sprachen hat das Chine sische allenfalls Ansaumltze zur Affigierung Beispielsweise fungiert die zwei te Silbe toacuteu Kopf des bdquoWortesldquo shiacute + tou Stein als Suffix zu dem eigen staumlndigen bdquoWortldquo shiacute Stein wobei die Suffixsilbe oft mit Neben ton statt mit dem Hauptton (zu den Toumlnen siehe unten) ausgesprochen wird

Das was der deutschen Wortbildung durch Ableitung und Komposition ent spricht erscheint im Chinesischen weitgehend in die Syntax aus gela gert (bdquoSyn tax-Woumlrterldquo) und kann somit eher mit deutschen Syntagmen ver gli-chen werden Beispiel Obwohl das bdquoWortldquo (die Silbe) 男 naacuten eigen staumln-dig fuumlr Mann stehen kann wird es gewoumlhnlich mit einem zu saumltzlichen bdquoKom positions gliedldquo 人 reacuten Mensch versehen das dergestalt zu sam men-gesetzte bdquoWortldquo (Silbensyntagma) 男人 bedeutet ebenfalls nur Mann wird in vielen Faumlllen aber als deutlicher und passender empfunden Die se Er schei-nung ist im Chinesischen uumlberaus haumlufig In viel ge ringe rem Um fange machen von solchen Ver deutlichungs verfahren auch Spra chen mit aus-gepraumlgter Wort bildung Gebrauch islaumlnd karl maethur (woumlrt lich bdquoMann-Menschldquo d i bdquoMannldquo) neben einfach karl bdquoMannldquo aleinn ne ben einn (bei de bdquoalleinldquo) nord dt Bauch nabel statt Nabel suumlddt Ge baumlud lich keit neben Gebaumlude dt Schwieger mutter statt einfach Schwie ger so dann neben dann got thornata bdquodasldquo ver deutlicht aus thornat mit tels deik tischer Par tikel -a nord bair daringodǝ (woumlrt lich bdquoda-daldquo d i bdquodaldquo) ne ben ein fach daringo bdquodaldquo Fer-ner gibt es im Chine sischen reine Funk tions woumlrter die keine lexi ka lische Bedeu tung tragen und nur gram ma ti sche Aufgaben er fuumlllen Ein gutes Bei spiel hierfuumlr ist die nur-neben to ni ge Fragepartikel 嗎 ma Wenn diese Par tikel am Ende eines Indi ka tiv satzes steht macht sie aus ihm eine Janein-Entscheidungsfra ge

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder86

Als Laut-Umschrift der Schriftzeichen wird im vorliegenden Aufsatz Pin-yin (auch Hanyu-Pinyin genannt) anstatt des IPA (International Pho netic Alpha bet d i das Weltlautschrift-Alphabet der Association pho neacute tique inter nationale) benutzt Das Pinyin-System ist eine amtliche Um setzung der Mandarin-Aussprache in Lateinschrift Obschon Pinyin die Zeichen-phonetik nicht ganz getreu wiedergibt verweist es gewissermaszligen auf die laut lichen Aumlhnlichkeiten Im Pinyin-System werden die vier chinesischen Haupt toumlne folgender maszligen bezeichnet (hier am Beispiel des Vokals a) ā Hochton aacute Steigton ǎ Tiefton agrave Fallton der Nebenton bleibt tran -skrip torisch unmarkiert a

Bei der Behandlung der chinesischen Schrift haben wir es immer auch mit Jahr tausenden schriftlicher Uumlberlieferung zu tun geschriebenes Chine-sisch hat ein starkes Eigenleben entwickelt teilweise losgekoppelt vom ge sprochenen Die Systeme von Sprech- und Schrift-Chinesisch und ihre Inter aktion sind geschichtlich gewachsen sie sind wie alles Mensch-liche unter schiedlich konsistent und damit synchron auch unter schied-lich durch sichtig Beispielsweise lassen sich ehemals eher ab bildungs haft ge meinte Aussagen nur grobmaschig klassifizieren wenn wir ein in duk tiv er worbenes theoretisches Raster uumlber den Ist-Zustand legen wir koumlnnen dann nur versuchen die Zahl der bdquoAusreiszligerldquo niedrig und damit die Ein schlaumlgigkeit der Regeln hoch zu halten Wo unsere Betrachtung die hi storische Tiefe behandelt verwenden wir bei Bedarf folgende Sym bole um zu kennzeichnen ob und wie eine bestimmte Groumlszlige in der heu tigen Spra che verwendet wird das Symbol Dagger bezieht sich auf eine Groumlszlige die heute auszliger Gebrauch ist und dagger auf eine welche heute veraltet ist Die Sym bole stehen hochgestellt unmittelbar vor der Groumlszlige auf die sie sich be ziehen

Im Abschnitt uumlber die Zeichenkategorisierung wird der Anteil einer Qua-dratzeichen-Kategorie am Gesamtinventar der Quadratzeichen durch Prozentzahlen angegeben Wuumlrde man die Anteile nach der Vorkommens-haumlufigkeit in Texten rechnen (das heiszligt bei 100 gedruckten Zeichen entfallen soundsoviel Prozent auf diese Kategorie) so saumlhen die Zahlen anders aus

Im Folgenden wird der Aufbau chinesischer Schriftzeichen vorgestellt und zwar ausgehend von den in China traditionell geltenden sechs Kategorien (Ab schnitt 1) Waumlhrend Piktogramme und Ideogramme lediglich einen klei nen Teil des gesamten Quadratzeichen-Inventars ausmachen stellen Ideo phono gramme die groszlige Mehrheit Ideophonogramme verkoumlrpern die we sent lichen zeichenmorphologischen Merkmale chinesischer Quadrat-zei chen aus diesem Grunde betrachten wir ihre Besonderheiten etwa die Laut-Bestandteil-Entsprechung ausfuumlhrlicher (Abschnitt 4) Der Wandel

87Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

der Quadratzeichenbildung (Abschnitt 2) soll einen Einblick vermitteln wie sich die chinesische Schrift im Laufe der Zeit nach dem Prinzip der Schrift-oumlko nomie immer mehr zu einem morphosyllabischen System entwickelt das wiederum mit den morphosyntaktischen Merkmalen der chinesischen Spra che in Wechselwirkung steht Die allmaumlhliche Wandelung der Zeichen-formen uumlbt ebenfalls Einfluss auf die Charakteristika chinesischer Schrift-zeichen aus (Abschnitt 3) Schlieszliglich streifen wir noch die Kombinatorik von Zeichenmorphemen in Quadratzeichen (Abschnitt 5) die Mehr-Zeichen-Komposita sowie einige Eigenschaften des morphologischen Auf-baus chinesischer Texte (Abschnitt 6)

1 Die traditionellen Kategorien In der chinesischen Uumlberlieferung werden die Schriftzeichen nach den Qua drat zeichen-Bildungsarten in folgende sechs Kategorien eingeteilt (in Klam mern stehen Bezeichnungsalternativen)

(1) 象形 = Piktogramme (Bildzeichen)

(2) 指事 = Einfache Ideogramme (Hinweis-Zeichen Indikatoren)

(3) 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

(4) 形聲 = Ideophonogramme (pikto-phonetische Zeichen Determinativ-Lautelement-Zeichen Form-Laut-Zeichen)

(5) 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen (Ableitungszeichen synonyme Zeichen Wandelzeichen)

(6) 假借 = Lautentlehnungszeichen (Leihzeichen Homonyme)

Unsicherheit herrscht bei den Sprachforschern daruumlber ob die Kategorie bdquoana logisch derivierte Quadratzeichenldquo uumlberhaupt bestehe In der folgenden nauml heren Schilderung der traditionellen Kategorien sei sie daher uumlbergangen

11 象形 = Piktogramme

Piktogramme stammen aus urtuumlmlich-einfachen Schriftzeichen die da durch zu stande gekommen sind dass man die aumluszligere Form von in der Wirk lich-keit vor handenen Objekten nachbildete Piktogramme bestehen aus nur ei nem einzigen Grundmorphem und gehoumlren zu der aumlltesten Schicht der (Qua drat-)Zeichen Ihr Anteil an allen Quadratzeichen macht zwischen 2 und 4 aus

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder88

(7) 日 rigrave Sonne urspruumlnglich ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte ndash als Abbild der Sonne

(8) 月 yuegrave Mond urspruumlnglich Abbild eines Halbmondes

(9) 耳 ěr Ohr urspruumlnglich ohraumlhnlich gezeichnet

An den angefuumlhrten Beispielen wird schon deutlich dass diese Piktogramme heut zutage als bdquonaturalistischeldquo Bilder keinen groszligen Aussagewert mehr be sitzen im Piktogramm (7) 日 rigrave Sonne zB laumlsst sich auch bei gutem Wil len keine abgebildete Sonne mehr erkennen Die urspruumlnglichen (Vor gaumlnger-)Formen solcher Quadratzeichen hatten hingegen diesen Er kennungs wert haumlufig noch er ist im Laufe der Zeit durch die verschiedenen Standardisierungen der Zeichenschreibung verunklaumlrt worden

12 指事 = Einfache Ideogramme

Mit einfachen Ideogrammen sind solche Quadratzeichen gemeint die nicht leicht zu malende Dinge oder Sachverhalte symbolisieren Ihr Anteil am Qua drat zeichen-Inventar belaumluft sich auf 05 bis 1

(10) 上 shagraveng oben Urspruumlnglich war dieses Ideogramm recht durch-sichtig aus zwei waagerechten Strichen gestaltet wobei der untere Strich die Bezugsgrundlage bildet und der obere kuumlrzere aumlhnlich einem Zeige pfeil den Hinweis gibt worauf es ankommt auf bdquoobenldquo naumlm lich Der senkrechte Strich ist spaumlter hinzugefuumlgt worden

(11) 下 xiagrave unten nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie (10) Hier ist der Hinweisstrich nur etwas gekippt

(12) 本 běn Wurzel nimmt als Bezugsgrundlage das Allomorph des vor handenen Piktogramms 木 mugrave das urspruumlnglich einen DaggerBaum ab bil dete und heute fuumlr Holz steht Der kleine horizontale Strich unten weist auf diejenige Stelle des Baums hin an welcher sich die Wurzel befindet

(13) 末 mograve Ende urspruumlnglich ein Abbild fuumlr DaggerWipfel Dieses einfache Ideo gramm wurde nach dem gleichen Prinzip gebildet wie das einfache Ideo gramm (12) 本 běn Wurzel nur dass der Hinweisstrich oben steht wo der Baum zu Ende ist

Die einfachen Ideogramme bestanden urspruumlnglich aus zwei Bestand teilen der Bezugsgrundlage und dem Hinweis Waumlhrend der Bezugs grundlage-Bestand teil ein vorhandenes Zeichenmorphem warist bestandbesteht der Hinweis-Bestandteil meist aus einem kleinen Strich der nur gebunden vor-

89Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

kommt Bei manchen einfachen Ideogrammen wie (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave unten sind die zwei Bestandteile (zum Teil durch Umge-stal tung) dermaszligen zu einer Einheit zusammengeschmolzen dass das ganze Quadratzeichen heute eher als ein unauftrennbares Grund mor phem wahr genommen wird Unterstuumltzt wird diese Wahrnehmung dadurch dass wenn man aus den Quadratzeichen (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave un ten den Hinweisstrich tilgt und nur den uumlbrigbleibenden Strich zug-komplex betrachtet dieser heutzutage anderweitig nicht mehr als Zei chen-morphem vorkommt ndash weder frei noch gebunden die ehemalige Ab trenn-moumlglich keit ist synchron mithin verdunkelt

Demgegenuumlber ist der Bezugsgrundlage-Bestandteil bei anderen einfachen Ideo grammen leichter als abtrennbar zu erkennen weil er auch in der Gegen-wart immer noch anderweitig als eigenes Zeichenmorphem er scheint Bei-spiels weise wird der Bezugsgrundlage-Bestandteil in (12) 本 běn Wurzel und (13) 末 mograve Ende naumlmlich das Allomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum auch im gegenwaumlrtigen Gebrauch als freies Zeichen morphem fuumlr Holz verwendet So kann der Kenner des Systems auch synchron der lei einfache Ideogramme in zwei Zeichenmorpheme zer legen den Bezugs-grund lage-Bestandteil (ein frei vorkommendes Zeichen morphem 木 mugrave DaggerBaum in Form seines gebundenen Allomorphs) und den Hinweis-Be-stand teil (den Hinweisstrich als ein nur-gebundenes Grund morphem)

13 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

Durch (gestalterisch aufeinander abgestimmte) Zusammenfuumlgung zweier oder mehrerer bereits vorhandener Zeichenmorpheme zu einem neuen Qua drat zeichen wird ein Ideogramm mit neuer Bedeutung erzeugt Die zu sammen gesetzten Ideogramme bestehen also saumlmtlich aus mehr als nur einem Grundmorphem Jedes Zeichenmorphem als Bestandteil hat seine ei gene Bedeutung (oder hatte sie zumindest zum Zeitpunkt der Zeichen bil-dung) der neue Sinn der sich durch ihre Verbindung ergibt steht in einem Zu sammen hang mit diesen Einzelbedeutungen Bildeweise und Herleitung sind fuumlr heutige Chinesen allerdings nur noch bedingt durchsichtig

In Sprachen mit ausgepraumlgter Wortbildung koumlnnte man diese Zei chen art mit den Wortbilde-Verfahren Komposition oder ggf Ableitung ver glei chen es las sen sich auch bei den Bezuumlgen der Einzelglieder unter ein an der ver-gleich bare Ein teilungen vornehmen Iterativkomposita Deter mi na tiv kom-posita usw Die Angaben zum Anteil zusammengesetzter Ideo gram me am Qua drat zeichen-Gesamtbestand schwanken zwischen 3 und 12

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder90

(14) 牧 mugrave Hirte zeigt links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 牛 niuacute Rind und rechts das Schrumpfallomorph des nur gebunden vor kom menden Grundmorphems 攵 pū Hand mit Stock dh bdquoein Mensch der Rinder beaufsichtigtldquo

(15) 信 xigraven glaub- weist links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 人 reacuten Mensch auf und rechts das Schrumpfallomorph des Ideophonogramms 言 yaacuten Wort dh bdquoein Mensch der sein Wort haumlltldquo

Mit der Bildeweise von (14) und (15) vergleichen lassen sich im Deutschen Kompositionen wie Stein+bruch oder Riesen+schlange im Franzoumlsischen cure-dents (woumlrt lich bdquoPutz-[die]-Zaumlhneldquo d i bdquoZahnstocherldquo) aller dings sind im Deutschen und Franzoumlsischen die Bestandteile viel staumlrker hinsichtlich des Phaumlnomens bdquoWort artldquo ausgerichtet als im Chinesischen

(16) 武 wǔ Militaumlr besteht unten links aus einem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 止 zhǐ das urspruumlnglich fuumlr DaggerFuszligabdruck stand und heute fuumlr aufhoumlr- steht und rechts aus einem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 戈 gē Hellebarde dh bdquoein durch einen Fuszligabdruck sym bolisierter Soldat der mit einer Waffe dastehtldquo

In der Bildlichkeit vergleichbar mit (16) waumlren im Deutschen etwa Bildun-gen wie Waffen+bruder oder Feuer+wehr Bei einer spaumlteren Normierung der Qua drat zeichenform des zusammengesetzten Ideogramms 武 wǔ Mili taumlr wur de der untere von rechts oben nach links unten gezogene Di agonal strich des vom Piktogramm 戈 gē Hellebarde abgeleiteten Al lo morph kuumlr zels aus gekoppelt und als kuumlrzerer waagerechter Strich an die obere lin ke Ecke des Ideogramms 武 wǔ Militaumlr uumlber geschrumpftes 止 zhǐ auf houmlr- ge stellt Dies ist eine Form der Ligaturbildung wie sie auch in Al pha bet schrif ten vorkommt etwa in Lateinschrift ltAgt + ltEgt zu ltAEliggt in Suumltterlin lt $ gt bdquocldquo + lt h gt bdquohldquo zu lt c gt bdquochldquo oder in Devanāgarī ltकgt bdquoka ldquo + ltषgt bdquoṣa ldquo zu ltकषgt bdquokṣa ldquo Sol che gestalterische Aufeinander-Abstimmung ist in der Sprech spra che den Similations-Erscheinungen (AssimilationDissimi la tion) vergleich bar(17) 休 xiū ausruh- enthaumllt links das Allomorphkuumlrzel des Pikto-

gramms 人 reacuten Mensch und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum dh bdquojemand der an einen Baum ge lehnt sitzt und rastetldquo

(18) 林 liacuten Wald ist durch Iterativkomposition entstanden Das Schrumpfallomorph des Piktogramms 木 mugrave Holz das urspruumlnglich fuumlr DaggerBaum stand wird ikonisch gedoppelt

91Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Nach demselben Prinzip wie in (18) ist das zusammengesetzte Ideogramm 森 sēn Urwald entweder durch ikonische Verdreifachung gebildet oder aber durch Komposition aus dem Schrumpfallomorph des schon verdop-pelten Zei chen morphems 林 liacuten Wald mit dem Schrumpfallomorph des ein fachen Piktogramms 木 mugrave DaggerBaum Im Deutschen lassen sich Iterativkomposita wie wort+woumlrt+(lich) vor+vor+(gestern) oder Sing+sang vergleichen vom Begriffsinhalt her auch eine Bildung wie kohl+pech+raben+schwarz in welcher alle Glieder gleicher maszligen fuumlr den Inhalt dunkel stehen ohne indes etymologisch mit einander verwandt zu sein

14 形聲 = Ideophonogramme

In den bisherigen drei Kategorien traumlgt der Gesamtkomplex jedes Quadrat-zei chens zugleich Lautung und Sinn Man muss also die Lau tung des Qua-drat zeichens als solche einmal ganz neu lernen durch keinen Be stand teil er haumllt man einen Hinweis auf sie Piktogramme und einfache Ideo gramme sind Mono morphe zusammengesetzte Ideo gram me sind Di- oder ggf Poly-morphe die in bezug auf ihre Zeichen morpheme homo gen sind Die Sache ver haumllt sich aumlhnlich wie in Alphabet schriften in denen oft Bestand teile mit vergleich barer inhaltlicher Geltung zu Di- bzw Poly gra phen zusam-men gestellt werden die als Gesamtheit dann eine aumlhn lich ge artete neue Geltung bekommen So ist zB der einen einzigen Laut be zeich nende rus-sische Digraph ltльgt [ʎ] als Ein heit zu verstehen und um fasst zwei gleicher-maszligen auf die Laut ebene abzie lende Bestand teile naumlm lich ltлgt [l] und ltьgt (Pala talitaumlts anzeiger) der artige Komplexe nei gen be son ders zu graphi scher Ligierung ltлgt + ltьgt zu ser bisch ltљgt

Diese Homo genitaumlt der Bestandteile wird verlassen wenn sich die zu Di- oder Poly gra phen bzw -morphen zusammengestellten Ele men te nicht mehr auf die selbe Ebene beziehen sondern auf unterschiedlich gear tete Ebe nen ab zie len so bewegen sich in alphabetischer Schreibung Zeichen wie ltgt ltsectgt oder lt5gt jenseits der Lautebene und dienen als Ideogramme fuumlr ihren Be griff Und in der chinesischen Schrift ist es so dass dimorphe Qua drat-zeichen aus heterogenen Zeichenmorphemen deren eines auf die Laut ebene deren an deres auf die Begriffsebene abzielt die Regel bilden Es handelt sich um die sog Ideophonogramme Diese beinhalten wie der Name schon sagt ein Zeichen morphem das auf die Lautung des Quadratzeichens ver weist (Laut traumlger) neben einem das auf den Begriff verweist (Sinntraumlger)

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder92

(19) 吐 tǔ ausspuck- birgt links das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 土 tǔ Erdreich als Lauttraumlger

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des Ideo phono gramms 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach als Laut traumlger

Man sieht hier an beiden Zeichenmorphemen die als Kompositions glie der des Ideophonogramms (20) dienen dass bei dieser Quadratzeichen bil dung wieder um anderweitig und mit anderer Geltung (Lautentlehnungs zei-chen) ent standene Komplexe mit neuer Aufgabe als Zeichenmorpheme in ein neu zusam men gesetztes Quadratzeichen eingegliedert werden koumln nen auch ein be reits bestehendes Ideophonogramm kann von seiner Gel tung als Ideo phono gramm freigestellt und als sinntragender (oder in anderen Faumll-len als laut tragender) Komplex in ein neues Ideophonogramm eingebaut werden

(21) 照 zhagraveo schein- zeigt unten das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 火 huǒ Feuer als Sinntraumlger und oben das Schrumpfallomorph des be reits bestehenden Ideophonogramms 昭 zhāo offenkundig als Laut traumlger

Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist ein Ideophonogramm zeichen-morpho taktisch analysiert bei Aufteilung ersten Ranges zunaumlchst aller-mei stens in zwei erstrangige Zeichenmorpheme zu zerlegen einen Sinn- und einen Lauttraumlger Das sinntragende Zeichenmorphem gibt einen vagen Hin weis auf die Bedeutung und das lauttragende Zeichenmorphem auf die Lautung des Quadratzeichens Des oumlfteren dient ein Zeichenmorphem als Sinn traumlger in mehreren Ideophonogrammen deren jeweilige Gesamt be deu-tung mit der Bedeutung des als freies Quadratzeichen vorkommenden Sinn-traumlgers zusammenhaumlngt man koumlnnte hier von bdquoBegriffssippeldquo sprechen Beispiels weise ist das Piktogramm 手 shǒu Hand ein Zeichenmorphem welches in etlichen Ideophonogrammen die fuumlr Handbewegungsarten stehen als Kompositionsglied dient und dort den Sinntraumlger darstellt

Alle Zeichenmorpheme koumlnnten theoretisch als Lauttraumlger eines Ideo-phono gramms fungieren Beim Ideophonogramm (19) 吐 tǔ ausspuck- ist der Lauttraumlger naumlmlich 土 tǔ Erdreich ein Piktogramm das ei nen Erdklumpen auf dem Felde abbildete Wie erwaumlhnt laumlsst sich auch ein Ideophonogramm als Lauttraumlger in einem anderen komple xe-ren Ideophonogramm einsetzen Beim Ideophonogramm (21) 照 zhagraveo

93Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

schein- ist der Lauttraumlger naumlmlich das freie Zeichenmorphem 昭 zhāo offen kundig schon an sich ein Ideophonogramm Das Ideophono gramm 昭 zhāo offenkundig besteht links aus dem Schrumpfallo morph des Piktogramms 日 rigrave Sonne als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf-allomorph eines Ideophonogramms 召 zhagraveo be or der- als Laut traumlger Das Ideophonogramm 召 zhagraveo beorder- weist unten das Schrumpf allo morph des Piktogramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und oben das Schrumpf-allomorph des Piktogramms 刀 dāo Messer als Lauttraumlger auf

Betrachtet man ein und dasselbe Zeichenmorphem in mehreren Ideo phono-grammen in denen es als Lauttraumlger vorkommt so erweist sich der Lau-tungs hinweis haumlufig als recht unzuverlaumlssig (siehe weiter unten) Alle Lau-tungen fuumlr die ein Lauttraumlger stehen kann koumlnnte man als dessen bdquoLau-tungs sippeldquo oder bdquoLautungsbuumlndelldquo bezeichnen Die Ideophonogramm-Bil dung ist mit 80 bis 90 die mit Abstand haumlufigste Quadratzeichen-Bilde weise

15 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen

Diese umstrittene Gruppe wird wie eingangs erwaumlhnt hier uumlbergangen

16 假借 = Lautentlehnungszeichen

Anteil an allen Quadratzeichen ca 36 Die chinesische Schrift befand sich jetzt in einer Entwicklungsphase in der zwar Quadratzeichen fuumlr kon krete Dinge im Alltag zur Verfuumlgung standen kaum jedoch solche fuumlr Ab strak tes Nun ergab sich die Moumlglichkeit ein bereits existie ren des Qua-drat zeichen fuumlr eine etwas ganz anderes bedeutende zufaumlllig homo phone Sil be der Sprechsprache zu verwenden Solche Analogien sind ja auch auf an derer Ebene uumlblich etwa wenn man im Deutschen ltMausgt nicht nur fuumlr die Maus (als Tier) verwendet sondern auch fuumlr die Rechner maus Aus heu tiger Sicht stellen diese rein lautungsbedingt ent lehnten Quadrat zeichen im chine sischen Schriftsystem eine Verbindung zur Laut um schrift oder zu Alphabet schriften dar (denn auch dort werden ja gleiche Lautbilder durch gleiche oder aumlhnliche Schriftbilder wiedergegeben) Besonders haumlufig nutzt das Chine sische diese Hand habung bei Funk tions woumlrtern und Ab strakta Die Zahl der Funk tions woumlrter ist zwar absolut nicht besonders groszlig er freut sich jedoch hoher Vor kommens haumlufigkeit und solche Woumlrter waumlren sonst in der chine si schen Schrift schrei be risch schwer dar zustellen Wenn in der Sprech sprache zwei homo(io) phone Silben vor liegen eine mit kon kreter und eine mit ab strak ter Be deutung und ein Qua drat zeichen fuumlr die Silbe

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder94

mit konkreter Bedeu tung aber keines fuumlr die mit ab strak ter Bedeutung zur Ver fuumlgung steht so wird gern das vor han dene Qua dratzeichen der erste ren Silbe fuumlr die letztere Silbe ent lehnt

(22) 其 war urspruumlnglich piktographisches Abbild einer DaggerSchaufel steht heu te aber fuumlr ein Pronomen der 3 Person mit der Lautung qiacute

Fuumlr Schaufel wird heutzutage das Ideophonogramm 箕 jī geschrieben das oben das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 竹 zhuacute Bambus als Sinn traumlger und unten das Schrumpf allomorph des seinerseits ein Laut-entlehnungs zeichen darstellenden 其 qiacute Pronomen der 3 Person (siehe hier oben) als Laut traumlger aufweist

(23) 孚 fuacute uumlberzeug- stellte urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideo-gramm dar das mit dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 爪 zhuǎ Klaue oberhalb des Schrumpfallomorphs des Piktogramms 子 zhǐ Kind die Bedeutung DaggerGeisel hatte

Fuumlr Geisel wird heute das gleichlautende Ideophonogramm 俘 fuacute ge schrieben das links aus dem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 人 reacuten Mensch (Sinntraumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Laut-ent lehnungs zeichens 孚 fuacute uumlberzeug- als Lauttraumlger besteht

(24) 須 xū muumlss- war urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideogramm fuumlr DaggerBart wobei links drei Haare abgebildet durch das heute nur-ge bundene Grundmorphem dagger彡 shān auf einem urspruumlnglich durch das Schrumpfallomorph des Piktogramms 頁 yegrave Seite be zeichneten DaggerGesicht sprieszligen

Fuumlr Bart wird heute das homophone Ideophonogramm 鬚 xū geschrie-ben das bei Aufteilung erstes Ranges oben in das Schrumpfallo morph des zu sam mengesetzten Ideogramms dagger髟 biāo Zottelhaar und unten in das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 須 xū muumlss- auf zu-tren nen ist Gebildet ist das Ideogramm dagger髟 biāo Zottel haar durch eine Zu sammensetzung welche links das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 長 chaacuteng lang das urspruumlnglich eine Person mit langen Haaren ab bildete enthaumllt und rechts das gebundene Grundmorphem dagger彡 shān HaareIm gegenwaumlrtigen Gebrauch werden Lautentlehnungszeichen die auf die oben genannte Weise zustande gekommen sind (fast) ausschlieszliglich fuumlr Funk tionswoumlrter benutzt waumlhrend im Laufe der Zeit ausdrucks seitig neue Qua dratzeichen fuumlr die urspruumlnglichen inhaltsseitigen Sinneinheiten dieser ent lehnten Quadratzeichen geschaffen worden sind Man koumlnnte hier von bdquoHomo morphie-Fluchtldquo sprechen

95Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Der Lautentlehnung bedient man sich ferner wenn man bdquoFunktionssilbenldquo nieder schreiben will Aus rhythmischen Gruumlnden haumlngen chine sische Mutter sprachler oft an ein einsilbiges bdquoWortldquo eine zusaumltzliche Silbe an das ist einerseits euphonisch bedingt (wie vielleicht im Deutschen syn chron ge sehen -en- in Sternenhimmel oder -e- Schweinefleisch) zum an dern bdquofuumlt ternldquo solche Silben die phonetischen Wortkoumlrper bdquoaufldquo erweitern (und ver deutlichen dadurch) Silben zu Silbensyntagmen (im anderen Sprachen lie szlige sich vielleicht die Erweiterung sehr kurzer bzw im Laufe der Sprach-ent wicklung kurz gewordener Woumlrter wie mhd ucircr zu nhd Auer ochs oder von Aar zu Adler (mhd ar bzw adel-ar) ver glei chen ggf auch mittels suffi xaler Stammbildungserweiterung wie anord ey zu nisl eyja beide bdquoInselldquo) Zum Beispiel bezeichnen Chinesen heute sprechsprachlich einen Stuhl sel ten mit dem einsilbigen bdquoWortldquo yǐ Stuhl sondern in der Regel mit dem Zwei-Silben-Syntagma yǐ + zi die zusaumltzliche verdeutli chende Sil be wird meistens mit einem Nebenton (siehe Einleitung) ausgespro chen Nach dem Prinzip dass 1 Silbe mit 1 Quadratzeichen geschrieben werden soll (siehe unten) schreibt man fuumlr das nun zweisilbige Silben syntagma dann auch zwei Quadratzeichen hin Dabei fragt es sich freilich welches Qua drat zeichen man denn fuumlr diese zusaumltzliche bdquoAuf fuumltterungs-Silbeldquo schreiben solle Fuumlr die hinzugefuumlgte Silbe sucht man ein Quadrat zeichen aus dessen Lautung dieselbe Silbe haupttonig darstellt und ent lehnt dieses dann fuumlr die Wiedergabe der Silbe des (Quasi-)Suffixes in diesem Fall das Qua dratzeichen des homoiophonen Piktogramms 子 zǐ Kind Fuumlr das Silben syntagma 椅子 Stuhl werden somit folglich zwei Quadrat zeichen das Ideophonogramm 椅 yǐ Stuhl und das Laut ent lehnungs zeichen 子 zi als ein Quasisuffix geschrieben

Bei dieser Handhabung hat man theoretisch sehr viele Wahlmoumlglich kei ten und wiederum ist es eine Frage der Eingebuumlrgertheit welche Silben zeichen wann und wie Verwendung finden Dieselben Fragen tauchen uumlbrigens auf wenn fremde Namen und bdquoFremdwoumlrterldquo im Chinesischen geschrie ben wer-den sollen aber auch dann wenn in Film-Untertiteln die zahl rei chen zu saumltz-lichen Silben umgangssprachlicher Sprechsprache wiederzugeben sind

2 Zur Entwicklung der SchriftzeichenbildungDie ersten Versuche der Chinesen Erinnerungen festzuhalten bestan den darin dass sie in Stricke aus Pflanzenfasern Knoten knuumlpften und sich so eine Art Kalender schufen Spaumlter werden es Einkerbungen auf Holz bret-tern (bdquoKerb houmllzernldquo) gewesen sein die Ernten oder andere Ereignisse fest-

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder96

hiel ten Noch spaumlter wurden mit Holz Steinen oder Knochen bestimm te Zei chen (noch keine bdquoSchriftldquo-Zeichen) in Ton eingeritzt

Bis 3000 v Chr benutzten die Chinesen zunaumlchst einfache Zeichen die ihnen als Gedaumlchtnisstuumltzen dienten Auf ausgegrabenen roten Ton-scher ben erscheinen zwei Arten von Schriftzeichen Die einfach sten sind wahrscheinlich Zahlzeichen andere kompliziertere Schrift zeichen be deuten wohl Namen von Sippen oder Staumlmmen In der Folge wur den Zeich nungen verwandt die konkrete Gegenstaumlnde aus der Umge bung bild-lich darstellen sollten also Piktogramme

Allein mit Piktogrammen fuumlr die leicht abzubildenden Gegenstaumlnde der greif baren Wirklichkeit ist noch kein vollwertiges Schriftsystem entstan-den Ein solches Schriftsystem muss nicht nur uumlber Namen fuumlr kon krete bzw konkret abzubildende Dinge verfuumlgen sondern bedarf daruumlber hin aus gra phischer Ausdrucksmoumlglichkeiten etwa fuumlr Eigenschaften Beziehun gen Bewe gungen Vorstellungen usw Dieser Zweck dem jedes Schrift system ge nuumlgen muss ist in der chinesischen Schrift wahrscheinlich erstmals von den einfachen Ideogrammen erfuumlllt worden

Piktographie und Ideographie zeitigen einfache sprechsprachlich mehr-deutige Schriftzeichen phonologisch-phonetische Aspekte spielen beim Auf bau des Zeicheninventars noch keine Rolle Das ist bdquozeichen wirt schaft-lichldquo betrachtet ein Mangel Tausende von Schriftzeichen fuumlr neu entstan-dene bdquoWoumlrterldquo (Inhalte und ausdrucksseitig zugeordnete Lautbilder) nicht nur zu schaffen sondern auch im Kopfe zu behalten ist dermaszligen unprak-tisch dass die Schrift entweder nur als sehr beschraumlnktes System ange wandt werden koumlnnte oder aber so geschmeidig gestaltet werden muumlsste dass sie in der Lage waumlre sich zu einem brauchbaren System zu ent wickeln Um dieses Pro blem in den Griff zu bekommen mussten die graphische und die laut liche Sei te der verfuumlgbaren Schriftzeichen rekursiv mitein ander ver-knuumlpft werden

Die Methode der ideographischen Zusammensetzung schafft neue Qua drat-zeichen ohne indes das Zeichenmorphem-Inventar der Schrift zu ver meh-ren Dieses Verfahren bezieht die graphische Seite der Schriftzeichen eben so wie ihre Bedeutung mit ein wie die Gestalt des neuen Schriftzeichens sich aus den Gestalten seiner Bestandteile (bereits fertiger Zeichen mor-pheme) er gibt so ergibt der Sinn eines neu zusammengesetzten Ideo-gramms sich aus der Verbindung der Bedeutungen seiner Bestandteile Die Laut seite der Zeichenmorpheme spielt hier wie gesagt noch keine Rolle Durch ideo graphische Komposition entstehen also weiterhin Schrift-

97Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichen welche noch keinerlei Hinweis auf die Lautung der bezeichneten bdquoWoumlrterldquo liefern Dieses Verfahren bietet noch immer nicht die (Zeichen-anzahl-beschraumlnkenden und Aussprache-andeutenden) Vorteile welche durch Einbezug einer ausspracheabhaumlngigen Komponente (zB eines lautungs andeutenden Zeichenmorphems) moumlglich werden

Aus diesem Grunde bemuumlhte man um den Schriftzeichenbestand aus zu-bau en schlieszliglich auch die Lautseite Die einfachste Methode die Laut sei te zu nutzen ist bekanntlich die homographische Schreibung homo(io) pho-ner Silben mit unterschiedlicher Bedeutung (zB Silbe A und Silbe B) Da mit isoliert man die graphische Form des Schriftzeichens von der pri-maumlr zuge ord neten Bedeu tung A der Silbe lehnt dann das inhaltlich bdquoent-kop pelteldquo Schrift zeichen an eine homophone Silbe mit Bedeutung B fuumlr die noch kein Schriftzeichen zur Verfuumlgung steht an Was auf der Aus-sprache-Ebene aumlhnlich ist wird auch auf der Zeichengestalt-Ebene aumlhnlich dar gestellt ndash unabhaumlngig vom Inhalt

Diese Methode die sog Lautentlehnung vermehrt nicht den Bestand chine-si scher Schriftzeichen In dieser Hinsicht stufen die heutigen chinesi schen Zeichen morphologen sie weniger als Quadratzeichen-bdquoBildungldquo ein son-dern eher als Quadratzeichen-bdquoVerwendungldquo Des weiteren bringt die Laut-ent lehnung bei der Entwicklung des chinesischen Schriftsystems ein anderes Problem mit sich Durch die Lautentlehnung kann ein Schriftzeichen bei gleich bleibendem Lautwert semantisch doppelt oder mehrfach besetzt sein Fuumlr die Enkodierung der Bedeutungen und die Wiedergabe der Laute in der Sprache (bdquodas Schreibenldquo) ist diese Methode zweifellos effizient Fuumlr die De ko dierung der Bedeutungen (bdquodas Lesenldquo) stellt die semantisch mehrfache Be setzung eines Qua dratzeichens jedoch eine enorme Belastung dar Auch in der deutschen Rechtschreibung sind deshalb in vielen Faumlllen Homo phone graphisch geschieden Wagen und Waagen arm und Arm usw

Wenn das entlehnte Schriftzeichen in seiner urspruumlnglich zugeordne-ten Be deutung A der Silbe weiterhin in der Sprache vorkommt dh nicht ungebraumluchlich geworden ist dann wetteifern ja beide Bedeu-tun gen nicht nur sprechsprachlich mit dem Lautbild der Silbe sondern nun auch schreibsprachlich mit dem Schriftzeichen Die Lage wird dann oft wie der vereindeutigt indem man das Schriftzeichen auf die sekun-daumlre Silben-Bedeutung B einschraumlnkt und fuumlr die primaumlr zugeordnete Silben-Bedeutung A ein zusaumltzliches Zeichenmorphem in das Schrift-zeichen einfuumlgt um es so von seiner Lehnnehmerform mit der sekundaumlren Bedeutung B zu unterscheiden (Homomorphie-Flucht)

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder98

(25) Das Lautentlehnungszeichen 北 Norden běi stellt urspruumlng lich das zu sammengesetzte Ideogramm fuumlr DaggerRuumlcken dar Heute steht es aus-schlieszlig lich fuumlr Norden

Das Quadratzeichen 北 war urspruumlnglich das zusammenge setzte Ideo-gramm fuumlr DaggerRuumlcken welches zwei Personen Ruumlcken an Ruumlcken zeig te Da die gesprochenen Silben begravei fuumlr Ruumlcken und běi fuumlr Nor den aumlhn liche Lautbilder aufweisen wurde fuumlr die Verschriftlichung der Silbe des schwer lich zeichnerisch darzustellenden Abstraktums běi Nor den das zusammengesetzte Ideogramm 北 DaggerRuumlcken entlehnt Nun hatte das Schrift zeichen 北 zeitgleich zweierlei Bedeutungen die pri maumlre Be deu tung war DaggerRuumlcken und die sekundaumlre Norden Um die zwei Bedeu tungen im schriftlichen Text zu differenzieren wurde spaumlter ein neues Schrift zeichen 背 begravei fuumlr die primaumlre Bedeutung Ruumlcken gebil det und zwar ist dieses neue Ideophonogramm 背 begravei Ruumlcken da durch zu stan de gekom men dass das freie Zeichenmorphem 北 běi (Laut traumlger) un ten um das Allo-morph kuumlrzel des Pikto gramms 肉 Fleisch im Sinne von mensch licher Koumlr per (Sinn traumlger) vermehrt wurde Das Laut ent leh nungs zeichen von 北 běi steht in dem neuen Synchron-Zustand aus schlieszlig lich fuumlr die sekun-dauml re Bedeutung Norden fuumlr die pri maumlre Be deu tung Ruumlcken wird heu te nur noch das Ideophonogramm 背 begravei geschrieben

Die Anwendung der Entlehnungsmethode war fuumlr das chinesi sche Schrift-system der Wendepunkt von einer lediglich die Erinne rung stuumlt zenden Bilderschrift zu einer brauchbaren logosyllabischen Schrift Mit fort-schreitender gesellschaftlicher Entwicklung und der Vertiefung von Wahr-neh mung und Praxis mussten mehr und mehr Dinge und Sach ver halte verfeinert bezeichnet werden Um diesen Beduumlrfnissen gerecht zu werden hat man ndash wiederum mithilfe der Lautentlehnungsmethode ndash den Schrift-zeichen-Bestand durch Ideophonogramme vermehrt

Ein Ideophonogramm ist bei Aufteilung ersten Ranges in zwei Zeichen-mor pheme zu zerlegen den Sinntraumlger und den Lauttraumlger Das eine Zei chen morphem der Sinntraumlger verweist auf die Bedeutung des Ideo-phono gramms das andere Zeichenmorphem der Lauttraumlger auf des sen un gefaumlhre Lautung Den Sinntraumlger fuumlr ein Ideophonogramm ge winnt man dadurch dass man ein vorhandenes Zeichenmorphem nimmt und von seiner Lautung isoliert an ihm bdquoklebenldquo dann nur noch vage Bedeu tungs-Assozia tionen Dieses Zeichenmorphem baut man als Sinn traumlger in ein neu zu erstellendes Ideophonogramm ein Den Lauttraumlger fuumlr ein Ideo phono-gramm gewinnt man dadurch dass man ndash aumlhnlich wie bei der Schoumlp fung von Laut entlehnungs zeichen ndash ein Schriftzeichen mit einer bestimm ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 99

ihm an haftenden Lautung entlehnt und zwecks ungefaumlhrer Andeu tung eben dieser Lautung in ein Ideophonogramm einbaut dessen Silbe phone-tisch dem lehngebenden Quadratzeichen aumlhnlich ist Ideophono gram me sind diesbezuumlglich haumllftig als Lautentlehnungszeichen zu betrachten

Es ist nicht von vornherein festgelegt wie die Zeichenmorpheme als Bestand teile innerhalb eines Ideophonogramms angeordnet werden ndash linksrechts obenunten innenauszligen getrenntverschlungen usw Somit muss man wissen welches Zeichenmorphem auf die Lautung und welches auf den Sinn hinweist Es gibt hier aber gebraumluchliche Muster die sich eingebuumlr-gert haben und die der geuumlbte Leser kennt sodass Sinn- bzw Lauttraumlger der meisten Ideo phonogramme fuumlr gewoumlhnlich leicht auszumachen sind

Die Beispiele in Abbildung 1 moumlgen die geschilderte Entwicklung der Bil-dung chinesischer Schriftzeichen veranschaulichen

(26) Piktogramm 自 zigrave DaggerNase

(27) Piktogramm dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze

(28) Piktogramm 犬 quǎn Hund

(29) Piktogramm 口 kǒu Mund

(30) Zusammengesetztes Ideogramm 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] daggerschnupper- und chograveu = [ʈʰograveu] stinkend

(31) Lautentlehnungszeichen 自 zigrave selbst

(32) Lautentlehnungszeichen dagger畀 bigrave verleih-

(33) Ideo phonogramm 鼻 biacute Nase

(34) Ideophonogramm 嗅 xiugrave = [ɕograveu] schnupper-Das Quadratzeichen (26) 自 zigrave war urspruumlnglich ein Piktogramm das von vorn gesehen eine Nase mit Nasenruumlcken und Nasenfluumlgeln abbildete Aus die sem Piktogramm wurden in zwei Richtungen Quadratzeichen gebildet

In die eine Richtung wurde Dagger自 zu einer Zeit da es noch Nase bedeutete wegen der phonetischen Uumlbereinstimmung bzw Aumlhnlichkeit fuumlr den Sinn selbst entlehnt so entstand das Lautentlehnungszeichen (31) 自 selbst das heute zigrave ausgesprochen wird Von da an hatte man synchron die homo graphen Quadratzeichen 自 (26) und (31) nebeneinander ndash zum einen fuumlr die pri maumlre Bedeutung DaggerNase zum anderen fuumlr die sekundaumlre Bedeu-tung selbst Spaumlter wurde dann zur schriftlichen Disambiguierung dem

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder100

Abbildung 1 Beispiele zur Veranschaulichung der Entwicklung chinesischer Qua drat-zeichen Spalte A Piktogramme Spalte B Zusammengesetzte Ideogramme Spalte C Laut entlehnungszeichen Spalte D Ideophonogramme

101Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

自-Qua dratzeichen wo es DaggerNase bezeichnete ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems (27)(32) dagger畀 hinzugefuumlgt das fuumlr sich allein bigrave lautet In dem so entstandenen Ideophonogramm (33) 鼻 biacute Nase dient es lediglich als Lauttraumlger Fuumlr das heutige muttersprachliche Emp finden ist dieser Lautentlehnungsvorgang allerdings nicht mehr durchschau bar denn entweder hat sich der Anglitt der Aussprache des bdquoWortesldquo selbst im Laufe der Zeit aus irgendwelchen Gruumlnden gewandelt oder der Lautwert des bdquoWor tesldquo Nase ist durch Einfluss des lauttragenden Zeichen morphems (27)(32) dagger畀 bigrave abgeaumlndert worden (Leseaussprache) Das Quadrat zeichen (32) dagger畀 bigrave verleih- uumlbrigens ist seinerseits vermutlich von dem Pikto-gramm (27) dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze lautentlehnt Fuumlr den Begriff verleih- verwendet man heute ein gaumlnzlich anderes Quadratzeichen

In die andere Richtung wurde das Schrumpfallomorph des Pikto gramm (26) 自 zigrave DaggerNase mit dem Allomorphkuumlrzel eines weiteren Pikto gramms naumlm lich (28) 犬 quǎn Hund zu einem zusammengesetzten Ideo gramm vereint Das komponierte Ideogramm (30) 臭 spricht sich daggerxiugrave = [ɕograveu] aus ohne irgendwie lautentlehnt zu sein und bedeutet daggerschnupper- Von der pri maumlren Bedeutung daggerschnupper- ist spaumlter (vielleicht durch pejora tive Be deutungs verengung) die sekundaumlre Bedeutung stinkend ab gelei tet wor den Nun stand das Schriftzeichen (30) 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] synchron fuumlr zwei sinn verwandte aber aus sprache verschiedene Bedeu tungen daggerschnup-per- und stinkend Fuumlr die primaumlre Bedeutung schnupper- wurde dann verdeutlichend das Ideophonogramm (34) 嗅 xiugrave gebildet welches links das Schrumpfallomorph des Piktogramms (29) 口 kǒu Mund (Sinn-traumlger) und rechts das Schrumpfallomorph des zusammen gesetz ten Ideo-gramms (30) 臭 daggerxiugrave (Lauttraumlger) birgt Das Schrift zeichen (30) 臭 mit der Lautung chograveu = [ʈʰ ograveu] beschraumlnkt sich seither ausschlieszlig lich auf die sekundaumlre Bedeutung naumlmlich stinkend Dadurch war die zeit weilige Mehr deutigkeit des Schriftzeichens (30) 臭 wieder beseitigt

Gaumlnzlich unabhaumlngig von der Anzahl der Zeichenmorpheme die es bilden wird ein Qua dratzeichen im gegenwaumlrtigen chinesischen Schriftsystem einer und genau einer Sprechsilbe zugeordnet Alle Quadratzeichen vertreten also je eine Silbe Die Entwicklung geht dahin dass wegen der hohen Silben-Homo phonie und der dadurch bedingten potenziellen Mehrdeutigkeit der zeit genoumlssischen chinesischen Sprechsprache immer mehr verdeutli chende oder zT auch nur rhythmisch als erwuumlnscht betrachtete Silben zu einem Silben syntagma zusammengefuumlgt werden solche Silben syntagmen ent-sprechen im Deutschen ungefaumlhr den Ableitungen oder den Kom po sita Da fuumlr jede Sprechsilbe (mindestens) ein Quadratzeichen vorhanden ist schreibt

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder102

man fuumlr jede einzelne Silbe eines Silbensyntagmas auch genau ein Qua-drat zeichen nieder Gerade bei euphonisch oder eurhythmisch bedingten Silben (im Deut schen ist synchron vielleicht das -e- in Strahlemann ver-gleich bar das -s- in Hochzeitsnacht das -n- in Hoffnung oder das -t- in dt eigentlich im Frz das -t- in a-t-il bdquohat erldquo) die ja keine Eigen be deu-tung haben ist es gelegentlich fraglich welches Quadrat zeichen man fuumlr sie schreiben solle

In einer fruumlhen Entwicklungsstufe der chinesischen Schrift waren die meisten der heutigen Quadratzeichen-Bestandteile freie Zeichenmor-pheme Das heiszligt sie fungierten einerseits als selbstaumlndige Quadrat zeichen und ndash spaumlter ndash zusaumltzlich andererseits als Quadratzeichen-Bestand teile Im Laufe der Zeit kamen mehrere davon nur noch als gebundene Zeichen-morpheme im Bestandteilverbund eines Quadratzeichens vor (aumlhnlich wie im Deutschen heute das Suffix -heit oder das Praumlfix ur- nur noch gebunden vorkommen) Manche entwickelten sich dagegen zu Allomorphen die teils frei teils gebunden sind Manche nur-gebundene Allomorphe sind heute sogar unikal (etwa wie im Deutschen -stuumlber in Nasenstuumlber)

3 Zur Normierung chinesischer SchriftzeichenformenIm Laufe ihrer Entwicklung sind die chinesischen Schriftzeichen mehr mals nor miert worden (vgl Abbildung 2) In antiken Epochen wurde eine amt liche Standardisierung meist zu Beginn einer Dynastie vorgenom men damit sich die Befehle und Maszlignahmen von der zentralen Regierung in er oberten Laumlndern erteilen und ohne Missverstaumlndnis durchsetzen lieszligen Als die jeweilige Dynastie allmaumlhlich zerfiel schwaumlchelte auch ihre Macht und damit ihr Einfluss auf Fuumlrstenlaumlnder und deren Bevoumllkerung Die fest gelegte Schreiblehre wurde dann auch nicht mehr so genau beachtet und irgend welche oumlrtlichen Gelehrten dachten sich neue Quadrat zeichen aus wenn sie sich der vordem zentral vorgegebenen Zeichen nicht mehr er innern konnten Gleichzeitig sind mit dem Fortschreiten der Zivilisa tion Neu heiten (Dinge und Sachverhalte) aufgekommen oder ins Bewusstsein der Men schen geruumlckt fuumlr die gesprochene und geschriebene Bezeich nungen be noumltigt wurden Fuumlr diese ersannen Gelehrte Quadratzeichen und zwar mei stens durch neue Zusammenstellung vorhandener Zeichen mor-pheme Weil es oft genug an einer zentralen Steuerung dieser Entwicklung fehlte ver lief die Zeichenbildungstaumltigkeit haumlufig unsystematisch Kam schlieszlig-lich eine neue Dynastie ans Ruder so vereinheitlichte der neue Herr scher das eine Zeitlang wildgewachsene Schriftsystem dann wieder

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Abbildung 2 Zur Entwicklung chinesischer Schriftzeichenformen (aus Fazzioli 2003 15)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder104

31 Vereinheitlichung in Richtung Vereinfachung

Bei den amtlichen Regelungen welche die Quadratzeichengestalt be treffen han delt es sich nicht nur um Vereinheitlichung Oumlfter wurde zu gleich auch versucht die Schriftzeichen zum leichteren Lernen und Schrei ben zu ver-ein fachen Schon seit fruumlher Zeit in der man noch nicht unbe dingt von bdquoQuadrat zeichenldquo sprechen kann ist zB eine immer wieder ange wandte Aumln derungs art der Abbau zeichen gestalterischer Kom plexitaumlt ent weder wird die Anzahl urspruumlnglich ikonisch vermehrfachter Ele mente oder Element teile wieder vermindert oder die Strichzahl sehr auf wendig auf-gebauter Bestandteile wird anderweitig reduziert auf diese Art sind denn auch die Allomorphkuumlrzel entstanden

(35) 集 jiacute versammel- ein zusammengesetztes Ideogramm besteht oben aus dem Schrumpfallomorph des veralteten Piktogramms dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel und unten aus dem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum

Urspruumlnglich war das Quadratzeichen 木 mugrave Holz das Piktogramm eines DaggerBau mes mit Wurzel und Aumlsten Die urspruumlngliche Form des Zeichens 集 ver sammel- zeigte allerdings drei Voumlgel auf dem Baum dh drei Voumlgel die sich auf einem Baum bdquoversammelnldquo Da das Zeichen morphem dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel bereits strichreich ist laumlsst es sich in drei facher Ausfuumlhrung innerhalb eines neuen Zeichens unvereinfacht kaum unter bringen spaumlter wurde das verdreifachte Zeichenmorphem in dem Zeichen deshalb durch ein einziges ersetzt Dadurch war es zwar weniger bild haft dafuumlr aber besser handhabbar

(36) 塵 cheacuten Staub ein zusammengesetztes Ideogramm zeigt oben das Schrumpf allomorph des Piktogramms 鹿 lugrave Hirsch und unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 土 tǔ Erdreich

Auch das urspruumlngliche zusammengesetzte Ideogramm fuumlr Staub zeig te zu naumlchst drei Hirsche auf dem Erdboden das heiszligt beim Ren nen wirbelt eine Herde Hirsche auf der Erde bdquoStaubldquo auf In der moder ni-sier ten Form des heutigen Quadratzeichens 塵 cheacuten Staub ist da von nur noch ein einziges Zeichenmorphem 鹿 lugrave Hirsch uumlbrig

(37) 豪 haacuteo Stachelschwein ein Ideophonogramm besteht unten aus dem Schrumpfallomorph des Piktogramms dagger豕 shǐ Eber als Sinn-traumlger und oben aus dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 高 gāo hoch als Lauttraumlger welches nur den Oberteil des ihm entsprechenden Voll allo morphs zeigt

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Der Lauttraumlger das Allomorphkuumlrzel des freien Zeichenmor phems 高 gāo hoch oben im Ideophonogramm 豪 haacuteo Stachel schwein ist gegenuumlber dem Vollallomorph gestalterisch um seinen Unterteil geschmaumllert worden Genauer gesagt im Vollallomorph zeigt das Piktogramm 高 gāo noch einen Daggerzwei stoumlcki gen Bau die beiden kleinen Strichkomplexe (in Form eines Vier ecks) sind gewissermaszligen Fenster im ersten bzw zweiten Stock Als Laut sym bol-Allomorphkuumlrzel eingefuumlgt in das Ideophonogramm 豪 haacuteo Sta chel schwein verliert es dann das untere bdquoFensterldquo

Als ein weiterer Punkt ist zu beachten dass chinesische Schrift zeichen oumlfter dadurch vereinheitlicht worden sind dass man Zeichen for men unter-schied lichen etymologischen Ursprungs zusammenfallen lieszlig indem man sie graphisch nicht mehr auseinanderhielt man koumlnnte von bdquoZeichen-morphem-Zusammenfallldquo bdquo-Synkretismusldquo bdquo-Kreuzungldquo oder bdquo-Kon ta-mi nationldquo sprechen So werden die zwei bdquoFensterldquo in dem Pikto gramm 高 gāo hoch mit einem Strichkomplex geschrieben der gestalte risch vom Piktogramm 口 kǒu Mund (bzw von seinem Schrumpf allo morph) nicht zu unterscheiden ist Waumlhrend Fenster und Mund sich immer hin noch unter dem Begriff bdquoOumlffnungenldquo zusammenfassen lassen wird der-selbe Strichkomplex (zT in unverhaumlltnisgerecht geschrumpfter Ge stalt) in anderen Quadratzeichen daruumlber hinaus aber noch fuumlr ganz ande res an ge wandt zB fuumlr Geraumlusch Auge eines Strudels menschli ches Ge sicht menschlichen Kopf Tierkoumlrper Steinmesser Schuumls sel Topf Trommel Behausung von Mauern umgrenzte Stadt oder der Strichkomplex des Vierecks wird ganz abstrakt als ein Zeichen mor phem zur Disambiguierung ansonsten formgleicher Quadrat zeichen ein gesetzt

Betrachtet man die Sache nicht von daher welche Geltungen ein Zeichen-morphem in Quadratzeichen annehmen kann sondern aus der Warte der Bedeu tungen so ist eine aumlhnliche Mehrfachanwendung von Elementen fest-zu stellen bei etlichen Quadratzeichen wird beispielsweise die Bedeu tung Ge raumlusch nicht einheitlich durch den Strichkomplex 口 den wir aus heu-tiger Sicht als das Schrumpfallomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund deu ten be zeichnet sondern manchmal auch durch einen Strichkomplex 日 welcher zumindest synchron aussieht wie das Zeichenmorphem 日 rigrave Son ne und deshalb heute als ein Schrumpfallomorph dieses Zeichen-morphems ge wertet wird Derlei Faumllle gibt es viele und die synchron empfun-dene Mehr deutigkeit von Elementen geht oft auf Entwicklungs vor gaumlnge dieser Art zuruumlck auch solcherart bdquoZusammenlegungs-Standardisie run-genldquo haben demnach die Bedeutung chinesischer Quadratzeichen(bestand-teile) ver dunkelt und belasten heute beim Lernen die Form-Inhalts-Bezie-

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder106

hung Moumlchte man eine Parallele zum Deutschen ziehen so kann man die gra phische Zusammenlegung von ltgraumlulichgt von grau‑artiger Farbe und ltgreu lichgt grauenerregend in ltgraumlulichgt durch die Rechtschreib reform von 199620042006 vergleichen

32 Auswirkungen auf die Quadratzeichengestaltung

Die Standardisierungen der chinesischen Schriftzeichen und ihrer Bestand-teile betreffen weitgehend die Formgebung von Quadratzeichen und diese wie derum bildet die Grundlage fuumlr synchrone zeichenmorpholo gische Ana lysen Da die Zeichenmorpheme durch manche Vereinheitli chungs-schrit te richtiggehend bdquoumgemuumlnztldquo worden sind praumlgen sie entspre chend auch Bewusstsein und Wahrnehmung der Schriftanwender um Im Fol gen-den eroumlrtern wir bei der zeichenmorphologischen Betrachtung von Qua-drat zeichen wie sich solche Zeichenform-Normierungen auf die objektive sprach wissenschaftliche Auswertung und auf die subjektive anwender-seitige Wertung der Quadratzeichengestalt auswirken

Wenn man versucht Quadratzeichen moumlglichst weitgehend aufzutrennen so gelangt man ndash ggf uumlber Zeichenmorpheme unterschiedlicher Komplexi-taumlt ndash letzten Endes zu Zeichenmorphemen welche zwar noch eine morpho-lo gische Bedeutung tragen sich allerdings ndash synchron betrachtet ndash nicht wei ter in ihre Strichzuumlge zerlegen lassen ohne dass sie ihre morpho logi sche Gel tung einbuumlszligen wuumlrden Diese kleinsten Einheiten sind die Grund mor-pheme Zwei oder mehr Grundmorpheme koumlnnen zusammengefuumlgt werden um ein neues komplexeres Zeichenmorphem zu bilden Von da an stehen bei der chinesischen Schriftzeichenbildung nicht nur Grundmorpheme son-dern auch komplexere Morpheme zur Verfuumlgung Das heiszligt als Bestand teile von Schrift zeichen duumlrfen sowohl Zeichenmorpheme die aus bloszlig einem Grund morphem bestehen als auch Zeichenmorpheme die ihrerseits schon aus zwei oder mehr Grundmorphemen zusammengesetzt sind dienen Ein durch Zusammenfuumlgung von zwei oder mehr Zeichenmorphemen gebil-detes Quadratzeichen laumlsst sich wiederum als ein idiomatisierter Kom-plex verwenden und als Zeichenmorphem fuumlr weitere Quadratzeichen-bil dung einsetzen Es werden somit Komplexe aus Zeichenmorphemen immer wieder neu idiomatisiert und als neue Einheiten in houmlhere Komposi-tions-Hier archien uumlbernommen Theoretisch kann so jedes eigen staumln dige Schrift zeichen als Bestandteil fuumlr komplexere Schriftzeichen ver wandt werden Vergleichbar ist hier in der deutschen Morphologie die Ablei-tung von einer Ableitungsbasis Basis Handhabe als nicht mehr auftrenn-barer Komplex abgeleitet zu handhaben dann Basis hand haben als

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nicht mehr auftrennbarer Komplex abgeleitet zu hand hab bar schlieszlig-lich Basis handhab bar als nicht mehr auftrennbarer Komplex abge leitet zu Handhab barkeitOft geht man davon aus dass Piktogramme und einfache Ideo gramme aus lediglich einem einzigen Grundmorphem bestuumlnden Pikto gramme wie sen ur spruumlnglich einen Dinge aus der Natur abbildenden Strich kom-plex auf den man aus heutiger Sicht als das Abbild eines Ganzen werten duumlrfte und das entspraumlche dem was uumlblicherweise in Grund mor phemen vorliegt Waumlhrend bdquoeinfacheldquo Piktogramme tatsaumlchlich immer nur ein ein ziges Grundmorphem enthalten (wie in 日 rigrave Sonne und 月 yuegrave Mond) empfinden Lerner und Benutzer chinesischer Quadrat zeichen es heute so dass besonders strichreiche Piktogramme aus meh reren Grund-morphemen zusammengesetzt seien Diese Erscheinung ist dadurch zustande gekommen dass bei der gestalterischen Normierung von Quadrat zeichen-formen bdquoBestandteileldquo in manchen dieser strichreichen Kom plexe so zu sagen bdquomorphemisiertldquo worden sind aus einem Komplex hat man durch eine Art Morphemspaltung meh rere Bestand teile herausabstrahiert die man nun jeden fuumlr sich wie der in anderen Quadratzeichen-Kompositionen als Kompositionsglieder nut zen kann ndash und umgekehrt

Beispielsweise war das Piktogramm 鹿 lugrave Hirsch urspruumlnglich das Ab bild eines Hirsches mit Geweih Kopf Koumlrper und Beinen (sie he Ab bil dung 2) Bei spaumlteren Normierungen wurden oben Geweih Kopf und Koumlrper zwar weiterhin als ein Strichkomplex belassen (dieser stellt heute ein nur-gebunden vorkommendes Zeichenmorphem dar) der Unter teil indes die abstrakt die vier Beine darstellenden Striche war rein gestalterisch zufaumlllig dem zusammengesetzten Ideogramm 比 bǐ ver-gleich- recht aumlhnlich Und so hat man im Zuge einer Normie rung diese Striche durch ein Schrumpfallomorph des Quadrat zeichens 比 bǐ ver-gleich- ersetzt und dadurch den urspruumlnglichen als zusammengehoumlrig zu be trach tenden Strichkomplex von Hirsch in zwei Bestandteile zerlegt deren jeder heute synchron die Geltung eines Zeichenmorphems besitzt Das zusammengesetzte Ideophonogramm 比 bǐ vergleich- uumlbrigens zeigte urspruumlnglich zwei Menschen im Wettlauf miteinander

Uumlblicherweise werden auch saumlmtliche einfachen Ideogramme als Qua drat-zeichen mit nur einem einzigen Grundmorphem ange se hen Ge schicht lich gesehen bargen allerdings wohl alle einfachen Ideogram me ur spruumlng lich zwei zeichenmorphologische Bestandteile in sich naumlm lich Bezugs grund-lage und Hinweis An dieser Stelle sollte man den Tiefen grad bedenken mit dem man die Zusammenfuumlgung zweier Bestand teile betrach ten

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moumlchte wenn man zeichenetymologisierend vorgeht kann man Ein-heiten freilich tiefergehend sinnvoll auftrennen als wenn man das syn-chrone Schreiberbewusstsein zugrunde legt Aus heutiger Sicht sind naumlm-lich Bezugsgrundlage- und Hinweis-Bestandteil nicht zuletzt in folge nor mierender Umgestaltung zu einem Zeichen morphem zusam men-geschmolzen das als ein einziges Grundmorphem betrachtet wird und des halb spricht man eben von bdquoeinfachenldquo Ideogrammen Ist der Hin weis-Be stand teil noch durchsichtig vom Grundlage-Bestandteil abzutren nen so sollte man indessen meinen das Ideogramm goumllte als aus zwei (ggf mehr) Grundmorphemen zusammengesetzt Das widerspricht aber der her koumlmm lichen Sichtweise Der Status der einfachen Ideogramme ist in dieser Hinsicht womoumlglich revisionsbeduumlrftig Diese naumlhere Betrach tung hat uns bewogen im vorliegenden Aufsatz zwischen bdquoGrund morphemenldquo und bdquoStrichenldquo zu unterscheiden

Im Gegensatz zu den Piktogrammen und einfachen Ideogrammen beste hen die zusammengesetzten Ideogramme sowie die Ideophonogramme aus zwei oder mehr Zeichenmorphemen sind also Polymorphe Lautent lehnungs-zeichen wieder um haben teils ein und teils mehr als ein Grund morphem je nachdem von wel cher Schriftzeichen-Basis sie entlehnt worden sind

4 Naumlhere Betrachtung der Ideophonogramm-BildungIdeophonogramme herrschen in der chinesischen Schriftzeichenbildung vor und bestimmen somit die Charakteristik der chinesischen Quadratzeichen am meisten sowie das Bewusstsein der Schriftanwender am nachhaltigsten

Zur Bildung eines Ideophonogramms fuumlr eine gesprochene Silbe werden zwei Zeichen morpheme zusammengesetzt ein Sinntraumlger und ein Laut-traumlger Das sind die beiden Zeichenmorphem(komplexe) ersten Ranges Beide muumls sen um fuumlr die Komposition verwendet werden zu koumlnnen abstra hiert wer den Der als Sinntraumlger bestimmte Komplex muss von seiner bis heri gen Lau tung frei gestellt werden um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf das Signifieacute die nen zu koumlnnen (und dabei nicht etwa dadurch zu be irren dass mit ihm zu saumltzlich eine Lautung assoziiert wird) Der als Laut traumlger bestimm te Kom plex muss von seiner Bedeutungs-Assoziation frei ge stellt wer den um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf die unge faumlhre Lau tung die nen zu koumlnnen (und nicht dadurch zu stoumlren dass er zusaumltz liche Bedeu tungs-Assoziationen hervorruft) Die In-etwa-Aussprache auf welche der Laut traumlger verweist muss natuumlrlich zur Silbe des neuen Gesamt kom ple xes des durch die Komposition

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entstandenen Ideophono gramms stimmen ndash zumindest zum Zeitpunkt der Zeichenbildung

Gelegentlich kommt es vor dass in einem Ideophonogramm nicht nur ein son dern zwei Zeichenmorpheme als Sinntraumlger zur Bedeutung des Ideo-pho no gramms beitragen Im Folgenden sei ein besonders verwickelter Fall ge schil dert der aber gut als Beispiel fuumlr diese Zeichenbildungsart dienen kann

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des sei ner seits schon ein Ideophonogramm darstellenden Vollallo morphs 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpfallo morph des Laut ent lehnungszeichens 平 piacuteng flach als Lauttraumlger

Der Sinntraumlger 言 yaacuten Wort des Ideophonogramms 評 piacuteng ein-schaumltz- ist wie erwaumlhnt selbst ein Ideophonogramm das unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund (Sinn trauml ger) und oben ein gebundenes heute unikales Allomorph eines obsole ten Zeichen-mor phems mit der Lautung Daggeryǎn (Laut traumlger) in sich birgt Der Laut-traumlger des Ideo phonogramms 評 piacuteng ein schaumltz- naumlm lich das Zeichen-morphem 平 piacuteng flach stammt ur spruumlng lich von einem Pikto gramm 平 piacuteng DaggerWasserlinse das spaumlter auf grund lautlicher Uumlber ein stim mung fuumlr die sekundaumlre Bedeutung flach laut ent lehnt wurde Fuumlr die pri maumlre Bedeutung Wasserlinse wur de dann ent zwei deutigend das Ideo pho no-gramm dagger苹 piacuteng gebildet das wie der um durch Hinzufuumlgung des Allo-morph kuumlrzels des ver alte ten Zeichen mor phems dagger艸 cǎo Gras ober-halb des Laut ent leh nungs zei chens 平 piacuteng flach zustande gekommen war Weil auch das Ideo pho nogramm dagger苹 piacuteng Wasserlinse heute wiederum ver altet ist wird gegen waumlrtig fuumlr Wasserlinse das Quadrat-zeichen 萍 piacuteng geschrie ben

Das letztentstandene Ideophonogramm 萍 piacuteng Wasser linse nun kann syn chron auf zweierlei Art aufgetrennt werden Einerseits so dass es links aus dem Allomorph kuumlrzel des Pikto gramms 水 shuǐ Was ser (Sinn-traumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Ideophono gramms dagger苹 piacuteng Wasserlinse (Lauttraumlger) besteht Andererseits laumlsst es sich ndash zu mindest rein for ma listisch ndash so ana lysieren dass das Allo morph kuumlr zel des Pikto gramms 水 shuǐ Wasser verdeutlichend hinzugefuumlgt wur de um neben dem bereits vorhandenen Sinntraumlger dagger艸 cǎo Gras einen zu saumltz lichen Hinweis auf die Bedeutung des Ideophono gramms 萍 piacuteng Was ser linse zu geben Waumlhlt man diese Sichtweise so duumlrfte man das Allo morph kuumlrzel des veralteten Zeichenmorphems dagger艸 cǎo Gras so wie

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das Allomorph kuumlrzel des Piktogramms 水 shuǐ Wasser beide fuumlr gleich-ran gige Sinntraumlger des Ideophonogramms 萍 piacuteng Wasserlinse und das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach fuumlr den Laut traumlger halten man haumltte hier also schon bei Auftrennung ersten Ran-ges ein dreigliedriges Ideophonogramm

Das ideophonographische Verfahren bewaumlhrt sich seit langer Zeit als eine nuumltz liche Methode chinesischer Quadratzeichenbildung Mit ihr ist das vor erst letz te quadratzeichen morphologische Entwicklungs sta dium des heutigen chine sischen Schrift systems erreicht Das zeichen morphe misch-sylla bi sche Ver fahren ist seit seiner Einfuumlhrung staumlndig ausge baut worden Die aumllte sten bisher gefundenen chinesischen Schrift zeichen sind wie oben bereits an ge deutet wurde in Rinderknochen (vor al lem auf Schul ter blatt-Kno chen so genannte bdquoOrakel knochenldquo) und Schild kroumlten panzer (zur Weissagung von Jagdgluumlck u auml) eingeritzt Bereits in der Orakel kno-chen schrift machen die Ideophonogramme einen betraumlcht lichen Teil des Schriftzeichen-Bestandes aus In der Gegenwart stellen die Ideo phono-gramme bis zu 90 Prozent aller chinesischen Qua drat zei chen Doch heut-zutage ist auch diese Bildeweise zum Erliegen gekommen denn neue Qua-drat zeichen werden praktisch nicht mehr geschaffen Heute ist neben der Hin ter ein anderreihung von Qua dratzeichen zur Wie dergabe von Mehr-Silben-bdquoWoumlrternldquo (man koumlnnte von bdquoSyntax woumlrternldquo sprechen von Silben-syn tagmen welche durch eine Art Sinn-Univerbierung mehr oder minder lexi kali siert sind heute neigt man dazu in der Schriftsprache aus Paral-lelitaumlt zur Sprechsprache mehr Silben fuumlr bdquoWoumlrterldquo zu schreiben) nur noch das Ver fahren der Lautentlehnung produktiv durch dieses aller dings ver-mehrt sich ja der Quadratzeichenbestand nicht weiter Typischer weise ange-wandt wird dieses Verfahren erwaumlhntermaszligen zB wenn die Lau tungen frem der bdquoWoumlr terldquo und fremder Eigennamen ins Chinesische umzusetzen sind

41 Klassenkoumlpfe

bdquoKlassenkopfldquo ist eine rein formalistisch abstrahierte graphische Grouml szlige ohne tie feren sprachlichen Wert nach der ein Quadrat zeichen im chinesi-schen Woumlrter buch klassifiziert ist um es (vergleichbar der Reihen folge der Buch staben im Alphabet) leichter nachschlagen zu koumlnnen Im Deut-schen wird bdquoKlassen kopfldquo oft mit dem Terminus bdquoRadikalldquo wieder-gegeben In jedem Qua dratzeichen ist entweder ein Strichzug ein Zeichen-morphem oder das ganze Quadrat zeichen (wo dieses aus einem einzigen freien Klassenkopf besteht) als Klassenkopf festgelegt Theoretisch koumlnnte also jedes Zeichenmorphem als Klassenkopf festgelegt werden Saumlmt liche

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Quadrat zeichen in einer Zeichenklasse beinhalten somit einen iden tischen Zeichen bestandteil (naumlmlich den Klassenkopf oder eines seiner Allo morphe) Eine Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe bietet Abbildung 3

Abbildung 3 Erste Seite der Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe (aus Couvreur 1911 1063)

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Die Nachschlagmethode mit Klassenkoumlpfen ist aus den Kompositions-eigen schaften chinesischer Quadratzeichen heraus entwickelt wor den und diese wiederum sind am wesentlichsten durch die bei weitem zahlen-staumlrkste Zeichengattung der Ideophonogramme gepraumlgt Die uumlber wiegende Mehr heit chinesischer Quadratzeichen sind Kompositionen von Zeichen-morphemen die sich bei der Zeichenbildung als (ggf zeichen allo morphisch aus ge formte) Bestandteile wiederholen Des weite ren stellen wie erwaumlhnt Ideo phono gramme die weitaus zahlenstaumlrkste Quadrat zeichen gruppe dar Manche sinntragende Zeichenmorpheme treten dermaszligen haumlu fig auf dass sich die von ihnen mitgebildeten Quadratzeichen nach die sen Sinn traumlgern gruppieren lassen Diesen Umstand macht man sich zu nutze um Quadratzeichen in den herkoumlmmlichen chine sischen Woumlrter buumlchern nach einigen hochfrequenten Zeichenmorphemen zu ordnen Das heiszligt es werden Quadratzeichen mit demselben Zeichen mor phem (-Bestand teil) zusam men geordnet Da die meisten Quadrat zeichen mehr als ein Zeichen-morphem beinhalten wird formalistisch aus jedem mehrglied rigen Qua-drat zeichen ein bestimmtes Zeichenmorphem als fuumlr die Woumlrterbuch-Ein-rei hung maszlig geblich festgelegt Dieses Zeichen morphem bezeichnet man als bdquoKlas sen kopf (des Quadrat zeichens)ldquo Unter einem bestimmten Klassen kopf wer den Quadratzeichen weitergehend nach der Strichzahl geordnet

Aus Ideophonogrammen waumlhlen Herausgeber chinesischer Woumlrter buumlcher vor nehmlich den Sinntraumlger als Klassenkopf aus selten den Laut traumlger Die se Handhabung ist der Grund dafuumlr dass im Bewusstsein chinesi scher Schrei ber das Klassenkopf-Prinzip und das ideophonographische Prin zip eng verwoben sind und das wiederum hat uns veranlasst die Er laumlu te-rung von bdquoKlassenkoumlpfenldquo in dem Abschnitt der Ideophono gramme zu be han deln Weiters fungieren als Klassenkoumlpfe pragmatischer weise et liche kom plexere Zeichen morpheme (einschlieszlig lich solcher die ihrer seits von Ideo phono grammen abgeleitet sind) welche haumlufig als Bestand teile von Qua drat zeichen vor kommen bzw deren Bestand teile um staumlndlich zu zer glie dern waumlren Nicht zuletzt gibt es Quadrat zeichen die mit nur sehr duumlrf tigen Strichzuumlgen geschrieben werden und sich schwerlich aus ein-ander trennen lassen (zB das Quadrat zeichen 七 qī fuumlr die Zahl sie ben) Wuumlr den viele solcher Quadratzeichen als Klassen koumlpfe aufge nom men so stuumln den im Woumlrterbuch etliche Klassenkoumlpfe die nur sehr wenige Ein-traumlge unter sich vereinigen wuumlrden Aus derartigen Quadrat zeichen wird des wegen oft ein einziger Strichzug zum Klassenkopf erklaumlrt auch wenn die unter ihm zusammen sortierten bdquoStrichzug-Klassen koumlpfeldquo zeichen-etymo logisch nichts miteinander gemein haben moumlgen (zB steht der

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Strich zug aus dem das freie Zeichen morphem 一 yī eins besteht als Klassen kopf auch fuumlr das Quadratzeichen 七 qī sieben) Die Anzahl der Klassen koumlpfe belaumluft sich heute auf rund 200 Zahlschwankungen sind dar auf zu ruumlck zu fuumlh ren dass zwischen den einzelnen Woumlrterbuch-Herausgebern Mei nungs ver schie den heiten daruumlber herrschen ob einige Strich zuuml ge Strichzug kom plexe oder gar Zeichen morpheme als Klassen-koumlpfe auf zu nehmen seien

42 Laut-Morphem-Entsprechungen in Ideophonogrammen

Waumlhrend die Formen der chinesischen Quadratzeichen seit knapp 2000 Jah ren verhaumlltnismaumlszligig stabil geblieben sind haben sich im Laufe der Zeit Gebrauch und Aus sprache der Silben stark veraumlndert Wenn sich die Laut bilder einer seits eines Ideophono gramms und andrerseits seines als freies Quadrat zeichen auftretenden Lauttraumlgers allmaumlhlich aus einander ent-wickel ten dann hatte das zur unausbleiblichen Folge dass der Lauttraumlger die Lau tung des von ihm mitgebildeten Komplexes (naumlmlich den Lautwert der Silbe des Ideo phono gramms) mit der Zeit immer ungenauer wieder gibt Das laumlsst sich mit der allmaumlhlichen Auseinanderentwicklung von Schrei-bung und Lau tung auch in Kultursprachen mit Alphabetschriften (wie Fran zouml sisch oder in viel geringerem Maszlige Deutsch) vergleichen

Gilt es die Laut-Morphem-Entsprechung in Ideophonogrammen zu be ur-teilen so sollte man folgende zwei Aspekte in Betracht ziehen erstens ob das Ideo phonogramm und sein Lauttraumlger wenn er in freier Stellung als Qua drat zeichen auftritt homo(io)phon seien und zwei tens ob alle Ideo-phono gramme die das gleiche Zeichenmorphem als Laut traumlger auf weisen ho mo(io)phon seien

Die folgenden Beispiele bilden einige Fallgruppen die grob nach diesen zwei Kri terien sortiert sind Geordnet sind sie hier letztlich nach der Komplexi-taumlt ihrer phonetischen Verhaumlltnisse

(38) Freies Zeichenmorphem 皇 huaacuteng Kaiser als Lauttraumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon徨 huaacuteng unsicher 煌 huaacuteng glaumlnzend 蝗 huaacuteng Heu-schrecke 凰 huaacuteng Phoumlnix 遑 huaacuteng geschweige denn 隍 huaacuteng Graben 湟 huaacuteng Sumpf 惶 huaacuteng aumlngst-lich

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(39) Freies Zeichenmorphem 番 fān barbarisch als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

翻 fān umwaumllz- 幡 fān schmale haumlngende Fahne 旛 fān Wim pel 蕃 fān exotisch

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon藩 faacuten Zaun

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon播 bograve streu-

(40) Freies Zeichenmorphem 青 qīng dunkelgruumln hellblau als Laut-traumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon清 qīng deutlich 蜻 qīng Wasserjungfer 鯖 qīng Ma krele

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon情 qiacuteng Gefuumlhl 晴 qiacuteng klar (in bezug auf Wetter)

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon請 qǐng bitt-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend精 jīng Extrakt Essenz 菁 jīng Quintessenz 睛 jīng Au ge

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend靖 jigraveng befried-

(41) Freies Zeichenmorphem 需 xū brauch- als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend

儒 ruacute Gelehrte(r) 蠕 ruacute sich schlaumlngel- 孺 ruacute Klein kind 濡 ruacute ein tauch- 嚅 ruacute murmel-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon懦 nuograve feige 糯 nuograve Klebreis

(42) Freies Zeichenmorphem 台 taacutei Podest als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

抬 taacutei aufheb- 跆 taacutei trampel- 邰 taacutei ein bestimmter Nach-name 颱 taacutei Taifun

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon苔 tāi Moos 胎 tāi Foumltus

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c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend怠 dagravei faulenz- 殆 dagravei gefaumlhrlich 迨 dagravei bis

d Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt笞 chī peitsch-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon怡 yiacute froumlhlich 貽 yiacute hinterlass- 飴 yiacute Konfekt

f Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon冶 yě schmied-

g Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon治 zhigrave verwalt-

(43) Freies Zeichenmorphem 出 chū her-hinaus als Laut trauml ger ge bunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon絀 chugrave unterlegen 黜 chugrave amtsentheb-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend und mit aumlhn li-chem An glitt屈 qū beug-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt拙 zhuoacute ungeschickt 茁 zhuoacute gedeih-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon咄 duograve ein bestimmtes lautmalerisches Wort

(44) Freies Zeichenmorphem 且 qǐe und als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit demselben Anglitt

蛆 qū Made b Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt und

demselben Ton狙 jū einen Anschlag veruumlb-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt齟 jǔ sich streit- 沮 jǔ niedergeschlagen 咀 jǔ kau-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon租 zū miet-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon阻 zǔ hinder- 祖 zǔ Ahn 俎 zǔ Schneidbrett 詛 zǔ ver fluch‑ 組 zǔ Satz (bei Maszligangaben)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder116

In den obigen Beispielen liegt das Augenmerk darauf welches lautliche Ver haumllt nis zwischen einem Ideophonogramm und seinem Lauttraumlger wenn er frei vorkommt besteht In aumlhnlicher Weise koumlnnte man das Hauptaugen merk dar auf legen in welchem Verhaumlltnis die Lautungen aller Ideophono gram me wel che ein und denselben Lauttraumlger nutzen zueinander stehen

In unseren Beispielreihen sind saumlmtliche Ideophonogramme einer durch Buch staben gekennzeichneten Reihe homophon und weisen den glei-chen Lauttraumlger auf so ist zum Beispiel bei (42) die Lautung saumlmt li cher Ideo phonogramme in Reihe a taacutei in b tāi in c dagravei in d chī in e yiacute in f yě und in g zhigrave Die Ideophonogramme mit dem sel ben laut-tragenden Zeichenmorphem in a taacutei und b tāi sind homoio phon Die Ideo phonogramme in a taacutei und b tāi reimen sich mit denen in c dagravei und besitzen zumindest aumlhnliche Anglitte (t und d) Die Ideo phono-gramme in d chī e yiacute und g zhigrave reimen miteinander Die Quadrat-zeichen in e yiacute und f yě teilen den gleichen Anglitt y waumlh rend der Anglitt in d ch dem in g zh aumlhnelt (bis auf [aspiriert] in al len phono-logischen Merkmalen gleich)

Augenscheinlich lassen sich die Ideophonogramme mit dem freien Zei chen-morphem 台 taacutei Podest (46) in zwei Gruppen unter gliedern Diejenigen in a taacutei b tāi und c dagravei weisen denselben Reim ai untereinander und mit dem frei auftretenden Lauttraumlger taacutei auf waumlhrend sich die Anglitte t und d (in IPA [t ] und [t]) lediglich in dem phonologischen Merkmal [aspi-riert] unter scheiden Dementgegen zeigen die Ideophonogramme in d chī e yiacute f yě und g zhigrave entweder denselben Reim i oder den gleichen bzw einen aumlhnlichen Anglitt (y bzw ch und zh) weder der Reim i noch die An glitte y ch oder zh klingen nach dem frei vorkommenden Laut-traumlger taacutei Wahrscheinlich ist das laut tragende Zeichenmorphem 台 taacutei Po dest durch einen Zusammenfall (Synkretismus) von zwei zeichen etymo-logisch verschiedenen Zeichenmorphemen zustande gekommen oder aus zwei urspruumlnglich geschiedenen Zeichenmorphemen kon tami niert Auch ist denkbar dass die Lautung des freien Zeichen morphems durch Fremd-einfluss (Fremd lautung oder Uumlber nahme mundartlicher Faumlrbung) oder aus einem uns heute verdunkelten historischen Grund veraumlndert wurde Die von ihm abgeleiteten Lauttraumlger waumlren dann zu unter schiedlichen Zei ten (und entsprechend mit unterschiedlicher Lautung) in Ideophono gram me ein gebaut worden

Aus den obengenannten Beispielen laumlsst sich ersehen dass nicht jeder Lauttraumlger einen zuverlaumlssigen Hinweis auf den Lautwert seines Ideo-

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phono gramms gibt Die Zuverlaumlssigkeit mit der ein laut tragendes Zeichen-morphem an einer bestimmten Lautung (oder einem Lautungs buumlndel) verankert werden kann ndash und umgekehrt ndash ist abhaumlngig ua von a) der Anzahl der Ideophonogramme die den gleichen Lauttraumlger aus weisen und phonetisch miteinander uumlbereinstimmen und b) der Haumlufig keit mit der diese Ideophonogramme im Gebrauch vorkommen und damit als Induk-tions basis fuumlr den Anwender dienen koumlnnen

Beispiels weise weisen die Ideophonogramme 提 tiacute heb- bring- erwaumlhn- auf werf- und 堤 tiacute Damm die sehr haumlufig gebraucht werden den gleichen Laut traumlger 是 shigrave sei- auf Daraus ziehen Lerner und Benutzer chine sischer Quadrat zeichen den vorlaumlufigen Schluss dass Ideophono-gramme die den Laut traumlger 是 shigrave sei- enthalten ungefaumlhr mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden sollten ndash obgleich die Lauttraumlger lautung mit der freien Lautung nur im Silbengipfel (hingegen weder im Anglitt noch im Tone) uumlberein stimmt in seiner Eigenschaft als Lauttraumlger haftet dem Zeichen morphem somit eine andere Lautung an als dort wo es frei auf tritt Diese Schluss folgerung finden Quadrat zeichen benutzer bestaumltigt wenn sie seltenere Ideophono gramme wie 醍 tiacute Butter fett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln und 禔 tiacute Gluumlck kennenlernen Stoszligen sie dann auf die ihnen womoumlglich gaumlnzlich (also auch in der Lautung) unbe-kannten Tier namen 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel so sprechen sie beim Vorlesen die fuumlr sie offenkundig als Ideophono gramme erkenn-baren Quadrat zeichen in Analogie ebenfalls mit der Silbe tiacute aus und in diesem Falle stimmt diese Leseaussprache auch Sehen sie nun aber ein anderes ihnen unbekanntes fuumlr sie nicht minder offensichtlich als Ideo-phono gramm zu deutendes Quadratzeichen 湜 shiacute rein (in bezug auf Was ser) so ordnen sie wiederum in Analogie zur oben geschil derten Erfah rung dem Ideophonogramm gleichermaszligen die Silbe tiacute zu ndash dies-mal aber irriger weise denn im Gegensatz zu dem uumlblichen Muster wonach die den Lauttraumlger 是 enthaltenden Ideophonogramme immer mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden bezieht das Ideophono gramm 湜 shiacute rein (in bezug auf Wasser) ungewoumlhnlicherweise seine Lautung unmittelbar aus dem Lautwert des freien Quadratzeichens 是 shigrave sei- wird folglich zu diesem homoiophon mit der Silbe shiacute ausgesprochen

Zu Verwirrungen kann es nicht nur innerhalb der Kategorie der Ideo phono-gramme kommen sondern es geschieht weil ja im Chinesi schen die Ideo-phono gramme dermaszligen vorherrschend sind gelegentlich auch dass ein Leser zusammengesetzte Ideogramme deren Quadratzeichen er noch nicht kennt als Ideophono gramme missdeutet In solchen Faumlllen kann zweier lei

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder118

geschehen Entweder laumlsst der Leser sich vom bdquoPseudo-Lauttraumlgerldquo der maszligen beeinflussen dass er dem ihm unbekannten Quadrat zeichen als Leseaussprache sekundaumlr eine Lautung beimisst welche er mit dem Pseudo-Lauttraumlger verbindet oder aber ndash und das duumlrfte bedeu tend seltener geschehen ndash erkundigt sich der Leser uumlber die sprech sprach lich richtige Lautung des Quadratzeichens und ordnet in seinem Bewusst sein dem Lautungs buumlndel des Pseudo-Lauttraumlgers dann zusaumltzlich diese neue Lautung zu

5 Zur Kombinatorik von ZeichenmorphemenDie uumlberwiegende Mehrheit der chinesischen Quadratzeichen ist durch Kompo si tion von zwei oder mehr Zeichenmorphemen entstanden Aller-dings sind die Zei chen morpheme eines Quadratzeichens im Schreibquadrat nicht willkuumlrlich son dern nach gewissen zeichenmorphotaktischen Regeln platziert

Die kombinatorischen Eigenschaften eines Zeichenmorphems wo es als Kom posi tions glied im Quadratzeichen auftritt sind von zwei Fakto ren ab haumlngig erstens ob das Zeichenmorphem nur gebunden oder aber auch frei vorkommt und zweitens ob das Zeichenmorphem als Bestand teil eines Qua drat zeichens immer ein und dieselbe Position inner halb des Schreib-qua drates einnimmt (stellungsstarr) oder aber an mehreren Posi tionen vor-kommen kann (mehr-Stellungs-faumlhig)

Ein Zeichenmorphem welches nur gebunden als Kompositionsglied im Qua drat zeichen genutzt werden kann ist in aller Regel stellungsstarr Betrachten wir nachfolgend zunaumlchst diese Faumllle nur-gebundener Allo-morphe

(45) Ehemals freies Piktogramm dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette kommt heut zutage nur mehr gebunden vor und ist stellungs starr

a immer am linken und zugleich oberen Quadratzeichenrande wie in 疾 病 瘋 癲 疲 疼 痛 疚 疤 痕 痊 癒 癱 瘓 瘦 疫 療 癮

(46) Ehemals freies Piktogramm dagger卩 daggerjieacute Daggerknieendersitzender Mensch kommt heutzutage nur mehr gebunden vor und ist stellungsstarr

a immer auf der rechten Seite im Quadratzeichen wie in 卯 印 即 卲 卸 卹 卻

Sofern ein Zeichenmorphem auch als eigenstaumlndiges Quadrat zeichen (in Ge stalt eines Vollallomorphs) vorkommt haumlngt seine Stellungs frei heit inner halb des Schreibquadrates davon ab welcher Allomorphart es ange-

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houmlrt den Schrumpfallomorphen oder den Allomorphkuumlrzeln In der Regel nimmt ein Allomorph kuumlrzel nur eine einzige Stelle im Schreib qua drat ein ist also stellungsstarr waumlhrend sich ein Schrumpfallomorph nicht auf eine feste Positio nierung beschraumlnken muss (allenfalls kann) mithin poten ziell mehr-Stellungs-faumlhig ist Das ist der Grund dafuumlr warum die Zeichen morphem gattung bdquoAllomorph kuumlrzelldquo im Bewusstsein chinesi scher Schreiber eine besondere Rolle spielt Nachfolgend fuumlhren wir Bei spiele fuumlr die Platzierung von Schrumpf allomorphen und Allomorph kuumlrzeln im Qua dratfeld an

(47) Piktogramm 山 shān Berg kommt auch frei als Vollallomorph vor so wie als

a Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 屹 崎 嶇 峽 嶼

b Schrumpfallomorph an der Oberkante des Quadratzeichens wie in 嶺 崇 岸 崗

c Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 岡 巒 岳 岔 島

d Schrumpfallomorph auf der rechten Seite im Quadratzeichen (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 訕 汕 疝

(48) Piktogramm 手 shǒu Hand kommt auch frei als Vollallomorph vor sowie als

a Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 摩 拳 拿 掌 擎 摯 擊 攀

b Schrumpfallomorph auf der linken und rechten Seite (im Rahmen der seltenen Komposition aus drei gleichrangigen Gliedern) des Quadratzeichens 掰

c Schrumpfallomorph in der Quadratzeichenmitte und dabei oben so wie beidseits uumlberragt wie in 承

d Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 拜 welches rechts mit einem nur-gebundenen unikalen Allo morph be stuumlckt ist das seinerseits wiederum ur spruumlng lich ebenfalls von dem Pikto gramm 手 shǒu Hand abge leitet ist

e Allomorphkuumlrzel (stellungsstarr) zeichenmorphotaktisch nur im mer am linken Quadratzeichenrande wie in 打 扒 扔 扣 扛 拖 抖 扯 把 抓 攪 拌 捕 捉 握 抽 抵 押

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder120

Die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommen den Zeichen-morphem dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette zusammen gesetzter Qua drat-zeichen sind etwa 病 Krankheit 瘋 verruumlckt 疲 muumlde 痛 Schmerz 疤 Nar be 癒 verheil- 癮 Sucht die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommenden Zeichenmorphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersit zen der Mensch sind zB 印 Stempel 即 sofort 卸 entlad- 卹 troumlst- 卻 hingegen die Bedeutungen solcher Quadrat zeichen mit dem auch frei vorkom menden Zeichen morphem 山 shān Berg sind bei spiels-weise 崎 felsig 峽 Tal 嶼 Inselchen 嶺 Gebirgs zug 岸 Ufer 岳 ho her Berg 島 Insel und Qua drat zeichen mit dem auch frei vor kom-menden Zeichen morphem 手 shǒu Hand koumlnnen folgendes be deuten 拜 anbet- 摩 mit der Hand reib- 拳 Faust 拿 hol- 打 schlag- 捉 einfang-Was Ideophonogramme anlangt kann man meistens aus ihren Kompo si-tions struk turen und den Eigenschaften des Zeichenmorphems schlie szligen ob ein als Kompositionsglied genutztes Zeichenmorphem der Sinn- oder aber der Lauttraumlger eines Ideophonogramms sei Diesbezuumlglich ver su chen wir im Fol genden einige brauchbare Richtlinien aufzustellen und diese an hand der oben aufgelisteten Beispiele zu erlaumlutern Zu beachten ist dass nicht alle Quadrat zeichen in (45) (46) (47) und (48) Ideo phonogramme sind Die Er laumluterung bezieht sich ausschlieszliglich auf die ideo phonographi schen unter den angegebenen Quadratzeichen Saumlmtliche Quadratzeichen in (45) (47) a b und d sowie (48) e stellen Ideophono gram me dar In (46) sind zB folgende Quadratzeichen Ideophonogramme 即 卲 卹 in (47) c 巒 島 und in (48) a 摩 擎 摯

Richtlinie 1 Bei bestimmten Kompositionsstrukturen finden sich der Sinn- und der Lauttraumlger jeweils in bestimmten Stellungen In Ideophono-gram men in denen ein Kompositionsglied das andere (teilweise) um saumlumt (bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition) nimmt der Sinntraumlger die Auszligen- und der Laut traumlger die Innen stellung ein wie in (45) In ideophonogra phi schen Kom posita in denen die Kompositionsglieder senkrecht voneinander zu tren nen sind (bdquoLinksrechtsldquo-Komposition) befinden sich der Sinn traumlger links und der Laut traumlger rechts wie in (47) a und d sowie in (48) e Bei Ideo phono grammen in denen die Kompositionsglieder waage recht von-ein ander zu trennen sind (bdquoObenuntenldquo-Komposition) haumlngt die Unter-brin gung der sinn- und lauttragenden Zeichenmorpheme weniger von ab strakt beschreibbaren Regeln ab sondern sie bdquoklebtldquo eher am einzel nen Zeichen morphem In solchen Faumlllen muss man gewissermaszligen zu jedem Zeichen morphem ein Buumlndel Zusatzeigenschaften kennen zu denen auch

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die eben erwaumlhnte Po sitio nierung im Zeichen quadrat bei bdquoObenuntenldquo-Kom position gehoumlrt (vgl (47) b und c sowie (48) a)

Richtlinie 2 Es gibt eine beschraumlnkte Anzahl haumlufig gebrauchter Zei-chen mor pheme die ausschlieszliglich oder uumlberwiegend nur einer der bei den Funktionen (Sinn- oder Lauttraumlger) dient Beispielsweise handelt es sich in (45) (46) und (48) um Zeichen morpheme die aus schlieszlig lich als Sinn traumlger erscheinen In (47) tritt das Zeichen morphem 山 shān Berg ungleich haumlufiger als Sinn- (wie in (47) a b und c) denn als Laut traumlger (wie in (47) d) auf nicht zuletzt ist es in seiner selteneren Funktion als Laut traumlger aus schlieszliglich auf der rechten Seite im Schreib quadrat auszumachen (wie in (47) d) wobei noch dazu seine Kompositionspartner auf der linken Seite alle samt gebraumluchliche Sinntraumlger sind und somit die obengenannte Stel-lungs regel bei der bdquoLinksrechtsldquo-Komposition eingehalten wird

Richtlinie 3 Stellungsstarre Kompositionsglieder seien es Allomorph kuumlr-zel wie in (48) e oder nur-gebundene Zeichenmorpheme wie in (45) und (46) dienen in ideophonographischen Quadratzeichen in aller Regel als Sinn traumlger In (46) bestehen die Ideophonogramme aus zwei Kom posi tions-gliedern jeweils einem auf der linken und einem auf der rechten Seite Nach Richtlinie 1 sollte ein Leser den linken Bestandteil als Sinn traumlger und den rechten als Laut traumlger deuten koumlnnen Nun werden bei den Ideo phono gram-men in (46) allerdings die jeweils linken Zeichen morpheme erstens selten als Kompositions glieder in Quadrat zeichen eingesetzt und zweitens falls doch dann sind sie fast nie Sinn traumlger Dem gegen uumlber stellt das stellungs-starre Zeichen morphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersitzender Mensch das stets die rechte Stel lung einnimmt einen gebraumluchlichen Sinn traumlger dar der erfah rene LeserSchreiber hat bei diesem (und anderen) Zeichen also nicht nur die Form sondern zugleich auch etwaige an dieser Form bdquoklebendeldquo Eigen schaften wie bdquoSinn traumlgerldquo und bdquoStellung inner halb des Quadrat feldesldquo ver inner licht Diese Kenntnisse fuumlhren ihn dann zur Schluss folge rung dass die Ideo phono gramme in (46) so komponiert worden seien dass ndash im Gegensatz zur gewoumlhnlichen Positionierung ndash der Sinn traumlger auf der rechten Seite und der Lauttraumlger auf der linken Seite stehe

Wenn sie die obengenannten Richtlinien verinnerlicht haben nehmen Lerner und Benutzer chinesischer Schriftzeichen nur selten das sehr haumlu-fige Quadrat zeichen 題 tiacute Aufgabe als Ideophonogramm wahr Zeichen-etymolo gisch betrachtet besteht dieses Quadratzeichen naumlmlich rechtsinnen aus dem Schrumpf allomorph des Laut entlehnungs zeichens 頁 yegrave Seite als Sinn traumlger und linksauszligen aus dem Allomorph des zu sam men-gesetz ten Ideo gramms 是 shigrave sei- als Lauttraumlger Warum aber erkennt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder122

man diesen ideophonographischen Aufbau von 題 tiacute Aufgabe nun aber meist nicht Das Zeichen mor phem 是 shigrave sei- tritt als Laut traumlger in aller Regel auf der rechten Seite von Ideo phono grammen mit bdquoLinksrechtsldquo-Komposition auf diese Eigen schaft des Zeichen mor phems laumlsst sich aus etlichen Beispielen indu zieren 提 tiacute heb- 堤 tiacute Damm 醍 tiacute Butterfett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln 禔 tiacute Gluumlck 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel Aller dings im Qudratzeichen 題 tiacute Aufgabe steht 是 shigrave einzig artiger weise auf der linken Seite obgleich es in dieser Kom position gleicher maszligen Laut traumlger ist auf faumllligerweise wird zu dem der untere Strich des Allo morphs von 是 shigrave sei- nach rechts unten weitergezogen Dieser weiter gezogene Strich veranlasst den Leser das Quadratzeichen 題 tiacute Auf gabe nicht mehr als bdquoLinksrechtsldquo-Komposition sondern eher als eine (auch anderweitig uumlbliche) bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition zu erachten und da mit ist das Allo morph des Zeichen-morphems 是 shigrave sei- als aumlu szligerer Bestand teil und das Schrumpf allo morph des Zeichen morphems 頁 yegrave Sei te als innerer Bestandteil zu wer ten Wie oben erlaumlutert dient bei Ideo phono grammen mit solcher bdquoAu szligenin nenldquo-Komposition in der Regel das aumluszligere Zeichen morphem (hier 是 shigrave sei-) als Sinn- und das innere (hier 頁 yegrave Seite) als Lauttraumlger Im Qua-drat zeichen 題 tiacute Auf gabe in des sen ist es gerade umgekehrt denn hier nimmt der Laut traumlger die sonst fuumlr den Sinn traumlger uumlbliche Stellung ein und umgekehrt Deshalb wertet der Leser wie erwaumlhnt dieses Quadrat-zeichen schwer lich als Ideo phono gramm son dern nimmt es einfach als Ein heit hin ohne es zu ana lysieren Dieser Ver zicht des Anwenders sich den ideophonographischen Zeichenaufbau zu ver durch sich ti gen liegt umso naumlher als es sich beim Ideophonogramm 題 tiacute Auf gabe um ein uumlber-aus gelaumlufiges Qua drat zeichen handelt sehr gelaumlufige sprachliche Grouml szligen idiomatisiert man bekanntlich schneller und nimmt sie dann eher als gege-bene Einheiten wahr ohne dass man das Beduumlrfnis hegte sich ihren Auf-bau bei jedem Auftreten neu zu vergegenwaumlrtigen

6 Mehr-Zeichen-Komposita und chinesische TexteJedes chinesische Einzelschriftzeichen wird unabhaumlngig von der Zahl sei-ner Bestand teile (Zeichen morpheme) und Strichzuumlge zu einem theore tisch gleich groszligen quadratischen Block gestaltet Anlaumlsslich dieser Eigen schaft wird es im vorliegenden Beitrag ein gaumlngig bdquoQuadrat zeichenldquo genannt Die Rege lung dass alle Quadrat zeichen theoretisch ein gleichgroszliges Feld aus fuumlllen wird beim Drucken und beim Lernen streng eingehalten Diese Diszi plinie rung scheint trivial zu sein sie ist fuumlr die Aufrecht erhaltung der

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Funktions weise der chinesischen Schrift jedoch von nicht zu unter schaumlt-zender Bedeutung Dadurch dass alle Zeichen morpheme eines zusammen-gesetz ten Schrift zeichens in einem gedachten Quadrat bestimmter Groumlszlige ange ordnet werden vermeidet man dass seine Bestandteile gra phisch aus-ein ander fallen

61 Schriftliche Wiedergabe lexikalischer mehrsilbiger Komposita

In klassischen chinesischen Texten steht jedes Quadratzeichen fuumlr einen Be griff Etliche Quadratzeichen repraumlsentieren als Homographe meh rere Bedeu tungen also mehrere bdquoWoumlrterldquo (meist Homonyme) Je nach Kon text wird die angemessenste Bedeutung dahinter verstanden Um diese Mehr-deutigkeit zu mindern wurden zuerst neue Quadrat zeichen konstruiert welche die Begriffe eindeutiger abbilden konnten Wohl gemerkt ein Qua-drat zeichen obgleich (heute) mit einer Silbe ausgesprochen bildete zunaumlchst nicht unbe dingt eine einzige Silbe ab sondern stand damals noch fuumlr ein Abbild des Inhalts fuumlr einen Begriff der Inhaltsseite welcher ausdrucks-seitig durch passende bdquoWoumlrterldquo (Einsilbler oder Silben syntagmen) ausge-druumlckt werden konnte Nach und nach hielt das Tempo der Quadrat zeichen-bildung nicht mehr mit der sprunghaften Vermehrung neuer bdquoWoumlrterldquo Schritt auch wuumlrden zu viele Ein-Begriff-ein-Quadratzeichen-Entspre-chun gen zu Lasten des Gedaumlchtnisses gehen Aus diesem Grund haben sich Gelehrte auf die feste Hinterein ander reihung mehrerer Quadrat zeichen verlegt ndash und jedes dieser Quadrat zeichen entsprach dann nur noch einer ein zigen Silbe Mehr silbige bdquoWoumlrterldquo konnten und mussten nun also mit einer ihrer Silben zahl entsprechenden Reihe von Quadratzeichen geschrie-ben werden Durch den rekursiven Einsatz vorhandener Quadratzeichen lassen sich so nahe zu unbegrenzt neue Einheiten bilden ohne dass man den Bestand der Quadrat zeichen weiter erhoumlhen muumlsste Als Ergebnis ent-stehen Mehr-Zeichen-Komposita aus zwei drei oder mehr Quadratzeichen Im der deutschen Wortbildung lassen sich mehrgliedrige Komposita (und Mehrfach-Ableitungen) vergleichen

Da zu Anfang als die Schrift noch bildhafter war und eher Begriff lichkeiten denn Lautwoumlrter ausdruumlckte und jedes Zeichen einen Begriff dar stellte (hinter dem sich mehrere Sprechwoumlrter vereinen lieszligen) war keine begren-zende Leere zwischen Quadratzeichen in einer Zeile noumltig Auch als spaumlter die genann ten Mehr-Zeichen-Komposita ent standen blieb dieser Zu stand un veraumlndert So gibt es auch heute beim Schreiben keine Markie rung zwi-schen lexikalischen Einheiten zwischen enger und weniger eng Zu sammen-gehoumlren dem Jedes Quadrat zeichen ist vom anderen gleich weit ent fernt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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gleich ob ein zwei oder mehr Quadrat zeichen zu einem lexika lischen Kom positum zusammengehoumlren Bis auf Anfuumlhrungszeichen fuumlr bdquoneueldquo bzw erklaumlrungsbeduumlrftige bdquoWoumlrterldquo wird auch niemals ein Binde strich oder ein entspre chendes Verdeutlichungs zeichen angewandt welches die Zusammen gehoumlrigkeit eines Mehr-Zeichen-Kompositums kenn zeichnen wuumlrde

62 Interpunktion im chinesischen Text

Die Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen stellt nicht die einzige Schwierig keit beim Lesen klassischer Texte dar Sind schon die Wort gren-zen nicht markiert (und damit zB die haumlufigen Mehr-Zeichen-Komposita nicht als zusammengehoumlrig kennzeichenbar) so gilt dasselbe in klassi schen Tex ten obendrein fuumlr die Grenzen zwischen Saumltzen Des weiteren wurden klassi sche Schriftwerke wohl schon wegen des teuren Schreib materials in einer sprachlich sehr gedraumlngten Form (einer Art bdquoTelegramm stilldquo) verfasst die sich uns heute ohne Kenntnis der damaligen Umstaumlnde heraus nicht mehr von selbst erklaumlrt Daruumlber hinaus gibt es im Chinesischen als isolie-render Sprache kein Kasussystem welches die Rolle der Satz glieder unter-stuumltzend anzeigen koumlnnte Waumlhrend in der heutigen Schriftsprache (in Ent sprechung zur Sprechsprache) wenig Spielraum hinsichtlich dessen herrscht in welcher Folge man Quadratzeichen im Satz anordnen kann kennt die klassische Schreibung kaum Regeln fuumlr die Anordnung der Qua-drat zeichen die schriftliche Fixie rung des Sinnes ist sehr unscharf und da durch sind viele und oft genug stark unterschiedliche Aus legun gen moumlg-lich bzw noumltig fuumlr alle bdquoWort artenldquo ist theoretisch die syntaktische Rolle in einem Satz jederzeit austauschbar Je nach Interpretationsbedarf werden die passendste Bedeutung und Anwendung gewaumlhltDie Sinn-Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen der Mangel an Wort-grenzen Satzzeichen und Kasus die relativ freie Quadratzeichen=bdquoWortldquo-Stel lung sowie die spaumlrliche Schreibweise ndash und nicht zuletzt auch der im Laufe der Zeit eingetretene Sprachwandel in der Sprech sprache ndash er schweren chinesischen Gelehrten die Ausdeutung klassischer Texte seit Ge nera tionen Der Volksmund nimmt diesen Umstand mit folgender Geschichte aufs Korn Es war einmal ein Mann der als es heftig regnete bei einem Besuch im Hause seines Gastgebers dort auch fuumlr die Nacht unterkam Der Regen indes dauerte und dauerte an so wohnte der Besucher Tag um Tag weiter in dem gastfreien Hause Aus Houmlflichkeit wollte der Gastgeber seinem Besu-

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder

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cher nicht von Angesicht zu Angesicht mitteilen dass er jetzt langsam denn doch nach Hause zuruumlckkehren sollte also klebte er einen Zettel an die Zimmertuumlr des klettigen Gastes Darauf stand

(49) 下雨天留客天留我不留

a 下 xiagrave herabfall- b 雨 yǔ Regen c 天 tiān Himmel Tag d 留 liuacute (jemanden) halt- e 客 kegrave Besucher f 我 wǒ Pronomen der 1 Person g 不 bugrave nicht bu eine Fragepartikel

Der Gastgeber wollte damit ausdruumlcken

(50) 下雨天留客天留我不留

Es regnet Der Himmel haumllt den Besucher [hier bei mir fest] Der Himmel will [dich] halten ich [aber] nicht

Allerdings hatte der kleine Text (49) klassischerweise keine Interpunktion Der gewitzte Besucher indes fuumlgte eine solche auf folgende Weise hin zu

(51) 下雨天留客天留我不留

Tage an denen es regnet [sind] Tage da der Besucher [im Hau se] behalten [werden sollte] [Sollst du als Gastgeber] mich hal ten oder nicht Jawohl [eigentlich Halten]

Das Quadratzeichen 天 tiān Himmel hat weitere Bedeutungen wie Tag Wet ter und Gott Das Quadrat zeichen 留 liuacute fuumlr das Verb halt- laumlsst sich intran sitiv im Sinne von bleib- verwenden Selbst das Quadrat-zeichen 不 bugrave fuumlr die Ver neinungs partikel nicht findet Anwendung auch als Frage partikel wobei dann beim Sprechen die Silbe nebentonig wird Es ist (vor allem im klassischen Text) nicht erforderlich dass alle Satz glieder wie syntak tisches Subjekt oder Objekt eines Satzes ausgedruumlckt werden Hat sie der Textver fasser nicht hingeschrieben so muss sie der Text leser selbst aus dem Kon text erschlieszligen Je nach Hintergrund oder Bedarf ergeben sich unterschiedliche ggf widerspruumlchliche Inter pretationen des-selben Tex tes

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

63 Laufrichtungen von Quadratzeichenfolgen und Textzeilen

Die Schreibrichtung der chinesischen Quadratzeichen ist traditionell in der Regel senkrecht von oben nach unten und die so entstehenden senkrechten Zeilen sind von rechts nach links angeordnet Seit ca 100 Jahren werden chine sische Texte neben der althergebrachten Schreibrichtung auch in Zeilen von links nach rechts und mit von oben nach unten angeordneten Zeilen geschrieben ndash wie in europaumlischen Buumlchern

Dank der Tatsache dass wegen der Form der Quadratzeichen die Zei-chen eines Textes wie die Kaumlstchen in einem Kreuzwortraumltsel angeord net sind sind bei einem chinesischen geschriebenen Text etliche spieleri sche Lesun gen und Schreibungen moumlglich Solche Spielereien sind bei Chine-sen traditionell uumlblich daher sei ihrer hier erwaumlhnt Nicht nur die Zei-chen an Zeilen anfaumlngen oder Zeilenenden sondern auch zB die jeweils sieben ten Quadrat zeichen aller Zeilen stehen in einer Flucht Sie bilden also quer durch die Zeilen laufende bdquo(Diagonal-)Spaltenldquo Das graphische bdquoAkro syllabonldquo dehnt sich uumlber den ganzen Text hin aus Man kann darin die Leserichtungen wechseln oder geometrische Figuren oder auch Endlos schleifen konstruieren So lassen sich beispielsweise auch die fuumlnf Quadrat zeichen in (52) spielerisch dergestalt niederschreiben dass sie in der ange gebenen Abfolge einen Kreis bilden der ndash das legen wir fest ndash im Uhrzeigersinn gelesen wird

(52) 清 心 也 可 以

a 清 qīng reinig- b 心 xīng Geist c 也 yě auch eine Bestaumltigungspartikel d 可 kě koumlnn- e 以 yǐ mittels eine Art Modalpartikel

Wieder dank der Mehrdeutigkeit und der vielfachen Anwendbarkeit kann jedes Quadratzeichen an den Anfang eines Satzes zu stehen kommen

(53) Die fuumlnf moumlglichen Lesarten der Kette aus fuumlnf Quadratzeichen in (52) sind somit folgende (die syntaktischen Komplexe sind durch zusaumltzliche Binde striche verdeutlichend getrennt)

a 清心也可以 (清心-也-可以) Den Geist zu reinigen [ist hiermit] eben falls moumlglich

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder126

b 心也可以清 (心也-可以-清) Der Geist ndash [er] ebenfalls ndash kann [hier-mit] gereinigt werden

c 也可以清心 (也-可以-清心) Ebenfalls kann [hiermit] der Geist ge rei nigt werden

d 可以清心也 (可以-清心-也) [Hiermit] kann der Geist gereinigt wer den jawohl

e 以清心也可 (以-清心-也可) [Hier]mit den Geist zu reinigen [ist] eben falls moumlglich

Das bdquoWortldquo 可以 in den ersten vier Saumltzen bedeutet koumlnn- wobei das Qua-drat zeichen 以 yǐ als rhythmische Partikel keinen Beitrag zur Bedeu tung leistet Das Quadrat zeichen 也 yě im vierten Satz ist ledig lich eine Bestaumlti-gungs partikel wenn es in klassischen Texten am Satz ende hin zuge fuumlgt wird Dieser etwas spielerische volkstuumlmliche Spruch findet sich auf einer chine sischen Teekanne Mit ihm ist gemeint dass guter Tee nicht nur den Durst stille sondern auch den Geist reinige

127Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder128

7 SchrifttumBlakney Raymond B (1948) A course in the analysis of chinese cha rac-ters Peiping The College of Chinese StudiesCouvreur Seacuteraphin (31911) Dictionnaire classique de la langue chinoise Zhili Ho Kien FouFazzioli Edoardo (2003) Gemalte Woumlrter 214 chinesische Schriftzeichen ndash vom Bild zum Begriff Wiesbaden Fourier-VerlagKarlgren Bernhard (22001) Schrift und Sprache der Chinesen Ber lin Springer-VerlagLin Hsin-Hwa (1996) Der sinnhafte Aufbau der chinesischen Schrift Frank furt am Main Peter LangRudolph Joumlrg-Meinhard (2004a) Das groumlszligte Geheimnis Chinas I Ludwigs hafen Ostasieninstitut der FH LudwigshafenRudolph Joumlrg-Meinhard (2004b) Das groumlszligte Ge heimnis Chinas II Ludwigshafen Ostasieninstitut der FH Lud wigs hafenWang Hongyuan (1997) Vom Ursprung der chinesischen Schrift Peking Sino lingua BeijingWieger Leacuteon SJ (1965) Chinese characters Their origin etymology his tory classification and signification A thorough study from Chinese do cu ments New York DoverYan Zhenjiang (2000) Schriftsystem Literalisierung Literalitaumlt Frank furt am Main Peter Lang

Danksagung Die Verfasser danken herzlich den KorrekturlesernMeike Brehmer Jost Gippert Joshua Kraumlmer und Andreas Schabalin

Dr Chung-Shan KaoDepartement fuumlr PsychologieUniversitaumlt Freiburg im UumlechtlandRue Petermann-Aymon de Faucigny 2CH-1700 FreiburgSchweizchung-shankaounifrch+41 (0)26300 74 94

Thorwald PoschenriederTausendschoumln-Verlag

Dorfstraszlige 39D-17509 LodmannshagenPommernDeutschlandTausendschoen-VerlagT-OnlineDe+49 (0)383 73266 88

Geschichte der Morphologie

Rosemarie Luumlhr1

The present approach to history of morphology centres around a certain term namely syncretism because this term plays a major role in modern linguistics under the name of underspecification In the following the phenomenon of underspecification will be dealt with firstly by means of Latin nominal mor-phology and secondly by reference to Old Indic This is supposed to indicate that the Old Indic grammarians already knew essential aspects of underspeci-fication

EinleitungDie Behandlung der Geschichte der Morphologie erfolgt anhand eines be-stimmten Begriffs naumlmlich anhand des Synkretismus weil dieser Begriff unter dem Terminus Unterspezifikation in der modernen Linguistik eine groszlige Rolle spielt Das Phaumlnomen der Unterspezifikation wird im folgenden erstens anhand der lateinischen nominalen Morphologie erlaumlutert zweitens anhand der altindischen Dabei soll gezeigt werden daszlig die altindischen Grammatiker schon wesentliche Aspekte der Unterspezifikation erkannt haben

Das griechische Substantiv συγκρητισμός Vereinigung von kretischen Ver-baumlndenrsquo dann Vereinigung zweier streitender Parteien gegen einen dritten Feindrsquo wurde von Erasmus von Rotterdam neu belebt im Sinne von Ver-mischung von religioumlsen Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbildrsquo Er hat das Wort volksetymologisch an griech συγκεράννυμι vermischersquo σύγκρατος vermischtrsquo angeschlossen Im 19 Jh erfuhr der Begriff eine Ausdehnung Die Anwendung auf die Sprachwissenschaft stammt von August Pott 18362

Eine uumlbliche Definition von Synkretismus findet sich in Abrahams bdquoTermi-nologie zur neueren Linguistikldquo (Abraham 1988 S 849)

bdquohistor Zusammenfall von urspruumlnglich verschiedenen grammatischen For-men mit verschiedenen Bedeutungen so daszlig sprachgeschichtlich Morphem- oder Phonemhomonymie zustande kommt synchron allerdings ist die Lizenz dieses Wandels daszlig eine der gesonderten Bedeutungen oder grammatischen

1 Herr Dr Bernd Wiese hat mir die das Latein betreffenden Graphiken zur Verfuumlgung gestellt und autorisiert Ich danke ihm herzlich dafuumlr2 BaermanBrownCorbett 2005 S 3f

Rosemarie Luumlhr130

Funktionen aufgegeben wird Dies zeigt sich im altgriech Kasussystem das den aumllteren idg Vokativ im Nominativ den Ablativ im Dativ aufgenommen hat Siehe dagegen das Lateinische wo Vokativ und Ablativ noch als gesonderte Kasus existierenrdquo

Auch das Deutsche zeigt bekanntlich Synkretismen vgl die Flexion des Artikels

(1)

[-pl] [+pl]

[+mask] [+neut] [+fem] [+mask] [+neut] [+fem][+nom] -er -es -e -e -e -e

[+acc] -en -es -e -e -e -e[+dat] -em -em -er -en -en -en[+gen] -es -es -er -er -er -er

Klassifiziert man nach Genus Numerus und Kasus erhaumllt man 24 Kom-binationen Doch verwendet man heute anstelle des Begriffs Synkretis-mus den genannten Terminus Unterspezifikation und versucht homo-nyme Endungen unter einer bdquonatuumlrlichen Klasseldquo zusammenzufassen Eine natuumlrliche Klasse ist dann gegeben wenn man weniger Merkmale braucht um diese Klasse zu spezifizieren als ein einzelnes Element hat das zu dieser Klasse gehoumlrt (Hall 2000 S 122) ZB hat die Endung -em in (1) die Merkmale [+dat +mask -pl] und [+dat +neut -pl] Streicht man die gemeinsamen Merkmale weg bleiben [+mask] und [+neut] uumlbrig Dem-nach bilden Maskulinum und Neutrum eine bdquoKlasseldquo die vom Femininum unterschieden ist In einem naumlchsten Schritt wird das Merkmal [+neut] auf-gegeben und das Neutrum anhand der Merkmale [plusmnmask] und [plusmnfem] defi-niert Demnach steht [+mask -fem] fuumlr das Maskulinum [-mask +fem] fuumlr Femininum [-mask -fem] fuumlr Neutrum Wenn man nun diese Merkmals-klassifikation auf die Endung -em anwendet ist diese durch den Merk-malssatz [+dat -fem -pl] ausgezeichnet und es ergibt sich ein Synkretismus oder eine Unterspezifikation in Hinblick auf die Genusmerkmale

Auch bei den Kasusmerkmalen ist der Begriff Unterspezifikation anwend-bar Fuumlr das Slawische hat zuerst Jakobson (1962) Merkmale wie [+nom] [+acc] [+dat] und [+gen] in die allgemeineren Merkmale [plusmngov(erned)] [plusmnobl(ique)] uumlbergefuumlhrt Eine Kreuzklassifikation fuumlhrt dann fuumlr die einzelnen Kasus zu folgenden Merkmalen Nominativ [-gov -obl] Akku-sativ [+gov -obl] Dativ [+gov +obl] Genitiv [-gov +obl] Auf diese Weise

Geschichte der Morphologie 131

entstehen die natuumlrlichen Klassen Nominativ Akkusativ vs Dativ Genitiv und zwar nicht oblique ([-obl]) vs oblique ([+obl]) Kasus Ein Flexions-marker kann so unterspezifizierte Kasus-Information zum Ausdruck brin-gen zB [+obl -mask +fem -pl] fuumlr -er im Dativ Genitiv Singular Femi-ninum (Muumlller Gunkel Zifonun 2004 S 2 6ff) Nimmt man nun fuumlr die Merkmalsklassifikation nur die positiven Merkmale erhaumllt man ein noch einfacheres Schema

(2)

o=oblique[ ]

Nominativ

o

Genitivg=governed g

Akkusativ

og

Dativ

Man sieht daszlig der Dativ gegenuumlber den anderen Kasus durch zwei Merk-male charakterisiert ist oblique und governed An dieser Stelle kommt die Natuumlrlichkeitstheorie ins Spiel Die These ist daszlig die Flexionsendun-gen partiell ikonisch sind (Gallmann 2004 S 125) Dh die Kasus die die meisten Merkmale haben sollten auch formal am meisten komplex sein In der Tat ist der Nasal -m gegenuumlber -n markiert und die Endung -em so ein bdquoschweres Affixldquo (Wiese 1999 S 14)

Die Frage ist nun ob derartige Analysen auch in der Geschichte der Morphologie eine Rolle spielen Man wird schnell fuumlndig Schon die altindischen Grammatiker haben wesentliche Hinweise zur Analyse der altindischen Nominalflexion gegeben Zunaumlchst einmal ist festzu-halten daszlig die bdquoElsewhere-Bedingungldquo ein uumlbergeordnetes Prinzip in der modernen Linguistik auf den genialen Grammatiker Pāṇini zuruumlckgeht Sie besagt bdquoWenn sowohl eine spezifischersquo Regel als auch eine generellersquo Regel auf eine zugrundeliegende Form angewendet werden koumlnnen dann operiert die spezifische Regel vor der generellen Regelldquo (Hall 2000 S 146) Daszlig der Vorrang deskriptiver Regeln von ihrer relativen Anordnung abhaumlngt sieht man zB an den lateinischen nominalen Endungen im Neu-trum und Maskulinum

Rosemarie Luumlhr132

(3) a NOM SGACC SG = X b X = stem + -um c NOM SG in masculine = stem + -usHier steht die Endung -us des Maskulinums der Default-NominativAkku-sativ-Endung -um gegenuumlber (BaermanBrownCorbett 2005 S 135f)

Bleiben wir zuerst beim Lateinischen und pruumlfen wie die bdquoElsewhere-Bedingungldquo im einzelnen wirkt Eine bemerkenswerte Analyse stammt hier von Bernd Wiese Diese soll nun vorgestellt werden

1 Analyse der lateinischen NominalflexionDie lateinische Nominalflexion ist bekanntlich ein komplexes morpholo-gisches System bdquodas alle Symptome des flektierenden Syndromsrsquo zeigt (homonyme synonyme und kumulative Exponenten Genuseinteilung unterschiedlich strukturierte Deklinationsklassen defektive Paradig-men)ldquo Nach Wiese (2002) helfen bei der morphologischen Beschreibung weder regelbasierte Ansaumltze weiter noch bieten morphembasierte Analysen Einsichten in die sbquoLogikrsquo solcher fusionierender Flexionssysteme da die Auffassung von morphologischen Markern als sbquoSaussuresche Zeichenrsquo bei Paradigmen wie den lateinischen nicht haltbar ist Jedoch hat de Saussure (1976 S 122) am Beispiel der deutschen Pluralbildung Gast Gaumlstersquo einen ent scheidenden Hinweis fuumlr Wieses Analyse solcher Formen gegeben bdquoce nrsquoest pas lsquoGaumlstersquo qui exprime le pluriel mais lrsquoopposition sbquoGast Gaumlstersquordquo Die Funktion morphologischer Markierungen laumlge also in derartigen Faumlllen nicht darin als sbquoExponentenrsquo von sbquoInhaltenrsquo zu fungieren sondern in der Unterscheidung von Formen unterschiedlicher Funktion Es wird eine funktionale Distinktion zum Ausdruck gebracht die mit einer formalen Differenzierung korreliert Folgerichtig stellt Wiese so unabhaumlngig begruumln-dete funktionale und formale Ordnungen der lateinischen Flexionsendun-gen auf und bezieht sie aufeinander Dabei kann er die Feststellung einer diagrammatischen Form-Funktions-Korrelation praumlzisieren und die prima facie verwirrende Vielfalt der bdquoAbhaumlngigkeiten und Querverbindungenldquo so Ernst Risch zur lateinischen Flexion (Risch 1977 S 236) auf eine einfache Abbildungsbeziehung im Sinne Buumlhlers zuruumlckfuumlhren

Zunaumlchst nimmt Wiese eine merkmalsbasierte Analyse vor wobei er sich fuumlr die Ausdifferenzierung obliquer Kasus auf Blakes (1994 S 158) Untersuchun-gen zu Kasussystemen stuumltzt In Systemen mit zwei obliquen Kasus steht der

Geschichte der Morphologie 133

Genitiv gewoumlhnlich in Opposition zu einem allgemeinen multifunktionalen Obliquus den Blake den elsewhere-casersquo im Sinne Pāṇinis nennt

(4)(a) Kasusdifferenzierung im Singular und Plural

(4)(b) Ausdifferenzierung obliquer Kasus Synkretismus im Lateinischen

Das lateinische System findet sich unter (4)(b) an letzter Stelle Bei (5) wird deutlich daszlig im Lateinischen non-oblique und oblique Kasus im allge-meinen gut unterschieden werden In den meisten Teilparadigmen gibt es fuumlr die jeweiligen drei Kasus jedoch nur je zwei verschiedene Formen Dies trifft durchgaumlngig fuumlr den Plural zu wo Vokativ und Nominativ ei-nerseits und Dativ und Ablativ andererseits identisch sind Als Einzelkasus gekennzeichnet sind der Genitiv als Attributskasus und der Akkusativ als Objektskasus Kasus denen als bdquovergleichsweise unspezifische Sammelformldquo der VokativNominativ und DativAblativ gegenuumlbersteht Die bdquoSammel-formldquo faszligt Wiese dabei als unmarkiertes Glied der jeweiligen Opposition auf Gegenuumlber dem Plural wird im Singular zusaumltzlich der Objektskasus Dativ formal gekennzeichnet und im non-obliquen Bereich bdquoder Subjekti-

Rosemarie Luumlhr134

vus also der Nominativldquo Fuumlr die einzelnen Deklinationsklassen ergeben sich so folgende Synkretismus-Felder

(5) Paradigmengliederung (Synkretismusfelder)

V N A Ab D G VPl NPl APl AbPl DPl GPl

ictus u-Dekl (7 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

rēx C-Dekl (8 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

diēs ē-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNAPl AbDPl GPl

capra ā-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNPl APl AbDPl GPl

ignis i-Dekl (8 Felder) VN A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

lupus o-Dekl (8 Felder) V N A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

Wieses naumlchster Analyseschritt ist nun die formale Bestimmung der Formenkategorien

(6) Bau der lateinischen Deklinationen (Uumlberblick)

Streicht man den Themavokal ab enthaumllt man in Spalte 3 zB die Laumlnge als formales Kennzeichen der Endung bei der o- ā- u- und ē-Deklination

135Geschichte der Morphologie

(7)(a) FormentypenMarkerParadigmenfelder in der u- C- und i-Deklination (ohne VNA Pl Ntr)

u-Deklination

Formtyp 0 1 2 3b 4 5b 6+ 7

Marker s m L vL Ls X-s vm

Endung -u -us -um -ū -ūi -ūs -ibus -uum

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

C-Deklination

Formtyp 0 1 2 3a 4 5a 5b 6+ 7Marker s m v vL vs Ls X-s vm

Endung - -s -[e]m -e -ī -is -[ē]s -ibus -um

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

i-DeklinationFormtyp 0 1 2 3b (=4) 5a 5b 6 6+ 7

Marker s m L (=vL) vs Ls vLs x-s vm

Endung -e -is rarrC-Dekl -ī -is rarrC-Dekl -īs -ibus -ium

Felder VNANtr VN A AbD G NPl APl AbDPl GPl

(7)(b) EndungstypenMarkerEndungen (formale Ordnung)

Formtyp 0 1 2 3b 4 5 6 6+ 7 7+Marker s m L vL Ls vLs -X-s vm -X-mu-Dekl -u -us -um -ū -uī -ūs -ibus -uume-Dekl -ēs () -em -ē -ei -ēs -ēbus -ēruma-Dekl -a -am -ā -ae -ās -īs -ārumo-Dekl -e -us -um -ō -ī -ōs -īs -ōrum

u-Dekl VNANtr VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

e-Dekl VN A Ab DG VNAPl AbDP GPl

a-Dekl VN A Ab DG VNPl APl AbDP GPl

o-Dekl V N A AbD G VNPl APl AbDP GPl

a b c d e f g h

Paradigmenfelder (funktionale Ordnung)

Rosemarie Luumlhr136

Wieses Interpretation lautet nun folgendermaszligen

Der houmlchstrangigen Position Genitiv Plural Feld h ist eine Form des Typs 7 eine schwere Nasalform zugeordnet dem Ablativ-Dativ-Plural-Feld g eine Form des Typs 6 eine hochmarkierte sigmatische Form Das in der Hierarchie folgende Synkretismusfeld f ist mit einer Form des Typs 5 besetzt und so fort bis zum Nominativ Singular der hier wie sonst gewisse Unregelmaumlszligigkeiten aufweisen kann In der ē-Deklination ist der Thema-vokal anders als sonst im Nominativ Singular lang In der ā-Deklination fehlt die einfache sigmatische Form in diesem Fall und dort wo eine besondere kasus-unmarkierte Neutrum-Form oder ein besonderer Voka-tiv unterschieden wird kommt die 0-Form oder mit Hermann Hirt zu sprechen der casus indefinitus zum Zuge3

In der Tat stimmen nun formale und funktionale Markiertheit uumlberein So ist der Genitiv Plural mit der schweren Nasalform die markierte Form im obliquen Plural waumlhrend etwa die Endungen auf kurzen Vokal in Spalte 0 die formal am wenigsten charakterisierten Endungen sind sie stehen innerhalb der nicht-obliquen Kasus fuumlr die Nicht-Objekts-Kasus

Wieses Fazit lautet so

bdquoFormtypen nehmen einen Platz in der Endungsordnung ein sie besitzen aber nicht notwendig einen festen Inhalt der etwa durch Angabe einer bestimmten Menge morphosyntaktischer Merkmale zu repraumlsentieren waumlre Erst indem eine Form eine Stelle im Paradigma besetzt gewinnt sie einen definitiven Stellenwert Die Position die eine Form im Paradigma einnimmt bestimmt ihren Funktionswert nicht umgekehrtrdquo

Damit kehrt Wiese das traditionelle Bild um Waumlhrend bdquotraditionelle Darstellungen sich gewoumlhnlich mehr oder minder strikt an ein fuumlr alle Deklinationen einheitliches Zwoumllf-Felder-Schema [halten und sich] die Unterschiede zwischen den Deklinationen hellip dann ganz vorrangig als Divergenzen in der Formenbildung dar[stellen]ldquo bietet seine Darstellung bdquoein einheitliches System von Formkategorienldquo

2 Analyse der altindischen NominalflexionWenn wir uns nun der altindischen Nominalflexion zuwenden so haben die altindischen Grammatiker bereits das wesentliche Organisationsprinzip erkannt Die altindischen Grammatiker haben die Kasus mit den entspre-chenden Ordinalzahlwoumlrtern bezeichnet zB prathamā erstersquo (vibhaktiḥ

3 Vgl etwa Hirt 1925

Geschichte der Morphologie 137

Teilung Unterscheidung Abwandlungrsquo) = Nominativ ṣaṣṭhī sechstersquo = Genitiv und nach der Reihenfolge Nominativ Akkusativ Instrumental Dativ Ablativ Genitiv und Lokativ angeordnet weil dies die einzige Folge ist bei der uumlberall die Kasus mit gemeinsamen Endungen also unterspezi-fizierte Formen beisammen sind Instrumental und Dativ (und Ablativ) im Dual Dativ und Ablativ im Plural (und Dual) Ablativ und Genitiv im Sin-gular Genitiv und Lokativ im Dual Nicht mitgezaumlhlt wurde der Vokativ Dieser Kasus gibt anders als die anderen Kasus keine Beziehung im Satz an sondern ist selbst Satzaumlquivalent Vgl die altindischen a- und ā-Staumlmme

(8)(a) a-Staumlmme Maskulinum

Singular Dual Plural Vok deacuteva deacutevau deacutevāḥ Nom devaacuteḥ devaacuteu devḥ I Akk devaacutem devaacuteu devn II Instr deveacutena devbhyām devaacuteiḥ III Dat devya devbhyām deveacutebhyaḥ IV Abl devt devbhyām deveacutebhyaḥ V Gen devaacutesya devaacuteyoḥ devnām VI Lok deveacute devaacuteyoḥ deveacuteṣu VII

(8)(b) a-Staumlmme Neutrum

Singular Dual Plural Vok yuacutega(m) yuacutege yuacutegāni Nom yugaacutem yugeacute yugni Akk yugaacutem yugeacute yugni(8)(c) ā-Staumlmme Femininum

Singular Dual Plural Vok seacutene seacutene seacutenāḥ Nom seacutenā seacutene seacutenāḥ I Akk seacutenām seacutene seacutenāḥ II Instr seacutenayā seacutenābhyām seacutenābhiḥ III Dat seacutenāyai seacutenābhyām seacutenābhyaḥ IV Abl seacutenāyāḥ seacutenābhyām seacutenābhyaḥ V Gen seacutenāyāḥ seacutenayoḥ seacutenānām VI Lok seacutenāyām seacutenayoḥ seacutenāsu VII

Rosemarie Luumlhr138

Zweitens lassen die altindischen Grammatiker die obliquen Kasus mit dem Instrumental und nicht etwa mit dem Lokativ beginnen denn der Instrumen-tal entspricht beim Passiv dem Subjektsnominativ beim Aktiv (Wackernagel Debrunner 19291930 S 11)

21 Merkmalsbasierte Analyse

Versucht man nun eine merkmalsbasierte Analyse so ergibt sich fuumlr die haumlufigsten Staumlmme im Altindischen die a- und ā-Staumlmme folgendes Bild

(9)(a) +Sg -Pl a-Stamm

(9)(b) +Sg -Pl ā-Stamm

Geschichte der Morphologie 139

(9)(c) -Sg -Pl a- ā-Staumlmme

(9)(d) -Sg +Pl a-Stamm

22 Formanalyse

Wir betrachten zuerst die Genus-Unterspezifikation und dann die Kasus-Unterspezifikation

221 Genus‑UnterspezifikationIm Falle der Genus-Unterspezifikation bleiben der Nominativ Plural Maskulinum devḥ und der NominativAkkusativ Plural seacutenāḥ auszliger Betracht da im Femininum in bestimmten Positionen die Endung -āḥ noch zweisilbig ist (WackernagelDebrunner 19291930 S 123) Einzig und allein die Endung des Genitiv Plural ist bei den a- und ā-Staumlmmen vollkommen identisch [+Pl +obl +Gen] devnām seacutenānām Warum das so ist hat moumlglicherweise folgenden Grund In vielen Sprachen die Genussys-teme haben ist im Plural generell die Genusunterscheidung aufgegeben Daszlig aber speziell im Genitiv Plural keine Genusunterscheidung durchge-fuumlhrt ist liegt wohl an der Funktion Partitiv die der Genitiv haben kann

Rosemarie Luumlhr140

Der Plural ist in dieser Funktion als kollektiver Plural auffaszligbar weshalb kein Bedarf an einer Genusdifferenzierung besteht

Doch sind sonst die Genera Femininum und Nicht-Femininum dh Maskulinum und Neutrum bei den a- und ā-Staumlmmen deutlich geschieden4 Auszligerdem treten bei den a-Staumlmmen Kasusendungen auf die sich in anderen Stammklassen nicht finden Auch dies hat einen einfachen Grund Die maskulinen neutralen a- und femininen ā-Staumlmme haben auch einen wesentlichen Anteil an der Bildung der Adjektiva Wie ai priyaacuteḥ priy priyaacutem liebrsquo griech νέος νέα νέον lat novus nova novum zeigt ist dieser Adjektivtyp indogermanisches Erbe Dh in der altindischen Flexion der a- und ā-Staumlmme sind Kasusformen zu erwarten die speziell der Genusunterscheidung dienen Tatsaumlchlich gibt es solche Endungen wie man schon lange gesehen hat

In der Indogermanistik nimmt man im allgemeinen an daszlig die Uumlber-tragung pronominaler und damit bestimmter Genusendungen auf das Substantiv durch pronominal flektierende Adjektive wie viacuteśva- allersquo also sogenannte Pronominaladjektive zustande kam weil ein Adjektiv naumlher beim Substantiv steht als ein Determinierer In der Tat kann man einen schrittweisen Uumlbergang vom Determinativ uumlber das Adjektiv zum Sub-stantiv annehmen wenn man Seilers (1978) Adjektivklassifikation folgt

(10)

Determinativ Adjektiv SubstantivArtikelklassifikatoren Qualifikativa Nominalklassifikatoren

diediesemeine

erwaumlhnten zehn schoumlnen dicken roten houmllzernen Kugeln

Zahlwoumlrter wie zehn zB sind weit vom substantivischen Pol entfernt und gehoumlren zu den Artikelklassifikatoren Das Zahlwort impliziert zwar Zaumlhlbarkeit der Referenzobjekte gibt aber keine weitere Eigenschaft der in Rede stehenden Objekte an Ein Zahlwort wie zehn sagt vielmehr etwas uumlber die Art der Bezugnahme naumlmlich uumlber die Anzahl der Objekte auf die der Sprecher Bezug nimmt aus Aumlhnliches gilt fuumlr textverweisende Aus-druumlcke wie etwa erwaumlhnt Dies ist der Bereich der Festlegung von Eigen-schaften des Referenzakts wie etwa der Festlegung auf ein bestimmtes Genus hierfuumlr sind aber insbesondere die Determinative im Indogerma-nischen die Demonstrativpronomina zustaumlndig (Wiese 2004) So ist die 4 Zur Sonderstellung des femininen Genus in der Morphologie vgl Wiese 2004a Thieroff 2004

Geschichte der Morphologie 141

Formkategorie worin Sprachen am deutlichsten das Genus ausdruumlcken das Pronomen Selbst Sprachen die keine Genusunterscheidung bei den Substantiven haben haben oftmals beim Pronomen eine solche Differen-zierung Es ist so anzunehmen daszlig solche Woumlrter zunaumlchst die Substan-tive in ihrer Flexion beeinfluszligt haben und erst in einem naumlchsten Schritt erfolgte die Beeinflussung der Adjektive durch die Substantive Damit duumlrfte eine pronominale Endung wie im Falle des Instrumentals -ena bei den a-Staumlmmen also zuerst auf die Substantive uumlbergegangen sein und erst dann auf Adjektive

Geht man nun auf die Unterschiede in der Flexion zwischen Nicht-Femi-nina und Feminina ein so waumlren bei den ā-Staumlmmen etliche Kasusformen bei normaler Entwicklung mit dem Maskulinum zusammengefallen Ein solcher Genus-Synkretismus oder eine solche Genus-Unterspezifikation wurde aber vermieden indem das feminine Substantiv weitgehend umge-staltet wurde und zwar eben zumeist nach dem Demonstrativpronomen

(11)InstrSg seacutenayā anstelle von seacutenā asymp aumllter mask dev vgl taacuteyā vom Pron taacute- dieserrsquo DatSg seacutenāyai anstelle von seacutenai asymp aumllter mask devaacutei vgl taacutesyai vom Pron taacute- LokSg seacutenāyām anstelle von seacutene5 asymp mask deveacute vgl taacutesyām vom Pron taacute-

Eine andere Neubildung ist der VokSg seacutene anstelle von seacutena6 asymp mask deacuteva vgl aksl ženo gr νύμφα

Doch auch das Maskulinum hat Umbildungen nach dem Pronomen erfahren

(12)zB DatAblPl deveacutebhyaḥ anstelle von devaacutebhyaḥ vgl teacutebhyaḥ vom Pron taacute-

Warum bei den altindischen a- und ā-Staumlmmen Genus-Unterspezifikatio-nen weitgehend aufgehoben wurden ist sicher auf die Funktion des Genus als Signal fuumlr syntaktische Kongruenz zuruumlckzufuumlhren7

5 Vgl dazu Luumlhr 19916 Luumlhr 19917 Corbett 1991 S 4 bdquoIf a language distinguishes gender there is always agreement with respect to genderldquo Auszligerdem ist Genus wichtiger als Numerus da bdquogender is inherently fixed for a noun whereas [number] is usually instantiated and gives rise to different word forms in the paradigm of a nounldquo Auf der anderen Seite wird aber Genus arbitraumlr zuge-wiesen (Ortmann 1998 S 62)

Rosemarie Luumlhr142

222 Kasus‑UnterspezifikationNach WackernagelDebrunner (19291930 S 1f) besteht bei der altindischen Deklination bdquofast uumlberall die Neigung Form und Bedeutung eindeutig aufeinander zuzuordnenldquo Dh die Funktionen der nominalen Endungen sind klar erkennbar wodurch sich das Altindische wesentlich vom Latei-nischen unterscheidet Betrachtet man aber die Endungen im Uumlberblick so ist wie in anderen Sprachen auch die Obliquus-Form bei den a- und ā-Staumlmmen stets laumlnger oder schwerer als die entsprechende Nicht-Obli-quus-Form Ohne auf Einzelheiten einzugehen findet man im Maskulin- Paradigma (devaacuteḥ) im Singular im Nicht-Obliquus nur kurze Vokale waumlhrend der Obliquus Langvokale im Ablativ und Lokativ und dreisil-bige Formen im Instrumental Dativ und Genitiv aufweist und zwar teils mit langem Vokal in der Mittelsilbe Entsprechend ist das Verhaumlltnis im Feminin-Paradigma (seacutenā) nur daszlig hier den langvokalischen Formen im Nicht-Obliquus durchaus schwere zweisilbige Endungen im Obliquus entsprechen Auch im Dual und Plural ist der Gegensatz Nicht-Obliquus vs Obliquus deutlich ausgepraumlgt Einsilbigen Endungen mit Langvokal im Nicht-Obliquus stehen zwei- oder dreisilbige Endungen teils wiederum mit Langvokalen im Obliquus gegenuumlber Nun sind in einer Akkusativsprache wie es das Altindische ist die nicht-obliquen Kasus die unmarkierten die obliquen aber die markierten Kasus Demnach laumlszligt sich festhalten daszlig dem Mehr an Form in den obliquen Kasus ein Mehr an Merkmalen entspricht

Damit sind die Endungen der nominalen a- und ā-Staumlmme im Altin-dischen als ikonisch einzustufen Daszlig dies tatsaumlchlich ein Bildeprinzip des altindischen Nomens ist sieht man daran daszlig einsilbige Endungen die sich bei einer regelrechten Entwicklung aus dem Indogermanischen ergeben haumltten im Altindischen umgebildet worden sind vgl zB

(13) InstrSgMask(Neut) deveacutena anstelle des Instr dev DatSgMask(Neut) devya anstelle des Dat devaacutei GenPlMask(Neut) devnām anstelle des Gen devm

Doch ist noch ein Weiteres festzustellen vgl

(14)AblGenSgFem seacutenāyāḥ anstelle des Gen seacutenāḥ vgl griech GenSgf τιμῆς GenPlFem seacutenānām anstelle des Gen seacutenām

Geschichte der Morphologie 143

Die zu erwartende Form seacutenāḥ waumlre synkretistisch mit dem Nicht- Obliquus Plural seacutenāḥ zusammengefallen Ein Genitiv Singular Femini-num seacutenāḥ mit den Merkmalen [+sg +obl +gen] und ein VokativNomina-tivAkkusativ Plural Feminum seacutenāḥ mit den Merkmalen [+pl -obl] bilden jedoch keine bdquonatuumlrliche Klasseldquo weil diese Formen auszliger dem Genus keine Merkmale gemeinsam haben Aumlhnliches gilt fuumlr einen Genitiv Plural Femi-ninum seacutenām da dieser mit dem Akkusativ Singular Femininum seacutenām zusammengefallen waumlre8 Somit bleibt festzuhalten Im altindischen Nomi-nalparadigma der a- und ā-Staumlmme wird Kasus-Unterspezifikation bei Formen die keine natuumlrliche Klasse bilden nicht geduldet Dies ist sicher der Grund weshalb die altindischen Grammatiker die Formen der a- und ā-Staumlmme in die genannte Reihenfolge bringen konnten

FazitWir halten fest Der von August Pott in die Sprachwissenschaft eingefuumlhrte Terminus Synkretismus hat eine lange Tradition Schon die altindischen Grammatiker haben diesen Terminus im Sinne des heutigen Begriffs Unter-spezifikation angewandt um uumlbereinstimmende Kasusformen nebenein-ander anzuordnen Doch sind im Altindischen Unterspezifikationen im Paradigma der a- und ā-Staumlmme relativ wenig ausgepraumlgt weil wegen der Uumlbereinstimmung mit dem Adjektiv und Pronomen hier Genusunter-scheidungen viel deutlicher als bei anderen Stammklassen zum Ausdruck kommen Anders verhaumllt es sich im Lateinischen Es gibt eine Fuumllle von synkretistischen oder unterspezifizierten Kasusformen Gemeinsam ist aber beiden Sprachen daszlig einem Mehr an Merkmalen ein Mehr an Form entspricht Dies wird im Altindischen an der komplexeren Form der Kasus obliqui gegenuumlber den Nicht-Obliqui deutlich Auch im Altindischen koumlnnen also Form und Funktion korreliert werden

8 Luumlhr 2002 S 131f

Rosemarie Luumlhr144

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Rosemarie Luumlhr Universitaumlt Jena RosemarieLuehruni-jenade

Ostgermanische Morphologie

Magnuacutes Snaeligdal

The title of this paper is East-Germanic morphology but as explained in the introduction East-Germanic morphology is in fact Gothic Morphology as our knowledge of other languages in that group is minimal Section 2 deals with the size of the Gothic corpus word number and frequency etc This informa-tion is used in section 3 to discuss what we know about Gothic morphology and section 4 to discuss what we dont know about Gothic morphology Section 5 contains some concluding remarks

1 Einleitung

Ostgermanische Morphologie ist eigentlich gotische Morphologie weil mit Ausnahme des Gotischen die Sprachen der Ostgermanen nur wenig bekannt sind Zu diesen Sprachen gehoumlren die Sprachen der Gepiden Wandalen Burgunder Heruler Rugier und Skiren und es handelt sich dabei fast ausschlieszliglich um Eigennamen die in nicht germanischen Quellen uumlberliefert sind Das sogenannte sbquogotische Epigrammrsquo wird jedoch als wandalisch angesehen

(1) Inter eils Goticum scapia matzia ia drincan non audit quisquam dignos edicere versos

Auf Gotisch waumlre das vermutlich

Hails Skapja Matja jah drigkan sbquoHeil Kellner Essen und Trinkenrsquo

Auch die Formel froia arme die auf Bibel-Gotisch frauja armai lauten sollte dh κύριε ἐλέησονsbquo Herr erbarme dichrsquo ist vielleicht Gotisch durch Wandalen vermittelt (vgl Tiefenbach 1991 S261) Da die Wandalen nicht gerade fuumlr ihre Barmherzigkeit beruumlhmt waren kann man es wohl als einen Anticlimax bezeichnen daszlig von ihrer Sprache fast nur dieses Gebet uumlberliefert ist

Einige Runeninschriften werden als ostgermanisch oder gotisch angesehen Ich nenne an dieser Stelle nur zwei davon (vgl Ebbinghaus 1990 S207 bis 210)

Magnuacutes Snaeligdal148

1 Die Speerspitze von Kowel in der Ukraine Darauf ist die Inschrift tilarids zu lesen (linkslaufend) Doch ist hier die Deutung einiger Runen dunkel und unsicher

2 Der Goldring von Pietroassa Darauf steht die Inschrift gutaniowihailag zu lesen Selbstverstaumlndlich wird es wegen des Anfangs in Verbindung mit den Goten gebracht doch ist keines dieser Worte in den gotischen Bibeltexten uumlberliefert nicht einmal hailags (sondern weihs) Einigkeit uumlber die Deutung dieser Inschrift besteht jedoch nicht

2 Der Umfang des gotischen KorpusDie gotischen Sprachdenkmaumller sind klein und einfoumlrmig Die Gesamtheit der gotischen Uumlberlieferung umfaszligt weniger als 70000 Woumlrter Als minimale Grundlage einer digitalen grammatischen Analyse muumlssen mindestens 70000 Woumlrtern analysiert werden Wenn man also den ganzen gotischen Text analysiert hat reicht dieses Material kaum fuumlr eine digitale Analyse ndash und welche Texte sollten uumlberhaupt damit analysiert werden Die Einfoumlrmigkeit der Sprachdenkmaumller besteht darin daszlig es sich fast nur um eine Uumlbersetzung des Neuen Testaments handelt Der Text der Evangelien ist manchmal aumlhnlich und einige Teile der Paulus-Briefe sind parallel in zwei Handschriften uumlberliefert Deshalb gibt es viele Loumlcher in unserer Kenntnis des gotischen Wortschatzes Wir wissen zB nicht was sbquoPferdrsquo auf Gotisch heiszligt da dies weder in den Evangelien noch in den Briefen vorkommt Das Wort aiƕatundi sbquoβάτος Dornstrauchrsquo enthielt als erstes Glied der Stamm aiƕa- sbquoPferdrsquo (vgl Lat equus Gr ἵππος usw) was auf aiƕs deuten koumlnnte aber dies war nicht notwendigerweise das uumlbliche Wort fuumlr Pferd

21 Woumlrter asymp Tokens und Wortformen asymp Typen

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 ist die erste digitale Bearbeitung des gotischen Textes und baut voumlllig auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 auf1 Das Resultat besteht darin daszlig die Anzahl der Woumlrter (asympTokens) 67438 betraumlgt und die der Wortformen (asympTypen) 9462 Es sei hervorgehoben daszlig sie Faumllle wie zB thornatuthorn-thornan sbquound auch diesrsquo und sumaih sbquound einigersquo als jeweils ein Wort zaumlhlen thornatuh thornan aber als zwei Woumlrter

1 Sie beziehen jedoch das Speyerer Blatt und die neuen Lesarten von Bennetts Skeireins-Ausgabe mit ein und nennen S XI Fn 2 auch W Estabrooks und J W Marchands nicht veroumlffentlichte Computertexte

Ostgermanische Morphologie 149

In dem gotischen Text der Snaeligdal bdquoConcordanceldquo 2005 (CBG) zugrunde liegt (ebenfalls auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 basierend) betraumlgt die Zahl der Woumlrter 68133 und die der Wortformen 9421 (mit einer Zahl von 356506 Buchstaben in Woumlrtern) Hierin werden Faumllle wie zB thornatuthorn thornan und thornatuh thornan als jeweils zwei Woumlrter gezaumlhlt die nachgestellten Partikeln -u (30) und -uh (214 mit Varianten) auch als selbstaumlndige Woumlrter doch nicht von Pronomen und Adverbien getrennt Wenn man diese abzieht betraumlgt die Zahl der Woumlrter noch 67889 die Wortformen werden jedoch etwas zahlreicher (und naumlhern sich der Anzahl bei TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976) Nun kommen auch Wortformen wie bi-thorn-thornan-gitanda vor (1 KorA 1515 εὐρισκόμεθα δὲ καί Wir werden aber auch hellip erfundenrsquo) und es ist vielleicht nur natuumlrlich diese als drei Woumlrter zu zaumlhlen da die Partikeln sonst wie selbstaumlndige Woumlrter gezaumlhlt sind (Solche Woumlrter sind 28 von 24 Typen) Wenn diese eingeschobenen Partikeln mitgerechnet werden muss man folgendes Material hinzufuumlgen

1 -ba1 ƕa1 ni1 nu

12 thornan1 thornau4 -u

20 -uh -h -uthorn -thorn41

Tab 1 Die Zahl der eingeschobenen Partikeln

Das heiszligt also 41 Tokens Der Text umfasst dann 68174 Woumlrter Man muss auch die Wortformenzahl korrigieren und 13 abziehen was zu einem Ergebnis von 9408 fuumlhrt2 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang daszlig in den Paulus-Briefen immer -uh-thornan- (und dessen Varianten

2 Wird -uh- von at-uh-gaf entnommen bleibt atgaf uumlbrig aber diese Wortform ist schon gezaumlhlt worden Wenn dementsprechend auch -h von sumai-h entnommen wird bleibt die Form sumai uumlbrig die ebenfalls gezaumlhlt worden ist Wird dagegen -u- von bi-u-gitai entnommen bleibt bigitai uumlbrig das nicht gezaumlhlt worden ist oder -uh-thornan- von diz-uh-thornan-sat was dizsat ergibt das nicht gezaumlhlt worden ist nur dissat Vergleiche auch solche Beispiele wie usiddja uz-uh-iddja wo us- sich vor -uh- zu uz- aumlndert aber nicht vor iddja Das letzte Beispiel ist dann vergleichbar mit Filippauz-uh Wenn -uh davon entnommen wird bleibt Filippauz uumlbrig und wird neben Filippaus als eine selbstaumlndige Type gezaumlhlt Dieses Beispiel zeigt auch dass Type und Wortform nicht ganz gleichbe-deutend sind

Magnuacutes Snaeligdal150

insgesamt 10 Beispiele) eingeschoben ist auszliger in at-uh-gaf EphA 48 Interessant ist daszlig diese eingeschobenen Formen so selten sind daszlig sie nur in den groumlszligten Handschriften vorkommen dh dem Codex Argenteus und den Codices Ambrosiani A und B

211 Zufuumlgungen und AuslassungenAn diese Stelle muss ein ABER eingefuumlgt werden

Im Text der CBG wurden 148 Woumlrter eingefuumlgt (in spitzen Klammern gedruckt) die nicht in den Handschriften vorkommen von denen aber Streitberg (so wie auch andere Herausgeber vor ihm) meint daszlig sie zwar auf Grund der Ungeschicktheit des Schreibers weggefallen sind sie vom griechischen Text her jedoch erfordert werden Am haumlufigsten handelt es sich dabei nur um ein einzelnes Wort in einigen Faumlllen jedoch auch um mehrere zB wenn der Schreiber vermutlich eine ganze Zeile uumlberspringt Dies macht ungefaumlhr 02 des Textes aus An dieser Stelle sollte auch angefuumlhrt werden daszlig Streitberg 162 Woumlrter aus dem Text streichen will (in eckigen Klammern gedruckt)

Es gibt jedoch auch noch andere Hinzufuumlgungen Hier geht es um die Rekonstruktionen von verschollenen Textstellen die wegen der Beschaumldigung einiger Handschriftenblaumltter verloren sind Insgesamt muumlssen daher weitere 150 Woumlrter weggenommen werden was weitere 02 des Textes ausmacht

Ein stark beschaumldigtes Blatt des Codex Argenteus enthaumllt einen Teil des 11 Matthaumlus-Kapitels der verlorene Text ist jedoch rekonstruiert worden insgesamt 44 komplette Woumlrter (und 37 Wortteile)

Aus den Bruchstuumlcken des 23 und 24 Kapitels des Lukas-Evangeliums im Codex Gissensis wurden 79 komplette Woumlrter rekonstruiert (und 14 Wortteile aus diesem Fragment sind 19 komplette Woumlrter belegt sie enthalten jedoch beschaumldigte Buchstaben)

Im Codex Carolinus wurden die meisten Blaumltter am oberen Blattrand abgeschnitten Deshalb sind 6 Woumlrter in der ersten Zeile beschaumldigt aber 6 sind verloren gegangen und rekonstruiert worden

In 1 TimA 612ndash14 muumlssen 13 Woumlrter abgezogen werden da sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf dem Handschriftenblatt vorhanden sind

Ostgermanische Morphologie 151

Weitere vier Faumllle ergeben 5 rekonstruierte Woumlrter anthornaris lithornus RoumlmC 125 mag 1 TimB 616 im 2 TimB 416 diakuna 4 Unterschrift der Urkunde von Neapel

In Faumlllen wie zB (Mt 1115)

(2) saei habai au[sona hausjandona ga]hausja[i] ὁ ἔχων ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω Wer Ohren hat zu houmlren der houmlre

wo das was in die eckigen Klammern steht rekonstruiert wurde ist nur ein ganzes Wort hinzugefuumlgt worden dh hausjandona Uumlberreste wie au zaumlhlt man als ein Token im Text der Handschrift und stattdessen kommt das rekonstruierte au[sona] das keinen Einfluss auf die Anzahl der Woumlrter hat Die Buchstabenzahl veraumlndert sich dabei allerdings etwas Die Anzahl solcher Wortuumlberreste betraumlgt 96 wovon 5 Wortformen sonst nicht belegt sind Bethorn[saiumldan] Mt 1121 analag[jandans] Lk 1030 [usso]kjands LkG 2314 [qis]teins Mk 144 rahnjai[dau] 2 TimA 416

Der Text ist damit um 298 Tokens oder 04 geschrumpft Das Resultat besteht damit aus 67835 Tokens 9404 Typen und 356649 Buchstaben in Woumlrtern Wenn man mit den eingeschobenen Partikeln gerechnet hat betraumlgt das Ergebnis 67876 Tokens und 9391 Typen Jede Type hat dann im Durchschnitt sieben Tokens Dies ist keine groszlige Abweichung von den urspruumlnglichen Zahlen und das Resultat kann nicht als vollkommen genau angesehen werden ZB werden Buchstaben die einen erhaltenen Wortteil vollenden in die Buchstabenzahl miteinbezogen Einige Konjekturen werden mit eingerechnet aber sie beeinflussen das Resultat nur unwesentlich

212 Die RandglossenWoumlrter in den Randglossen werden in diesen Zahlen mitgerechnet Drei Glossen werden jedoch weggenommen weil ich es fuumlr relativ sicher halte daszlig sie nicht vorhanden sind andwaih RoumlmA 913 salja 2 KorA 616 lustau KolA 35 Insgesamt betragen die Glossen 103 Tokens 96 Typen 741 Buchstaben3 In den Glossen sind 13 ἅπαξ λεγόμενα und 18 Wortformen enthalten die sonst nicht belegt sind In Lk 732 steht die Gl hufum zu gaunodedum und das ist auszliger Mt 1117 huf[um] die einzige belegte Form dieses Verbs (hiufan θρηνεῖν Klagelieder singenrsquo) In der Glosse zu Lk 934

3 Im Codex Ambrosianus A sind es 52 Glossen 81 Woumlrter 609 Buchstaben im Codex Argenteus sind es 15 Glossen 22 Woumlrter 142 Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal152

wird milhmam (drei weitere Beispiele) als Fehlschreibung fuumlr milhman (milhma sbquoνεφέλη Wolkersquo) angesehen aber diese Form ist sonst nicht belegt Die Glossen fuumlgen deshalb unserer Kenntnis von der gotischen Morphologie etwas hinzu

213 Die ZahlzeichenIn diesen Ziffern sind die Zahlzeichen im Text auch enthalten 145 Tokens (78 Typen) oder ungefaumlhr 02 der Tokens Die Zahlzeichen kommen verhaumlltnismaumlszligig am haumlufigsten in Nehemia besonderes in 7 Kapitel 51 (105 der Tokens in Nehemia) im Kalender 40 (506 der Tokens) und im Codex Vindobonensis 12 (40 der Tokens) vor Im Codex Argenteus betragen sie 17 im Codex Ambrosianus A 7 Cod Ambr B 1 Cod Ambr E 6 in der Urkunde von Neapel 8 der Urkunde von Arezzo 1 den Gotica Veronensia 2 Dagegen werden die Zahlen am Rande die die Aufteilung des Textes in Leseabschnitte oder andere Sektionen markieren nicht mitgerechnet

214 Lexeme Fremdwoumlrter NamenIm Gotischen gibt es 3612 NachschlagswoumlrterLexeme 3537 wenn die Zahlzeichen (75) nicht mitgezaumlhlt werden und 3058 wenn auch die Lehnwoumlrter abgezogen werden Dies ist dann der ostgermanische Wortschatz den das Gotische uumlberliefert

Die Lehnwoumlrter (auszliger Namen) und davon abgeleiteten Woumlrter betragen 146 308 Typen die 1102 Tokens ergeben Diese Gruppe ist aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt von alten Lehnwoumlrtern die sich in den Ohren eines gewoumlhnlichen Goten wohl kaum fremdartig anhoumlrten bis hin zu Woumlrtern die unveraumlndert aus dem griechischen Text entnommen wurden Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 53 oder 363 der Lexeme und 48 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich werden die meisten von ihnen der letzten Gruppe zugeteilt Ein gotisches Produkt sind 22 abgeleitete Woumlrter und Komposita mit einem Lehnwort als zweitem Glied Die Verben aiwaggeljan und praufetjan sind in Anlehnung an Gr εὐαγγελίζεσθαι und προφητεύειν gebildet aber sie koumlnnen nicht einfach als Lehnwoumlrter bezeichnet werden Von diesen sind 8 ἅπαξ λεγόμενα Zu den Lehnwoumlrtern kann dann hinzugefuumlgt werden 44 laiktsjo (6)laiktjo (38) lectio Leseabschnittrsquo und peika- in peikabagms sbquoφοίνιξ Palmbaumrsquo Hier sind 4 unvollstaumlndige Woumlrter

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anzufuumlhren and[bahtja] 2TB 411 si[ponjans] Mt 101 sipon[jos] Mk 1416 und [praufe]te Neh 614

Personennamen Ortsnamen und davon abgeleitete Nomina die aus der Vorlage entnommen und mit gotischen Buchstaben transkribiert wurden betragen insgesamt 333 Lexeme 569 Typen die 2350 Tokens ergeben Iesus und Xristus stehen fuumlr insgesamt 961 Woumlrter oder 409 Die haumlufigsten dieser Namen waren wohl weit verbreitet andere jedoch eher selten oder unbekannt Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 181 oder 543 der Lexeme und 77 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich sind die meisten von ihnen im 3 Kap Lukas und 7 Kap Nehemia enthalten Ein gotisches Erzeugnis sind fuumlnf Woumlrter die davon abgeleitet sind aber zum Teil mit gotischem Material jedoch mit griechischen Woumlrtern als Vorbild fwnikiskssbquo Φοινίκισσα phoumlnikischrsquo judaiwisks sbquoἰουδαϊκός juumldischrsquo iudaiwisko sbquoἰουδαϊκῶς auf juumldische Weisersquo iudaiwiskon sbquoἰουδαΐζειν juumldisch lebenrsquo und galiugaxristus sbquoψευδόχριστος falscher Christusrsquo Diese sind hier gezaumlhlt und ergeben 6 Woumlrter Hierunter gibt es auch 8 unvollstaumlndige Woumlrter Aze[ris] Neh 745 Bethorn[saiumldan] Mt 1121 Iohan[nes] Jh 1118 Kafarna[um] Mt 1123 [Iairu]salem LkG 2413 [Herode]s LkG 2312 [Peilata]u LkG 2311 und [Seidon]e Mt 1121

Insgesamt umfassen die Fremdwoumlrter 475 Lexeme 869 Typen und 3447 Tokens Das ist 131 der Lexeme 925 der Typen und 5 der Tokens

Zur Uumlbersicht diene folgende Tabelle

Tokens Typen LexemeTollenaere Jones 67438 9462CBG 68174 9408 3613Ohne Hinzufuumlgungen

67876 9391 3612

Tab 2 Vergleich von Tollenaere Jones CBG und Text ohne Hinzufuumlgungen

22 Der Umfang einzelner Handschriften

Die oben behandelten Zahlen sind im Vergleich mit den Handschriften nicht ganz genau da darin einige Konjekturen mitgerechnet sind wie bereits erwaumlhnt wurde Es ist jedoch auch nicht einfach die Woumlrter und Buchstaben in Handschriften zu zaumlhlen Ist ƕa|ƕazuh ein Wort oder zwei Besteht der Fehler darin daszlig der Schreiber erst die ersten Silbe ƕa geschrieben hat und dann das ganze Wort ƕazuh oder hat er erst das Wort ƕa und dann das Wort ƕazuh geschrieben Wie viele Buchstaben

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sind in sīd (= sind) erhalten Ist der Nasalstrich ein selbstaumlndiger Buchstabe oder sollte er als eine Variante von n (und m) angesehen werden Dazu kommen auch die Ligaturen und die Abkuumlrzungen von nomina sacra Wenn die Woumlrter in den Paralleltexten nur einmal gezaumlhlt werden betraumlgt das Resultat 59623 Tokens 9363 Typen und 311498 Buchstaben

Die Zahlen in Tab 3 gelten fuumlr den Umfang des editierten Textes aus einzelnen Handschriften Nasalstriche Ligaturen und nomina sacra sind aufgeloumlst

Tokens Typen Bstaben Tok BstCod Arg (incl F Spir) 35338 5673 178777 520 503Cod Ambr A (incl Kal) 15247 3978 82126 224 231Cod Ambr B 13649 3519 74478 201 209Cod Ambr E (Skeireins) 1957 867 10764 29 30Cod Carolinus (Rom) 597 338 3102 09 09Cod Ambr D (Nehemia) 483 286 2730 07 08Cod Ambr C (Matth) 346 202 1728 05 05Urkunde von Neapel 113 31 689 02 02Gotica Veronensia 62 43 299 009 008Cod Gissensis 33 32 188 005 005Cod Vindobonensis 30 25 135 004 004Urkunde von Arezzo 21 19 126 003 003

67876 355142 9991 100Tab 3 Tokens Typen und Buchstaben in einzelnen Handschriften

Hier kann man sehen daszlig die Texte von Codex Argenteus Codices Ambrosiani AndashE und Codex Carolinus zusammen 996 des gotischen Textes ausmachen unabhaumlngig davon ob man von der Woumlrter- oder Buchstabenzahl ausgeht aber die Buchstabenzahl ist ein bisschen zu hoch (die Nasalstriche und Ligaturen sind aufgeloumlst) Dann wird auch klar daszlig der Teil der Codices Ambrosiani A und B etwas ansteigt wenn man von der Buchstabenzahl ausgeht (die Briefe haben ein bisschen laumlngere Woumlrter) Die letzen fuumlnf Bruchstuumlcke sind geradezu erstaunlich klein sie machen nur 04 aus

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In Tab 3 wird das Folium Spirense als ein Teil des Codex Argenteus gezaumlhlt Es enthaumllt 142 Woumlrter und 110 Wortformen sowie 819 Buchstaben Um diese Zahl wurde der gotische Text im Jahre 1970 vermehrt Von diesen Wortformen sind 18 nicht anderswo belegt Davon sind drei ἅπαξ λεγόμενα aber nur ein neues Morphem farw sbquoGestaltrsquo

Neue Lexeme Neue Wortformenagljai Mk 1618 (agljan sbquoβλάπτω schadenrsquo) farwa Mk 1612 (farw n sbquoμορφή Gestaltrsquo) ingibe Mk 1618 (ingif n ingifs m sbquoθανάσιμον toumldliches Giftrsquo)

afargaggandeins Mk 1620 afargaggithorn Mk 1617 afdomjada Mk 1616 drigkaina Mk 1618 gasaiƕandam Mk 1614 gaskaftai Mk 1615 gawaurstwin Mk 1620 idweitida Mk 1614 niujaim Mk 1617 tulgjandin Mk 1620 ufdaupithorns Mk 1616 ungalaubein Mk 1614 uslagjand Mk1618 usnumans Mk 1619 waurmans Mk 1618

Tab 4 Neue Lexeme und Wortformen im Folium Spirense

Mit dem Codex Ambrosianus A (und Taurinensis) ist der Kalender gezaumlhlt Darin sind 79 Tokens (meistens Zahlzeichen) 65 Typen und 426 Buchstaben Dies macht 05 des Textes in A aus wenn man von Tokens oder Buchstaben ausgeht aber 15 von den Typen aus gesehen Die ἅπαξ λεγόμενα sind meistens Namen Bairaujai 1911 (Bairauja) Batwin 2910 (Batwins) bilaif 2910 (bileiban oder was) Daurithornaius 611 Frithornareikeis 2310 Jiuleis inc11 Kustanteinus 311 Naubaimbair inc11 und Werekan 2910 (Wereka) Einige Wortformen kommen nur hier vor aipisks 611 auszliger wenn man es als aipiskaupaus oder -us aufgeloumlst ist das einzige Beispiel fuumlr den GSg von aipiskaupus (zwar hat der Kalender -us im GSg von u-Staumlmmen auszliger bei Filippaus 1511) althornjono (1911 Konjektur fuumlr althornjano) fullaizos 2910 gabrannidai 2910 papan 2910 Nicht belegt ist weiter Gutthorniuda 23 2910 An dieser Stelle steht auch Andriiumlns 2911 aber Andraiiumlns in Mk 129 und DSg Jairupulai 1511 im Vergleich mit Iairaupaulein KolAB 413

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Die Urkunde von Arezzo enthaumllt die ἅπαξ λεγόμενα frabauhtaboka und husis (hus Konjektur fuumlr hugsis) aber gudhus ist im Codex Argenteus beleget auszligerdem die Namen Gudilub Alamoda und Kaballarja Die einzigen eigentlichen ἅπαξ λεγόμενα in der Urkunde von Neapel sind die Namen Ufitahari Sunjafrithornas Merila und Wiljarithorn die Urkunde ist zugleich das einzige Dokument das alamothorns (alamoda) sbquoVertreterrsquo hat und die Wortformen andnemum saiwe wairthorn und das Lehnwort kawtsjo sbquocautiorsquo sind nicht in anderen Dokumenten vorhanden Den beiden Urkunden gemeinsam sind die Wortformen ufmelida (ufmeljan sbquounterschreibenrsquo) und skilliggans (skilliggs sbquosolidus Schillingrsquo) Die Morpheme sind doch weitgehend bekannt

Die Gotica Veronensia enthalten als einzige Quelle die Wortform blothornarinnandin (fuumlr -ein 713) aber der NSg ist in Mt 920 belegt Die Formen horans und motarjans (1930) sind Konjekturen und die belegten Formen horos und motarjos sind aus einigen Beispielen bekannt Interessant ist auch die Form martwrans (2769) die es wahrscheinlich macht daszlig man in Kal 23 2910 marwtre in martwre korrigieren sollte

Nur im Codex Vindobonensis 795 ist die Form libaida sbquoἔζησε lebtersquo erhalten aber am interessantesten ist hier vielleicht das Zahlzeichen uarr fuumlr 900

Der Codex Gissensis enthaumllt als einziger die Wortformen bairhtaim (LkG 2311) und ufkunthornedeina (LkG 2416) ein neues Wort ist dort jedoch nicht zu finden

Diese kleinen Bruumlckstuumlcke stellen keine groszligen Zusaumltze zu unserer Erkenntnis der gotischen Morphologie dar aber etwas ist nur dort belegt Da die gotischen Quellen so eingeschraumlnkt sind muss man immer beachten was belegt ist und was nicht

23 Die am haumlufigsten vorkommenden Woumlrter

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 S335 und 337 erstellen auch eine Liste der 6 Woumlrter die eine so groszlige Frequenz aufweisen daszlig jedes von ihnen mehr als 1 des gesamten Textes ausmacht Diese 6 Woumlrter sind jah in ni du izwis und ithorn Sie gehen von Typen aus aber wenn man von Lexemen und deren Varianten ausgeht (zB jah jab jad jag jal jam jan jar jas jathorn) und Flexionsformen zusammenstellt ergibt dies 14 Lexeme

Ostgermanische Morphologie 157

TollenaereJones MSn 2006Type Zahl Lexem Zahl Typen

jah 4429 65 jah 4479 66 (10)sa 3090 45 (17)

in 2315 34 in 2340 34is 2162 32 (17)

wisan 1947 29 (49)ni 1507 22 ni 1527 225 (2)

qithornan 1195 176 (39)izwis 873 13 jus 1094 16 (4)

du 1061 16 du 1058 156saei 1040 15 (18)

ik 970 14 (4)alls 728 11 (14)guthorn 690 10 (3)

ithorn 688 10 ithorn 685 10Tab 5 Die haumlufigsten Woumlrter im Vergleich mit TollenaereJones

Diese 14 am haumlufigsten vorkommenden Lexeme ergeben insgesamt 23997 Tokens oder 353 des ganzen Textes Zwar macht izwis fuumlr sich genommen noch 13 des Textes aus (867 Beispiele) die Form hat jedoch zwei Funktionen Akkusativ und Dativ und unterscheidet sich deswegen von den anderen Woumlrtern in der Liste von TollenaereJones Es stuumlnde zwischen ik und alls Die flektierten Woumlrter werden unten weiter eroumlrtert

Solche Informationen zur Wortfrequenz muumlssten miteinbezogen werden falls die Absicht darin bestuumlnde einem Computer Gotisch beizubringen Ich habe jedoch die Tatsache nicht beruumlcksichtigt daszlig einige dieser Flexionsformen eines Lexems haumlufig vorkommen waumlhrend andere nur sehr selten vorkommen oft nur einmal Es ist auch so daszlig das was im gotischen Text vorkommt von der griechischen Vorlage bestimmt ist Diese Informationen sagen uns jedoch etwas daruumlber wie der gotischen Text zusammengesetzt ist

3 Was wissen wir von gotischer MorphologieDie gotischen Quellen ermoumlglichen es uns trotz ihrer oben diskutierten Eingeschraumlnktheit das morphologische System des Gotischen relativ gut zu kennen Es ist den Systemen der anderen uns bekannten altgermanischen

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Sprachen weitgehend aumlhnlich wobei es allerdings altertuumlmlicher ist und Kategorien bewahrt die in den anderen germanischen Sprachen verloren gegangen sind

31 Die Substantive

Das am haumlufigsten vorkommende Nomen ist guthorn sbquoGottrsquo was fuumlr einen biblischen Text natuumlrlich nicht erstaunlich ist Eigentlich geht es hier um 4 Typen guthorn guthorna guthorns und guda Die Substantive weisen drei Genera auf und werden in vier Kasus und zwei Numeri dekliniert Der fuumlnfte Kasus der Vokativ faumlllt meistens mit dem Nominativ zusammen hat aber in einigen Deklinationsklassen im Singular dieselbe Form wie der Akkusativ (aiund-Staumlmme) Der Vokativ als selbstaumlndiger Kasus ist in den anderen germanischen Sprachen nicht uumlberliefert Ein Substantiv im Gotischen kann also houmlchstens acht verschiedene Kasusformen aufweisen wobei viele im Vokativ nicht belegt sind (und aus semantischen Gruumlnden nicht zu erwarten waumlren) Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen sind 23 (9 Maskulina 8 Neutra 6 Feminina) Diese werden hier aufgefuumlhrt und dabei zeigen skalks und sunus den Vokativ

Maskulinum Neutrum Femininum

manna ndash 350 Mann sunus ndash 295 Sohn atta ndash 252 Vater dags ndash 198 Tag ahma ndash 193 Geist brothornar ndash 176 Bruder hlaifs ndash 74 Brot skalks ndash 58 Knecht praufetus ndash 50 Prophet

waurd ndash 210 Wort waurstw ndash 102 Werk hairto ndash 93 Herz barn ndash 84 Kind namo ndash 81 Name mel ndash 70 Zeit waldufni ndash 67 Gewalt frathorni ndash 17 Verstand

managei ndash 143 Menge mahts ndash 94 Macht frawaurhts ndash 90 Suumlnde thorniuda ndash 59 Volk aikklesjo ndash 58 Gemeinde qino ndash 46 Weib

Tab 6 Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen nach der Frequenz geordnet

Auch sollten in diesem Zusammenhang Beispiele wie aba (29) sbquoEhemannrsquo genannt werden wo der APl nicht belegt ist obgleich die Form abans einmal als NPl vorkommt Es ist eindeutig daszlig es keine direkte Beziehung gibt zwischen der Zahl der Beispiele und dem was von dem Paradigma belegt ist Von frathorni gibt es zB nur 17 Beispiele aber von frauja sbquo(der)

Ostgermanische Morphologie 159

Herrrsquo 450 doch ist der GPl fraujane nicht belegt Von guthorn fehlen der D und GPl

32 Die Adjektive

Die Adjektive werden stark und schwach dekliniert wie in den anderen altgermanischen Sprachen auch Fuumlr kein Adjektiv ist das komplette Paradigma uumlberliefert Das Pronominaladjektiv alls sbquoallrsquo zeigt die starken Formen wird aber nicht schwach dekliniert Es fehlt hier der GSgm da von den 33 Tokens des Types allis 6 zum GSgn und 27 zur Konjunktion allis gehoumlren

33 Die Pronomina

Alle 24 Flexionsformen des Demonstrativpronomens sa sbquoder dieserrsquo sind belegt Wegen des Synkretismus wuumlrde man 15 verschiedene Formen erwarten es tauchen jedoch 17 auf Die zwei zusaumltzlichen Formen sind die Variante thornizei (11) im GPlm amp n fuumlr thornize (122) und thornat- (17) im N amp ASgn fuumlr thornata (485) in thornatist und thornatain

Die Flexionsformen des Relativpronomens saei sbquoderrsquo betragen 23 wobei der GPlf nicht belegt ist (thornizoei) Von dieser Form abgesehen waumlren 14 verschiedene Formen zu erwarten es tauchen jedoch 18 auf Die 4 zusaumltzlichen Formen sind thornane (1) im ASgm fuumlr thornanei (69) thornize (9) im GSgm amp n fuumlr thornizei (39) thornizeiei (1) im GPlm fuumlr thornizeei (18) und thornoze (1) im APlf fuumlr thornozei (13) Von den Tokens von thornatei houmlren 206 zum Relativpronomen saei und weitere 443 zur Konjunktion thornatei sbquodaszligrsquo von den 109 Tokens von thornammei gehoumlren 92 zum Pronomen aber 17 zur Konjunktion von den 51 Tokens von thornizei gehoumlrt ein zur Konjunktion die anderen wurden bereits oben behandelt Die Konjunktion thornatei thornammei thornizei weist damit 461 Tokens auf

Die Flexionsformen des Personalpronomens issiita sbquoersieesrsquo betragen 22 der APln ist nicht belegt sollte aber mit dem N uumlbereinstimmen ija das gleiche gilt fuumlr den NPlf der dem A entsprechen sollte ijos Zu erwarten waumlren 15 verschiedene Formen es tauchen jedoch 17 auf Die zusaumltzlichen Formen sind imm- (2) im DSgm fuumlr imma (595) in immuh und izei (3) im GPlm fuumlr ize (115) Von den 23 Tokens von izei gehoumlren dann 20 zu dem Relativpronomen izei sbquoderrsquo mit 14mal ize von 129 Mit den 48 Tokens von sei betragen die Tokens von diesem Pronomen 82 Von den 514 Tokens von is sind 139 NSgm 320 GSgm sowie 7 GSgn und 48 sind die 2PSg

Magnuacutes Snaeligdal160

von wisan Von den 479 Tokens von im sind 341 DPlm 17 DPln sowie 9 DPlf und 112 sind die 1PSg von wisan

Zu jus sbquoihrrsquo (176 + juz 1) werden izwis (867) und 50 Tokens von izwara gezaumlhlt weitere 66 gehoumlren zum Pron izwar Die Formen der 2PSg betragen 414 und die des Du 8 insgesamt fuumlr die Pronomina der zweiten Person 1516 (22)

Zu ik sbquoichrsquo (324) werden mik (271) mis (360) und 15 Tokens von meina gezaumlhlt weitere 64 houmlren zum Pron meins Die Formen der 1PDu sind 8 und der Pl 368 insgesamt fuumlr die Pronomina der ersten Person 1346 (2)

34 Die Verben

In der Konjugation hat das Gotische zwei Kategorien bewahrt die sonst in den germanischen Sprachen nicht vorkommen Diese Kategorien sind der Dual und das Passiv (nur im Praumlsens auch sollte hier die dritte Person Singular und Plural Imperativ genannt werden) Dualformen gibt es nur wenige ndash 32 Tokens von 24 Typen ndash und sie kommen am meisten im Lukas- und Markus-Evangelium vor Es fehlen verschiedene Formen zB der Optativ Praumlteritum Das Passiv wird jedoch haumlufig gebraucht Dafuumlr gibt es insgesamt 331 Tokens (05) von 190 Typen (2) von 144 Verben Die Verben die am haumlufigsten im Passiv vorkommen sind bigitan sbquofindenrsquo (10 Tokens 3 Typen 5 Kategorien) und haitan sbquonennenrsquo (25 Tokens 5 Typen 6 Kategorien) Die Beispiele sind folgendermaszligen auf Personen Numeri und Modi verteilt

1 2 3IndSg 11 4 142 Pl 14 10 36

OptSg 13 6 60 Pl 10 8 17

Tab 7 Die Anzahl und Distribution der Passivformen

Fuumlr kein Verbum ist das komplette Paradigma uumlberliefert aber die haumlufigsten sind wisan sbquoseinrsquo und qithornan sbquosagenrsquo

Von wisan sind 49 Typen belegt die 40 Stellen im Paradigma ausmachen Dabei gibt es wie man sieht verschiedene Varianten Wenn wir vermuten daszlig dieses Verb kein Passiv keinen Imperativ und kein Partizip Praumlteritum gehabt hat fehlen auf jeden Fall 7 finite Dualformen Vorhanden sind dann 25 Formen von 32 wegen des Synkretismus (was) sollten sie 31 sein Im Partizip

Ostgermanische Morphologie 161

Praumlsens sind 15 Stellen von 24 gefuumlllt Dort gibt es 11 (12) verschiedene Formen die jedoch 14 betragen sollten Dazu kommt dann noch der Infinitiv Insgesamt sind 40 Stellen von 57 (70) abgedeckt oder 36 Wortformen von 46 (78)

1 wisan svInf wisan

pers 1 2 3Prindsg im is ist nist

du siju sijutspl sijum sium sijuthorn siuthorn siud sind

optsg sijau siau sijais siais sijai siaidu sijaiwa sijaitspl sijaima sijaithorn sijaid sijaina

Ptindsg was wast wasdu wesu wesutspl wesum wisum wesuthorn wesun weisun

optsg wesjau weisjau weseis weiseis wesidu weseiwa weseitspl weseima weseithorn weseina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSgm wisands -a wisandan wisandin wisandinsPlm wisandans wisandans wisandam wisandaneSgn wisando wisando wisandin wisandinsPln wisandona wisandona wisandam wisandaneSgf wisandei wisandein wisandein-din wisandeinsPlf wisandeins wisandeins wisandeim wisandeino

Tab 8 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von wisan

In dem Paradigma von qithornan gibt es 124 Stellen (wenn man die 1PDuImp mitzaumlhlt vermutlich qithornos) Es waumlre auch moumlglich die 1 amp 2PDu amp Pl nicht mitzuzaumlhlen da diese immer gleich dem Indikativ sind Die Paradigmastellen betruumlgen dann 120 Doch ist auch die Variante qithornanata im PzPtNASgn moumlglich und vielleicht die schwache Form qithornanda im PzPrNSgm Belegt sind 39 Typen die 39 Stellen abdecken (man beachte jedoch die Konjektur qithornando die eigentlich zu qithornano gezaumlhlt werden sollte) Ungefaumlhr 32 der Stellen sind gefuumlllt Mit Komposita koumlnnen weitere

Magnuacutes Snaeligdal162

sieben Stellen gefuumlllt werden insgesamt 37 Von dem zweithaumlufigsten Verb sind also nur ungefaumlhr ein Drittel der Formen belegt

qithornan sv5Inf qithornan

Pers 1 2 3Pr Ind Sg qithorna qithorn- qithornis qithornithorn

Du qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornid qithornand

Opt Sg qithornau qithornais qithornaiDu qithornaiwa qithornaitsPl qithornaima qithornaithorn qithornaina

Imp Sg qithorn qithornadauDu qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornandau

Pass Ind Sg qithornada qithornaza qithornadaPl qithornanda qithornanda qithornanda

Opt Sg anaqithornaidau qithornaizau qithornaidauPl qithornaindau qithornaindau qithornaindau

PtIndSg qathorn qast qathornDu qethornu qethornutsPl fauraqethornum qethornuthorn qethornun

Opt Sg qethornjau qethorneis qethorniDu qethorneiwa qethorneitsPl qethorneima qithorneithorn qethorneina qithorneina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSg m qithornands -a qithornandan qithornandin qithornandinsPl m qithornandans fraqithornandans qithornandam qithornandaneSg n qithornando qithornando qithornandin qithornandinsPl n qithornandona qithornandona qithornandam qithornandaneSg f qithornandei qithornandein qithornandein qithornandeinsPl f qithornandeins qithornandeins qithornandeim qithornandeino

Ostgermanische Morphologie 163

PzPt

Sg m sw

qithornans qithornana

faurqithornanana qithornanan

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl m sw

fraqithornanai fraqithornanans

qithornanans qithornanans

qithornanaim fraqithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg n sw

qithornan -ata qithornano

qithornan -ata qithornano

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl n sw

qithornana qithornanona

qithornana qithornanona

qithornanaim qithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg f sw

qithornana qithornano

qithornana qithornanon

qithornanai qithornanon

qithornanaizos qithornanons

Pl f sw

qithornanos qithornanons

qithornanos qithornanons

qithornanaim qithornanom

qithornanaizo qithornanono

Tab 9 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von qithornan

4 Was wir nicht wissenAn dieser Stelle moumlchte ich Folgendes einfuumlgen Wenn ich einen islaumlndischen Text analysiere dann kenne ich zB den ASg aethgang und ich weiszlig daszlig der NSg aethgangur heiszligt (bdquoZutrittldquo) Auch kann ich jemanden fragen oder in einem Woumlrterbuch nachschlagen falls ich im Zweifel bin Wenn ich einen gotischen Text analysiere kann ich nicht wissen welchen Nominativ der ASg atgagg hat wenn er nicht im Text vorkommt ist er atgagg n oder atgaggs m Die erste Form stuumltzt sich auf gagg DSgAPl gagga Die zweite Form ist auch moumlglich vgl Isl aber wenn so wie war das Wort dann eigentlich dekliniert War es ein a- oder ein i-Stamm In solchen Faumlllen stuumltzt man sich auf die anderen germanischen Sprachen wenn das Wort dort belegt ist Das kann jedoch problematisch sein Im Gotischen findet man zB DSg sinthorna und DPl sinthornam Ist der NSg sinthorn n wie Isl sinn oder sinthorns m wie Ahd sind sbquoMalrsquo Weiter kann man an einem Beispiel wie wahtwom (Lk 28) nicht sehen ob es ein ō-Stamm oder ein ōn-Stamm ist NSg wahtwa oder wahtwo sbquoWachersquo Schlieszliglich nenne ich ein Beispiel wie gards sbquoHausrsquo Im Gotischen liegt ein i-Stamm vor aber garethur ist ein a-Stamm im Islaumlndischen und Westgermanischen was wahrscheinlich urspruumlnglicher ist Gotisch bewahrt nicht immer das Aumllteste Man kann sagen daszlig wir das Deklinationssystem der Gotischen im Groszligen und Ganzen kennen Die Schwierigkeit besteht eher darin daszlig

Magnuacutes Snaeligdal164

wir wegen der begrenzten Quellen nicht ohne weiteres sagen koumlnnen wie jedes gotisches Wort dekliniert wurde

Es ist auch ein gewisses Problem daszlig der Text meistens nur in einer Handschrift uumlberliefert ist Deswegen ist es oft unmoumlglich zu sehen ob ein Schreibfehler vorliegt oder nicht vgl(3) ἰδοὺ ἐξῆλθεν ὁ σπείρων τοῦ σπεῖραι Mk 43 (CA) sai urrann sa saiands du saian Ver 2235 bi thornatei qithornithorn sai urrann saianltdsgt du saltigtan Luther Siehe es ging ein Saumlmann aus zu saumlen Elberfelder Siehe der Saumlmann ging aus um zu saumlen Lk 85 urrann saiands du saian

In diesem Fall waumlre der Artikel in Gotischen nicht zu erwarten da der Saumlmann hier zum ersten Mal genannt wird (vgl Lk 85) Vielleicht bewahrt die veronesische Randglosse (Gotica Veronensia) hier die urspruumlngliche Form aber der Schreiber des Codex Argenteus hat einen Fehler gemacht Er schrieb erst sa und dann das ganze Wort saiands Im Zweifelsfall kann sa auch ein selbstaumlndiges Wort sein Ist dies die Silbe sa oder das Morphem sa

Noch ein Beispiel(4) Joh 1816ndash17 16 hellip thornaruh usiddja ut sa siponeis anthornar saei was kunthorns thornamma gudjin jah qathorn daurawardai jah attauh inn Paitru 17 thornaruh qathorn jaina thorniwi so daurawardo du Paitrau

16 hellip ἐξῆλθεν οὖν ὁ μαθητὴς ὁ ἄλλος ὃς ἦν γνωστὸς τῷ ἀρχιερεῖ καὶ εἶπεν τῇ θυρωρῷ καὶ εἰσήγαγεν τὸν Πέτρον 17 λέγει οὖν ἡ παιδίσκη ἡ θυρωρός τῷ Πέτρῳ

16 hellip Da ging der andere Juumlnger der dem Hohenpriester bekannt war hinaus und sprach mit der Tuumlrhuumlterin und fuumlhrte Petrus hinein 17 Da spricht die Magd die Tuumlrhuumlterin zu Petrus

Hier ist es wahrscheinlich daszlig daurawardo ein Schreibfehler fuumlr daurawarda ist von so verursacht aber selbstverstaumlndlich ist es nicht ausgeschlossen daszlig beide Formen im Gotischen uumlblich waren Aber da wir hier nur eine Handschrift haben ist es schlichtweg unmoumlglich ein endguumlltiges Urteil zu faumlllen Im Fall des jan-Stamms waurstwja sbquoἐργάτης Arbeiterrsquo der 17 Mal vorkommt gibt es auch aber nur einmal den reinen n-Stamm waurstwa (1 TimA 518) Bevor man dies als Schreibfehler

Ostgermanische Morphologie 165

verurteilt sollte man gawaurstwa (13) sbquoσυνεργός Mitarbeiterrsquo und die Moumlglichkeit von wrakja (8) wraka (5) sbquoδιωγμός Verfolgungrsquo uumlberlegen Hier leben anscheinend ein jō-Stamm und ein ō-Stamm Seite an Seite vgl die folgenden Parallelstellen(5) 2 Tim 311ndash12

2 TimA 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakjos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

2 TimB 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

In einigen wenigen Faumlllen gibt es unverstaumlndliche Formen die in Morpheme zerlegbar sind aber deren Wurzeln ganz isoliert sind ZB

(6) a Phlm 22

bijandzuthorn thornan manwei mis salithornwos ἅμα δὲ καὶ ἑτοίμαζέ μοι ξενίαν Zugleich aber bereite mir auch eine Herberge

b 2 ThessB 32

jah ei uslausjaindau af gastojanaim jah ubilaim mannam καὶ ἵνα ῥυσθῶμεν ἀπὸ τῶν ἀτόπων καὶ πονηρῶν ἀνθρώπων und daszlig wir errettet werden von den schlechten und boumlsen Menschen

Im ersten Fall ist die Form bijands problematisch Sie scheint ein Partizip Praumlsens zu sein aber wie kann ein solches Partizip das griechische ἅμα uumlbersetzen Zu erwarten waumlre das Adverb samana sbquozusammen zugleichrsquo Dieses bij- ist ganz isoliert auszliger falls es ein Schreibfehler fuumlr bidjandz- ist das bliebe ebenfalls eine merkwuumlrdige Uumlbersetzung

Im zweiten Fall geht es um gastojanaim Eigentlich scheint es ein starkes Partizip Praumlteritum des schwachen Verbs (ga)stojan sbquo(be- ver-) urteilenrsquo zu sein Semantisch waumlre dies wieder eigentuumlmlich Das griech Adj ἀτόπος ist sonst zweimal im Neuen Testament belegt (Lk 2341 und Apg 286) aber beide Stellen sind im gotischen Korpus verloren gegangen

Zum Schluss nenne ich das Beispiel des Verbs kaurjan βαρεῖν druumlckenrsquo wo die Quellen die Frage nicht beantworten koumlnnen ob der Stamm lang oder

Magnuacutes Snaeligdal166

kurz ist Die entscheidenden Formen kaurjiskaureis kaurjithornkaureithorn sind nicht belegt (vgl Snaeligdal 2002 S37) Die Konjugationsklasse einiger Verben ist auch unsicher

In der Lemmatisierung der CBG habe ich diese Probleme bdquogeloumlstldquo indem ich einfach die Form die ich als die wahrscheinlichste dachte als Grundform gewaumlhlt habe Dabei ist immer klar ob die Form belegt ist oder nicht

5 Zum SchlussIm Project Wulfila (httpwwwwulfilabegothicbrowse) kann man durch Anklicken die grammatische Analyse jedes Wortes haben Es waumlre wuumlnschenswert einen annotierten Text herzustellen denn dann koumlnnte man nach grammatischen Kategorien suchen hier zum Beispiel fuumlr Phlm 11ndash134

(7) Phlm 11hellip ithornltCgt nultDgt thornusltRP DS thornugt jahltCgt misltRP DS ikgt bruksltA NSM bruksgt THORNanuhltRD ASM sahgt insandida ltV XAI1S insandjan gt Phlm 12 ithornltCgt thornultRP NS thornugt inaltRP ASM isgt thornat-ltRD NSN sagt istltV PAI3S wisangt meinosltA APF meinsgt brustsltN APF brustsgt meinaltA APN meinsgt h[air]thornraltN APN hairthornragt andnimltV PAD2S andnimangt Phlm 13 thornaneiltRR ASM saeigt ikltRP NS ikgt wildaltV XAI1S wiljangt atltPgt misltRP DS ikgt gahabanltV PAN gahabangt eiltCgt faurltPgt thornukltRP AS thornugt misltRP DS ikgt andbahtidediltV XAO3S andbahtjangt inltPgt bandjomltN DPF bandigt aiwaggeljonsltN GSF aiwaggeljogt

Am besten sollte ein solcher Text mit dem annotierten Text der griechischen Vorlage kombinierbar sein

(8) Phlm 11 hellip νυνὶ ltDgt δὲ ltCgt σοὶ ltRP DS σύgt καὶ ltCgt ἐμοὶ ltRP DS ἐγώgt εὔχρηστον ltA ASM εὔχρηστοςgt Phlm 12 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἀνέπεμψα ltV AAI1S ἀναπέμπωgt σὺ ltRP NS σύgt δὲ ltCgt αὐτόν ltRP ASM αὐτόςgt τοῦτrsquo ltRD NSN οὗτοςgt ἔστιν ltV PAI3S εἰμίgt τὰ ltRA APN ὁgt ἐμὰ ltA APN ἐμόςgt σπλάγχνα ltN APN σπλάγχνονgt προσλαβοῦ ltV AMD2S προσλαμβάνομαιgt Phlm 13 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἐγὼ ltRP NS ἐγώgt ἐβουλόμην ltV IMI1S βούλομαιgt πρὸς ltPgt ἐμαυτὸν ltRP ASM ἐμαυτοῦgt κατέχειν ltV PAN κατέχωgt ἵνα ltCgt ὑπὲρ ltPgt σοῦ ltRP GS σύgt μοι ltRP DS ἐγώgt διακονῇ

4 Erklaumlrung der Abkuumlrzungen ltCgt = Konjunktion ltDgt = Adverb ltPgt = Praumlposition ltRP DSgt = Personalpronomen Dativ Singular ltRD ASMgt = Demonstrativpronomen Akkusativ Singular Maskulinum ltA NSMgt = Adjektiv Nominativ Singular Maskulinum ltN DPFgt = Nomen Dativ Plural Femininum ltV XAI1Sgt = Verb Praumlteritum Aktiv Indikativ erste Per-son Singular usw im Griechischen zB ltV AAI1Sgt = Verb Aorist Aktiv Indikativ erste Per-son Singular ltV AMD2Sgt = Verb Aorist Medium Imperativ zweite Person Singular usw

Ostgermanische Morphologie 167

ltV PAS3S διακονέωgt ἐν ltPgt τοῖς ltRA DPM ὁgt δεσμοῖς ltN DPM δεσμόςgt τοῦ ltRA GSN ὁgt εὐαγγελίου ltN GSN εὐαγγέλιονgt

LiteraturBennett William H (1960) The Gothic Commentary on the Gospel of John skeireins aiwaggeljons thornairh iohannen A Decipherment Edition and Translation New York The Modern Language Association of America (Monograph series XXI)

Ebbinghaus Ernst A (1990 2003) lsquoThe Question of Visigothic Runic Inscriptions Re-examinedrsquo in General Linguistics 41990 (Band 30) The Pennsylvania State University (Neudruck (2003) in Ebbinghaus Ernst A Gotica Kleine Schriften zur gotischen Philologie Piergiuseppe Scardigli mdash Wolfgang Meid (eds) Innsbruck S 180-188) S 207-214

Snaeligdal Magnuacutes (2002) lsquoGothic kaurus lsquoheavyrsquo and its cognates in Old Norsersquo in NOWELE 2002 (Band 41) Odense University Press of Southern Denmark S 31-43

Snaeligdal Magnuacutes (22005) A Concordance to Biblical Gothic I Introduction Texts II Concordance Reykjaviacutek University of Iceland Press

Streitberg Wilhelm (61971) Die gotische Bibel Erster Teil Der gotische Text und seine griechische Vorlage Mit Einleitung Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleineren Denkmaumllern als Anhang Sechste unveraumlnderte Auflage Zweiter Teil Gotisch‑Griechisch‑Deutsches Woumlrterbuch Heidelberg Carl Winter Universitaumltsverlag

Tiefenbach Heinrich (1991) lsquoDas wandalische Domine misererersquo in Historische Sprachforschung 21991 (Band 104) GoumlttingenZurich Vandenhoeck amp Ruprecht S 251-268

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Magnuacutes Snaeligdal Professor of General Linguistics School of Humanities University of Iceland Saeligmundargoumltu 2 IS-101 Reykjaviacutek Iceland hreinnhiis

Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology

Luděk Vaciacuten

The present paper studies the status and role of the sun-god in Mesopotamian royal ideology It scrutinizes the development of the sun-godrsquos image from Early Dynastic times until the Old Babylonian period and discusses its depen-dence on current ideological schemes The focus of the paper is the Ur III image of the sun-god in this period the deification of kings resulted in a merge of king and sun-god with the former replacing the latter Since this merge was a by-product of the notion of divine kingship it was abandoned during the Old Babylonian period together with the concept of royal divinity as a whole in favour of traditional ideology

Ancient Near Eastern royal ideology is one of the most complex important and interesting issues for any scholar in the field as it sheds light on the ways used in that region for millennia to justify the rule of peoples by a single man the monarch1 The fundamental importance of legitimacy for a ruler is amply documented in a wealth of written and material sources which record various ideas of kingship and its sacred basis eg royal inscriptions date formulae ideologically charged literary compositions statues reliefs stelae etc Thus the theme of royal ideology offers a wide range of topics to focus on This brief paper deals with the relationship between the king and the sun-god specifically with the attribution of some of the sun-godrsquos features to the king in Ur III Mesopotamia2 Its basic substance is much indebted to a more general article by Claudia Fischer at the end of which the author states that one of the aims of her paper was lsquoto provide impetus for other researchers to explore the themes presented here or to offer their

1 Despite a number of studies on the royal ideologies of ancient Near Eastern cultures their changes over the time and their adaptation to the needs of certain dynasties or even individual rulers the only monograph attempting to cover this huge theme in all its com-plexity is still Henri Frankfortrsquos seminal but outdated book (Frankfort 1978) 2 I am grateful to D Schwemer for suggesting this topic to me For a general characteri-sation of early Mesopotamian royal ideology see Postgate 1995 395-403 407 Cf Edzard 1972-5 Krecher 1976-80 Caplice - Heimpel 1976-80 Edzard 1980-3a Edzard 1980-3b Cf further the recent volume containing several illuminating articles on divine kingship Brisch 2008

Luděk Vaciacuten172

own interpretationsrsquo3 The present article is a response to that call refining several points Fischer made and discussing some additional ones

First we shall review the most important aspects and functions of the sun-god in general The solar god (Utu in Sumerian and Šamaš in Akkadian) is attested in tandem with another astral deity the moon-god (Nanna in Sumerian and Sursquoen in Akkadian) already in archaic texts from Uruk and Ur and subsequently in all the later god lists But despite the importance of the object that he represented the sun-god did not attain the kind of prominence in myth and ritual enjoyed by the moon-god in the third mil-lennium Perhaps this can be explained by the significance of the moon for the calendar the influence of moon phases on ebb and flow and fertility of crops and livestock (sowing crops and mating animals were by preference done during moon waxing) on the mental state of humans (especially women during menstruation) and possibly also by the similarity of moon phases with the course of human life Thus unlike the Egyptian one the early Mesopotamian sun-god stood in the shadow of the moon-god but it does not mean at all that he was always seen as subordinate to the moon-god

He was venerated in the majority of Mesopotamian cities for millennia the centres of his cult being his temple complexes in Larsa and Sippar both called Ebabbar (lsquoThe Shiny Housersquo) His aspects and functions were deter-mined by the obvious features and activities of the solar disc The sun dis-pels darkness and thus wards off danger and evil Its rays reach every corner of the world Accordingly UtuŠamaš was the omniscient god who saw and knew everything while tirelessly roaming the universe day and night he was the guardian and overseer of cosmic order These two capacities made him the natural guarantee of justice the divine supreme judge and the patron of travellers This basic picture of the Mesopotamian sun-god is present in a number of literary compositions which often elaborate on it sometimes over several hundred lines Among the most telling examples are a Sumerian incantation to Utu and the Akkadian Šamaš Hymn4 We will briefly summarize the characteristics of the sun-god described in these texts as it is important for our subsequent discussion of royal ideology

The initial (and lengthy) part of the Sumerian incantation to the sun-god invokes him as the source of light and juridical authority It proceeds to extol him as a protector of animals and humans He inspects the universe and guards orphans and widows Without him there would be no justice

3 Fischer 2002 133 4 For an edition of the former see Alster 1991 For the latter see Lambert 1960 121-38

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 173

no river ordeal no regalia no kingship the cultic personnel would not be selected wild animals would not catch their prey people would not get their sustenance fowlers and fishermen would not catch anything weavers would not make cloth people would not be able to live and die they would not be able even to recognize each other it would not be pos-sible to wage war there would be no order in Sumer no one would take care of the poor Significantly this section ends with an image of the poor and homeless as well as widows and orphans again directing their eyes towards Utu and seeking assistance (cf Alster 1991 30f)

The Akkadian Šamaš Hymn represents the most comprehensive summary of Mesopotamian solar theology It praises the sun-god as the provider of light who brings blessings to the fields and illumines the mountains He herds all breathing creatures he is the guardian of all above and below crossing the skies unceasingly All mankind bows low to him and longs for his radiance His words are righteous decrees he stands by pilgrims walking difficult roads protects merchants from storms shows shelter to refugees and supports captives His ultimate juridical authority is glorified by the examples of a remorseless judge whom he punishes and a prudent judge whom he makes oversee the palace and live among princes Another example is that of a deceitful merchant whose fraudulence loses him his assets and an honest merchant whose fairness gains him everything in a good measure Šamaš is futher extolled as a protector of those who are away from their homes and therefore weakened hunters travellers even highwaymen

The above functions of the sun-god are apparently a sum of an ideal kingrsquos features Hence already some Old Sumerian semi-legendary as well as historical rulers strove for Utursquos support and called him lsquotheir lordrsquo Meskiaĝgašer of Uruk was the lsquoson of Utursquo according to the Sumerian King List5 Similarly the ruler of Uruk Enmerkar (Meskiaĝgašerrsquos son in the SKL) is the lsquoson of Utursquo in several literary compositions6 He is even referred to as the lsquosun-god of the landrsquo in lsquoEnmerkar and the Lord of Arattarsquo (line 309) The sun-god further acts as a protector and helper of Lugalbanda and Gilgameš in literature pertaining to them7 He also helps his brother-in-law

5 For the sake of brevity we refer only to the ETCSL treatment of the majority of Sumerian texts discussed in this paper The reader will find references to the respective critical edi-tions there See ETCSL 211 lsquoThe Sumerian King Listrsquo lines 96f 6 See ETCSL 1823 lsquoEnmerkar and the lord of Arattarsquo passim 1822 lsquoLugalbanda and the Anzud birdrsquo passim 1821 lsquoLugalbanda in the mountain caversquo passim 7 For the tales of Lugalbanda see the previous note Concerning the Sumerian tales of Bilgames see especially ETCSL 1815 lsquoGilgameš and Huwawa (version A)rsquo passim 18151

Luděk Vaciacuten174

Dumuzi escape the netherworld demons8 However it must be stressed that we do not know the extent to which Old Sumerian compositions might have been altered by the time of the manuscripts on which they are extant today Indeed some of them show signs of the moon-godrsquos superiority over the sun-god not ascertainable in texts from earlier times9 Therefore literary texts dealing with the above rulers cannot be taken as a reflection of the relationship between an Old Sumerian ruler and the sun-god with-out due caution Finally king Lugalzagesi who unsuccessfully attempted to create the first territorial state in Mesopotamia called himself the one lsquonamed by Utursquo and the lsquomilitary governorrsquo of Utu stressing the sun-godrsquos warlike aspect also present in the first section of the Sumerian incantation summarized above (cf Fischer 2002 130f with references)

As we have seen in Early Dynastic times the sun-god played the usual roles of divine father guardian and helper for the king Such functions were ful-filled by many major as well as minor deities throughout Mesopotamian history But in this case the sun-godrsquos capacity to take care of those far from home on dangerous missions and his heroic aspect came to the fore10 However apart from the unique attestation concerning Enmerkar no one seems to have attempted to appropriate that aspect for himself and thus become an lsquoearthly sun-godrsquo dispossessing the heavenly one

The situation changed fundamentally when the Old Akkadian king Narāmsursquoen held sway over Mesopotamia His deification meant that he himself became a heroic god and protective deity of Akkad His reign is the likely point of time when the sun-god became the moon-godrsquos son and thus

lsquoGilgameš and Huwawa (version B)rsquo passim 1814 lsquoGilgameš Enkidu and the nether worldrsquo passim For the Akkadian Gilgameš Epic see George 2003 8 See ETCSL 143 lsquoDumuzidrsquos dreamrsquo passim 141 lsquoInanarsquos descent to the nether worldrsquo lines 368-83 9 Particularly the father-son relationship referred to in line 152 (lsquohero Ningalrsquos sonrsquo) of lsquoLugalbanda in the Mountain Caversquo line 238 (lsquoyoung warrior Utu the son born by Ningalrsquo) of lsquoBilgames Enkidu and the Netherworldrsquo and Utursquos obvious subordination to Nanna in line 206 (lsquoFather Nanna gives the direction for the rising Utursquo) of lsquoLugalbanda in the Moun-tain Caversquo are typical features of the post-Sargonic solar theology The notion that the sun-god was a son of the moon-god seems to have originated during the reign of Narāmsursquoen Further the fact that the sun-god was regarded as a lsquominorrsquo deity in Sargonic and Ur III times speaks for itself See Fischer 2002 130 with nn 37 and 39 10 With regard to the kingrsquos person these two features can be seen as closely connected because war was definitely one of the dangerous missions in which the king would have needed the sun-godrsquos protection as well as his military prowess Hence it is not surprising that Utu was the divine father of adventurous rulers of the heroic age and that he should have chosen Lugalzagesi a king with imperial aspirations

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 175

the superiority of Nanna-Sursquoen over UtuŠamaš was established11 The sun-god was suppressed precisely because his characteristics perfectly fitted the image of an ideal king now a deity The most striking act of Narāmsursquoenrsquos displacement of the sun-god was the erection of his famous victory stela depicting the king as a martial god climbing a mountain (a posture used for astral deities in visual art mainly glyptic) in the sun-godrsquos city Sippar (perhaps even in his temple) in celebration of the kingrsquos new status the victorious sun-god of his land (Fischer 2002 131)

One might surmise that the act of assuming features proper to a deity could be a way of glorifying that deity rather than suppressing it The logic would more or less be that lsquoimitation is the sincerest form of flatteryrsquo This does not seem to apply to our case however Imitation might function as a form of glorification when the imitator was human (as in the case of Hammurāpi and other later kings see below) But Narāmsursquoen was divine He not only took over functions from the sun-god but also presented him-self in a posture normally reserved to the latter Thus what he did amounts to the substitution of one deity (the sun-god) with another (himself)

The kings of the Ur III dynasty adopted many measures formerly used by Old Akkadian monarchs to create and sustain an empire and this one was no exception In fact it was only natural for rulers coming from the moon-godrsquos city to turn Nanna into the most important astral deity and con-versely apply the sun-godrsquos features to the king at the expense of Utursquos cult Accordingly the old tradition of Nanna as Enlilrsquos son was revived and fixed in myth12 whereas Utursquos heroic and juridical aspects were appropriated by the king While the former event took place during the reign of Urnamma the second occurred under Šulgi in connection with his deification and was

11 See Fischer 2002 128 and n 19 130 and n 37 Note that in pre-Sargonic tradition the sun-god was regarded as Anrsquos or Enlilrsquos son12 See Krebernik 1993-7 364 for evidence of the Abū Ṣalābīkh tradition of Enlil and Ninlil as Nannarsquos parents (ref courtesy AR George) For a detailed discussion of the Ur III genealogy of Nanna see Klein 2001 especially 283f where he deals with the myth lsquoEnlil and Ninlilrsquo (ETCSL 121) describing the rape of the virgin goddess by Enlil which resulted in the birth of Nanna-Sursquoen as the first-born son of Enlil Klein states (2001 284) lsquoWe get the impression that the theologians of Urnammu or Šulgi who composed this piquant myth were at utmost pain to prove the firstborn status of Suen probably to refute a contradicting theological traditionrsquo Note however that Klein missed the ancient tradi-tion regarding Nanna as a son of Enlil when he ascribed the lsquoearliest explicit references to NannaSuen as Enlilrsquos sonrsquo (2001 280 see also 289ff 296 n 93) to Urnamma It is clear that Urnamma merely revived the old genealogy very suitable for his political goals indeed and developed it accordingly

Luděk Vaciacuten176

fully developed by the end of Amarsursquoenarsquos reign13 Although the king is never equated with Utu in royal hymns the sun-godrsquos inferiority is made clear by calling him the kingrsquos lsquobrother and friendrsquo (like Gilgameš)14 That is the result of the kingrsquos identity with Dumuzi on the mythological level which made him the husband of Inana and thus the brother-in-law of Utu The kingrsquos intimate relationship with Utursquos sister was undoubtedly responsible for Utursquos regular cult in the palace along with Inanarsquos and Nin-egalrsquos (a hypostasis of Inana) while his cult at Ur beyond the palace was only marginal and he was never worshipped along with his father in Ur III times (Fischer 2002 130 cf Sallaberger 1993 223 n 1061 tab 75 in vol 2) Utursquos lower status and the kingrsquos takeover of his functions are further apparent in a hymnal simile comparing Šulgi to the rising sun15 Utu is otherwise referred to in the Šulgi hymns as a provider of martial prowess and strength in battle often in his capacity of the kingrsquos companion and constable of the gods16 a further sign of his ancillary status Interestingly Šulgi seems to have appropriated Utursquos juridical aspect only indirectly The king as supreme judge was identified with Ištarān17 not with Utu but his characteristics are the same as Utursquos given in compositions pertaining to 13 The place name dŠulgi-dUtuki (lsquoŠulgi is the sun-godrsquo) given by Fischer (2002 132) as evi-dence for the kingrsquos explicit identification with Utu already by the time of Šulgi is inconclu-sive for we know of a site called dŠulgi-dNannaki as well See Edzard - Farber 1974 18414 Šulgi A line 79 Šulgi B lines 40 123 See Klein 1981 198f ETCSL 24202 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi B)rsquo Although the bulk of Ur III royal hymns is preserved on Old Babylonian tablets and therefore the possibility that the original Ur III traditions were dis-torted by Old Babylonian traditions always has to be reckoned with it does not seem that the tradition with which we are dealing here was subject to any distortion The hymnal evidence is corroborated not only by a piece of Ur III visual evidence (see n 16 below) but also by Ur III administrative texts coupling the offerings brought to Utu in the palace to those delivered on behalf of Inana and Ninegal for an interpretation of which see above Further divine Amarsursquoena was called lsquothe sun-god of his landrsquo in a royal inscription (see below) surely intact by any later tradition15 Šulgi C line 25 iri-ĝu10 dutu-gin7 ba-ta-egrave-egraven (lsquoI rose over my city like Utursquo) ETCSL 24203 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi C)rsquo 16 The bestowal of glory in battle and even of kingship in the land is the main theme of the fragmentary adab () hymn to Utu (Šulgi Q) ETCSL 24217 lsquoAn adab () to Utu for Šulgi (Šulgi Q)rsquo Could this hymn have been composed for use in the palace cult mentioned above Note also that Šulgi is depicted on a seal given by him to his consort Gemeninlila in the posture taken up by Narāmsursquoen on his victory stela and therefore as a victorious divine king in an astral dimension For a drawing of the seal see Mayr - Owen 2004 167 no 2 Noteworthy is also that Šulgi lsquoascended to heavenrsquo upon his death according to a contemporary administrative record and that there was a lsquostar of Šulgirsquo in Old Babylonian lexical tradition See Horowitz - Watson 1991 410f 413 17 This could have resulted from political considerations because Ištarān a deity of foreign origin (perhaps Elamite) was the city-god of Dēr a strategic centre at the unstable north-eastern fringe of the statersquos core territory Thus the king may have attempted to

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology 177

the sun-god18 The final step in this development was taken by Šulgirsquos suc-cessor Amarsursquoena who called himself explicitly lsquothe righteous god the sun-god of his landrsquo (see Frayne 1997 263 E321316)

The concept of the king taking over some of the sun-godrsquos functions con-tinued after the demise of the Ur III kingdom in the Isin-Larsa period but as it was closely tied to the deification of kings it gradually disappeared together with divine kingship itself Although eg Hammurāpi called him-self the lsquosun-god of Babylonrsquo the lsquosun-god of his peoplersquo and the one desig-nated lsquoto rise like Šamaš over the black-headed ones to illuminate the landrsquo (Fischer 2002 132 Beckman 2002 39f with references) these references should be taken as metaphorical for the Old Babylonian king was not dei-fied In other words he imitated the sun-god in his capacity of a protec-tor of the people and supreme judge but unlike Narāmsursquoen and some of the Ur III kings he did not and could not strive to replace him because he lacked the necessary precondition to do so ie he did not consider himself a divine being Thus in stark contrast to the depictions of divine kings Narāmsursquoen and Šulgi on his famous law code stela Hammurāpi was depicted as a respectful servant of the sun-god The textual references to Hammurāpi as sun-god can be interpreted as a form of flattery for a human king imitating a deity undoubtedly glorifies the latter This is also the case with similar passages in the inscriptions of later Mesopotamian kings because though they also adopted the idea of the rulerrsquos close bond with the sun-god they never attempted to replace him

Thus the post-Ur III period kings were just earthly reflections of the great astral deity symbolizing stability harmony justice and order ie the values inherent in the sun-godrsquos daily and immutable movement across the sky (cf Fischer 2002 132f)

show his desired unequivocal sovereignty over that area by means of identifying himself with Ištarān in his propagandistic texts 18 The most telling example comes from Šulgi X lines 142-9 lsquoHe the Ištaran of Sumer the omniscient one from birthfor the land he renders a firm judgementfor the land he obtains firm decisions(so that) the strong does not oppress the weakthe mother says pleas-ing (words) to her sonthe son speaks truth to his fatherunder him Sumer is filled with abundanceUr abounds in prosperityrsquo Klein 1981 144f

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Luděk Vaciacuten Department of the Near and Middle East Faculty of Languages and Cultures School of Oriental and African Studies University of London ludekvacinseznamcz

ERRATA ET CORRIGENDAIm Artikel bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo von Šaacuterka Velhartickaacute im Chatreššar 2006 wurden ohne Absprache und Zustimmung der Autorin zahl-reiche Aumlnderungen vorgenommen Der Korrektor hatte vor allem den urspruumln-glichen Titel des Artikels geaumlndert (zu bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) womit der Eindruck entsteht es gaumlbe mehrere Versionen dieses Rituals Die Autorin behaumllt sich vor den Artikel unter seinem urspruumlnglichen und kor-rekten Titel in Zukunft zu zitierenEin weiterer Fehler besteht darin dass der Korrektor in allen Faumlllen den Deter-minativ vor dem Wettergott statt bdquoDldquo auf bdquoDUldquo aumlnderte (in zwei Faumlllen auf DIM S 83) wodurch die Transkription unverstaumlndlich wurde An vielen Stellen kam es zu Veraumlnderungen bei der Schreibung der Kursive und umgekehrt und es gibt auch Fehler bei den Hochschreibungen In dem Kommentar zur Uumlbersetzung des hethitischen DUGpahhunalli- hatte der Korrektor willkuumlrlich die Uumlberset-zung der Autorin veraumlndert Daneben wurden auch mehrere Saumltze veraumlndert

Die Redaktion bedauert die oben genannten Veraumlnderungen Die Autorin stellt die korrekte und urspruumlngliche Version des Artikels allen Interessenten gern zur Verfuumlgung (velhartickacentrumcz) Diese ist auch unter httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf zu finden

V člaacutenku bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo Šaacuterky Velhartickeacute v Chat-reššaru 2006 byly bez vědomiacute a souhlasu autorky učiněny četneacute korektury Korektor pozměnil předevšiacutem titul člaacutenku (na bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) čiacutemž vznikaacute dojem že existuje viacutece verziacute tohoto rituaacutelu Autorka si vyhrazuje praacutevo citovat v budoucnu tento člaacutenek pod jejiacutem původ-niacutem a spraacutevnyacutem naacutezvem

Dalšiacute chyba spočiacutevaacute v tom že korektor ve všech přiacutepadech pozměnil determi-nativ před bohem bouřky z bdquoDldquo na bdquoDUldquo (ve dvou přiacutepadech na DIM s 83) čiacutemž se transkripce stala nesrozumitelnou Na mnoha miacutestech došlo ke změ-naacutem ve psaniacute kurziacutevy a opačně a vyskytly se chyby v psaniacute horniacuteho indexu V komentaacuteři k překladu chetitskeacuteho DUGpahhunalli- pozměnil korektor sveacutevolně autorčin překlad Vedle toho byly pozměněny i četneacute věty

Redakce vyslovuje politovaacuteniacute nad zmiacuteněnyacutemi uacutepravami Autorka poskytne raacuteda spraacutevnou a původniacute verzi člaacutenku k dispozici všem zaacutejemcům (velhar-tickacentrumcz) Tu je možneacute vyhledat i na straacutenkaacutech Uacutestavu srovnaacutevaciacute jazykovědy (httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf)

Chatreššar 2009

Edited by the Institute of Comparative Linguistics

Charles University in Prague Faculty of Arts

ISSN 1803-005X

EDITORIAL BOARDJost Gippert Goethe University Frankfurt aMHans Christian Luschuumltzky University of ViennaPetr Vavroušek Charles University PragueMartin Worthington University of CambridgeAndrzej Zaborski University of CracowPetr Zemaacutenek Charles University Prague

EXECUTIVE EDITORSJan Bičovskyacute Pavel Čech

PROFILE

Chatreššar is a scholarly peer-reviewed journal dedicated to publishing original research in the fields of Indo-European and Semitic linguistics and philology especially for ancient languages Areas of interest include comparative linguistics cultural history sociolinguistics electronic corpora and computational linguistics lexicography and other subjects Chatreššar is published in the form of a printed book selected articles will be accessible on-line depending on the authorsrsquo consent English summaries will be available on-line along with information on the contributors Chatreššar has been published yearly since 1997

More details on the journal including the journals policy information on the submission procedure as well as the purchase possibility can be found at httpenlilffcuniczchatressar

Page 6: Chatreššar 2009 - Univerzita Karlovausj.ff.cuni.cz/system/files/chatrssar2009.pdfJan Bičovský Pavel Čech Published by the Charles University in Prague, Faculty of Arts. Printed

International Conference on Morphology and Digitisation

Free University of Berlin7 and 8 July 2007

Preface

International Conference on Morphology and Digitisation

On the 7 and 8 July 2007 an International Conference on Morphology and Digitisation was held at the Free University of Berlin covering several scientific fields in addition to linguistics in which the concept of morphology plays an important role The topics of the papers ranged from basic linguistic subjects to the structure of clouds The interdisciplinary character of the conference together with the innovative combination of morphology and digitisation enabled the participants to launch test baloons without the obligation of submitting articles for publication The result of this liberty was that many of the high fliers disappeared from the screen whilst others kept on mdash and keep on mdash growing and a few participants have finally submitted a printable text Six articles that have been received by Phillip Chilson Jost Gippert Hans Henrich Hock Chung-Shan Kao and Thorwald Poschenrieder Rosemarie Luumlhr and Magnus Snaeligdal are published in the following pages of Chatreššar Our thanks are due to Petr Vavroušek and his team who fostered the publication of the articles in the journal and Thorwald Poschenrieder who co-organized the conference in Berlin

Matthias Fritz Jost Gippert

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie

Phillip B Chilson ndash Christa Chilson

How does one understand the concept of morphology in the field of meteorology It depends upon whom you ask The Glossary of Meteorology published by the American Meteorological Society (AMS 2000) simply states bdquoA study of the structure form or shape of meteorological phenomena such as clouds or ice crystalsrdquo Here we explore morphology not only in this context but also in the context of the dynamical evolution that brings about these structures How one perceives structure is critically dependent upon the spatial and temporal scales of interest For example it is possible to describe the structures in clouds over 100lsquos of kilometers as seen from satellites or the fractal dimensionality of clouds over scales of 100lsquos of meters or even the distribution of individual cloud particles over scales of 100lsquos of millimeters The same principle holds for atmospheric dynamics Large-scale atmospheric motions eventually release their energy to smaller and smaller scales in a cascade effect until all that remains is the thermal motions of molecules in the form of heat These concepts are discussed while drawing upon several examples taken from actual meteorological phenomena such as fine-scale turbulence the formation of snowflakes atmospheric waves and the atmospheric boundary layer

KurzfassungWie ist der Begriff der bdquoMorphologierdquo im Rahmen der Meteorologie zu verstehen Nun da kommt es darauf an wen man fragt Das bdquoGlossary of Meteorologyrdquo (herausgegeben von der Amerikanischen Meteorologischen Gesellschaft AMS 2000) nennt schlicht folgendes Morphologie ist die Untersuchung des inneren Aufbaus der Anordnung oder der aumluszligeren Gestalt von meteorologischen Erscheinungen wie beispielsweise Wolken oder Eiskristalle In diesem Beitrag soll die Morphologie nicht allein in diesem Zusammenhang erkundet werden als vielmehr auch im Hinblick auf die dynamischen Entwicklungsvorgaumlnge welche zu diesen Erscheinungen fuumlhren Wie man eine Erscheinung wahrnimmt haumlngt entscheidend davon ab welche raumlumlichen und zeitlichen Ausdehnungen betrachtet werden So lassen sich beispielsweise Wolken-Formationen die sich uumlber hunderte von Kilometern erstrecken so beschreiben wie man sie vom Satelliten aus wahrnimmt oder die fraktalen Dimensionen in den Wolken uumlber hunderte von Metern oder gar die Verteilung einzelner Wolkenteilchen im 100-

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson12

Millimeter-Bereich Dasselbe gilt im Grunde fuumlr die Bewegungen in der Atmosphaumlre Die Energie groszligraumlumiger atmosphaumlrischer Bewegungen wird in einer Art Kaskade an nachfolgende Bewegungen von immer kleineren Maszligstaumlben abgegeben bis schlieszliglich alles in die Bewegungsenergie von Molekuumllen in Form von Waumlrme umgewandelt ist Solche Betrachtungen werden in diesem Beitrag vorgestellt dazu werden reichlich Beispielfaumllle beigezogen die von echten Wetter-Phaumlnomenen stammen wie die Turbulenz im kleinen Maszligstab die Formation von Schneeflocken die atmosphaumlrischen Wellen und die atmosphaumlrische Grenzschicht

1 Einfuumlhrung Bevor wir uns dem Thema der Morphologie in der Meteorologie widmen soll uns zuerst ein kurzer geschichtlicher Ruumlckblick uumlber die Verbundenheit des Menschen mit Wetter und Natur darauf vorbereiten Schon seit jeher wohnt dem Menschen ein ungemeines Interesse fuumlr das Wetter und die damit verbundenen Vorgaumlnge inne Das ist natuumlrlich keine Uumlberraschung wenn man bedenkt wie eng sein Uumlberleben und Wohlbefinden an die natuumlrlichen Gegebenheiten wie Hitze und Kaumllte Regen und Duumlrre sowie stuumlrmisches und ruhiges Wetter gebunden sind Gewisse sich wiederholende Vorgaumlnge des Wetters sind sicherlich schon sehr fruumlhzeitig erkannt worden und zwar nicht nur die taumlglichen Zyklen betreffend sondern auch jene die nur nach einem laumlngerem Zeitraum wiederkehren So folgten den kalten und unfruchtbaren Monaten des Winters die warmen und fruchtbaren Zeitraumlume des Fruumlhjahrs In bestimmten Gegenden mit erheblichen jaumlhrlichen Niederschlaumlgen folgte die mit Sehnsucht erwartete Regenzeit den Duumlrreabschnitten Durch das Beobachten und Wahrnehmen dieser Vorgaumlnge wurde es dem Menschen moumlglich sich den Bedingungen des Wetters anzupassen So erkannte er beispielsweise die Notwendigkeit in klimatisch mildere Gegenden zu ziehen oder sich im Lande auf das Kommen des Winters vorzubereiten Wahrscheinlich wurde durch die langjaumlhrig gesammelten Beobachtungen auch eine gewisse Erwartung oder Vorfreude auf das Wiederkehren bestimmter natuumlrlicher Vorgaumlnge erweckt wie zum Beispiel auf das Kommen des Fruumlhlings einer Regenzeit oder den Segen einer fruchtbaren Ernte In vielen Kulturen waren diese Ereignisse mit groszligen Feierlichkeiten verbunden

Nachdem der Mensch die der Natur innewohnenden Vorgaumlnge lange beobachtet hatte richtete er nun sein Interesse darauf die Naturkraumlfte welche solche Schauspiele bereiteten zu verstehen Er fragte sich nach den Hintergruumlnden der rhythmischen Veraumlnderungen in seiner Umgebung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 13

Gewoumlhnlicherweise wurde das Geschehen in der Natur irgendeinem uumlbernatuumlrlichen Wesen zugeschrieben welches auszligerdem meist noch als launenhaft oder sogar rachbegierig wahrgenommen wurde Diese Auffassung war im Einklang mit den unberechenbaren und oft verheerenden Geschehnissen in der Natur Wurden die Goumltter nicht bei guter Laune gehalten dann lieszligen sie ihren Zorn in der Form von schlechtem Wetter oder Naturkatastrophen an den Menschen aus Infolgedessen strebten jene fruumlhgeschichtlichen Voumllker danach mit den Goumlttern in Harmonie und Ausgeglichenheit zu leben So wurden den Goumlttern Gebete und Opfer dargebracht um sie zu besaumlnftigen und bei Laune zu halten Auszligerdem wurden feierliche Rituale durchgefuumlhrt mit dem Ziele guumlnstiges Wetter herbeizufuumlhren

Mit der Zeit verstand man dass viele Vorkommnisse in der Atmosphaumlre von denen man vorher annahm dass sie zufaumlllig waumlren durchaus erklaumlrbar waren So erkannte man die entsprechenden Vorboten fuumlr viele verschiedene Wetterverhaumlltnisse Man koumlnnte eigentlich sagen dass die Wetterkunde nichts weiter ist als eine gruumlndliche Untersuchung von erkennbaren sich wiederholenden Verhaltensmustern und Erscheinungen Der Bauer wie auch der Seemann der den Himmel scharf beobachtete konnte Wetterentwicklungen anhand von Wolkenformationen und Windverhaumlltnissen voraussagen Die erworbene Weisheit wurde an die naumlchste Generation weitergegeben und bildete somit die Grundlage fuumlr eine umfangreiche Geschichte der Wetterfolklore Diese Tradition hat eine lange Liste von Wetterweisheiten hervorgebracht Hier nur einige Beispiele

Bei rotem Mond und hellem Sterne sind Gewitter gar nicht fernebull Abendrot ndash Gutwetterbotrsquo ndash Morgenrot mit Regen drohtbull Hof um den Mond bedeutet Regen Hof um die Sonne groszlige Stuumlrmebull Steigt der Rauch ganz gerade nach oben bleibt das Wetter lange schoumlnbull Geht die Sonne feurig auf folgen Wind und Regen draufbull Je weiszliger die Schaumlfchen am Himmel gehrsquon je laumlnger bleibt das Wetter schoumlnbull

Natuumlrlich sind solche Weisheiten nicht immer oumlrtlich uumlbertragbar Sie entsprechen nicht unbedingt der absoluten Wahrheit sind aber oft eine gute Annaumlherung daran und basieren auszligerdem auf meteorologisch bewiesenen Grundsaumltzen

Manchmal wurden jenen Leuten die die Faumlhigkeit besaszligen Naturgeschehen richtig zu deuten groszlige Bedeutung beigelegt Nehmen wir Aumlgypten als Beispiel Die Zivilisation konnte in dieser Gegend wegen des nahrhaften

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson14

Bodens auf Grund der alljaumlhrlichen Uumlberflutung des Nils gut gedeihen Dieses Geschehen war von solch groszligem Stellenwert dass man es dem Gott Hapi der fuumlr Fruchtbarkeit stand zuschrieb Die Priester dieser Zeit erkannten dass das abendliche Erscheinen des Sterns Sirius mit dem Beginn der Uumlberschwemmung des Nils zusammentraf Sie waren Priester aufgrund der Bedeutsamkeit ihrer Beobachtungen aber heute wuumlrde man sie als Gestirnforscher beschreiben

Obwohl die zuvor erwaumlhnten Bauern Seeleute und Priester in der Lage waren Verhaltensmuster in der Natur zu erkennen und diese meteorologischen Phaumlnomenen zuzuschreiben verstanden sie doch nicht unbedingt die dahinterliegenden Mechanismen und waren sich nicht im Klaren daruumlber inwieweit wirkliche Verbindungen bestanden So deuteten sie also die Ursachen und Wirkungen nicht immer richtig Im Falle der Uumlberschwemmung des Nils war die eigentliche Ursache nicht der Erscheinen des Sirius sondern der Einbruch der Regenzeit im aumlthiopischen Hochland Mit der Zeit hing die Deutung von Verhaltensmustern im Wetter immer weniger vom Zufall ab und es gelang immer mehr die zugrundeliegenden Verhaumlltnisse zu verstehen In diesem Zusammenhang werden wir nun mit der Untersuchung der Morphologie in der Meteorologie beginnen

2 Qualifizierende Wetter-Verhaltensmuster Die griechische Sehensweise Viele Zivilisationen haben erstaunliche Geschichten daruumlber wie sie begannen beobachtete Verhaltensmuster in der Natur zu quantifizieren Allerdings wollen wir hier nur auf eine einzige solche Zivilisation naumlher eingehen naumlmlich die der Griechen Es bietet sich an die Griechen hierfuumlr auszuwaumlhlen zumal sie ja die Grundsteine fuumlr die heutigen westlichen Zivilisationen gelegt haben Die alten Griechen begannen schon im Jahre 800 v Chr die Zusammenhaumlnge innerhalb ihrer eigenen Umgebung sehr genau zu uumlberdenken Man muumlsste allerdings einschraumlnken dass ein systematisches Herangehen an diese Sache erst in der Zeit des Aristoteles (384 ndash 322 v Chr) stattfand Aristoteles ist fuumlr viele bedeutende Erkenntnisse beruumlhmt geworden Fuumlr unsere Eroumlrterung hier ist vor allem sein groszliges Werk die Meteorologica von entscheidender Bedeutung In diesem Werk versuchte er verschiedene atmosphaumlrische Phaumlnomene wie beispielsweise Blitz Wolken Wind Regenboumlgen und auch Meteore zu quantifizieren Aristoteles argumentierte so wie andere Griechen vor ihm dass jegliche Materie aus folgenden vier Grundelementen bestehe Feuer Luft Wasser und Erde Eigentlich glaubte man noch an ein fuumlnftes Element naumlmlich den Aumlther der der Baustoff der himmlischen Materie sei Den Aumlther verstand

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 15

man als ein Medium in dem alles vorhanden sein konnte denn man glaubte nicht daran dass die Natur aus einem Vakuum bestehen koumlnnte

Aristoteles glaubte dass alle meteorologischen Erscheinungen mit den vier Elementen erklaumlrt werden koumlnnten Sein Verstaumlndnis der Meteorologie ging weit uumlber das Wetter hinaus Es schloss alles ein was von oben auf die Erde kam oder uumlber der Erdehingldquo Jedes der vier Elemente wurde mit zwei der folgenden vier Eigenschaften in Verbindung gebracht heiszlig kalt nass und trocken (siehe Abbildung 1 zur Veranschaulichung) Auszligerdem glaubte man dass alle Elemente umwandelbar seien was durch Ablaumlufe der Kondensation und Verduumlnnung bewirkt werde Die Umwandlungen wuumlrden sich an bestimmte Richtlinien halten So wuumlrde sich also verduumlnnte Luft in Feuer umwandeln kondensierte Luft wiederum in Wind Wolken und Wasser Wasser koumlnnte sich dann weiter verfestigen und zu Erde werden Schlieszliglich gebe es eine klare Rangordnung der Elemente die dazu diente alles in Bewegung zu halten Feuer wuumlrde uumlber andere Elemente aufsteigen und Erde wuumlrde hinuntersinken Wasser wuumlrde uumlber Erde aufsteigen aber nicht uumlber Luft die Luft wiederum wuumlrde uumlber Wasser aufsteigen aber nicht uumlber Feuer Aus diesem Grunde wuumlrden sich die Wolken uumlber der Erde bilden und ebenso die Luftblasen im Wasser

Abbildung 1 Wechselbeziehungen zwischen den Elementen der Materie gemaumlszlig Aristoteles

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Aristoteles gemaumlszlig konnte sich die Luft zu Wasser kondensieren und dann als Regen auf die Erde fallen Das gleiche galt fuumlr den Tau der allerdings nicht herunterfallen musste Diese Ansichten erklaumlrten die verschiedenen Phasen von Wasser aber uumlber das Vorkommen von Hagel im Sommer war Aristoteles etwas verbluumlfft Seine Auffassungen waren gewiss sehr erfin-derisch und schoumlpferisch auch wenn sie letztendlich falsch waren Diese Anschauungen herrschten noch 2000 Jahre nach seinem Tod vor und behinderten sogar die Entwicklung der atmosphaumlrischen Wissenschaft Erst durch Galileo Galilei wurden die aristotelischen Ansichten verdraumlngt und durch ein neues Wissenschaftsverstaumlndnis ersetzt

3 Wetterverhaltensmuster uumlber raumlumliche und zeitliche SkalenUm eine vollstaumlndige Einsicht uumlber die Rolle der Morphologie innerhalb von Wettersystemen zu erzielen ist es notwendig zuerst uumlber die unglaublich weitreichenden raumlumlichen und zeitlichen Ausmaszlige nachzudenken Zum Beispiel muss man fuumlr weite raumlumliche und lange zeitliche Skalen atmosphaumlrische Bewegungen ins Auge fassen deren Laumlngen mit dem Durchmesser der Erde vergleichbar sind und deren Zeiten in der Groumlszligenordnung von Tagen stehen Zu den wesentlichen Einfluumlssen in diesem Bereich gehoumlren die Erdumdrehung die ungleichmaumlszligige Erhitzung der Erde und die Verteilung von Landmassen und groszligen orographischen Erscheinungen Im anderen Extrem wenn man sich mit Vorgaumlngen im Millimeterbereich und mit Laufzeiten im Sekundenbereich beschaumlftigt wird es noumltig die molekularen Wechselbeziehungen der einzelnen atmosphaumlrischen Teilchen mit in Erwaumlgung zu ziehen Es gibt nicht nur eine Vielzahl von atmosphaumlrischen Prozessen sondern es muss auch beachtet werden dass diese sich gegenseitig beeinflussen

Anfangs hat es den Anschein dass es fast unmoumlglich sei die Atmosphaumlre in solch einem Ausmaszlig zu eroumlrtern Um Fortschritte im Verstehen der Atmosphaumlre und der dazugehoumlrigen Morphologie zu machen ist es entscheidend den Fragebereich in kleinere uumlberschaubare Untereinheiten zu zerlegen Dann besteht die endguumlltige Herausforderung darin die relative Bedeutung der einzelnen Faktoren die diese Untereinheiten beeinflussen richtig einzuschaumltzen Wenn man beispielsweise versucht die Staumlrke und Lage des Jetstreams in Europa waumlhrend der naumlchsten 24 Stunden vorherzusagen koumlnnte man auch den Einfluss der Getreidefelder in Bayern auf den niedrigen Wind mit einbeziehen aber dies waumlre nur

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ein minimale Beeinflussung Allerdings bietet es sich schon an die Oberflaumlchenerwaumlrmung der gleichen Getreidefelder zu beachten wenn man die allgemeinen Strukturen von konvektiven Wolken wie sie sich im Sommer bilden eroumlrtertBeim Unterteilen der Atmosphaumlre in Untereinheiten fanden es die Meteorologen zweckmaumlszligig mehrere allgemeine raumlumliche Skalen zu definieren Diese sind in Tabelle 1 aufgefuumlhrt Die vier Haupt- gruppierungen sind die planetarische Skala die synoptische Skala die Mesoskala und die Mikroskala aber wie man schon aus der Tabelle ersehen kann koumlnnen auch diese wiederum in weitere Untereinheiten zerlegt werden Um ein besseres Gefuumlhl fuumlr die raumlumlichen und zeitlichen Skalen zu bekommen und einige der damit verbundenen atmosphaumlrischen Erscheinungen zu erklaumlren haben wir Abbildung 2 eingefuumlgt Diese Abbildung wurde von Dr Czeckowsky am Max-Planck-Institut fuumlr Aeronomie (heute Max-Planck-Institut fuumlr Sonnensystemforschung) bereitgestellt Wie wir daraus ersehen koumlnnen haben kleine raumlumliche Erscheinungen entsprechende kurze zeitliche Skalen und umgekehrt Es waumlre nicht sinnvoll allgemeine Gleichungen zu erstellen die man uumlber den ganzen Bereich dieser Skalen verwenden wuumlrde Im Grunde formen jene verschiedenen Arbeitsgebiete die fundamentalen Bausteine der atmosphaumlrischen Analyse und die Grundlage fuumlr die Morphologie in der Meteorologie

Groumlszliger als Skala Name20000 km Planetarische Skala2000 km Synoptische Skala

200 km Meso-α Mesoskala20 km Meso-β Mesoskala

2 km Meso-γ Mesoskala200 m Mikro-α Turbulenz in der Grenzschicht

20 m Mikro-β Turbulenz in der Bodenschicht2 m Mikro-γ Turbulenz im Traumlgheitsbereich

2 mm Mikro-δ Kleinskalige TurbulenzLuftmolekuumlle Molekular Viskoser Dissipations-Teilbereich

Tabelle 1 Die raumlumlichen Groumlszligenordnungen bzw Skalenbereiche zum Beschreiben atmosphaumlrischer Phaumlnomene

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Im Folgenden zeigen wir zwei Beispiele in denen ein bestimmtes atmosphaumlrisches Phaumlnomen in der passenden Groumlszligenordnung analysiert wird Erwaumlgen wir zuerst die Entstehung und Ausbreitung eines Systems von Gewittern Gewitter koumlnnen erzeugt werden wenn warme feuchte Luft durch irgendeinen Vorgang nach oben gefuumlhrt wird Dieser Vorgang koumlnnte Oberflaumlchenerwaumlrmung oder die Einfuhr eines kalten dichten Luftstroms sein Wenn die Bedingungen richtig sind dann werden diese aufstroumlmenden Luftmassen durch Auftriebkraumlfte weiter nach oben gezogen Des Weiteren kuumlhlen sich die Luftmassen beim Aufsteigen wesentlich ab was zur Kondensation des verfuumlgbaren Wasserdampfes fuumlhrt Die Abgabe von Waumlrme bei diesem Vorgang erwaumlrmt die Luft noch weiter und foumlrdert die Aufwaumlrtsbewegung der Luftmassen Das Ergebnis ist ein starker Aufwind und eine rasche Kondensierung des Wasserdampfes was wiederum zur Praumlzipitation und zur Trennung elektrischer Ladungen fuumlhrt An der Erdoberflaumlche entsteht durch den Niederschlag ein Gebiet kalter Luftmassen welches aus dem Gewitter herausstroumlmt Wenn die vorherrschenden Bedingungen richtig sind dann kann dieser kalte Luftschub weitere Gewitter hervorrufen Alle soeben beschriebenen dynamischen und thermodynamischen Vorgaumlnge spielen sich innerhalb des Mesoskalenbereichs ab Wenn es jedoch notwendig wird die gesamten meteorologischen Bedingungen die fuumlr ein Gewitter bedeutsam sind zu erwaumlgen dann muumlssen wir auch auf Erscheinungen im synoptischen Skalenbereich zuruumlckgreifen Die zugrundeliegende atmosphaumlrische Physik ist in beiden Faumlllen die gleiche aber die analytischen Werkzeuge sind dem jeweiligen Skalenbereich angepasst Als zweites Beispiel betrachten wir die Staumldte-Meteorologie Man muss vielleicht vorhersehen koumlnnen wie ein Windfeld auf Gebaumlude oder Straszligenschluchten einwirkt aber es ist nicht einfach solche Wechselbeziehungen im Kleinskalenbereich zu ermessen Allerdings koumlnnen die gesamten im Mesoskalenbereich vorhergesagten Windfelder als Eingabe-Parameter fuumlr den erwuumlnschten Mikroskalenbereich verwendet werden Es koumlnnen sozusagen Vorgaumlnge die in verschiedenen Skalenbereichen ablaufen synergistisch uumlber ihre eigenen Grenzen hinaus miteinander verbunden werden

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Abbildung 2 Darstellung von gewoumlhnlichen Phaumlnomenen in der Atmosphaumlre innerhalb uumlblicher zeitlicher und raumlumlicher Skalen

Als ein Beispiel wie eine Kopplung sich uumlber Skalen hinaus in der Atmosphaumlre offenbart betrachten wir nun die Wechselbeziehungen zwischen dynamischen Vorgaumlngen wie sie innerhalb der planetarischen Grenzschicht uumlblich sind Wenn wir von der Grenzschicht sprechen meinen wir jenen Teil der Atmosphaumlre welcher in starker Beziehung zur Erdoberflaumlche steht und von Reibung und Waumlrmeeinwirkungen beeinflusst wird Uumlblicherweise ist die Dicke der Grenzschicht uumlber Land ungefaumlhr 100-200 m waumlhrend des Abends und ungefaumlhr 1-2 km waumlhrend des Tages Diese Werte haumlngen letztendlich von den allgemeinen atmosphaumlrischen Bedingungen und den Oberflaumlchen-Gegebenheiten ab Natuumlrlich ist die Grenzschicht ein houmlchst bedeutender Bereich der Atmosphaumlre wenn man bedenkt dass sie unser Lebensraum ist

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Besonders waumlhrend des Tages sind atmosphaumlrische Luftbewegungen innerhalb der Grenzschicht stark von der Turbulenz beeinflusst Die Turbulenz umfasst die chaotischen stochastischen Bewegungen in Fluumlssigkeiten und steht mit einer schnellen Aumlnderung von Druck Temperatur und Geschwindigkeit in Verbindung Die Geschwindigkeit der Fluumlssigkeit ist zu einem beliebigen Zeitpunkt bestaumlndig unregelmaumlszligigen Schwankungen ausgesetzt Aus diesem Grunde wird die Atmosphaumlre in der Meteorologie als eine Fluumlssigkeit betrachtet Wenn wir die atmosphaumlrische Turbulenz sehen koumlnnten dann wuumlrden wir eine Ansammlung von Wirbeln sehen die innerhalb eines raumlumlichen und zeitlichen Skalenbereichs angesiedelt sind Es waumlre offensichtlich dass diese Wirbel nebeneinander bestehen und bestaumlndig aufeinander einwirken Eine Darstellung dieser Wechselwirkungen von Wirbeln ist in Abbildung 3 zu sehen

Abbildung 3 Veranschaulichung atmosphaumlrischer Turbulenz

Stochastische Systeme wie sie in Turbulenzen vorkommen sind von Natur aus nicht deterministisch aber es koumlnnen trotzdem sinnvolle Parameter errechnet werden Da es unmoumlglich ist die Bewegungsablaumlufe von einzelnen Teilchen in einer Fluumlssigkeit zu berechnen haben sich Wissenschaftler zu einer statistischen Vorgehensweise entschlossen Nehmen wir an wir haben eine bestimmte Menge von Gas in einem festen Behaumllter von gleichbleibendem Volumen eingeschlossen Man hat herausgefunden dass hier die Waumlrmeenergie der gesamten Gasteilchen in einer Beziehung zur Temperatur des Gases steht Deshalb kann man zusammenfassend sagen dass die zufaumllligen Zusammenstoumlszlige der Teilchen mit der Wand des Behaumllters statistisch als Druck quantifiziert werden koumlnnen Tatsaumlchlich ist in diesem Beispiel der Druck einzig von der Temperatur abhaumlngig Die unmoumlgliche

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Aufgabe die Lage und die Geschwindigkeit der Gasteilchen zu verfolgen ist somit auf eine ganz einfache Gleichung zuruumlckgefuumlhrt worden naumlmlich P = ρ R T wobei P der Druck ist ρ die Dichte des Gases und R eine Konstante die sich auf das jeweilige Gas bezieht Wenn man sich diese taumluschend einfache Gleichung ein bisschen genauer ansieht dann laumlsst sich daraus eine reichhaltige Vielfalt statistischer Physik erschlieszligen

Die Auswirkungen der Turbulenz und stochastischer Vorgaumlnge findet man uumlberall in der Natur und sie waren und sind noch immer das Thema langer Reihen von Erkundungen Allerdings ist die Turbulenz trotz dieser Bemuumlhungen eines der am wenigsten verstandenen Gebiete in der klassischen Physik geblieben Warum ist das so Schon 1755 gelang es dem Schweizer Mathematiker Euler ein System von Gleichungen aufzustellen das die Bewegungen von Fluumlssigkeiten beschrieb Er hatte jedoch die Auswirkungen der Viskositaumlt welche ein Maszligstab fuumlr den Widerstand einer Fluumlssigkeit ist nicht miteinbezogen Das mathematische Bezugssystem das heute haumlufig gebraucht wird um zaumlhfluumlssige und waumlrmeleitende Fluumlssigkeiten zu beschreiben nennt man die Navier-Stokes-Gleichungen sie wurden zwischen 1822 und 1845 von dem Franzosen Navier und dem Briten Stokes formuliert Diese Gleichungen sind das Herz und die Seele aller hydrodynamischen Modelle mit denen man newtonsche Fluide wie Wasser Luft oder Oumll beschreibt jedoch werden auch sie der Verflochtenheit der Turbulenz nicht gerecht Ein halbes Jahrhundert nach dem Werk von Navier und Stokes wurden Wissenschaftler wegen des Mangels an neuen Erfolgen in ihrem Verstaumlndnis der Turbulenz wieder entmutigt Waumlhrend einer Ansprache vor der britischen Gemeinschaft fuumlr wissenschaftlichen Fortschritt (British Association for the Advancement of Science) im Jahre 1932 soll der bekannte und geschaumltzte britische Physiker Horace Lamb folgendes gesagt haben bdquoI am an old man now and when I die and go to Heaven there are two matters on which I hope for enlightenment One is quantum electrodynamics and the other is the turbulent motion of fluids And about the former I am really rather optimisticrdquo (Heute bin ich ein alter Mann und wenn ich einst sterbe und in den Himmel komme moumlchte ich dort gerne zwei Fragen beantwortet haben die eine uumlber die Quanten-Elektrodynamik und die andere uumlber die Turbulenz von Fluumlssigkeiten Hinsichtlich der ersten Frage bin ich noch recht optimistisch)

Ein gewisser Erfolg kam endlich als der russische Wissenschaftler Komogrov im Jahre 1950 in der Lage war die Turbulenz teilweise zu charakterisieren Komogrov zufolge kommt der groumlszligte Teil der kinetischen Energie in einem Fluid (wir meinen hier die Atmosphaumlre) in groumlszligeren

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Skalen vor Diese Energie wird dann an kleinere und noch kleinere Skalen weitergegeben Die kinetische Energie wird also von den groumlszligeren Wirbeln an kleinere Wirbel abgegeben und zwar durch eine Reihe von Vorgaumlngen die man als Energiekaskade bezeichnet Die Energie wird bestaumlndig an kleinere Skalen abgegeben bis die turbulenten Wirbel so klein sind dass molekulare diffusive Kraumlfte eine wichtige Rolle spielen und die Energie in Form von Waumlrme abgegeben wird Eine graphische Darstellung des Kaskadenvorgangs ist in Abbildung 4 zu sehen Die y-Achse des Diagramms bezeichnet den Betrag der kinetischen Energie pro Wirbel fuumlr eine bestimmte Groumlszlige Die Wellennummer befindet sich auf der x-Achse Fuumlr unsere gegenwaumlrtige Eroumlrterung kann man sich die Wellennummer k als die inverse charakteristische Groumlszlige der turbulenten Wellen denken und zwar innerhalb der Grenzschicht Dies ist aumlhnlich wie die Beziehung zwischen Zeit und Frequenz Eine Erhoumlhung der Wellenzahl entspricht also einer Abnahme der Groumlszlige Den Bereich der Wellenzahlen (Groumlszligen) fuumlr welche der Kaskadenvorgang stattfindet nennt man Traumlgheitsbereich (inertial subrange) und dieser ist sehr wichtig fuumlr die atmosphaumlrische Dynamik In der atmosphaumlrischen Grenzschicht werden kinetische Energien in der Groumlszligenordnung von 100-200 m angeregt und eine Erwaumlrmung tritt ungefaumlhr dann auf wenn die Wirbel 1 mm groszlig sind Die Energiekaskade beschreibt die Umwandlung von turbulenter kinetischer Energie innerhalb raumlumlicher Skalen die sich um fuumlnf Groumlszligenordnungen bzw Zehnerpotenzen voneinander unterscheiden

Abbildung 4 Darstellung des Energiegehalts turbulenter Stroumlmungen als eine Funktion der Wellenzahl

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4 Fruumlhzeitige Wettervorhersage-ModelleIm Jahre 1904 wies der Norweger Bjerknes darauf hin dass es moumlglich sein sollte quantitative und objektive Wettervorhersagen zu machen die auf der deterministischen Theorie der atmosphaumlrischen Bewegung und den Navier-Stokes Gleichungen basieren Er behauptete also dass es moumlglich sei das Wetter anhand analytischer Modelle vorherzusagen Diese Vorgehensweise gleicht also nicht den Vorhersagen von erfahrenen Leuten die sich auf Wetterkarten beobachtete Daten und den Himmel verlieszligen Die Aussicht auf eine Erstellung von objektiven Wettervorhersagen fuumlhrte den Begriff der Morphologie in ein neues Zeitalter Nun wurde es zum ersten Male sinnvoll nach den zugrunde liegenden Beziehungen zwischen den Verhaltensmustern die man jahrhundertelang beobachtet hatte zu suchen Es ist allerdings fraglich ob Bjerknes eine starke Hoffnung auf das Zustandekommen solcher Vorhersagen hatte Weitere 30 Jahre mussten vergehen bis Konrad Zuse den ersten binaumlren Rechner in Deutschland entwickelte Das erste Geraumlt wurde noch mechanisch betrieben und erst einige Jahre spaumlter wurde daraus der erste elektronische Rechner bzw Computer

Zu Beginn des 20 Jahrhunderts begann Lewis Fry Richardson mit einem Plan fuumlr objektive Wettervorhersagen welche auf den Ergebnissen von Bjerknes beruhten und zwar ohne mechanischen oder elektronischen Rechner Er veroumlffentlichte diese wegweisenden Vorstellungen im Jahre 1922 Weil es zu der Zeit noch keine physikalischen Rechner gab stellte sich Richardson menschliche Rechner vor Nach seinen Berechnungen braumluchte man 64000 Menschen die rund um die Uhr arbeiteten um angemessene Wettervorhersagen zu erstellen Er stellte sich vor dass diese Personen zusammen in einer groszligen Halle arbeiten wuumlrden wobei jeder einzelne eine relativ kleine Aufgabe der Gesamtarbeit uumlbernaumlhme Laumlufer wuumlrden dann die Ergebnisse zwischen den menschlichen Rechnern uumlbermitteln Ein Hauptleiter wuumlrde die einzelnen Vorgaumlnge uumlberwachen und die Arbeitsablaumlufe aufeinander abstimmen Richardson schrieb in dem Buch Weather Prediction by Numerical Processes folgendes (Richardson 2007) bdquoImagine a large hall like a theater except that the circles and galleries go right round through the space usually occupied by the stage The walls of this chamber are painted to form a map of the globe hellip From the floor of the pit a tall pillar rises to half the height of the hall It carries a large pulpit on its top In this sits the man in charge of the whole theatrerdquo (Stellen wir uns eine groszlige Halle vor etwa so wie ein Theater aber die Kreise und Emporen gehen ganz herum auch da wo normalerweise der

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Schauplatz ist Die Waumlnde sind so bemalt wie unsere Weltkugel Vom Boden des Parketts erstreckt sich eine hohe Saumlule bis zur halben Houmlhe der Halle Auf der ist obendrauf eine groszlige Kanzel Hier sitzt der Mann der das ganze Theater leitet) Richardson war sich wohl bewusst dass es zu seiner Zeit fast unmoumlglich gewesen waumlre dieses Vorhaben durchzufuumlhren Im Vorwort zu seinem Buch schrieb er (Richardson 1922) bdquoPerhaps some day in the dim future it will be possible to advance the computations faster than the weather advances and at a cost less than the saving to mankind due to the information gained But that is a dreamrdquo (Vielleicht wird es eines Tages in ferner Zukunft moumlglich sein die Berechnungen schneller zu beschleunigen als die Fortschritte der Wetterforschung und um einen Preis der geringer ist als die Gewinne die die neuen Erkenntnisse fuumlr die Menschheit erbringen Aber das ist ein Traum) Vielleicht war es nur ein Traum aber einer den er ernsthaft in Betracht zog In seinem Buch legte Richardson systematisch die Grundlage fuumlr ein neues Gebiet der Wetterforschung naumlmlich die numerische Wettervorhersage die auch noch heute betrieben wird Lewis Fry Richardson wird von vielen sogar als der Urheber dieses Forschungsgebietes angesehen

Mit der Entwicklung des ENIAC (Elektrischer und Numerischer Integrator und Rechner) im Jahre 1946 durch eine Gruppe von amerikanischen Ingenieuren der Elektrotechnik geleitet von Mauchly und Eckert konnte Richardsons Traum endlich Wurzel fassen und beginnen Wirklichkeit zu werden Mit der Abloumlsung mechanischer Relais und Schalter durch die Vakuumroumlhre wurde der ENIAC tausendmal schneller als die zeitgenoumlssischen Rechner Der ENIAC wurde vom Militaumlr fuumlr die Aufgabe entwickelt aufwendige ballistische Flugbahnen auszurechnen John von Neumann ein Mathematiker an der Universitaumlt Princeton erkannte sofort dass der ENIAC auch fuumlr die Modellierung von Wettervorhersagen gut geeignet sein wuumlrde Er nahm die Hilfe des amerikanischen Meteorologen Jule Charney in Anspruch und die beiden lieferten im Jahre 1950 die erste numerische Wettervorhersage mittels des ENIAC Es dauerte noch ein Jahrzehnt bis die numerischen Modelle fuumlr die Wettervorhersagen besser wurden und in der Lage waren Vorhersagen zu liefern die sich mit den subjektiven Analysen menschlicher Meteorologen messen konnten

Heutzutage sind Computermodelle eine Hauptquelle fuumlr die Meteorologie und die Wettervorhersage Es gibt allerdings noch kein Modell das alle phaumlnomenologischen und morphologischen Skalen der Atmosphaumlre behandeln wuumlrde Deshalb ist der Grundsatz die Umgebung in uumlberschaubare Skalen (wie in Tabelle 1 aufgefuumlhrt) zu unterteilen bestehen geblieben In

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der raumlumlichen Skala von ungefaumlhr 1 mm bis zu hunderten von Metern kann man turbulente Stroumlmungsmuster mit einem groszligen Genauigkeitsgrad mittels direkter numerischer Simulation (DNS) ausrechnen Fuumlr groumlszligere Skalen verwendet man die Groszlig-Wirbel-Simulation (LES = large eddy simulation) Mit dieser Herangehensweise werden alle Vorgaumlnge von kleineren Skalen von mehreren 10 Metern mit Parametern versehen (nicht direkt berechnet) und dafuumlr verwendet fluumlssige Stroumlmungen innerhalb einer Skala von mehreren 10 Kilometern zu untersuchen Zusaumltzlich zur DNS und LES gibt es auch noch mesoskalige Modelle synoptische Modelle erdumfassende Umlauf-Modelle usw Wenn der Bereich in dem ein Modell verwendet wird an Groumlszlige zunimmt dann nimmt auch die Groumlszlige der kleinsten Einheit des Modells zu Deshalb wird es immer wichtiger das gewonnene Wissen uumlber die kleinen Skalen (von Simulationen) zu nuumltzen um Parameter-Systeme fuumlr die Verwendung in Modellen groumlszligerer Skalen zu entwickeln

5 Die Geburt des ChaosIn den spaumlten fuumlnfziger und fruumlhen sechziger Jahren gerade als die elektronische Computertechnologie sich eingebuumlrgert hatte und die Zukunft von numerischen Wettervorhersagen rosig aussah kam es in den Hallen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu einer unerwarteten Wendung Ein Meteorologe mit dem Namen Ed Lorenz entwickelte seine eigenen Modelle fuumlr die Wettervorhersage an einem geraumluschvollen Computer in seiner Amtsstube Weil Lorenz nur eine beschraumlnkte Auswahl von Hilfsmitteln zur Verfuumlgung hatte hielt er sein Modell sehr schlicht Seine simulierte Atmosphaumlre enthielt nur 12 Gleichungen und die Variabeln (Regelgroumlszligen) die errechnet werden konnten waren lediglich einzelne Groumlszligen wie Druck Temperatur und Windvektoren Mit jeder Wiederholung in simulierter Zeit erstellte der Computer eine groszlige Menge von Zahlen die Werte der errechneten Parameter anzeigten Lorenzrsquo Wettersimulationen gaben Aufschluss uumlber gewisse Beziehungen von atmosphaumlrischen Erscheinungen und seine Ergebnisse gaben ihm die noumltigen Einsichten um Verhaltensmuster im Wetter zu suchen

Eines Tages waumlhrend seine Simulationen liefen machte Lorenz eine Entdeckung die spaumlter zu einem voumlllig neuen Zweig der Mathematik fuumlhren sollte An jenem Tage versuchte er eine Simulation zu wiederholen

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die er schon vorher durchgefuumlhrt hatte Jedoch wollte er das Modell mit der neuen Simulation uumlber einen laumlngeren Zeitraum laufen lassen Um den Vorgang zu beschleunigen entschied sich Lorenz fuumlr eine Abkuumlrzung Er initialisierte die neue halbwegs fertig gelaufene Simulation dadurch dass er die ausgedruckten Parameter die also schon erstellt waren eingab Er tippte die Zahlen in sein Programm schaltete den Computer ein und verlieszlig seine Amtsstube um sich eine Tasse Kaffee zu holen Als er eine Stunde spaumlter zuruumlckkam bemerkte er etwas Uumlberraschendes Die Ergebnisse der neuen Simulation waren voumlllig anders als was er zuvor errechnet hatte

Nachdem er sicherstellte hatte dass kein Fehler vorlag kam Lorenz zur Schlussfolgerung dass der Unterschied der Ergebnisse ein Rundungsfehler sein muumlsste der durch das Eintippen der Parameter in der Mitte der Simulation entstanden war So wurde zum Beispiel ein Wert von 05783214 als 0578 ausgedruckt Konnte denn ein Rundungsfehler in den Tausender Dezimalstellen zu solch tiefgreifenden Abweichungen in den simulierten Ergebnissen fuumlhren Dieser Rundungsfehler war doch kleiner als die Fehler in den zahlreichen meteorologischen Beobachtungen die fuumlr das Wettervorhersage-Modell benutzt wurden Es bleib jedoch unuumlbersehbar dass die Ergebnisse der beiden Simulationen enorme Abweichungen zeigten Welche Folgen wuumlrde dies fuumlr die Zukunft der numerischen Wettervorhersagen haben

Als geschickter Mathematiker verstand Lorenz dass diese neue Art der Unvorhersehbarkeit irgendwo in den Zahlen verborgen lag Man nennt diese Erscheinung die bdquoEmpfindlichkeit gegenuumlber den Anfangsbedingungenldquo (sensitive dependance on initial conditions) Das bedeutet dass kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen das langfristige Verhalten eines Verfahrens wesentlich veraumlndern koumlnnen Heute nennt man das den Schmetterlingseffekt da man sich vorstellen kann dass das Schwingen eines Fluumlgels eines Schmetterlings grundsaumltzlich einen tiefgreifenden Einfluss auf das Wetter nehmen kann das zu spaumlterer Zeit beobachtet wird Hieraus entwickelte sich spaumlter die Chaosforschung

Um diese Auswirkung besser zu verstehen versuchte Lorenz seine Vorhersage-Modelle so weit wie moumlglich zu vereinfachen ohne jedoch die empfindsamen Abhaumlngigkeiten der Anfangsbedingungen zu

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vernachlaumlssigen Es gelang ihm die Gleichungen die die Konvektion bestimmen auf drei zu beschraumlnken diese wurden dazu benutzt um Werte von drei verschiedenen physikalischen Parametern vorherzusagen Das erweckt den Anschein dass die endguumlltigen Gleichungen allzu simpel seien aber die Verhaltensmuster die diese vorhersagen sind keineswegs einfach zu verstehen Abbildung 5 zeigt ein Beispiel Die drei vorhergesagten Parameter sind als x y und z gekennzeichnet und in einem dreidimensionalen Raum eingetragen Die Lage des Punktes der von x y und z bestimmt ist bewegt sich in unvorhersehbarer Weise zwischen den Iterationen Allerdings wird die Gesamtheit aller Punkte vom Raum begrenzt und daraus bildet sich ein gewisses Verhaltensmuster Solch ein Verhalten veranschaulicht ein deterministisches Chaos und wird ein seltsamer Attraktor genannt Das besondere Beispiel in Abbildung 5 zeigt den sogenannten Lorenz-Attraktor

Abbildung 5 Der Lorenz Attraktor veranschaulicht die verschiedenen Muster die bei chaotischem Verhalten vorkommen

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Wie wir wissen hat die Entdeckung chaotischer Systeme in der Atmosphaumlre numerische Wettervorhersagen nicht abgeloumlst Wissenschaftler wussten schon Hunderte von Jahren vor der Lorenzschen Chaostheorie von den zufaumllligen Bewegungen der Turbulenz Allerdings hat diese Entdeckung die Hoffnung der Meteorologen auf genaue langfristige Vorhersagen auch groumlszligere Skalen betreffend etwas gedaumlmpft Dennoch koumlnnen wir darauf zaumlhlen dass die heutigen Grenzen der Vorhersagen fuumlr Wetterentwicklungen in der Zukunft weiter hinausgeschoben werden koumlnnen Durch eine Verbesserung der Rechenleistungen fortschrittlicher Computer durch eine feinere Einstellung der Modelle und durch die Entwicklung atmosphaumlrischer Geraumlte die genauere Messungen zulassen wird dies moumlglich sein Man muss sich natuumlrlich bewusst sein dass verstrickte chaotische Geschehen immer die Oberhand haben werden

6 Selbst-Aumlhnlichkeit in der AtmosphaumlreEine weitere fesselnde Erscheinungsform von Chaos in der Natur und in der Atmosphaumlre ist die sogenannte Selbstaumlhnlichkeit Einen Gegenstand oder eine Gestalt nennt man selbst-aumlhnlich wenn ersie aumlhnlich (oder bei mathematisch erzeugten Gegenstaumlnden gleich) erscheint unabhaumlngig davon in welcher Groumlszligenordnung ersie betrachtet wird Ein Beispiel dafuumlr sind die Fensterbilder die das Eis an kalten Wintertagen hinterlaumlsst Die Muster erscheinen aumlhnlich (wenn auch nicht deckungsgleich) wenn man sie mit einem Vergroumlszligerungsglas oder auch mit dem bloszligen Auge ansieht

Selbstaumlhnliche Gegenstaumlnde besitzen in rein rechnerischem Sinne viele fesselnde Eigenschaften Wir sprachen soeben von der Skalen-Invarianz In manchen Faumlllen kann man kaum sagen wo der Beruumlhrungsbereich eines Gebildes beginnt und wo er endet Vielleicht ist eine der sonderbarsten Eigenschaften solcher Gestalten ihre fraktionale Dimensionalitaumlt (weiter unten erklaumlrt) Wegen dieser Eigenschaft nennt man selbst-aumlhnliche Gebilde oft Fraktale Man kann sich daruumlber streiten ob die Selbst-Aumlhnlichkeit der Kern der Morphologie in der Meteorologie ist

Zugleich muss zwischen rein rechnerischen Selbst-Aumlhnlichkeiten und der Annaumlherung von Selbst-Aumlhnlichkeit in der Natur unterschieden werden Offenkundig ist der Begriff der Skalen-Invarianz in der Natur raumlumlich beschraumlnkt Turbulente Stroumlmungen koumlnnen zum Beispiel als selbst-aumlhnlich beschrieben werden wenn man nur die Skalen innerhalb des Traumlgheitsbereichs betrachtet In diesem Fall kann man nicht zwischen groszligen und kleinen Wirbeln unterscheiden ohne eine Art von Bezugs-

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Skala heranzuziehen Weitere klassische Beispiele fuumlr die Selbst-Aumlhnlichkeit beziehen sich auf Wolkenstrukturen Gebilde von Schneeflocken Wechselbeziehungen zwischen der Grenzschicht und der freien Atmosphaumlre (Entrainment) usw In vielen dieser Faumllle koumlnnen durch rein rechnerische Modelle Annaumlherungen an diese Erscheinungen gefunden werden

Wir wollen die Selbst-Aumlhnlichkeit am Beispiel von Schneeflocken die als Fraktale betrachtet werden koumlnnen veranschaulichen Wir beginnen dies damit indem wir ein einziges Streckenstuumlck wie es in der oberen linken Ecke von Abbildung 6 zu sehen ist betrachten Das mittlere Drittel dieser Strecke wird durch zwei Streckenabschnitte (die beide ebenfalls ein Drittel der Gesamtlaumlnge einnehmen) in abgewinkelter Weise entsprechend einem gleichseitigen Dreieck ersetzt Aus einer Strecke sind also vier geworden und so haben wir vier deckungsgleiche Abbildungen Die Groumlszlige dieser neuen Strecken ist zur urspruumlnglichen um den Faktor drei verschieden Man sagt der Vergroumlszligerungsfaktor ist drei Wenn dieser Vorgang wiederholt wird dann werden die daraus entstehenden Gegenstaumlnde zunehmend unuumlberschaubar (siehe Abbildung 6) Es ist offensichtlich dass man wenn wenn man einen beliebigen Teil der ganzen Gestalt vergroumlszligern wuumlrde wieder aumlhnliche Formen (in diesem Fall sogar deckungsgleiche) vorfinden wuumlrde und zwar ungeachtet der jeweiligen Vergroumlszligerung Auszligerdem wird diese Strecke unendlich lang und bleibt nur vom Raum begrenzt Dies ist die sogenannte Koch-Kurve (nach dem schwedischen Mathematiker Koch benannt) und sie gehoumlrt zur Familie der Fraktale Wie gesagt kann man solche Muster an vereisten Fenstern finden Mit dem gleichen Vorgang koumlnnen wir eine vernuumlnftige Darstellung einer Schneeflocke hervorbringen Diesmal benutzen wir aber ein Dreieck anstelle einer Strecke als Ausgangspunkt Nach nur drei Wiederholungen werden die entstehenden Muster den echten Schneeflocken wie sie in Wolken beobachtet werden bereits aumlhnlich Dies ist allerdings nur ein Beispiel fuumlr Veranschaulichungs-Zwecke Mittels Fraktalen koumlnnen weitaus echter aussehende Schneeflocken gebildet werden

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Abbildung 6 Entstehung der Koch-Kurve und der Kochrsquoschen Schneeflocke

Was bedeutet es zu sagen dass selbst-aumlhnliche Gegenstaumlnde eine fraktale Dimension haben Nun wir wissen schon dass ein Punkt nulldimensional ist eine Strecke eindimensional eine Ebene zweidimensional und ein Wuumlrfel dreidimensional aber was bedeutet der Begriff der Dimensionalitaumlt wirklich Einfachheitshalber arbeiten wir in den nachfolgenden Beispielen mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei Das bedeutet eine selbstaumlhnliche Abbildung der naumlchsten Groumlszlige ist um den Faktor zwei verschieden Nehmen wir zwei gleiche Streckenstuumlcke der Laumlnge eins Aneinandergefuumlgt bilden diese ein selbst-aumlhnliches Streckenstuumlck der Laumlnge zwei Mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachtet finden wir also zwei selbst-aumlhnliche Streckenstuumlcke vor Genauso koumlnnen wir ein Quadrat aus vier gleichgroszligen Quadraten bilden Wenn wir das groumlszligere Quadrat mit dem Vergroumlszligerungsfaktor zwei betrachten dann sehen wir vier selbst-aumlhnliche Abbildungen (2x2) Schlieszliglich koumlnnen wir diesen Vorgang fuumlr einen Wuumlrfel wiederholen In diesem Fall liefert ein Vergroumlszligerungsfaktor von zwei genau acht (2x2x2) selbst-aumlhnliche Abbildungen Wir bemerken die Entwicklung eines Musters das wir mathematisch auf folgende Weise beschreiben koumlnnen

Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile = (Vergroumlszligerungs-Faktor)D

D steht dabei die Dimension zB ist die Dimension fuumlr einen Wuumlrfel drei Im Fall der Koch-Kurve ist der Vergroumlszligerungsfaktor drei und die Anzahl der selbst-aumlhnlichen Teile vier Aus diesen beiden Groumlszligen koumlnnen wir nun die Dimensionalitaumlt berechnen Aus 3 = 4D folgt D = 1262 Das gilt fuumlr die

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Koch-Kurve und fuumlr die kochsche Schneeflocke Ein sehr bemerkenswertes Ergebnis aber kann man es in der Natur anwenden

Meteorologen beschaumlftigen sich immer haumlufiger mit der Selbst-Aumlhnlichkeit Wenn wir verstehen warum und wie fraktale Muster in der Natur vorkommen dann koumlnnen wir auch die zugrundeliegende Physik und die gegenseitigen Wechselbeziehungen der dazugehoumlrenden Kraumlfte besser verstehen Die fraktale Dimension von Eisteilen koumlnnte eine wichtige Einsicht geben wie diese sich formen und wie sie wachsen vorausgesetzt wir beachten bestimmte Umgebungsbedingungen wie Auszligentemperatur Wasserdampfgehalt fluumlssiger Wassergehalt und turbulente Betriebsamkeit Die sogenannte Kalte-Wolken-Mikrophysik ist oft schwierig zu verstehen aber sie ist besonders wichtig fuumlr Niederschlagsvorhersagen Die gleichen Aussagen gelten fuumlr die Analyse von Wolken welche ebenfalls selbst-aumlhnliche Gebilde sind Bei einem Versuch wurde durch das Auswerten von Lichtbildern erkannt dass die fraktalen Dimensionen von Wolkenquerschnitten dem Wert 43 neigen Wir koumlnnen hier nicht naumlher auf die Gruumlnde eingehen doch folgt weil die Wolken als selbst-aumlhnliche Gebilde angenommen werden koumlnnen fuumlr die fraktale Dimension volumetrischer Wolken D = 43 +1 oder D = 73 Nun fragt man sich ob dies als allgemeiner Parameter gelten kann Die Antwort ist wahrscheinlich nein weil die fraktale Dimension von der Umgebung in der sich die Wolken bilden abhaumlngt und folglich von der Wolkenart

7 ZusammenfassungDie Atmosphaumlre ist fortwaumlhrend in einem Zustand des Uumlbergangs und der Bewegung begriffen da sie nach einem Zustand der Ausgeglichenheit zwischen den einzelnen Kraumlften die auf sie einwirken strebt Ebenso wie fuumlr den vom Schicksal getroffenen Tantalos in der griechischen Mythologie bleibt der Zustand der Ausgewogenheit fuumlr unsere Atmosphaumlre unerreichbar Die kreisende Erde wird ungleichmaumlszligig erhitzt Oberflaumlchengegebenheiten fuumlhren zu Reibungsaumlnderungen das Strahlungsgleichgewicht wird durch die An- oder Abwesenheit von Wolken veraumlndert und die Menschheit erschuumlttert die Ausgeglichenheit der Atmosphaumlre durch Umwelteinfluumlsse Das Ergebnis dieser verschiedenen Einfluumlsse ist ein wundervoll vielschich-tiges dynamisches System das sich uumlber einen weiten Bereich zeitlicher und raumlumlicher Skalen offenbart Die Aussicht darauf unsere Atmosphaumlre gruumlndlich zu verstehen und eine angemessene Wettervorhersage zu machen bleibt dennoch eher duumlster Je mehr man in die Tiefe geht um die verwickelten Wechselbeziehungen des Wettergeschehens zu verstehen

Phillip B Chilson mdash Christa Chilson32

desto schlechter scheinen die Aussichten auf Erfolg zu sein Die Rettung kommt durch die Verhaltensmuster die hinter dem zugrunde liegenden Chaos zum Vorschein kommen

So wird aus der Kunde vom Wetter die Kunde der statistischen Analyse und der geschickten Erkennung von Verhaltensmustern Auf grundlegender Ebene ist es wichtig die Grenzen der Theorie der Turbulenz weiter zuruumlckzuschieben und ein verlaumlssliches Modell zur Beschreibung atmosphaumlrischer Selbst-Aumlhnlichkeit zu erstellen Fortschritte auf diesem Gebiet sind entscheidend um einen klaren Gesamteindruck der Natur zu erhalten Letztendlich muumlssen wir uns damit abfinden dass immer Luumlcken in unserem Verstaumlndnis der Atmosphaumlre bestehen bleiben werden Ferner schraumlnkt die den atmosphaumlrischen Stroumlmungen innewohnende chaotische Natur unsere Moumlglichkeiten ein deterministisches System mit Gleichungen die das Wetter beschreiben zu schaffen erheblich ein Aus diesem Grunde muumlssen die Meteorologen noch immer auf ihr Gespuumlr vertrauen wenn sie die verfuumlgbaren Beobachtungen zusammen mit den Ergebnissen numerischer Wettervorhersagen auswerten Obwohl wir einsehen muumlssen dass wir nicht immer wissen koumlnnen wie die Atmosphaumlre sich verhaumllt koumlnnen wir das Wetter von morgen oder uumlbermorgen doch schon mit groszliger Wahrscheinlichkeit voraussagen Dies setzt oft ein gruumlndliches Verstehen bestimmter morphologischer Muster und von deren Bezug zum Wetter voraus Am liebsten wuumlrden wir diese Erkenntnisse wissenschaftlich eingliedern und fuumlr objektive Wettervorhersagen verwenden aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das menschliche Mitwirken noch immer eine wichtige Zutat in der Einschaumltzung der Witterung

Morphologische Erscheinungen in der Meteorologie 33

LiteraturverzeichnisAmerican Meteorological Society (22000) Glossary of Meteorology Todd S Glickman managing editor Boston

Richardson Lewis Fry (1922) Weather Prediction by Numerical Process Cambridge Cambridge University Press

Prof Dr Phillip B Chilson School of Meteorology Christa Chilson Department of Modern Languages Literatures and Linguistics University of Oklahoma Norman OK USA

Sprachliche Morphologie digitalisiert

Jost Gippert (Frankfurt)

The article discusses the question how and to what extent the digitisation of morphological features of natural languages is able to support linguists in both teaching and research Within the scope of applied linguistics it focusses on the impact of digitised morphological data on optical character recognition speech recognition spell and grammar checking machine translation and teaching sce-narios The implementation of digitised means in linguistic research is thema-tised with respect to lexicography and grammar writing as well as diachronic investigations of various kinds The perspectives of applying digitisation to linguistic morphology can be summarised in two theses a) the more linguistic data are provided with a thorough morphological (and beyond that syntacti-cal semantical pragmatical metrical etc) analysis the more reliable the basis for theoretical investigations will be both in synchronical-descriptive and in diachronical-comparative linguistics b) the digital preparation of large data sets is an urgent methodological prerequisite for the verification and falsification of linguistic hypotheses

Fuumlr manch einen Auszligenstehenden hat die Sprachwissenschaft spaumltestens mit dem Strukturalismus eine Ausrichtung angenommen die Goethe und Schiller in ihren Xenien schon lange vorher andeuteten als sie den bdquoSprach-forscherldquo so apostrophierten1

Anatomieren magst du die Sprache doch nur ihr Cadaver Geist und Leben entschluumlpft fluumlchtig dem groben Scalpell

Mit dem Einsatz digitaler Verarbeitungsverfahren duumlrfte sich das Schreckensbild einer immer tiefergehenden bdquoanatomistischenldquo Zerlegung sprachlicher Aumluszligerungen in den Augen vieler eher noch weiter verfestigt haben Im folgenden soll gezeigt werden daszlig eine digital basierte Morphologie natuumlrlicher Sprachen im Gegensatz zur Einschaumltzung unserer Klassiker durchaus nicht mit Geist- und Leblosigkeit einherzugehen braucht sondern

1 Xenie Nr 141 Goethe Werke 1889-1896 I Abtlg Bd V 1 Abtlg 1893 S 225 Schiller Werke 1943ndash Bd I 1943 S 326 Ob das Distichon von Goethe oder Schiller verfaszligt wurde scheint nicht sicher geklaumlrt Corkhill 1991 S 248 schreibt es offensichtlich Goethe zu der damit bdquodie klinisch anmutende fachliche Sprachbetrachtung persiflieren wollteldquo

Jost Gippert36

gerade dazu dienen kann sprachliche Inhalte genauer zu beleuchten und den Umgang mit Sprache in unterschiedlichen Bereichen zu unterstuumltzen

1 Anwendungsbezogene Zielsetzungen digital basierter MorphologieFuumlr eine digital basierte sprachwissenschaftliche Morphologie kommen im wesentlichen fuumlnf anwendungsbezogene Zielsetzungen in Betracht naumlmlich die Unterstuumltzung von Texterkennung (bdquoOCRldquo = bdquoOptical Character Recognitionldquo) Spracherkennung Rechtschreibung (bdquoSpell-checkingldquo) automatische Uumlbersetzung sowie Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht In verschiedenen dieser Anwendungsbereiche wird digitalisierte Morphologie seit laumlngerem bereits mit stetig steigendem Erfolg eingesetzt Einige wenige Grunduumlberlegungen verdienen es dennoch hier kurz abgehandelt zu werden

11 Texterkennung

Digitale Texterkennung dh die retrograde Umwandlung bereits gedruck-ter oder geschriebener Textmaterialien in eine digitale Form zum Zwecke der Weiterverarbeitung setzt typischerweise den folgenden Ablauf voraus Nach dem Einscannen einer Druckseite als Rasterbild muumlssen in diesem zunaumlchst die groben Einheiten des Schriftbilds herausisoliert werden dies geschieht durch die Erfassung von Zonen ohne schwarze Bildpunkte (bdquoPixelldquo) durch die Abstaumlnde zwischen Zeilen Woumlrtern Buchstaben Satzzeichen etc gekennzeichnet sind sowie umgekehrt durch die Erfas-sung zusammenhaumlngender Pixelstrukturen die Buchstaben Satzzeichen etc repraumlsentieren Letztere muumlssen dann mit Mustern verglichen werden um die repraumlsentierten Zeichen im einzelnen zu bestimmen Hierbei ist immer mit einer gewissen Fehlerquote zu rechnen die zB von der druck-technischen Qualitaumlt der Vorlage oder den in ihr benutzten Zeichenformen und -saumltzen abhaumlngt Eine Reduzierung der Fehlerquote die auch heute nach rund 20 Jahren fortschreitender Entwicklung von OCR-Verfahren2

2 Seit 1987 habe ich kontinuierlich kommerzielle OCR-Programme getestet und mit mehr oder weniger groszligem Erfolg sowohl auf lateinschriftliche als auch auf andere Quellen ange-wendet Erwaumlhnen moumlchte ich SPOT 31 (Flagstaff Engineering 1989) ein auf Zeichenfor-men bdquotrainierbaresldquo DOS-basiertes Programm das ich sehr erfolgreich an die georgische Schrift anpassen konnte und dessen Leseergebnisse die Grundlage fuumlr zahlreiche uumlber den TITUS-Server (su Fn 9) verfuumlgbare elektronische Texteditionen darstellen das Kurzweil Scanner-System in den fruumlhen 90er Jahren das Non-Plus-Ultra der PC-basierten OCR mit dem verschiedene lateinschriftlich gedruckte TITUS-Texte eingelesen wurden sowie den Fine Reader (ABBYY) der sich in den letzten Jahren als die leistungsfaumlhigste OCR-Software fuumlr multilinguale Anwendungen herausgestellt hat (derzeit verfuumlgbar in Version

Sprachliche Morphologie digitalisiert 37

noch immer betraumlchtlich sein kann3 setzt verschiedene Arten von Plausi-bilitaumltspruumlfungen voraus bei denen das Leseresultat auf seine sprachliche Korrektheit hin getestet wird Ein typisches Beispiel waumlre die bdquoVerlesungldquo der deutschen Wortform Muumlndern (DatPl) als Mundem sowohl die Igno-rierung des Diakritikums die auf der Diskontinuitaumlt des Buchstabenbildes ltuumlgt beruht als auch die irrige Zusammenlesung der Buchstabenfolge rn als m sind charakteristische Probleme von OCR-Anwendungen Um die gelesene Wortform Mundem nun auf ihre Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen bieten sich zwei Verfahren an Das in kommerziellen OCR-Programmen meist genutzte Verfahren ist rein bdquolexikalischldquo Zum Abgleich wird eine (mehr oder weniger umfangreiche) Wortformenliste der betr Sprache benutzt in der natuumlrlich neben Lemmaformen auch flektierte Formen aller Art enthalten sein muumlssen Die der gelesenen Form am naumlchsten kom-mende wird dann vorschlagsweise eingesetzt im gegebenen Fall duumlrfte dies die Form Munden sein die sich von Mundem nur in einem Buchstaben unterscheidet damit freilich aber noch nicht bdquokorrektldquo ist und somit bereits die Grenzen eines rein lexikalischen Abgleichs aufzeigt Es kommt hinzu daszlig keine Wortformenliste des Deutschen jemals vollstaumlndig sein kann da insbesondere die Moumlglichkeiten der Komposition das deutsche Lexikon unendlich groszlig gestalten

Um eine bessere Lesegenauigkeit zu erzielen ist deshalb ein anderes mehrstufiges Verfahren vonnoumlten das neben einer lexikalischen Daten-basis auch andere Vorinformationen darunter morphologische verar-beiten kann Ein solches Verfahren das ich bdquogemischtldquo nennen wuumlrde muumlszligte neben einem Basislexikon der Wortstaumlmme zunaumlchst die gramma-tischen Regeln der Morphologie dh der Formen- und Wortbildung der betr Sprache beruumlcksichtigen daruumlber hinaus bdquographischeldquo und bdquographo-

9) Die spezifischen Beduumlrfnisse von Sprachwissenschaftlern (va in Bezug auf transkriptive Sonderzeichen) sind allerdings bis heute nirgends zufriedenstellend beruumlcksichtigt 3 Eine Fehlerquote von 2 bedeutet zB zwei Fehler innerhalb von zwei normalen Druckzeilen eines Buches Welche Schwaumlchen oberflaumlchlich angewandte OCR-Verfahren nach wie vor haben und zu welchen Irrtuumlmern sie fuumlhren koumlnnen zeigt deutlich das ehrgeizige Projekt bdquoGoogle Booksldquo (httpbooksgooglecom) Sucht man hier nach SCHLEICHERs Compendium so werden verschiedene Eintraumlge aus Kuhns Zeitschrift fuumlr Vergleichende Sprachwissenschaft ausgegeben in denen das Werk ua als bdquoCompendium tier vergleichenden grammatikldquo und sein Band I als ein bdquoKurzer abrilldquo einer lautlehre der indogermanischen ldquo erscheint entsprechend liefert eine Suche nach bdquoCompendiumldquo und bdquoTierldquo genau den erstgenannten Eintrag zuerst noch vor zoologischen Werken (Stand 2532007 1751h) [Korrekturzusatz Der gleiche Eintrag lautet am 8102009 1319h wie folgt August Schleicher compendium der vergleichenden grammatik der indogermanischen sprachen Bd I Kurzer abrifs einer lautlehrc der Die Ergebnisse der (fortschreitenden) Texterkennung bei Google Books bleiben also unzuverlaumlssig]

Jost Gippert38

taktischeldquo Regeln Gehen wir wieder von unserem Beispiel der Wortform Muumlndern aus die sich als Dativ Plural von Mund in drei Morpheme das Lexem Mund das Pluralsuffix er und die Dativendung n zerlegen laumlszligt und gleichzeitig das Phaumlnomen des bdquoUmlautsldquo von u zu uuml aufweist das im morphologischen Sinne als ein Ablautphaumlnomen aufzufassen ist Ein bdquogemischtesldquo Analyseverfahren muumlszligte die eingelesene Form Mundem nun von hinten beginnend schrittweise verkuumlrzen bis eine Uumlbereinstimmung mit einem im Basislexikon enthaltenen Wortstamm gegeben ist dies waumlre der vierbuchstabige Stamm Mund Daraufhin waumlre zu uumlberpruumlfen ob der verbleibende Rest em im Morpheminventar verankert ist ndash dies ist zwar der Fall da die deutsche Nominalflexion ein solches postlexematisches Mor-phem kennt (vgl gutem schoumlnem) es ist jedoch nicht mit dem gefundenen Basisstamm Mund kompatibel da dieser kein Adjektiv darstellt Dasselbe Verfahren muumlszligte dann iterativ weiter durchgefuumlhrt werden (Mun ndashdem etc) kaumlme aber allein noch zu keinem Ergebnis An dieser Stelle nach nega-tivem erstem Durchlauf waumlre das Leseresultat (Mundem) dann auf seine graphische Plausibilitaumlt hin zu uumlberpruumlfen wobei zunaumlchst bdquountypischeldquo Zeichenfolgen zu eruieren waumlren solche sind im gegebenen Beispiel nicht vorhanden laumlgen aber zB in einer Verlesung IVIund vor die aufgrund allgemeinen Vorwissens uumlber Zeichenformen der Lateinschrift und ihre Verteilung in Wortformen unmittelbar plausibel in Mund zu korrigieren waumlre Bei bdquogelesenemldquo Mundem muumlszligten umgekehrt die graphotaktisch unproblematischen aufgrund desselben Vorwissens fuumlr Verlesungen jedoch als besonders anfaumlllig geltenden Buchstaben ltmgt und ltugt versuchsweise durch ihre naumlchstaumlhnlichen bdquoPartnerldquo ltrngt und ltuumlgt ersetzt und die sich so ergebenden Wortformen wieder der iterativen Analyse unterzogen werden Dies wuumlrde bereits fuumlr Mundern die moumlgliche Verknuumlpfung eines Lexems (Mund) mit bdquopassendenldquo Flexionsmorphemen er-n ergeben jedoch noch keine korrekte Wortform da der Plural von Mund eben Umlaut aufweist Erst ein dritter Durchlauf mit der Abaumlnderung von ltugt zu ltuumlgt ergibt dann das richtige Resultat Vorausgesetzt ist dabei daszlig auch die Information uumlber das Umlaut- bzw Ablautverhalten der Staumlmme im lexikalischen und morphologischen Basiswissen verankert sein muszlig

Hinsichtlich der bdquographotaktischenldquo Wissensbasis auf die ein solches Ver-fahren zwingend zuruumlckgreifen muszlig sei noch einmal festgehalten daszlig diese sowohl schriftspezifische dh durch die Aumlhnlichkeiten von Buch-stabenformen gegebene Probleme als auch sprachspezifische Regelun-gen umfassen muszlig die jeweils statistisch erfaszligt werden koumlnnen Zu den ersteren gehoumlren zB in der Lateinschrift neben den bereits behandel-

Sprachliche Morphologie digitalisiert 39

ten Verwechslungspaaren solche bei denen sich Buchstaben und Ziffern gegenuumlberstehen wie zB ltSgt und lt5gt oder ltOgt und lt0gt (null) Eine Plausi-bilitaumltspruumlfung kann in diesen Faumlllen ohne weiteres davon ausgehen daszlig eine lt1gt (eins) die mitten in einem bdquoWortldquo und von sicher gelesenen Klein-buchstaben umrankt zu stehen scheint eher ein kleines ltLgt repraumlsentieren duumlrfte waumlhrend eine Folge von lt7gt und dreimaligem Buchstaben ltOgt eher bdquosiebentausendldquo meinen wird4 Entsprechende Vorhersagen werden fuumlr andere Schriften wie zB die Kyrillische nicht unbedingt zutreffen hier wird zB eher eine Verwechslung der Buchstaben ltлgt (asymp ltlgt) ltпgt (asymp ltpgt) ltнgt (asymp ltngt) und ltиgt (asymp ltigt) untereinander anzunehmen sein

Der sprachspezifische Anteil der Wissensbasis kann zB allgemeine statistische Erkenntnisse uumlber die Verteilung von Graphemen in Wortformen der betr Sprache verwenden danach wuumlrde etwa ein gelesenes ltsehoumlngt im Deutschen ohne weiteres zu schoumln nicht aber zu sehen zu korrigieren nahegelegt da das ltoumlgt aufgrund seiner Seltenheit gewissermaszligen eine lectio difficilior gegenuumlber ltegt darstellt (und schwerlich fuumlr dieses verlesen sein kann) waumlhrend von den beiden Zeichenfolgen ltsehgt und ltschgt die letztere eine klare statistische Praumlponderanz fuumlr sich hat Im gleichen Sinne koumlnnten Regelungen der Groszlig- und Kleinschreibung beruumlcksichtigt werden die ihrerseits mit der morphologischen Bestimmung einhergehen sollten so haumlngt zB bei einer Verlesung von Guumltern als Gutem die Plausibilitaumlt der letzteren Form davon ab ob sie ndash als Adjektiv ndash in einer Umgebung erscheint die einen initialen Groszligbuchstaben erwarten laumlszligt oder nicht

Damit ist bereits angedeutet daszlig eine wirklich zuverlaumlssige Texterken-nung bei der Plausibilitaumltsanalyse noch einen Schritt weiter gehen muszlig naumlmlich bis hin zu einer syntakto-semantischen Uumlberpruumlfung Gutem ist ja eine vollkommen korrekte Wortform des Deutschen kommt allerdings im Vergleich zu Guumltern obwohl ebenfalls ein Dativ mit groszligem ltGgt in nur sehr reduzierten syntaktischen Konstellationen vor naumlmlich entweder satzeinleitend als Adjektiv ohne vorangehenden Artikel (etwa Gutem Brauch folgend schlieszligt sich der Landrat)5 oder als substantiviertes Adjektiv ebenfalls ohne Artikel (etwa bdquoob er nach Gutem oder Boumlsem

4 Erstaunlicherweise werden in den meisten kommerziellen OCR-Programmen nicht einmal derartig banal anmutende Regelungen beruumlcksichtigt Auch lassen sie sich nicht in die von den Programmen verwendete Wissensbasis integrieren da selbst bdquotrainierbareldquo Programme normalerweise nur Zeichenformen zu speichern erlauben nicht jedoch spezi-fische distinktive Merkmale von Zeichen oder graphotaktische Regeln5 S httpwwwodenwaldkreisdeindexpfunktion=presseartikelphpampselected =1ampid=848 (1912007)

Jost Gippert40

jagtldquo)6 Eine Entscheidung zwischen Guumltern und Gutem setzt also eine syntaktische Analyse voraus die zumindest die umgebenden Wortfor-men mit beruumlcksichtigen muszlig hierbei koumlnnen statistische Angaben uumlber sog bdquoKollokationenldquo Entscheidungshilfen bilden7 In anderen Faumlllen wie etwa bei dem ndash graphisch minimalen ndash Unterschied zwischen Tochter und Toumlchter wird nicht einmal durch Informationen aus der syntaktischen Umgebung immer eindeutig geklaumlrt werden koumlnnen ob eine gegebene bdquoLesungldquo richtig ist man vgl zB die Lesungen ltdie juumlngere Tochtergt und ltdie juumlngeren Tochtergt wo die Endungen der attributiven Adjektive im Verbund mit den Artikelformen Eindeutigkeit herstellen waumlhrend in gelesenem ltIch sehe seine Tochtergt (gegenuumlber ltIch sehe seine Toumlchtergt) ohne Kenntnis des Kontextes keine Entscheidung fuumlr die Singular- oder die Pluralform moumlglich ist Wie sehr die morphologische Bestimmung von syn-takto-semantischen Vorgaben abhaumlngen kann zeigt sich nicht zuletzt bei homonymen Wortformen die unterschiedlichen morphologischen Klas-sen zugehoumlren man vgl zB das Verb zugreifen gegenuumlber dem Komposi-tum Zugreifen = Zug + Reifen oder das Partizipialadjektiv vereinzelt gegenuumlber dem Kompositum Vereinzelt = Verein + Zelt

Auch das bdquogemischt-morphologischeldquo Verfahren zur Unterstuumltzung der Texterkennung hat also Grenzen die auch mit groszligen Datenmengen nicht leicht zu uumlberbruumlcken sein werden Hier duumlrften auf laumlngere Sicht Verfahren der statistischen Untermauerung durch Kollokationen eine entscheidende Rolle spielen Morphologisches Wissen bleibt dabei aber mit Sicherheit ein unverzichtbarer Bestandteil

12 Spracherkennung

Der Einsatz morphologischer Verfahren unterliegt bei der Spracherkennung ganz aumlhnlichen Bedingungen wie bei der Texterkennung Auch hier geht es um eine eindeutige Bestimmung sprachlicher Formen bei der digitalen

6 Goethe Werke I Abtlg Bd II 1888 S 246 ndash Theoretisch sollte ein gut fundiertes bdquogemischtesldquo System auch in der Lage sein Druckfehler stillschweigend zu korrigieren dies duumlrfte jedoch immer dann ausgeschlossen sein wenn das verdruckte Wort eine morphologisch bdquokorrekteldquo Form darstellt wie etwa im Falle von fuumlr ltVerballhornungengt verdrucktem ltVerbalhornungengt = VerbalHornungen Hier mag selbst eine kollokationsbasierte semantische Analyse scheitern wenn der Druckfehler in einem sprachwissenschaftlichen Kontext auftritt der ua auch Woumlrter wie Verbalflexion aufweist (so bei Hoffmann Altiranisch S 10 = Aufsaumltze I S 67 Z 6 vu bzw S 16 73 Z 11)7 Vgl hierzu das Projekt bdquoKollokationen im Woumlrterbuchldquo der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften s httpwwwbbawdebbawForschungForschungspro-jektekollokationendeueberblick

Sprachliche Morphologie digitalisiert 41

Erfassung von Aumluszligerungen Ein Unterschied zur Texterkennung besteht nur darin daszlig die graphische Komponente entfaumlllt da die zugrundelie-genden Daten nicht schriftlich dh zeichenkettenbasiert sondern muumlndlich (und als akustisches Signal digitalisiert) vorliegen An die Stelle der bdquographo-taktischenldquo Entscheidungshilfen muumlszligten hier wenn man ein bdquogemischtesldquo Verfahren anstrebt deshalb phonotaktische Statistiken treten Die Not-wendigkeit einer Einbindung morphologischer Analyseverfahren bleibt davon unberuumlhrt

13 Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung

Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Anwendungsbereichen setzt die Rechtschreib- und Grammatikpruumlfung eine Stufe spaumlter an naumlmlich bei einem schon existierenden digital vorliegenden Text Unabhaumlngig davon ob dieser von Hand eingegeben oder via OCR oder Spracherkennung generiert wurde geht es hier jedoch wieder um genau dieselbe Art von Plausibilitaumltspruumlfung wie sie oben als Bestandteil des Erkennungsprozesses beschrieben wurde Ein klarer Unterschied besteht gegenuumlber der Texterkennung lediglich in der Hinsicht daszlig bei von Hand eingegebenen Texten nicht dieselben bdquographotaktischenldquo Vorgaben gelten da beim bdquoTippenldquo systematisch andere Buchstaben verwechselt werden als beim optischen Einlesen naumlmlich typischerweise die auf der Tastatur benachbarten Zeichen (etwa ltigt und ltogt oder ltbgt und ltvgt) Die Einsetzbarkeit morphologischer Verfahren der og Art ist von diesem Unterschied nicht betroffen und solche Verfahren werden von gaumlngigen Textverarbeitungsprogrammen heute bereits weitgehend wenn auch nicht immer zufriedenstellend ausgenutzt8

14 Automatische Uumlbersetzung

Noch eine Stufe spaumlter setzt der Einsatz digitaler Morphologie bei der automatischen Uumlbersetzung an Anders als bei den Plausibilitaumltspruumlfun-gen zur Etablierung eines bdquokorrektenldquo Texts wird hier ein solcher bereits vorausgesetzt bei der morphologischen Analyse geht es dann statt dessen um die Herstellung der Basis fuumlr eine adaumlquate Uumlbersetzung Es entfallen somit grapho- und phonotaktische Begleitverfahren die Probleme rund um

8 So ergibt zB die Uumlberpruumlfung des fehlerhaften Satzes bdquoDas Wortform sbquoMundemrsquo ist unsinigldquo in MS-Word 2003 lediglich die Zuruumlckweisung von bdquoMundemldquo sowie von bdquounsinigldquo der Artikel das wird nicht als falsch erkannt

Jost Gippert42

Homonymien etc bleiben jedoch bestehen und auch hier muumlssen syntakto-semantische Verfahren vorrangig einbezogen werden

15 Sprach- und sprachwissenschaftlicher Unterricht

Daszlig die Morphologie ein unabdingbarer Bestandteil des Fremdsprachen-unterrichtsund mehr noch der sprachwissenschaftlichen Ausbildung ist duumlrfte keinem Zweifel unterliegen Digitale Verfahren koumlnnen hier in zweierlei Weise unterstuumltzend eingesetzt werden naumlmlich bei der Analyse fremdsprachiger Textmaterialien im Hinblick auf gegebene Wortformen und umgekehrt bei der Erzeugung von Wortformen Die hierfuumlr zu schaffenden Datenbasen sind im Prinzip dieselben wie die bereits oben beschriebenen Fuumlr weniger anspruchsvolle Anwendungen wird man zunaumlchst mit einem bdquostatischenldquo rein lexikalischen Verfahren operieren koumlnnen das lediglich eine bestimmte (aber erweiterbare) Menge von manuell vordefinierten Wortformen umfaszligt um eine morphologische Analyse beliebiger Wortformen zu ermoumlglichen wird hingegen wieder ein bdquogemischtesldquo Verfahren eingesetzt werden muumlssen bei dem neben Listen lexematischer und nicht-lexematischer Morpheme auch deren Verknuumlpfungsregeln (gegebenenfalls unter Einschluss von Um- und Ablautsphaumlnomenen) verarbeitet sind Beide Verfahren seien kurz an Implementationsbeispielen aus der TITUS-Textdatenbank9 illustriert

151 TocharischWie auch andere TITUS-Texte sind diejenigen des A-tocharischen Corpus10 mit einer relationalen Datenbank verknuumlpft die die Belegstellen jeder einzelnen Wortform umfaszligt und somit einen unmittelbaren Zugriff auf die Beleglage derselben ermoumlglicht dies geschieht durch einfaches Anklicken der betreffenden Wortform im Text oder durch Eingabe in eine Suchmaske Daruumlber hinaus ist das A-tocharische Corpus bereits mit morphologischen Informationen versehen die die Bestimmung von Verbalformen betreffen Klickt man zB auf die in Abb 1 enthaltene Verbalform kumsentildecauml11 so

9 Die Textdatenbank des TITUS-Projekts (bdquoThesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialienldquo) ist online uumlber httptitusuni-frankfurtdetextetexte2htm verfuumlgbar10 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcstochtochatochahtm11 Da der Unicode-Standard noch nicht alle fuumlr die traditionelle Transkription des Tochar-ischen erforderlichen Zeichen umfaszligt sind die toch Texte in der TITUS-Datenbank vorerst in einer Behelfsumschrift wiedergegeben hier vertritt zB ein Majuskel-ltAumlgt das bdquostummeldquo ltaumlgt neben Virāma im Auslaut

Sprachliche Morphologie digitalisiert 43

erfolgt ein Datenbankaufruf der die Analyse der Form ausgibt (s Abb 2) Die Einbettung der Form in ihren paradigmatischen Zusammenhang (sowie ihr Verhaumlltnis zu den entsprechenden B-tocharischen Formen) kann durch ein weiteres Anklicken der Wurzel (kaumlm) abgerufen werden (s Abb 3) Das dahinter stehende Verfahren ist im Sinne der obigen Definition rein bdquolexikalischldquo da jede Verbalform mit ihrer Bestimmung sowie mit dem Verweis auf das jeweilige Lemma (Wurzel) fuumlr sich bereits in der Datenbank abgelegt ist eine eigentliche morphologische Analyse findet also nicht beim Aufruf statt sondern ist bereits vorher (manuell) in die Datenbank eingeflossen (lediglich gewisse graphische Alternationen werden beim Aufruf automatisch bdquoabgefangenldquo)12 Dieses Verfahren empfiehlt sich bei einer Corpussprache mit begrenztem Wortformenvorrat wie dem Tocharischen durchaus zumal wenn die verbale Formenbildung wie in dieser Sprache in erheblichem Maszlige durch ablautbedingte und andere Stammvariationen gekennzeichnet ist und viele Irregularitaumlten aufweist

152 VedischWaumlhrend die bdquohalbautomatischeldquo Analyse im Falle des Tocharischen noch auf das Verbum beschraumlnkt ist steht fuumlr die vedischen Texte in der TITUS-Kollektion bereits ein weitergehendes morphologisches Retrievalsystem zur Verfuumlgung das zumindest die Wortformen der Rgveda-Samhitā voll-staumlndig erfaszligt Auch diese Datenbank ist bdquolexikalischldquo indem saumlmtliche Wortformen in ihr vorab bestimmt und auf ihr jeweiliges Lemma bezo-gen enthalten sind13 lediglich die durch Sandhi entstehende Variation wird durch einen eigenen Regelmechanismus beim Aufruf abgeglichen Dieser kann wiederum durch einfaches Anklicken einer im Text gegebenen Wort-form erfolgen (vgl Abb 4 mit RV 111andashc) ausgegeben wird dann zunaumlchst eine morphologische Bestimmung mit Bedeutungsangabe wie in Abb 5 fuumlr agnim14 Daruumlber hinaus steht bereits eine lemmabezogene Suchmaschine zur Verfuumlgung die fuumlr ein Lexem wie agni- bdquoFeuerldquo saumlmtliche bezeugten

12 Dies betrifft generell den Wechsel zwischen den sog bdquoFremdzeichenldquo und den eigentli-chen Brāhmī-Akṣaras aber auch zB das oe bdquostummeldquo ltaumlgt im In- und Auslaut13 Grundlage ist die RV-Konkordanz von A Lubotsky Bedeutungsangaben greifen zusaumltzlich auf ein von P Schreiner (Zuumlrich) erarbeitetes Digitalisat des Sanskrit-Woumlrter-buchs von K Mylius (mit Ergaumlnzungen des Autors) zuruumlck Die Programmierarbeit wurde im Rahmen des Projekts bdquoAvesta und Rgveda Elektronische Analyseldquo (AUREA 1995-1998 cf httptitusuni-frankfurtdecurricaureaaureahtm) von R Gehrke erbracht14 Die morphologische Bestimmung ist (auch abgesehen von unklaren Wortformen) noch nicht in allen Einzelfaumlllen endguumlltig verifiziert die Retrievalergebnisse sind deshalb als noch nicht verlaumlszliglich gekennzeichnet

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Formen abzurufen gestattet vgl Abb 6 die den Aufruf des bdquoThesaurus-Sucheldquo ausgehend von der Akkusativ-Form agnim zeigt15 und Abb 7 die das mit der Nominativ-Form agniḥ beginnende Suchresultat darstellt Es versteht sich von selbst daszlig eine Datenbank die allein die in der Rgveda-Samhitā auftretenden Wortformen umfaszligt den kompletten vedischen For-menbestand nicht erschlieszligen kann eine Ausweitung im Sinne eines ge-mischten bdquolexikalisch-morphologischenrdquo Verfahrens ist also unumgaumlnglich wenn man die altindische Uumlberlieferung in groumlszligerem Umfang abdecken will Dies gilt umso mehr als eine Ausdehnung auf das epische buddhis-tische und klassische Sanskrit durch die Moumlglichkeiten der Wortkomposi-tion praktisch wieder lexikalische Unendlichkeit mit sich bringt

153 Alt- und NeugeorgischEin bdquogemischtesldquo lexikalisch-morphologisches Verfahren ist in der TITUS-Datenbank zB fuumlr das umfangreiche altgeorgische Textmaterial implementiert worden und zwar fuumlr dessen nominale Bestandteile Hierzu wurde zunaumlchst der Wortbestand der Sammlungen von I Abuladze Z Sarjveladze und H Faumlhnrich16 als Lemmaliste mit deutschen Uumlbersetzungen digitalisiert dann wurden saumlmtliche in der nominalen Formenbildung auftretenden Morpheme (Suffixe Endungen) mit ihren Kombinationsmoumlglichkeiten in einer eigenen Datentabelle erfaszligt Ruft man diesen Datenverbund nun uumlber das Anklicken einer Form wie ġaġadebisay in Mk 13 innerhalb der altgeorg bdquoProtovulgataldquo ab (s Abb 8)17 so erhaumllt man die korrekte Analyse wie in Abb 9 dargestellt ausgegeben Dabei ist zu beachten daszlig bei der Ruumlckfuumlhrung auf das Lemma ġaġadeba‑y bdquoRufenrdquo zunaumlchst die Nominativ-Endung -y und das stammauslautende -a- dieses Verbalnomens (bdquoMasdarrdquo) durch den Endungskomplex -isay verdraumlngt sind und letzterer seinerseits in drei Morpheme zerfaumlllt naumlmlich die Genetivendung is deren sog bdquoemphatischerdquo Erweiterung a sowie die Nominativendung i die nach a als ltygt = [j] repraumlsentiert ist Daszlig die Genetivendung ihrerseits um eine Nominativendung erweitert ist ist im Altgeorgischen durch die Regeln der sog bdquoSuffixaufnahmerdquo bedingt der Genetiv bdquodes Rufensrdquo ist an der gegebenen Stelle von dem im Nominativ

15 S httptitusfkidg1uni-frankfurtdesearchqueryhtm16 Abulaʒe Masalebi 1973 Sarǯvelaʒe Masalebi 1995 Sardschweladse Faumlhnrich Woumlrter-buch 1999 Zugrunde liegt eine elektronische Fassung des letzteren Woumlrterbuchs das die Materialien der beiden erstgenannten mit umfaszligt fuumlr die Bereitstellung sei H Faumlhnrich und Z Sarǯvelaʒe auch an dieser Stelle herzlich gedankt 17 S httptitusuni-frankfurtdetexteetcacaucageontcinantcinanhtm

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erscheinenden qmay bdquodie Stimmerdquo als Attribut abhaumlngig18 und diesem nachgestellt und erfordert deshalb die zusaumltzliche Markierung fuumlr den Kasus seines Bezugsworts Die einzelnen Analyseelemente seien noch einmal zusammengefaszligt

Lemmaform ltġaġadebaygt ġaġadebai bestehend aus Verbal-Wz bull +Praumls-Stammbildungssuffix+Masdar-Suffix+Nom-Endung

zu analysierende Form ltġaġadebisaygt ġaġadebaisai bestehend aus bull Verbal-Wz+Praumls-St+Masdar-S+Gen-E+bdquoemphldquo El+Nom-E

Regel Masdar-Suffix gt Oslash_Gen-Endung | Instr-Endungbull

Daszlig ein entsprechendes Analyseverfahren fuumlr das altgeorg Verbum noch nicht entwickelt wurde liegt an der enormen Formenfuumllle durch die dieses gekennzeichnet ist wobei Praumlfixe Suffixe Infixe und Ablaut involviert sind Auch ein solch komplexes System kann jedoch als Regelapparat pro-grammiert werden wie die von Paul Meurer (Bergen) implementierte Verbalformenanalyse des Neugeorgischen beweist19 Man vgl zB die in Abb 10 wiedergegebene Ausgabeseite die die paradigmatische Einbettung der Wortform daumalavs zeigt Die Form ist in korrekter Weise doppelt erfaszligt naumlmlich a) als Futurform bdquoersiees wird ihnsieessie vor ihmihr verbergenldquo und b) als Perfektform bdquoersiees soll ihnsiees sie (Sachen) verborgen habenldquo Dabei ist zu beruumlcksichtigen daszlig sich die beiden For-men allein dadurch unterscheiden daszlig die Markierung des handelnden Subjekts (Agens) in ersterer in der Endung -s steckt in letzterer jedoch in dem praumlradikalen -u- das in der Futurform ein indirektes (bdquoversionalesldquo) Objekt bdquovor ihmihrihnenldquo bezeichnet

Futur daumalavs bull Praumlv+indObjV3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +Subj3Sg

Perfekt daumalavs bull Praumlv+Subj3Ps+Wz+PraumlsPerf-Stammbildungssuffix +dirObj3Sg

18 Mit der bdquoStimme des Rufens in der Wuumlsteldquo (statt bdquodes Rufersldquo griech τοῦ βοῶντος) zeigt die altgeorg Bibel an der gegebenen Stelle einem Zitat aus Is 403 im uumlbrigen eine bemerkenswerte Uumlbereinstimmung mit der armen Bibel (jayn barbary wtl bdquoStimme des Sprechensrdquo) die auf eine syrische Vorlage weist 19 Die Analyse beruht auf einer Implementierung der morphologischen Angaben in K Tschenkelis Woumlrterbuch s httpmaximosaksisuibnoAksis-wikiGeorgian _ Gram-mar _ Project

Jost Gippert46

Es sei noch hinzugefuumlgt daszlig auf der Basis eines derartigen umfassenden morphologischen Formengenerators auch eine tiefgehende syntaktische Analyse programmierbar ist ein Prototyp fuumlr das Georgische ist von Paul Meurer als Finite-State-Anwendung auf der Basis der bdquoLexical-Functional Grammarldquo (LFG)20 entwickelt worden (vgl Abb 11)

2 Linguistische Zielsetzungen digital basierter MorphologieAlle bisher behandelten Anwendungsbeispiele setzen linguistisches Wissen voraus fuumlhren jedoch selbst allenfalls in begrenztem Maszlige zu einer Wei-terentwicklung unseres Wissens uumlber einzelne Sprachen oder menschliche Sprache im allgemeinen Dennoch kann die Digitalisierung morpholo-gischer Strukturen auch ihrerseits in erheblichem Maszlige zu linguistischem Kenntnisgewinn beitragen Die betreffenden Einsatzbereiche seien im fol-genden kurz umrissen

21 Einsatzbereich Lexikographie

Elektronische Textcorpora schaffen eine hervorragende Basis fuumlr lexiko-graphische Untersuchungen aller Art bis hin zur Erstellung vollstaumlndi-ger Konkordanzen Um das Textcorpus einer Sprache mit reichhaltiger Flexionsmorphologie lexikographisch in konsistenter Weise auszuwerten bedarf es einer Lemmatisierung die nur dann automatisch erfolgen kann wenn eine korrekte Bestimmung saumlmtlicher Wortformen gewaumlhrleistet ist21 Hierfuumlr ist es erforderlich Verfahren zu implementieren wie sie oben am Vedischen und weitergehend am Georgischen illustriert wurden

22 Einsatzbereich Grammatikographie

Auf der Basis von Textcorpora kann eine Digititalisierung morpholo-gischer Strukturen praktisch in allen Bereichen zur Unterstuumltzung einer grammatischen Beschreibung der betr Sprache eingesetzt werden Dies betrifft zum einen die Morphologie der Sprache selbst insofern je nach Umfang des Corpus mehr oder weniger erschoumlpfende Aussagen zur Gestal-tung und Distribution von Morphemen moumlglich werden Daruumlber hinaus ist

20 S dazu zB Kroeger Approach 200421 Vgl den 1994 publizierten Wortformenindex zu den Schriften Galens (Gippert Index Galenicus) bei dessen Erarbeitung noch nicht auf eine automatische Lemmatisierung des Altgriechischen zuruumlckgegriffen werden konnte Heute 15 Jahre nach der Erarbeitung dieser Wortformenkonkordanz wuumlrden geeignete Mittel fuumlr eine automatische Lemma-tisierung bereitstehen

Sprachliche Morphologie digitalisiert 47

die Syntax betroffen insofern sie (als Morphosyntax) die funktionale Ver-wendung von Morphemen zum Gegenstand hat Auch fuumlr die Phonologie kann digitalisierte Morphologie Erkenntnisse bringen soweit sie zB die lautliche Auspraumlgung von Allomorphen und phonotaktische Phaumlnomene an Morphemgrenzen zu untersuchen erlaubt

Dabei ist es zweckmaumlszligig zwei Verfahren zu unterscheiden Das erste das ich bdquointrinsischldquo nennen wuumlrde basiert wieder auf der digitalen Grundstruktur von Text naumlmlich der bdquoZeichenketteldquo (String) ein darauf aufbauendes Auswertungsverfahren (bdquozeichenkettenbasierte Sucheldquo) wird allerdings nur bei (nahezu) eindeutiger Form dh variantenloser Schreibung und bei (nahezu) eindeutigem klar definierbaren Zeichenkontext zufriedenstellende Ergebnisse zeitigen Dies sei am Beispiel gotischer Passivformen illustriert

221 Gotisches PassivDie (wenigen) synthetischen Passivformen des Gotischen sind bekanntlich durch spezifische Endungen gekennzeichnet naumlmlich im Praumlsens Indikativ -za fuumlr die 2PsSg -da fuumlr die 1 und 3PsSg und -nda fuumlr die Pluralpersonen Will man diese Endungen als solche abfragen so muszlig zunaumlchst sichergestellt werden daszlig sich die Abfrage nur auf wortfinales -za bzw -(n)da bezieht diese Einschraumlnkung kann in der TITUS-Suchmaschine durch die Eingabe eines Sternchens als Stellvertreterzeichen fuumlr eine beliebige Zeichenfolge markiert werden das den Wortkoumlrper repraumlsentiert (bdquoWildcardldquo vgl Abb 12 mit der Eingabe fuumlr die Endung -za in der Form za) Die daraufhin ausgegebene Wortformenliste zeigt auf den ersten Blick (s den Ausschnitt in Abb 13) die Unzulaumlnglichkeit dieses Verfahrens auf denn neben den (zwei) gewuumlnschten Passivformen (haitaza bdquodu wirst genannt (werden)ldquo Lk 17622 und us-maitaza bdquodu wirst abgehauen (werden)ldquo Roumlm 1122) finden sich hier in weitaus groumlszligerer Zahl andere Formen die auf -za auslauten wie zB die Komparative maiza und minniza bdquogroumlszliger mehrldquo und bdquokleiner minderldquo (Mt 1111 uouml) oder die substantivischen Dativformen riqiza bdquoder Finsternisldquo (Mt 1027 uouml) und Moseza bdquo(dem) Moseldquo (2Tim 38) Noch weitaus diffuser ist die Liste die bei der Abfrage nach da ausgegeben wird (s den Ausschnitt in Abb 14) denn hier erscheinen insbesondere Praumlteritalformen auf -da (wie zB gaweihaida bdquoer hat geheiligtldquo Jo 1036) in groszliger Zahl

22 Im intr heiszligen = bdquogenannt werdenldquo (gegenuumlber trans jdn (etw tun) heiszligen) mani-festiert sich im Deutschen offensichtlich noch eine Reminiszenz an die fruumlhere Existenz eines (Medio-)Passivs des gotischen Typs

Jost Gippert48

222 Annotative VerfahrenAngesichts solcher Ergebnisse ergibt sich die Notwendigkeit ein besser geeignetes Verfahren anzuwenden nahezu von selbst Als ein bdquoextrinsischesldquo Verfahren das bereits weithin genutzt wird bietet sich die durchgehende Annotation von Textdaten an Hierbei werden durch ein sog bdquoTaggingldquo vorzugsweise auf der Basis der sog bdquoExtended Markup Languageldquo (XML) die fuumlr eine gezielte Abfrage erforderlichen Daten (Formenbestimmungen Lemmaangaben) in den Text eingebunden so daszlig sie fuumlr gezielte Abfragen verfuumlgbar sind Der Vorteil eines derartigen Verfahrens besteht in der rel frei definierbaren und anpassungsfaumlhigen Informationsstruktur Das Tagging kann in nahezu beliebiger Weise explizit (dh als lesbarer bdquoKlartextldquo) oder implizit (in Form von Abkuumlrzungen Siglen etc) gehalten werden nur Konsistenz muszlig gewahrt bleiben Abb 15ndash16 zeigen zur Illustration eines maximal expliziten Taggings einen Ausschnitt aus dem Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus23 in verschiedenen Darstellungsformen24 Als Beispiel fuumlr ein besonders wenig explizites Annotationsverfahren kann man denselben Ausschnitt aus der urspruumlnglichen Fassung des Corpus (Abb 17) oder den von Han Steenwijk aufbereiteten Slovenischen (Resischen) Katechismus (Abb 18) vergleichen Eines muszlig natuumlrlich klargestellt werden Wie explizit auch immer das Tagging ist ndash es reflektiert auf jeden Fall bereits vorher akkumuliertes linguistisches Wissen

Inwiefern kann ein annotationsbasiertes Retrieval dann uumlberhaupt selbst zum linguistischen Erkenntnisgewinn beitragen Eine ganz wesentli-che Funktion liegt in der Verifikation und Falsifikation von Hypothesen die das Verfahren erlaubt Dabei geht es insbesondere um eine statistische Untermauerung dh die Frage nach der Stringenz linguistischer Annah-men im Hinblick auf in Corpora enthaltene Daten Warum ein Retrieval auf der Basis von Annotationen dabei einer einfachen Suche nach objekt-sprachlichen Zeichenketten uumlberlegen ist sei wiederum an einem Beispiel illustriert

23 S httpwwwikpuni-bonndedtforschfnhd24 Die Ausgabe von XML-Strukturen haumlngt von dem jeweiligen Verarbeitungspro-gramm ab hier dargestellt sind die frei verfuumlgbaren XML-Editoren von firstobject (httpwwwfirstobjectcomdn _ editorhtm) und XMLFox (httpwwwxmlfoxcomdownloadhtm) Auf der Seite httptitusuni-frankfurtdeldlinkshtm sind online verfuumlgbare XML-Werkzeuge zusammengestellt

Sprachliche Morphologie digitalisiert 49

223 Echofragen im KaukasusWer die georgische Sprache erlernt wird sich uumlber kurz oder lang wundern daszlig Echofragen in dieser Sprache in spezifischer Weise ausgepraumlgt sind insofern sie mit den auf sie folgenden Antworten durch die Konjunktion da bdquoundldquo verbunden werden man vgl das folgende Beispiel25

Frage ras aḳetebt axla tkven bdquoWas tut ihr geradeldquo

Echofrage+Antwort čven ras vaḳetebt da meored motibul tivas vparcxavt bdquoWas wir tun sbquoUndrsquo ndash wir rechen die zweite Mahd zusammenldquo

Wollte man derartige Konstellationen nun in einem groumlszligeren Corpus des (gesprochenen) Georgischen abfragen so wuumlrde man mit einer rein zeichenkettenbasierten Suche schwerlich in vertretbarer Zeit zum Erfolg kommen da eine Suche nach selbstaumlndigem da sowohl saumlmtliche Belege fuumlr die Konjunktion (und damit das haumlufigste Wort uumlberhaupt) als auch solche fuumlr das homonyme da bdquoSchwesterldquo (NomSg) erbringen wuumlrde Noch schwieriger wuumlrde sich die entsprechende Suche im Svanischen einer der Schwestersprachen des Georgischen gestalten das einen genau entsprechenden Gebrauch der Konjunktion bdquoundldquo kennt Diese lautet hier normalerweise i wie in der woumlrtlichen Entsprechung des obigen Beispiels

Frage im xašdbad atxe sgaumly Echofrage+Antwort nauml im xwašdbad i mēris xwipcxidIn der Position nach vokalischem Auslaut wird das i nun aber als [j] real-isiert und sofern svanische Texte niedergeschrieben werden als solches an das vorhergehende Wort angehaumlngt so daszlig eine Suche nach (selbstaumlndigem) i diese Faumllle nicht erbringen wuumlrde

Frage si zurāl im xašdba bdquoDu Frau was tust du (gerade)rdquo Echofrage+Antwort im xwašdbay ulyāks xwaumlpšwde bdquoWas ich tue lsquoUndrsquo ndash ich schere ein Schafrdquo

25 Die folgenden Beispiele sind dem im Rahmen des Projekts bdquoEndangered Caucasian Languages in Georgialdquo (s httptitusfkidg1uni-frankfurtdeeclingeclinghtm) gesammelten originalsprachlichen Material entnommen Die Beispiele wurden nicht gezielt eruiert sondern sind jeweils Bestandteil ungesteuerter Konversation

Jost Gippert50

Noch komplexer ist die Sachlage in einer zweiten ihrerseits nicht ver-wandten Nachbarsprache des Georgischen dem Tsova-Tuschischen oder Batsischen Auch hier koumlnnen moumlglicherweise unter georgischem Einfluszlig Echofragen mit den folgenden Antworten durch bdquoundrdquo verbunden sein die Konjunktion liegt dabei jedoch nicht als eigenstaumlndiges Wort (und somit als eindeutig abgrenzbare Zeichenkette) vor sondern manifestiert sich jeweils unterschiedlich in der Laumlngung des auslautenden Vokals des vorangehenden Wortes der seinerseits in anderen Konstellationen getilgt sein kann man vgl das folgende Beispiel

Frage men yar o psṭuyn bdquoWer war diese Fraurdquo Echofrage+Antwort men yarē xaxabuyren bdquoWer sie war (lsquoUndrsquo) ndash sie war aus Xaxabordquo

Es kommen jedoch auch Echofragen ohne eine derartige Laumlngung vor

Frage qēn nānas vux dīen bdquoWas tat (seine) Mutter dannrdquo Echofrage+Antwort nānas vux dīen ndashnān korlacyīen bdquoWas (seine) Mutter tat (Seine) Mutter wurde verhaftetrdquo

Die sich hieraus unmittelbar ergebende Frage nach der Konsistenz des Gebrauchs kann durch eine Zeichenkettensuche in keiner Weise beant-wortet werden da eben kein zu suchendes Zeichen gegeben ist Man wird also um das Phaumlnomen der Echofragen im Kaukasus im Hinblick auf seine Regelhaftigkeit weiter zu untersuchen nicht umhin koumlnnen eine Anno-tation vorzusehen die nicht nur die morphologischen Elemente sondern sogar syntaktische Einheiten (eben Echofragen als solche) markiert

23 Digitale Morphologie und diachrone Untersuchungen

Einen weiteren Einsatzbereich digitalisierter Morphologie innerhalb der Linguistik stellen diachrone Untersuchungen dar Dabei gilt wieder das Grundprinzip daszlig der Einsatz digitaler Verfahren va zur Verifizierung bzw Falsifizierung von an Einzelfaumlllen erarbeiteten Hypothesen dienen kann Auch dies sei durch ein Anwendungsbeispiel aus dem kaukasischen Raum illustriert

Das Svanische faumlllt unter den kartvelischen oder suumldkaukasischen Sprachen insbesondere dadurch auf daszlig es in mehrere Dialekte mit houmlchst unterschied-licher phonologischer Struktur zerfaumlllt Die historischen Veraumlnderungspro-

Sprachliche Morphologie digitalisiert 51

zesse die diese Diversitaumlt herbeigefuumlhrt haben umfassen houmlchst komplexe Umlautungen Assimilationen sowie Syn- und Apokopeerscheinungen So wuumlrde man etwa die Form aumlǯhīdx bdquosie sind uumlber euch gekommenldquo des ober-balischen Dialekts auf eine historisch zugrundeliegende Form adǯihīdex zuruumlckfuumlhren die sich uumlber die folgenden vier chronologisch aufeinander-folgenden an das Altirische erinnernden Schritte veraumlndert haben duumlrfte

Umlautung aumldǯihīdex Apokope (Tilgung des Vokals der Auslautssilbe) aumldǯihīdx Synkope (Tilgung kurzer Vokale in geraden Silben) aumldǯhīdx Clustervereinfachung aumlǯhīdxDabei ist zu bemerken daszlig ein anderer Dialekt der lenṭechische die Syn-kope noch nicht vollzogen hat und in aumllteren svanischen Volksliedtexten sogar noch Formen ohne Apokope begegnen

Die historisch anzusetzende bdquoursvanischeldquo Grundform ist nun zugleich auch diejenige die man bei einer morphologischen Analyse von aumlǯhīdx zugrundelegen muszlig Tatsaumlchlich zerfaumlllt diese Form in insgesamt sechs morphologische Elemente naumlmlich das Praumlverb ad bdquoherldquo das Zeichen eines Objekts der 2 Person verbunden mit dem Zeichen der bdquoobjektiven Versionldquo ǯ+i bdquoin Bezug auf dich euchldquo die Verbalwurzel hīd bdquokommenldquo das Suf-fix des Aorists e sowie das Zeichen fuumlr ein Subjekt der 3 Person Plural x von denen aber eben nicht mehr alle in der heutigen oberbal Form als solche bdquosichtbarldquo sind Schematisch

I II III IV V VIad + ǯ + i + hīd + e + xPraumlv + 2PsObj + ObjV + Wz + AorSuff + 3PlSubjaumlǯhīdx

Wie in diesem Fall ist zu erwarten daszlig eine konsistente morphologische Analyse regelmaumlszligig Formen liefern wird die den mutmaszliglichen historischen (ursvanischen) Ausgangsformen zumindest nahekommen Sie koumlnnen damit als Inputformen fuumlr eine (automatische) Verifizierung der postulierten lautgesetzlichen Entwicklungen vom Ursvanischen zu den einzelnen heutigen Dialekten wie auch fuumlr die postulierten interdialektalen Lautentsprechungen dienen26

26 Vgl bereits Gippert Divergences 2000 mit einigen Fallbeispielen

Jost Gippert52

3 ResuumlmeeDie Perspektiven die die Anwendung digitaler Morphologie in der Sprach-wissenschaft eroumlffnet lassen sich auf der Grundlage der oben behandelten Fallbeispiele in zwei Thesen zusammenfassen

These I Je mehr sprachliche Daten mit morphologischer (und daruumlber hinaus syntaktischer semantischer pragmatischer metrischer) Analyse digital aufbereitet sind auf desto sichererem Boden steht die Theo-riebildung in synchron-deskriptiver und diachron-vergleichender Linguis-tik

These II Durch die Digitalisierung groszliger Datenmengen wird eine (statistische) Verifizierung bzw Falsifizierung sprachwissenschaftlicher Hypothesen nicht nur moumlglich sondern geradezu als methodisches Postu-lat erzwungen

Durch eine entsprechende Aufbereitung sprachlicher Daten die Voraus-setzungen hierfuumlr zu schaffen sehe ich als eine der vorrangigen Aufgaben der heutigen Linguistik an

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Jost Gippert54

Abbildungen

Abb 1 A-tocharischer Textausschnitt (THT 634r 1-3)

Abb 2 Aufruf der Datenbank

Sprachliche Morphologie digitalisiert 55

Abb 3 Paradigma-Ausgabe

Abb 4 Vedischer Textausschnitt (RV 111a)

Jost Gippert56

Abb 5 Bestimmung der Form agnim

Abb 6 Aufruf der Thesaurus-Suchmaschine

Sprachliche Morphologie digitalisiert 57

Abb 7 Ausgabe der Thesaurus-Suche

Abb 8 Mk 12ndash3 in der altgeorgischen bdquoProtovulgataldquo

Jost Gippert58

Abb 9 Bestimmung der altgeorg Wortform ġaġadebisay

Abb 10 Verbformengenerator fuumlr das Neugeorgische (Paul Meurer)

Sprachliche Morphologie digitalisiert 59

Abb 11 Georgische Syntaxanalyse (Paul Meurer)

Abb 12 Abfrage der gotischen Endung -za

Jost Gippert60

Abb 13 Ausgabeliste von Wortformen auf -za

Abb 14 Ausgabeliste von Wortformen auf -da

Sprachliche Morphologie digitalisiert 61

Abb 15 Annotation (Tagging) im Bonner Fruumlhneuhochdeutschcorpus

Abb 16 Dasselbe in systematischer Darstellung

Jost Gippert62

Abb 17 Dasselbe in nicht explizitem Tagging

Abb 18 Implizites Tagging Slovenischer Katechismus

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit Primaumlre vs sekundaumlre

Verbalstammbildung und das Kausativ

Hans Henrich Hock

Since the time of Whitney (1889) western scholarship generally assumes that lsquosecondaryrsquo verb inflections of Sanskrit such as the causative are based on derived stems which are not available in all tense categories while lsquoprimaryrsquo verbs based on roots are not restricted in this way (with certain idiosyncratic exceptions) This approach contrasts with that of Pāṇini according to which lsquosecondaryrsquo formations are based on derived roots rather than stems and these roots behave just like ordinary roots being inflectable in all tense categories I show that Pāṇinirsquos approach provides a more satisfactory account of the Sanskrit facts even though the notion lsquoderived rootrsquo is unorthodox from the present-day perspective and thus constitutes a certain challenge to modern linguistics In addition my paper demonstrates that in the investigation of Sanskrit grammar the work of the indigenous Indian grammarians must be regarded as earlier scholarship on a par with that of western scholars such as Whitney

0 EinleitungSeit Whitney (1889) wird im Allgemeinen angenommen daszlig im Sanskrit (oder Altindoarischen) ein Unterschied besteht zwischen bdquoprimaumlrerrdquo und bdquosekundaumlrerrdquo Verbalstammbildung Etwas vereinfachend kann der Unterschied so dargestellt werden daszlig Sekundaumlrverben (Kausative Desiderative Intensive und Passive) abgeleitete Verbalstaumlmme und daher nicht in allen Tempuskategorien verwendbar sind waumlhrend Primaumlrverben mit gewissen idiosynkratischen Ausnahmen dieser Beschraumlnkung nicht unterliegen Im Gegensatz dazu analysiert Pāṇinis Generativgrammatik (Pāṇini bdquoGrammatikrdquo) die Sekundaumlrverben als nicht auf abgeleiteten Staumlmmen basiert sondern auf abgeleiteten Wurzeln

In diesem Aufsatz versuche ich darzustellen daszlig Pāṇinis Ansatz fuumlr die synchronen Tatsachen eleganter aufkommt und bessere Verallgemeinerungen macht obwohl er mdash und das muszlig zugegeben werden mdash aus heutiger Sicht bdquounorthodoxrdquo anmutet und daher eine gewisse Herausforderung fuumlr die moderne Morphologie darstellt In diesem Zusammenhang ist das Kausativ von besonderer Bedeutung da es den besten Beweis zu liefern scheint fuumlr

Hans Henrich Hock64

die Ansicht daszlig Sekundaumlrkonjugationen sich von der Primaumlrkonjugation grundlegend unterscheiden Mein Aufsatz zielt daher im allgemeinen nur das Kausativ an1

Zusaumltzlich zu der Verteidigung von Pāṇinis Ansatz sollten meine Ausfuumlhrun-gen klar stellen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker keineswegs vernachlaumlssigt werden duumlrfen sondern genauso wie die Arbeiten von Gelehrten wie Whitney als fruumlhere Forschungsansaumltze beruumlcksichtigt wer-den muumlssen

1 Die traditionelle westliche Standard-AnsichtWie bekannt hat das Sanskrit eine Reihe von bdquosekundaumlrenrdquo Verbal- formationen naumlmlich Kausativ Desiderativ und Intensiv zu denen haumlufig auch das Passiv gefuumlgt wird (s aber weiter unten) Vergleiche die Uumlbersicht der von der Wurzel bhr- abgeleiteten Praumlsensflexionen in [1]

[1] a bdquoPrimaumlr-Flexionrdquo bhaacuter-a-ti und biacute-bhar-ti2 traumlgtrsquo b Kausativ bhār-aacutey-a-ti laumlszligt tragenrsquo c Desiderativ buacute-bhūr-ṣa-ti will tragen ist dabei zu tragenrsquo d Intensiv bhaacuteri-bhr-ati sie tragen immer wiederrsquo e Passiv bhri-yaacute-te wird getragenrsquo

Seit Whitney (1889) wird das Verhaumlltnis zwischendiesen Formatio-nen allgemein dahingehend erklaumlrt daszlig die in [1a] Primaumlrverben und die in [1b-e] Sekundaumlrverben seien und daszlig diese Sekundaumlrverben auf einem abgeleiteten Verbalstamm basieren siehe [2]

[2] bdquoSecondary conjugations are those in which a whole system of forms like that already described as made from the simple root [dh die bdquoPrimaumlrformationenrdquo] is made with greater or less com-pleteness from a derivative conjugation-stem and is also usually connected with a certain definite modification of the original radi-cal sensersquo (Whitney 1889 S 360-361)

1 Damit die Darstellung nicht all zu spezialisiert und kompliziert wird beschraumlnke ich mich im allgemeinen auf die Finitformen des Verbums die wichtigste Nicht-Finitform ist das ta-Partizip manchmal auch faumllschlich als Passiv-Partizip des Perfekts bezeichnet (bei Intransitiven ist es aktiv und im fruumlhen Sanskrit hat es eher Gemeinsamkeiten mit dem Aorist)2 Im Unterschied zu den meisten anderen Verbalwurzeln hat bhr- zwei verschiedene bdquoprimaumlrerdquo Praumlsensbildungen

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 65

Whitneys Ansicht wird weitgehend geteilt Zum Beispiel behandeln ThumbHauschild (1959 S 330-357) Mayrhofer (1978 S 93-95) und Renou (1984 S 463-490) alle unter [1b-e] angefuumlhrten Formationen zusammen aber getrennt von der Primaumlrflexion wobei ThumbHauschild und Mayrhofer explizit den Terminus bdquoabgeleitete Konjugationenrdquo verwenden

Eine Variante findet sich bei Macdonell (1916 S 195-207 vs 178-180) Sten-zler (1970 S 52-54 vs 51) und Gonda (1966 S 73-74 vs 72-73) die das Pas-siv separat behandeln (Die Einstellung von Morgenroth (1973 S 158-168) ist in dieser Beziehung ambig)

Waumlhrend in den meisten Faumlllen die Behandlung der Verben in [1b-e] (oder [1b-d]) als Sekundaumlrkonjugationen ohne weitere Diskussion als selbstver-staumlndlich angesehen wird stellt Morgenroth (1973 S 185) bei der Bespre-chung des Kausativs ausdruumlcklich fest daszlig diese Formation bdquozu den sekundaumlren Verben [gehoumlrt] dh zu Verben deren Staumlmme von Verbal-wurzeln abgeleitet sind und eine spezielle Bedeutung habenrsquo

Bevor wir uns weiteren Folgen der westlichen Standard-Ansicht zuwenden ist es vielleicht angebracht kurz die Variante zu besprechen die das Passiv separat behandelt Explizite Ausfuumlhrungen fehlen in den zitierten Veroumlffentlichungen aber es lassen sich wenigstens zwei solcher Begruumlndungen anfuumlhren Die erste hat mit der Tatsache zu tun daszlig das Passiv im Unterschied zu den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo morphologisch auf das Praumlsenssystem und die dritte Person Singular Aktiv des Aorists beschraumlnkt ist auszligerhalb dieser Formationen kann das Passiv nur durch das Medium dargestellt werden das aber auch andere Funktionen erfuumlllt In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert daszlig sich dieses Argument auch bei Whitney findet der sich aber dann doch entscheidet das Passiv bei den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo einzuordnen

[3] bdquoThe passive is classed here as a secondary conjugation because of its analogy with the others in respect to specific value and free-dom of formation although it does not like them make its forms outside the present system from its present-stemrsquo (Whitney 1889 S 361)

Eine weitere Begruumlndung waumlre die folgende Die einheimische indische Grammatik erlaubt Desiderative und Kausative von Intensiven [4a] Kau-sative von Desiderativen [4b] und Desiderative von Kausativen [4c] und die meisten dieser Formation sind auch in Texten bezeugt Kausative von Desiderativen und Desiderative von Kausativen relativ haumlufig die anderen

Hans Henrich Hock66

Formation eher selten3 Zu jeder dieser Formationen kann im Prinzip auch ein Passiv gebildet werden [4arsquo-4crsquo] aber vom Passiv koumlnnen keine anderen bdquoSekundaumlrformationenrdquo abgeleitet werden

[4] a Wurzel vid- wissenrsquo Intensiv ve-vid- Desid des Int ve-vid-i-ṣa-ti Kaus des Int ve-vid-aya-ti b Wurzel āp- erreichenrsquo Desiderativ īp-sa-ti Kaus des Des īp-s-aya-ti c Wurzel pā- trinkenrsquo Kausativ pāy-aya-ti Des des Kaus pi-pāy-ayi-ṣa-ti arsquo Pass des Int ve-vid-ya-te brsquo Pass des Desid īp-s-ya-te crsquo Pass des Kaus pāy-ya-teDiese Verhaumlltnisse sprechen daher fuumlr eine Trennung des Passivs von den anderen bdquoSekundaumlrkonjugationenrdquo

2 Empirische Begruumlndung der traditionellen westlichen Standard-AnsichtDie Begruumlndungen fuumlr die separate Einstufung der bdquoSekundaumlrformationenrdquo in der traditionellen westlichen Sanskrit-Grammatik sind eher duumlrftig Wie schon vorher angedeutet ist ein Hauptargument daszlig diese Verbfor-mationen eine spezielle semantische Bedeutung haben die sich von der (unmarkierten) Bedeutung der bdquoPrimaumlrverbenrdquo unterscheidet Wie schon gesehen wuumlrden auf Grund dieses Arguments das Passiv und die anderen bdquoSekundaumlrverbenrdquo zusammen gegliedert obwohl das Passiv in der Deriva-tion ein ganz anderes Verhalten zeigt

Das einzige weitere haumlufiger angebrachte Argument ist historischer Art Es beruht auf der Ansicht daszlig die sogenannten Sekundaumlrverben urspruumlnglich auf das Praumlsenssystem (Praumlsens Imperfekt und vom Praumlsens abgeleitete Partizipen) beschraumlnkt waren und erst sekundaumlr auf andere Tempussysteme ausgedehnt wurden Siehe z B das folgende Zitat von Whitney

3 Beispiele von Whitney 1889 S 372 377 386

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 67

[5] bdquoIn these [secondary or derivative conjugations] a conjugation stem instead of the simple root underlies the whole system of inflection Yet there is clearly to be seen in them the character of a present-system expanded into a more or less complete conjuga-tion and the passive is so purely a present-system that it will be described in the chapter to that part of the inflection of the verbrsquo (Whitney 1889 S 203-204)

Indirekt wird diese Ansicht unterstuumltzt durch das besondere Verhaumlltnis des dem Kausativ zugehoumlrigen reduplizierten Aorists der dem Anschein nach nicht vom Kausativstamm gebildet wird sondern suppletiv direkt von der Wurzel Siehe zB das Verhaumlltnis zwischen [6a-d] und [6e]

[6] a Praumlsens bhārayati b Futur bhārayiṣyati c Passiv bhāryate d ta-Partizip bhārita- e Perfekt bhārayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist abībharat (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Vergleiche in dieser Hinsicht die Ausfuumlhrungen von Whitney und Macdonell wobei die letztere durch ihre historische Begruumlndung besonders auffaumlllt

[7] bdquoThe aorist of the causative conjugation is the reduplicated which in general has nothing to do with the causative stem but is made directly from the rootrsquo (Whitney 1889 S 383)

[8] bdquoThough (with a few slight exceptions) unconnected in form with the causative it has come to be connected with the causative in sense helliprsquo (Macdonell 1916 S 173)

Ein weiteres historisches Argument wird von ThumbHauschild angedeutet naumlmlich daszlig das periphrastisch gebildete Perfekt [6e] erst sekundaumlr dem Kausativsystem zugefuumlgt ist

[9] bdquohellip und somit ist das periphrastische Perfekt nur das Ergebnis einer sprachlichen Auslese welche es ermoumlglichte zu abgeleiteten Verben (wie den Causativstaumlmmen) hellip ein besonderes Perfekt zu bildenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 295)

Ein aumlhnlicher Vorschlag findet sich wiederum bei ThumbHauschild in Bezug auf das Passiv [6c] das zwar dieselbe Wurzelform wie die anderen

Hans Henrich Hock68

nicht-aoristischen Formen hat bei dem aber das normale Suffix -aya- fehlt4

[10] bdquoDaszlig es sich auch hier hellip um junge Neubildungen handelt ergibt sich schon aus der Chronologie dieser Formen sie beginnen erst in den Brāhmaṇas gelegentlich aufzutretenrsquo (ThumbHauschild 1959 S 344)

3 Probleme des traditionellen westlichen AnsatzesObwohl die historischen Erklaumlrungen fuumlr die verschiedenen Formen im groszligen Ganzen stimmen sind solche historischen Begruumlndungen synchron belanglos Die synchrone Grammatik sollte nur fuumlr die synchronen Tatsachen- verhaumlltnisse aufkommen

Sehen wir uns also kurz an was der traditionelle westliche Ansatz uumlber diese Verhaumlltnisse auszusagen hat und welche Probleme sich dabei herausstellen

Um die Futurformen [6b] und aumlhnliche Formationen wie den Infinitiv zu erklaumlren wird allgemein angenommen daszlig das -a- des Praumlsenssuffixes -aya- abgeworfen wird und zwischen das -ay- und das Futursuffix der sogenannte Bindevokal (bdquounion vowelrdquo) eingeschoben wird der sich fakul-tativ oder obligat in vielen anderen Formen findet

Wie schon oben angedeutet nimmt man fuumlr das Passiv [6c] an daszlig das ganze Praumlsenssuffix abgeworfen wird so daszlig das Passivsuffix direkt an die Kausativwurzel angefuumlgt wird Die Analyse ist aumlhnlich fuumlr das ta-Partizip [6d] nur daszlig hier der Bindevokal vor das ta-Suffix eingeschoben wird

Die Tatsache daszlig das Perfekt periphrastisch gebildet wird mit dem urspruumlnglichen Akkusativ Singular eines vom Praumlsensstamm abgeleiteten deverbalen Nomens plus Auxiliar [6e] wird in manchen Veroumlffentlichungen (zB Whitney und ThumbHauschild) verglichen mit aumlhnlichen aber etwas selteneren Formationen die direkt von der Wurzel gebildet werden wie zB die in [11] angefuumlhrten

[11] vid- wissenrsquo (Praumls vetti5) Perf vidāṁ cakāra īkṣ- schauenrsquo (Praumls īkṣate) Perf īkṣāṁ cakre

4 Fuumlr das ta-Partizip [6d] siehe Sektion 35 Neben dem unreduplizierten Perfekt veda das wie vetti Praumlsensfunktion hat

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 69

Die Formation die die groumlszligten Schwierigkeiten verursacht ist der redu-plizierte Aorist [6f] Waumlhrend beim Passiv und ta-Partizip die Gestalt der Wurzel die gleiche ist wie im Praumlsensstamm (zB bhār- wie in bhārayati) scheint die Wurzelform des reduplizierten Aorists (abībharat mit Voll-stufe bhar) voumlllig verschieden zu sein von der Wurzel des Praumlsensstamms (bhārayati mit Dehnstufe bhār) Das Verhaumlltnis scheint also suppletiv zu sein und die synchrone Analyse scheint daher mit der historischen Inter-pretation uumlbereinzustimmen

Dieser Anschein aber truumlgt Wie aus Daten wie denen in [12] erhellt sind gewisse Wurzelveraumlnderungen des Praumlsensstammes6 nicht nur in den For-men zu finden die allgemein als vom Praumlsensstamm abgeleitet angesehen werden [12a-e] sondern auch im reduplizierten Aorist [12f]

[12] a Praumlsens sthā-p-aya-ti (Wurzel sthā ῾stehenrsquo) b Futur sthā-p-ayi-ṣya-ti c Passiv sthā-p-ya-te d ta-Partizip sthā-p-i-ta e Perfekt sthā-p-ayāṁ cakāra (bdquoPeriphrastisches Perfektrdquo) f Aorist a-ti-ṣṭhi-p-a-t (bdquoReduplizierter Aoristrdquo)

Die allgemeine Antwort auf dieses Problem liegt in der Annahme daszlig diese Form des Aorists synchron anomal und irgendwie aus dem Praumlsens-stamm uumlbertragen ist siehe zB [13] (Aumlhnliches bei Gonda 1966 S 65 und Stenzler 1970 S 47)

[13] bdquoIn a few cases where the root has assumed a peculiar form before the causative sign mdash as by the addition of a p or ṣ hellip mdash the redu-plicated aorist is made from this form instead of the simple root thus atiṣṭhipam from sthāp (stem sthāpaya) for sthā hellip the only other example from the older language is bībhiṣa from bhīṣ for bhīrdquo (Whitney 1889 S 384)

Die Folgen dieser Anschauung sind am deutlichsten in der Organisation von Whitneyrsquos (1885) zu erkennen wo bdquoregelmaumlszligigerdquo Formen wie [6f] als normale Aoristformen angefuumlhrt werden waumlhrend Formen wie [12f] unter dem Kausativeintrag erscheinen7 Siehe [14a] vs [14b] wo die relevan-ten Aoristformen durch (von mir zugefuumlgten) Fettdruck gekennzeichnet sind

6 Die meisten dieser Veraumlnderungen haben die Wurzelerweiterung -p- aber es gibt auch andere (zB -ṣ- fuumlr die Wurzel bhī fuumlrchtenrsquo)7 Siehe Whitney 1885 svv

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[14] a Formen der Wurzel bhr tragenrsquo Pres [3] biacutebharti biacutebhrati hellip mdash [1] hellip bhaacuterati ndashte hellip mdash [2] bharti hellip Perf babhāra hellip Aor 1 bhartaacutem hellip mdash 3 bībharas hellip mdash 4 abhārṣīt hellip Fut 1 bhariṣyaacuteti hellip mdash 2 bhartā hellip hellip Sec Conj hellip Caus bhārayati

b Formen der Wurzel sthā stehenrsquo Pres [1] tiacuteṣṭhati hellip Perf tasthāuacute hellip Aor 1 aacutesthāt hellip mdash [4] [sthāsīṣṭa] hellip Fut 1 sthāsyaacuteti hellip mdash 2 sthātā hellip hellip Sec Conj hellip Caus sthāpayati hellip (aacutetisthipat etc VB hellip sthāpyate hellip -sthāpayiṣyati B)

Nur bei ThumbHauschild und Macdonell finden sich etwas bessere Beschrei-bungen siehe [15] Dabei wird aber vernachlaumlssigt daszlig die dem -p- vorangehende Wurzelform eben nicht mit der des Praumlsensstamms uumlbereinstimmt Auszligerdem werden die Konsequenzen der Annahme daszlig der Aorist den Praumlsensstamm oder einen Teil des Praumlsenssuffixes enthaumllt nicht durchgesprochen

[15] a bdquohellip der reduplizierte Aorist von p-Causativa hellip wird nicht von der Wurzel sondern von dem Causativstamm gebildetrsquo (ThumbHauschild 1959 S 343)

b bdquoThe initial of the suffix is retained from the causative stems jntildeā-paya hellip thus a-ji-jntildeip-at helliprsquo (Macdonell 1916 S 175)

Als Fazit laumlszligt sich also sagen daszlig der traditionelle westliche Ansatz zwar irgendwie fuumlr die synchronen Tatsachen aufkommt aber keine konse-

Staumlmme oder Wurzeln im Sanskrit 71

quenten grammatischen Verallgemeinerungen liefert die es ermoumlglichen koumlnnten die Aoristformen mit Wurzelerweiterung (Typus [12f]) zu erklaumlren

4 Der juumlngste westliche Versuch (Stump 2005)Obwohl der kuumlrzlich erschienene Aufsatz von Stump (Delineating 2005) als Hauptthema die theoretische Frage hat ob das Kausativsuffix -aya- Flexionsklasse oder Derivation markiert bespricht er auch noch einmal eingehend die verschiedenen Formationen des Kausativs und bietet zudem eine Alternativanalyse von -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassen-marker -a- an

Wie im tradionellen westlichen Ansatz sieht Stump den reduplizierten Aorist als suppletiv an Zusaumltzlich interpretiert er das Fehlen des Kausativ- suffixes -aya- im Passiv und im ta-Partizip als Anzeichen dafuumlr daszlig die-ses Suffix nur Flexionsklasse markiert (fuumlr die Formationen in denen es erscheint) und nicht der Ableitung dient Wie die meisten traditionellen westlichen Forscher behandelt er in diesem Verfahren die bdquoroot modifica-tionsrdquo (Dehnstufe der Wurzel und Wurzelerweiterung -p-) als im Effekt nebensaumlchlich Soweit der Hauptteil seines Artikels der sich also nicht wesentlich von dem traditionellen westlichen Ansatz unterscheidet

In einer Art Anhang aber erwaumlgt Stump eine Alternativloumlsung die wenig-stens das Potential zu einem neuen Ansatz hat Dies ist der Vorschlag daszlig -aya- als kausativ -ay- plus Praumlsensklassenmarker -a- analysiert wer-den kann Der Vorteil dieses Ansatzes ist daszlig die Futurform des Typus bhārayiṣyati [6b] leichter erklaumlrt werden kann naumlmlich als Kausativ-stamm bhār-ay- plus Futursuffix -syaṣya- (mit vorhergehendem Binde-vokal) Zusaumltzlich kann nun das ta-Partizip des Typus bhārita- [6d] vom Stamm bhār-ay- abgeleitet werden unter der Annahme daszlig das dem -ta- vorausgehende -i- die Nullstufe des Suffixes -ay- darstellt da Nullstufe vor dem ta-Suffix vorherrscht

Man koumlnnte sogar einen Schritt weitergehen und das Passiv bhār-ya-te [6c] vom Stamm bhār-ay-ableiten unter der Annahme daszlig auch hier das Kau-sativsuffix -ay- in der Nullstufe -i- erscheint da auch vor dem Passivsuffix Nullstufe vorherrscht Der Schwund dieses -i- koumlnnte dann erklaumlrt werden

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als Parallelerscheinung zum Schwund des -i- der sogenannten seṭ-Wurzeln das auch im Passiv schwindet aber nicht im ta-Partizip8 siehe [16]

[16] Kausativ mit Suffix in Nullstufe seṭ-Wurzel Grundform bhār-i- pat-i-fliegen fallenrsquo ta-Partizip bhār-i-ta- pat-i-ta- Passiv bhār-ya-te pat-ya-teVom theoretischen Standpunkt ist aber Stumps Alternativloumlsung schwierig da er annimmt daszlig sowohl das Suffix -ay- als auch das fol-gende -a- Flexionsklassenmarker sind Eine solche Serialisierung von zwei Flexionsklassenmarkern scheint ziemlich ungewoumlhnlich und sollte durch eingehendere Argumente begruumlndet werden

Letzten Endes leidet Stumps Analyse also unter denselben Schwierigkeiten wie der traditionelle westliche Ansatz vor allem dadurch daszlig die im Aorist erscheinende Wurzelerweiterung -p- nicht motiviert ist

5 Die bdquoWurzelrdquo-Analyse von Pāṇini9

In manchen Gesichtspunkten beruumlhrt sich Pāṇinis Grammatik mit der Alternativloumlsung Stumps in anderen mit dem traditionellen westlichen Ansatz aber in Bezug auf die theoretische Perspektive ist sie grundver-schieden dadurch daszlig sie statt eines Kausativstamms eine abgeleitete Kausativwurzel postuliert

Pāṇinis Grammatik ist generativ und operiert mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen die oft grammatische Marker enthalten die nur dazu dienen gewisse Regeln in Kraft zu setzen oder zu steuern (wie zB Regeln uumlber Ablaut) die fuumlr viele phonetische Prozesse unsichtbar sind und die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Um das Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten zu erleichtern gebe ich im Folgenden statt Pāṇinis Sūtras (dh Regeln) Zusammenfassungen der durch diese Sūtras gemachten Verallgemeinerungen mit Hinweis auf Buch Kapitel und Sūtra

Pāṇini fuumlhrt verschiedene abgeleitete Verbalformationen in 315-3131 ein Diese schlieszligen das Desiderativ (315-7) Intensiv (3122-24) und fuumlr uns wichtig das Kausativ (3126) ein Das letztere wird eingefuumlhrt unter der

8 In Wurzeln mit Resonant vor dem seṭ -i finden sich im ta-Partizip kompliziertere Alternationen 9 Mit gewissen Veraumlnderungen findet sich Pāṇinis Ansatz in den meisten modernen indischen Grammatiken des Sanskrit wie zB Kale 1894

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Bedingung daszlig ein bdquoVerursacherrdquo des Kausativs (hetu) vorliegt und die Formation enthaumllt einen Pratyaya (asymp Suffix10) ṇic wobei ṇ und c gram-matische Marker sind Der Pratyaya ist daher nur i das auf Grund des Ablautsystems mit e vorvokalisch ay alterniert11

Die Sūtras die diese Formationen einfuumlhren werden direkt gefolgt durch 3132 wonach all diese Formationen Wurzeln (dhātus) sind

Schlieszliglich fuumlhrt 7336 die Erweiterung -p- nach gewissen Wurzeln ein Wichtig ist dabei daszlig die Erweiterung zwischen die Wurzel und den Kausativ- Pratyaya i eingefuumlgt wird so daszlig der ganze dabei entstehende Komplex (zB sthā-p-i) nach 3132 als Wurzel gilt

Dieser Ansatz ist aus mehrerer Hinsicht nuumltzlich Erstens erklaumlrt er daszlig zB Desiderative von Kausativen gebildet werden koumlnnen genau wie von bdquoPrimaumlrwurzelnrdquo (s [4] oben) Zweitens wird dadurch daszlig das Praumlsenssuffix des Passivs in anderem Zusammenhang eingefuumlhrt wird (3167) die Tat-sache erklaumlrt daszlig Desiderative Kausative usw nicht vom Passiv abgeleitet werden koumlnnen Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste erlaubt es die Formation von reduplizierten Aoristen mit Wurzelerweiterung (-p- usw) zu erklaumlren wie weiter unter dargestellt werden soll

Dem Pratyaya des Kausativs folgt im aktiven Praumlsenssystem das bdquoDefaultrdquo-Suffix śap (Implikation von Sūtra 3168) wobei ś und p wiederum gram-matische Marker sind und das p auf Grund anderer Sūtras den Pratyaya i zu ay verstaumlrkt12 Dadurch kommt das -ay-a- des Praumlsenssystems zustande Die Tatsache aber daszlig das abschlieszligende -a- Praumlsenssuffix ist erklaumlrt dann seine Abwesenheit in auszligerpraumlsentischen Formationen wie dem Futur (zB bhāray-iṣya-ti)13 Interessanterweise macht Pāṇini nicht von der Moumlglichkeit Gebrauch das Fehlen des Pratyaya i im Passiv (zB bhār-ya-te) durch Vergleich mit

10 Im Folgenden wird das Sanskrit-Wort Pratyaya gebraucht um einer Fehlinterpreta-tion als Suffix im westlichen Sinne vorzubeugen11 Da fuumlr gegenwaumlrtige Zwecke nur die vorvokalische Variante von Belang ist wird in den folgenden Ausfuumlhrungen nur diese genannt12 In Pāṇinis Grammatik gilt im allgemeinen die Nullstufe (wie zB i) als Grundform und Vollstufe (zB eay) und Dehnstufe (zB aiāy) werden als bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo abge-leitet Zum leichteren Verstaumlndnis fuumlr Nicht-Experten gebrauche ich den Terminus bdquoVer-staumlrkungrdquo fuumlr die fuumlr uns wichtige Guṇierung und bdquoNicht-Verstaumlrkungrdquo fuumlr den Gebrauch der Grundform13 Das periphrastische Perfekt wird erklaumlrt nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Eine Endung -ām wird an die Kausativwurzel mit vollstufigem Pratyaya (ay) angefuumlgt und darauf folgt dann die angemessene Perfektform der Wurzel kr tun machenrsquo

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dem Fehlen des i in seṭ-Wurzeln (zB pat-ya-te s [16] oben) zu erklaumlren Statt dessen fuumlhrt er ein besonderes Sūtra ein (6451) wonach das i des Kausativs vor dem Passiv-Suffix -ya- getilgt wird wie auch vor anderen zT nominalen Suffixen einschlieszliglich des Aorist-Suffixes caṅ (s unten) Der Grund dafuumlr ist wohl die Tatsache daszlig Pāṇini die seṭ-Wurzeln nicht als besondere Klasse anerkennt sondern das bei ihnen regelmaumlszligig vor Konsonanten (auszliger y) vorkommende -i nicht von dem oft nur fakultativen i unterscheidet welches nachkonsonantisch vor fast allen konsonantisch anlautenden Suffixen eingeschoben werden kann wie zB in rakṣ-i-tum Infinitiv der Wurzel rakṣ- behuumlten kontrollierenrsquo14 (Dieser i-Einschub der Bindevokal der westlichen Tradition ist unter anderem fuumlr das -i- des Futurs bhāray-i-ṣya-ti und aumlhnlicher Formen verantwortlich) Fuumlr Pāṇini ist daher bei Formen wie pat-ya-te kein Grund zur Annahme einer i-Tilgung diese ist nur noumltig fuumlr das Kausativ Andererseits ist aber bei Pāṇini das Prinzip der Tilgung von Suffixen und anderen Element so fest verankert daszlig die i-Tilgung im Passiv des Kausativs (und aumlhnlichen Formen) keineswegs ad hoc ist Eine Uumlbersicht der relevanten Regel- anwendungen findet sich in [17] weiter unten

Auch im Falle des ta-Partizips nimmt Pāṇini nicht die Gelegenheit wahr das -i- in Formen wie bhār-i-ta- als das nicht verstaumlrkte -i- des Kausativ-Pratyayas zu interpretiern Statt dessen operiert er mit der Annahme eines i-Einschubs nach der Kausativ-Wurzel und vor der Endung -ta- Vor diesem i erleidet dann das Kausativ-i- dieselbe Art von Tilgung (in diesem Fall nach 6452) wie vor dem Passiv-Suffix -ya- Der Grund hierfuumlr mag zum Teil der sein daszlig auf diese Weise die Formation des ta-Partizips vom Kausativ parallel ist zu der entsprechenden Formation des Desiderativs und anderer abgeleiteter Wurzeln bei denen ebenfalls ein i vor dem ta-Suffix eingeschoben wird (Siehe die Illustration der Regelan-wendungen in [17] unten)

Zum Teil aber mag der Grund auch darin liegen daszlig die Annahme eines regelmaumlszligigen i-Einschubs vor mit t anlautenden Suffixen es ermoumlglicht fuumlr die Form des Absolutivs (oder Konverbs) des Kausativs aufzukommen wie zB bhāray-i-tvā getragen habend nach dem Tragenrsquo Das Schwierige an dieser Form ist daszlig das Suffix -tvā normalerweise die unverstaumlrkte Form der vorhergehenden Wurzel verlangt (wie z B in i-tvā gegangen seiend nach dem Gehenrsquo von der Wurzel i-) Das verstaumlrkte -ay- von bhāray-i-tvā verlangt daher nach einer besonderen Erklaumlrung Diese liegt bei Pāṇini in der Annahme daszlig eine Form mit -i-Einschub zu Grunde liegt (also

14 Die zustaumlndigen Sūtras sind 7235-100 mit 724-34

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bhāri-i-tvā) und daszlig in dieser Konfiguration der normale Effekt des -tvā aufgehoben ist (1218) bhāri-i-tvā erleidet daher Verstaumlrkung des Kausativ-Pratyayas i zu -ay- wodurch bhāray-i-tvā zu Stande kommt Siehe die Zusammenfassung in [17]

[17] ta-Partizip Passiv Absolutiv bhāri-ta- bhāri-ya-te bhāri-tvā i-Einschub bhāri-i-ta- bhāri-i-tvā Verstaumlrkung bhāray-i-tvā i-Tilgung bhār-i-ta- bhār-ya-teAuf jeden Fall sollte bemerkt werden daszlig bei Pāṇini die Aumlhnlichkeit zwischen dem i-Pratyaya das Kausativs und dem -i- des ta-Partizips nur zufaumlllig ist

Bis zu diesem Punkt leistet Pāṇinis Grammatik ungefaumlhr dasselbe wie der traditionelle westliche Ansatz und vor allem wie Stumps Alternativloumlsung auszliger natuumlrlich der Tatsache daszlig er mit Wurzeln statt Staumlmmen arbeitet

Wenn wir uns der Erklaumlrung des reduplizierenden Aorists zuwenden koumlnnen wir sehen daszlig sich Pāṇinis Grammatik von westlichen Ansaumltzen grundlegend unterscheidet und daszlig die bdquoWurzeltheorierdquo erklaumlren kann was die bdquoStammtheorierdquo nicht erklaumlrt

Der Flexionsmarker des reduplizierten Aorists caṅ wobei c und ṅ gramma-tische Marker sind wird in 3148 nach dem Kausativ-Pratyaya und gewissen primaumlren Wurzeln eingefuumlhrt Die diesem Flexionsmarker vorausgehende Wurzel wird nach 6111 redupliziert und der Vokal der Reduplikations-silbe wird unter gewissen Umstaumlnden gelaumlngt (7493-94) Fuumlr uns wichtig ist was mit der zwischen Reduplikationssilbe und Flexionsmarker -a-15 stehenden Kausativwurzel geschieht

Erstens verliert die Wurzel ihr -i- nach 6451 derselben Regel die das i vor dem Passiv-Suffix -ya- tilgt (s oben) Zweitens wird ein Wurzelvokal gekuumlrzt dem nur ein Konsonant folgt (741) Drittens und das ist fuumlr uns das wichtigste lehrt das Sūtra 745 daszlig das ā der Wurzel sthā- unter denselben Umstaumlnden dh wenn nur ein Konsonant folgt durch i ersetzt wird Diese Regel kann aber nur dann zur Anwendung kommen wenn die Wurzel die Erweiterung -p- enthaumllt da nur unter diesen Umstaumlnden dem ā der Wurzel noch ein Konsonant folgt (Siehe die Darstellung in [18])

15 Das heiszligt caṅ ohne die grammatischen Marker c und ṅ

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[18] Wurzel Wurzel ohne p-Erweiterung mit p-Erweiterung (bhr) (sthā) Aorist Einsatzform16 bhāri-a- sthāpi-a-i-Tilgung bhār-a- sthāp-a-Reduplikation bi-bhār-a- ti-ṣṭhāp-a-Wurzelschwaumlchung bi-bhar-a- ti-ṣṭhip-a-Oberflaumlchenform17 a-bī-bhar-a-t a-ti-ṣṭhip-a-t

Wir koumlnnen daher folgern daszlig im Gegensatz zu westlichen Ansaumltzen Pāṇinis Grammatik eine elegante und system-konsequente Erklaumlrung fuumlr das Vorkommen der kausativen Wurzelerweiterung p im reduplizierten Aorist bietet und daszlig in dieser Beziehung die bdquoWurzeltheorierdquo produktiv ist

6 Zusammenfassung und ImplikationenWie wir gesehen haben liefert Pāṇinis bdquoWurzeltheorierdquo eine methodische Erklaumlrung des kausativen Aorists die traditionellen westlichen bdquoStammtheorierdquo-Ansaumltzen bisher nicht gelungen ist Gleichzeitig aber muszlig betont werden daszlig die Annahme von abgeleiteten bdquoWurzelnrdquo aus der Perspektive der westlichen grammatischen Tradition(en) aumluszligerst ungewoumlhn- lich ist Es fragt sich daher ob und wie weit sich die Einsichten von Pāṇinis Ansatz in einer bdquoStammtheorierdquo replizieren lassen Ich uumlberlasse etwaige Antworten auf diese Frage anderen Forschern und wende mich nur kurz einigen weiteren Implikationen zu

Erstens erhebt sich die Frage inwieweit sich Pāṇinis Ansatz veraumlndern lieszlige so daszlig zB die Aumlhnlichkeit zwischen dem -i- des ta-Partizips und dem -iay- des Kausativs nicht zufaumlllig sondern signifikant waumlre Da Pāṇinis Grammatik im wahrsten Sinne des Ausdrucks ein Gebilde ist in dem bdquotout se tientrdquo wuumlrde ein Versuch die Erklaumlrung des ta-Partizips zu aumlndern dazu fuumlhren daszlig die gesamte Struktur der Grammatik uumlberdacht und umgeaumlndert werden muumlszligte Ein solches Unterfangen waumlre fuumlr normale Sterbliche unerreichbar

16 Zur Vereinfachung der Darstellung wird hier angenommen daszlig gewisse andere Regeln (wie die Tilgung der grammatischen Marker) schon eingetreten sind17 Dritte Person mit Anwendung weiterer Regeln

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Zweitens wirft Pāṇinis Ansatz die Frage auf inwieweit die weit verbreitete Ansicht aufrecht zu erhalten ist daszlig Primaumlr- und Sekundaumlrflexion sich grundlegend unterscheiden In dieser Hinsicht ist beachtenswert daszlig selbst Whitney sich in dieser Hinsicht nicht so ganz sicher war wie das Zitat in [19] erhellt

[19] bdquohellip Nor is there any distinct division-line to be drawn between tense-systems and derivative conjugations the latter are present-systems which have been expanded into conjugations by the addi-tion of other tenses and of participles infinitives and so on hellip rsquo (Whitney 1889 S 361)

Schlieszliglich hoffe ich daszlig meine Ausfuumlhrungen zu der Einsicht verhelfen daszlig bei Untersuchungen uumlber die Sanskrit-Grammatik die Leistungen der einheimischen indischen Grammatiker unter allen Umstaumlnden beruumlcksichtigt und als fruumlhere Forschung betrachtet werden muumlssen genau so wie die Arbeiten von Forschern wie Whitney oder Stump In allen Faumlllen haben wir natuumlrlich nicht nur das Recht sondern die Aufgabe fruumlhere Ansichten kritisch zu betrachten und mdash hoffentlich mdash mit neuen besseren Loumlsungen aufzuwarten Aber eine Vernachlaumlssigung der indischen grammatischen Tradition sollte im Grunde genommen nicht mehr zu rechtfertigen sein

In diesem Zusammenhang waumlre es natuumlrlich fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der indischen grammatischen Tradition hilfreich wenn Werke wie Pāṇinis Grammatik digital in einem geeigneten Format zur Verfuumlgung stuumlnden Zwar gibt es schon mindestens zwei digitale Ver-sionen dieser Grammatik die uumlber GRETIL (Goumlttingen Register of Elec-tronic Texts in Indian Languages httpwwwsubuni-goettingende ebene _ 1fiindologretilhtm) abgerufen werden koumlnnen Wie aber schon angedeutet arbeitet Pāṇini mit ziemlich abstrakten Regeln und Einsatzformen und noch abstrakteren grammatischen Markern die vor Erreichung der Oberflaumlchenformen getilgt werden Dazu kommt daszlig die verschiedenen Regeln (oder Sūtras) thematisch ein-geordnet sind und nicht in der Anordnung in der sie bei bestimmten Formen zur Anwendung kommen Selbst wenn wir die vielen in den obigen Ausfuumlhrungen nicht weiter besprochenen Regeln vernach- laumlssigen (wie zB die fuumlr bdquoguṇardquo und bdquovṛddhirdquo [s Fn 12]) ist es leicht ersichtlich daszlig die Regeln fuumlr die Bildung der verschiedenen Kausativ-formen weit uumlber Pāṇinis Grammatik verstreut sind So findet sich die Einfuumlhrung des Kausativ-Pratyayas in 3126 und die Definition der resultierenden Formation als Wurzel in 3132 Die Wurzelerweiterung

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-p- wird durch 7336 eingefuumlhrt Das auf Wurzel samt Erweiterung folgende Praumlsenssuffix wird auf Grund von 3168 angefuumlgt das Aorist-Suffix nach 3148 die Formation des Perfekts nach 3135 mit 3140 (und anderen Sūtras) Die Reduplikation des Aorists wird durch 6111 festgelegt und weitere Konsequenzen werden in 7493-94 und 741745 behandelt Das -i- der Kausativwurzel wird nach 6452 vor gewissen Suffixen getilgt Und so weiter

Selbst wenn Pāṇinis Grammatik mit guten Indices versehen ist wuumlrde es Nicht-Experten auf diesem Gebiet schwer fallen all diese verschiedenen Regeln ausfindig zu machen und auf die richtige Art und Weise fuumlr die Derivation zusammenzubringen Traditionell ausgebildete Experten vollziehen diese Aufgaben im Kopfe sie haben den ganzen Text nicht nur auswendig gelernt sondern ihn auf solche Weise gespeichert daszlig sie gezielte Suchen durchfuumlhren und die Resultate wiederum im Gedaumlchtnis zusammen- bringen koumlnnen Wie mein Freund und Kollege Madhav Deshpande (Uni-versity of Michigan) berichtet wird dies dadurch ermoumlglicht daszlig das Auswendiglernen der Grammatik in taumlglichen Portionen von je 20 Sūtras stattfindet und die dadurch entstehende Division des Texts in kleinere Subdomaumlnen zur Suche verwendet werden kann Wenn man zB nach einem gewissen Sūtra in sagen wir Buch 3 Kapitel 2 sucht (welches 188 Sūtras enthaumllt) und weiszlig daszlig dieses ungefaumlhr im dritten Viertel zu finden waumlre braucht man nicht muumlhselig die Sūtras vom Anfang des Kapitels durchzusuchen sondern kann sofort auf die Zwanziger-Gruppe in der Naumlhe von Sūtra 140 peilen und diese durchsuchen Falls diese Suche nicht das Richtige erreichte peilt man die unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Zwanziger-Gruppen an Auf diese Weise bei der man die im Gedaumlchtnis gespeicherte Information wie eine Computerdatei behandelt kommt man schnell zum Erfolg

Fuumlr die von uns die einem solchen Auswendiglernen und einer solchen Text- manipulierung nicht gewachsen sind bestuumlnde die beste Annaumlherung an die traditionelle Arbeitsweise in einer relationalen Datei die bei jedem Sūtra Links zu den verschiedenen anderen Regeln bietet die bei der Ableitung anzubringen sind Soweit mir bekannt ist hat der amerikanische For-scher George Cardona 1990-1994 mit seinem damaligen Studenten Peter M Scharf an einem Projekt mit diesem Ziel gearbeitet und der letztere hat als Nachfolgeprojekt eine relationale Datei herausgebracht (Scharf 2001) die uumlber httpsanskritlibraryorg abgerufen werden kann Eine Antwort auf die Frage wie weit diese Datei fuumlr Nicht-Experten auf dem Gebiet der

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indischen grammatischen Tradition hilfreich sein kann steht meines Wis-sens noch aus

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Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao Thorwald Poschenrieder

Keeping with the Chinese linguistic tradition Chinese writing characters are categorized into six groups by their composition or their development Whereas picto grams and ideograms contribute merely to a small portion of the entire character inventory ideophonograms comprise the substantially large majority of Chinese characters The change in character constitution should shed light on how the Chinese characters pursuing the principle of writing economy have been evolving into a morphosyllabic writing system which bears to a cer-tain extent on the morphosyntactic features of the Chinese language Further-more the gradual remodelling of character forms also exerts influences on the characteristics of Chinese characters The present paper notably outlines the gra pho (no)tactics of character constituents as well as the phonetic connections be tween ideophonograms and their phonetic constituents

0 EinleitungZiel des vorliegenden Aufsatzes ist es einen Uumlberblick uumlber die wichtigsten Zuuml ge der chinesischen Schrift aus dem Blickwinkel der Zeichenbildungs-Mor phologie und -Morphotaktik zu geben Sein Wert duumlrfte weniger in neu en Erkenntnissen bezuumlglich Einzelfragen liegen sondern eher darin dass versucht ist die herkoumlmmliche chinesische Auf fassung von dem Gegen stand aus zeichenmorphologischer Sicht zu vermitteln und dabei gleich zeitig eine feingliedrige Terminologie zu bieten Grundsaumltzlich ist an gestrebt einen moumlglichst repraumlsentativen Querschnitt darzustellen durch den das Wesenhafte im Vordergrund Stehende gut herauskommt

周禮八歲入小學保氏教國子先以六書一曰指事指事者視而可識察而見意上下是也二曰象形象形者畫成其物隨體詰詘日月是也三曰形聲形聲者以事為名取譬相成江河是也四曰會意會意比類合誼以見指撝武信是也五曰轉注轉注者建類一首同意相受考老是也六曰假借假借者本無其事依聲託事令長是也

Dieses Zitat ist ein Auszug aus dem Vorwort zum ersten chinesischen Woumlrterbuch herausgegeben vom Gelehrten Shen Xu im Jahre 100 n Chr Mit diesen Worten erklaumlrt er wie chinesische Schriftzeichen nach ihrer Kom positions methode in sechs Kategorien eingestuft werden sollen

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Im chinesischen Text stellt die eigenstaumlndige SchreibDruck- und Wahr neh-mungs einheit ein Quadrat dar Unabhaumlngig von Anzahl und Anordnung der das Einzelschriftzeichen bildenden Bestandteile und Strichzuumlge wird grund saumltzlich angestrebt bei jedem Einzelschriftzeichen die Form eines an naumlherungs weise quadratischen Rechtecks einzuhalten Dieses Feld nun ist nicht immer voll und gleichmaumlszligig mit Schrift-Elementen ausgefuumlllt doch der Platz bleibt an unbeschriebenen Stellen leer sodass man sich ein un sicht bares Quadratfeld um das Geschriebene herum zu mindest denken kann Beispielsweise ist das Feld des Quadratzeichens 冊 cegrave Band (eines Buches) weitgehend ausgefuumlllt Spaumlrlicher hingegen ist zB die Ausfuumlllung des Zeichenfeldes der Quadratzeichen 一 yī eins und 止 zhǐ bis Ein Quadratzeichen entspricht im gesprochenen Chinesischen der Sprech-sprache also genau einer Silbe Chinesische bdquoWoumlrterldquo (zu bdquoWortldquo siehe weiter unten) bestehen heutzutage haumlufig aus mehreren Silben und werden dann mit einer der Silbenzahl entsprechenden Anzahl Quadratzeichen geschrieben

Die Wurzel morph (gewonnen aus griechisch μορφή bdquoGestaltldquo) ist in der sprach wissenschaftlichen Terminologie von der bdquoGestaltldquo an sich abstrahiert und auf einen gewissen Aspekt der Wort-bdquoGestaltldquo von Sprache uumlbertragen wor den namentlich auf den Bereich von Stamm- und Formenbildung Dar-auf hat man mit der Zeit eine terminologische Sippe aufgebaut Morphem Mor pho logie Morphotaktik usw Diese terminologische Sippe wenden wir im vorliegenden Aufsatz nun wieder auf eine konkrete bdquoGestaltldquo an und zwar auf die Bestandteile der chinesischen Quadratzeichen Im Ge gen satz zu Alphabetsprachen in denen die (ein Morphem bildenden) Buch staben-ketten weitgehend nur eins zu eins den Lautwert abbilden (ein Morphem ent spricht ausdrucksseitig also einer Buchstaben=Laut-Kette) sind die chi ne sischen Strichzugkomplexe wenn sie auch rein schriftgestalterisch ab strakt wirken viel bildlicher und stellen in sich aufteilbare bdquoGestaltldquo-Groumlszligen dar - viel mehr als Buchstaben(ketten) es tun Diese graphischen Kom plexe aus denen chinesische Quadratzeichen aufgebaut sind sind es die wir in diesem Beitrag als unsere bdquoMorphemeldquo ansehen Zur Unterscheidung von sprachlichen bdquoMorphemenldquo im herkoumlmmlichen Sinne nennen wir sie Zeichen morpheme

Ein Zeichenmorphem kann frei oder gebunden sein Ein freies Zeichen-morphem erscheint als eigenstaumlndiges Quadratzeichen das (zumindest) einen festgelegten Lautwert hat Dementgegen dient ein gebundenes Zei-chen morphem ausschlieszliglich als Bestandteil zum Komponieren von Qua-drat zeichen fuumlr ein Zeichenmorphem das heute nur gebunden und nie mals (mehr) frei als Quadratzeichen vorkommt wird im Woumlrterbuch um es sprech-

83Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

sprach lich benennen zu koumlnnen ein behelfsmaumlszligiges Lautbild angegeben das aber ggf von Woumlrterbuch zu Woumlrterbuch variiert Ein Quadratzeichen birgt ein oder mehrere Zeichenmorpheme Ein Zeichenmorphem das einen Kom plex bildet kann immer wieder als Komplex in eine houmlherrangige Qua drat zeichen-Komposition eingebaut werden und zaumlhlt darin als ein ein ziger Bestandteil

Allomorphe sind gemeinhin ausdruckssprachliche Auspraumlgungen eines Morphems In der chinesischen Schrift finden wir auch wenn wir Duktus-Erschei nungen (wie relative Strichdicke oder Zierabschluumlsse an den Strich-Enden) ver nachlaumlssigen und uns auf die Skelettform eines Quadratzeichens (also die allernoumltigsten Strichzuumlge welche die typische Form eines Morphems erken nen lassen) beschraumlnken drei voneinander abgrenzbare Gruppen von Allomorphen eines Zeichenmorphems vor

Ein Vollallomorph ist die unverschlankte Auspraumlgung eines Zeichen-mor phems Bei einem freien Zeichenmorphem tritt sein Vollallomorph in der Regel in Form eines eigenstaumlndigen Quadratzeichens auf zB bei 火 huǒ Feuer In der Komposition mit anderen Zeichenmorphemen bil den Vollallomorphe zwei Arten von Tochter-Allomorphen aus naumlmlich Schrumpf allomorphe und Allomorphkuumlrzel

Schrumpfallomorphe Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Schrumpfallomorph ist die entweder lediglich in der Laumln ge gestauchte oder nur in der Breite gestauchte oder aber ver haumllt nis gerecht ver kleinerte Auspraumlgung eines Vollallo morphs Die Groumlszligen veraumlnde rungen wer den vorgenommen damit das Zeichen morphem zusaumltzlich zu einem oder mehreren ande ren Zeichen morphemen im Quadratfeld Platz finde Vom Voll allomorph 火 huǒ Feu er etwa gibt es ein waagerecht gestauch tes Schrumpfallomorph wel ches im Quadratzeichen 燒 shāo brenn- auf der lin ken Seite unter ge bracht ist Die Form eines Schrumpfallomorphs weicht selten von der seines Voll allomorphs ab houmlchstens wird ein Strich der zB im Vollallomorph waage recht ist im Schrumpfallomorph leicht gekippt Des weiteren be schraumlnkt sich ein Schrumpfallomorph meistens nicht auf eine feste Stel lung in Quadratzeichen das heiszligt es kann an mehreren Posi-tionen im Qua dratfeld auftreten und ist damit mehr-Stellungs-faumlhig

Allomorphkuumlrzel Sie kommen nur gebunden als Kompositionsglieder vor Ein Allomorphkuumlrzel stellt eine Auspraumlgung mit veraumlnderter Skelett form dar die aus einem Vollallomorph vereinfacht ist um im Zeichen morpho-tagma eines Quadratzeichens leichter Platz zu finden und besser ver bindbar zu sein So wird zB das aus dem Vollallomorph 火 huǒ Feu er auf vier

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hintereinander folgende kleine Striche zusammengestutzte Allo morph-kuumlrzel unten in das Quadratzeichen 焦 jiāo verbrannt eingebaut Die Form eines Allomorphkuumlrzels weicht immer vom Vollallomorph ab die Gestalt vereinfachung darf nicht nur aus einer (ggf unproportionalen) Ver-kleine rung bestehen sondern mindestens ein Strich im Vollallomorph muss merklich anders gestaltet sein (etwa erscheint er schraumlg statt zuvor waagerecht oder aber er wird ganz weggelassen) Nicht zuletzt erscheint das Allomorphkuumlrzel eines Zeichenmorphems in der Regel immer an ein und derselben Position innerhalb des Schreibquadrates ist damit stellungsstarr

Bei nur-gebunden vorkommenden Zeichenmorphemen ist es nicht sinnvoll zwischen den einzelnen Allomorphgattungen zu unterscheiden

Bestimmte Zeichenmorpheme stufen wir als Grundmorpheme ein Ein Grund morphem ist synchron betrachtet die kleinste Einheit bei der Qua-drat zeichenbildung der im zeichenmorphotaktischen Zusammenhang eine Geltung zugemessen werden kann Ein Grundmorphem laumlsst sich mit hin nicht in kleinere zeichenmorphemische Elemente zerlegen ohne dass es seinen Status verloumlre Aufgebaut ist der Strichzugkomplex des Grund mor-phems aus einem oder einigen (wenigen) Strichen allerdings ist nicht jeder be liebige Strich als Grundmorphem zu werten Im Rahmen der vor liegenden Ana lyse stellt ein (nicht als Grundmorphem zu wertender) Strich (zug) einen Schrift zug dar den wir nicht hinsichtlich seiner Geltung als Grundmorphem defi nieren eine unklassifizierte Verbindung aus Strichzuumlgen nennen wir ent-spre chend Strich(zug)komplex Ein Zeichenmorphem als Bestandteil von Quadratzeichen kann aus einem oder mehreren Grundmorphemen be stehen

Zu beachten sind Abweichungen von Quadratzeichenformen in manchen Rech ner schriften Zum Beispiel birgt das Quadratzeichen 臭 chograveu stin-kend zwei Bestandteile einen oberen und einen unteren Der untere Be stand teil soll ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems 犬 quǎn Hund sein Allerdings fehlt der rechts oben vorhandene Strich die ses Zeichenmorphembestandteils auf faumllligerweise in manchen typo gra-phi schen Auspraumlgungen des Quadratzeichens 臭 chograveu stinkend Damit unter scheidet sich dieser untere Bestandteil nicht mehr vom Schrumpf allo-morph des Quadratzeichens 大 dagrave groszlig Zeichenmorphemisch hat solch eine Abweichung indes nichts zu besagenEine Kultursprache lebt von der Ungebrochenheit ihrer Uumlberlieferung ndash auch ihrer schriftlichen Fixierung Saumlmtliche Quadratzeichen die wir im Text dieses Aufsatzes behandeln weisen die Form der sog bdquoLangzeichenldquo auf Sog bdquoKurzzeichenldquo wie sie ab dem Jahre 1956 bei der amtlichen Schrift-

85Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichenreform in China entstanden sind bzw festgelegt wurden werden im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht beruumlcksichtigt Die hier zur Ver anschaulichung verwendeten Quadratzeichen-Formen sind dem-nach allesamt unvereinfachte Langzeichen Der sprachwissenschaftliche Grund fuumlr diese Handhabung ist folgender Viele zeichenetymologische Zu sammen haumlnge sind in Kurzzeichen verunklaumlrt worden In einer Ab hand-lung wie der vorliegenden welche sich auch mit der geschichtlichen Ent-wick lung von Zeichen und ihrer Morphologie befasst ist es tunlicher ein ein deutigeres System in welchem mehr nuumltzliche Unterscheidungen be wahrt sind als Grundlage zu verwenden

Aus chinesischer Sicht ist ein bdquoWortldquo ein Lautbild (eine Silbe oder ein seman-tisch stark lexikalisiertes Silbensyntagma) welchem als kleinster selbstaumln di-ger Sprach einheit inhaltsseitig ein semantischer oder grammatischer Be griff fest zugeordnet ist Im Unterschied zu synthetischeren Sprachen hat das Chine sische allenfalls Ansaumltze zur Affigierung Beispielsweise fungiert die zwei te Silbe toacuteu Kopf des bdquoWortesldquo shiacute + tou Stein als Suffix zu dem eigen staumlndigen bdquoWortldquo shiacute Stein wobei die Suffixsilbe oft mit Neben ton statt mit dem Hauptton (zu den Toumlnen siehe unten) ausgesprochen wird

Das was der deutschen Wortbildung durch Ableitung und Komposition ent spricht erscheint im Chinesischen weitgehend in die Syntax aus gela gert (bdquoSyn tax-Woumlrterldquo) und kann somit eher mit deutschen Syntagmen ver gli-chen werden Beispiel Obwohl das bdquoWortldquo (die Silbe) 男 naacuten eigen staumln-dig fuumlr Mann stehen kann wird es gewoumlhnlich mit einem zu saumltzlichen bdquoKom positions gliedldquo 人 reacuten Mensch versehen das dergestalt zu sam men-gesetzte bdquoWortldquo (Silbensyntagma) 男人 bedeutet ebenfalls nur Mann wird in vielen Faumlllen aber als deutlicher und passender empfunden Die se Er schei-nung ist im Chinesischen uumlberaus haumlufig In viel ge ringe rem Um fange machen von solchen Ver deutlichungs verfahren auch Spra chen mit aus-gepraumlgter Wort bildung Gebrauch islaumlnd karl maethur (woumlrt lich bdquoMann-Menschldquo d i bdquoMannldquo) neben einfach karl bdquoMannldquo aleinn ne ben einn (bei de bdquoalleinldquo) nord dt Bauch nabel statt Nabel suumlddt Ge baumlud lich keit neben Gebaumlude dt Schwieger mutter statt einfach Schwie ger so dann neben dann got thornata bdquodasldquo ver deutlicht aus thornat mit tels deik tischer Par tikel -a nord bair daringodǝ (woumlrt lich bdquoda-daldquo d i bdquodaldquo) ne ben ein fach daringo bdquodaldquo Fer-ner gibt es im Chine sischen reine Funk tions woumlrter die keine lexi ka lische Bedeu tung tragen und nur gram ma ti sche Aufgaben er fuumlllen Ein gutes Bei spiel hierfuumlr ist die nur-neben to ni ge Fragepartikel 嗎 ma Wenn diese Par tikel am Ende eines Indi ka tiv satzes steht macht sie aus ihm eine Janein-Entscheidungsfra ge

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Als Laut-Umschrift der Schriftzeichen wird im vorliegenden Aufsatz Pin-yin (auch Hanyu-Pinyin genannt) anstatt des IPA (International Pho netic Alpha bet d i das Weltlautschrift-Alphabet der Association pho neacute tique inter nationale) benutzt Das Pinyin-System ist eine amtliche Um setzung der Mandarin-Aussprache in Lateinschrift Obschon Pinyin die Zeichen-phonetik nicht ganz getreu wiedergibt verweist es gewissermaszligen auf die laut lichen Aumlhnlichkeiten Im Pinyin-System werden die vier chinesischen Haupt toumlne folgender maszligen bezeichnet (hier am Beispiel des Vokals a) ā Hochton aacute Steigton ǎ Tiefton agrave Fallton der Nebenton bleibt tran -skrip torisch unmarkiert a

Bei der Behandlung der chinesischen Schrift haben wir es immer auch mit Jahr tausenden schriftlicher Uumlberlieferung zu tun geschriebenes Chine-sisch hat ein starkes Eigenleben entwickelt teilweise losgekoppelt vom ge sprochenen Die Systeme von Sprech- und Schrift-Chinesisch und ihre Inter aktion sind geschichtlich gewachsen sie sind wie alles Mensch-liche unter schiedlich konsistent und damit synchron auch unter schied-lich durch sichtig Beispielsweise lassen sich ehemals eher ab bildungs haft ge meinte Aussagen nur grobmaschig klassifizieren wenn wir ein in duk tiv er worbenes theoretisches Raster uumlber den Ist-Zustand legen wir koumlnnen dann nur versuchen die Zahl der bdquoAusreiszligerldquo niedrig und damit die Ein schlaumlgigkeit der Regeln hoch zu halten Wo unsere Betrachtung die hi storische Tiefe behandelt verwenden wir bei Bedarf folgende Sym bole um zu kennzeichnen ob und wie eine bestimmte Groumlszlige in der heu tigen Spra che verwendet wird das Symbol Dagger bezieht sich auf eine Groumlszlige die heute auszliger Gebrauch ist und dagger auf eine welche heute veraltet ist Die Sym bole stehen hochgestellt unmittelbar vor der Groumlszlige auf die sie sich be ziehen

Im Abschnitt uumlber die Zeichenkategorisierung wird der Anteil einer Qua-dratzeichen-Kategorie am Gesamtinventar der Quadratzeichen durch Prozentzahlen angegeben Wuumlrde man die Anteile nach der Vorkommens-haumlufigkeit in Texten rechnen (das heiszligt bei 100 gedruckten Zeichen entfallen soundsoviel Prozent auf diese Kategorie) so saumlhen die Zahlen anders aus

Im Folgenden wird der Aufbau chinesischer Schriftzeichen vorgestellt und zwar ausgehend von den in China traditionell geltenden sechs Kategorien (Ab schnitt 1) Waumlhrend Piktogramme und Ideogramme lediglich einen klei nen Teil des gesamten Quadratzeichen-Inventars ausmachen stellen Ideo phono gramme die groszlige Mehrheit Ideophonogramme verkoumlrpern die we sent lichen zeichenmorphologischen Merkmale chinesischer Quadrat-zei chen aus diesem Grunde betrachten wir ihre Besonderheiten etwa die Laut-Bestandteil-Entsprechung ausfuumlhrlicher (Abschnitt 4) Der Wandel

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der Quadratzeichenbildung (Abschnitt 2) soll einen Einblick vermitteln wie sich die chinesische Schrift im Laufe der Zeit nach dem Prinzip der Schrift-oumlko nomie immer mehr zu einem morphosyllabischen System entwickelt das wiederum mit den morphosyntaktischen Merkmalen der chinesischen Spra che in Wechselwirkung steht Die allmaumlhliche Wandelung der Zeichen-formen uumlbt ebenfalls Einfluss auf die Charakteristika chinesischer Schrift-zeichen aus (Abschnitt 3) Schlieszliglich streifen wir noch die Kombinatorik von Zeichenmorphemen in Quadratzeichen (Abschnitt 5) die Mehr-Zeichen-Komposita sowie einige Eigenschaften des morphologischen Auf-baus chinesischer Texte (Abschnitt 6)

1 Die traditionellen Kategorien In der chinesischen Uumlberlieferung werden die Schriftzeichen nach den Qua drat zeichen-Bildungsarten in folgende sechs Kategorien eingeteilt (in Klam mern stehen Bezeichnungsalternativen)

(1) 象形 = Piktogramme (Bildzeichen)

(2) 指事 = Einfache Ideogramme (Hinweis-Zeichen Indikatoren)

(3) 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

(4) 形聲 = Ideophonogramme (pikto-phonetische Zeichen Determinativ-Lautelement-Zeichen Form-Laut-Zeichen)

(5) 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen (Ableitungszeichen synonyme Zeichen Wandelzeichen)

(6) 假借 = Lautentlehnungszeichen (Leihzeichen Homonyme)

Unsicherheit herrscht bei den Sprachforschern daruumlber ob die Kategorie bdquoana logisch derivierte Quadratzeichenldquo uumlberhaupt bestehe In der folgenden nauml heren Schilderung der traditionellen Kategorien sei sie daher uumlbergangen

11 象形 = Piktogramme

Piktogramme stammen aus urtuumlmlich-einfachen Schriftzeichen die da durch zu stande gekommen sind dass man die aumluszligere Form von in der Wirk lich-keit vor handenen Objekten nachbildete Piktogramme bestehen aus nur ei nem einzigen Grundmorphem und gehoumlren zu der aumlltesten Schicht der (Qua drat-)Zeichen Ihr Anteil an allen Quadratzeichen macht zwischen 2 und 4 aus

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(7) 日 rigrave Sonne urspruumlnglich ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte ndash als Abbild der Sonne

(8) 月 yuegrave Mond urspruumlnglich Abbild eines Halbmondes

(9) 耳 ěr Ohr urspruumlnglich ohraumlhnlich gezeichnet

An den angefuumlhrten Beispielen wird schon deutlich dass diese Piktogramme heut zutage als bdquonaturalistischeldquo Bilder keinen groszligen Aussagewert mehr be sitzen im Piktogramm (7) 日 rigrave Sonne zB laumlsst sich auch bei gutem Wil len keine abgebildete Sonne mehr erkennen Die urspruumlnglichen (Vor gaumlnger-)Formen solcher Quadratzeichen hatten hingegen diesen Er kennungs wert haumlufig noch er ist im Laufe der Zeit durch die verschiedenen Standardisierungen der Zeichenschreibung verunklaumlrt worden

12 指事 = Einfache Ideogramme

Mit einfachen Ideogrammen sind solche Quadratzeichen gemeint die nicht leicht zu malende Dinge oder Sachverhalte symbolisieren Ihr Anteil am Qua drat zeichen-Inventar belaumluft sich auf 05 bis 1

(10) 上 shagraveng oben Urspruumlnglich war dieses Ideogramm recht durch-sichtig aus zwei waagerechten Strichen gestaltet wobei der untere Strich die Bezugsgrundlage bildet und der obere kuumlrzere aumlhnlich einem Zeige pfeil den Hinweis gibt worauf es ankommt auf bdquoobenldquo naumlm lich Der senkrechte Strich ist spaumlter hinzugefuumlgt worden

(11) 下 xiagrave unten nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie (10) Hier ist der Hinweisstrich nur etwas gekippt

(12) 本 běn Wurzel nimmt als Bezugsgrundlage das Allomorph des vor handenen Piktogramms 木 mugrave das urspruumlnglich einen DaggerBaum ab bil dete und heute fuumlr Holz steht Der kleine horizontale Strich unten weist auf diejenige Stelle des Baums hin an welcher sich die Wurzel befindet

(13) 末 mograve Ende urspruumlnglich ein Abbild fuumlr DaggerWipfel Dieses einfache Ideo gramm wurde nach dem gleichen Prinzip gebildet wie das einfache Ideo gramm (12) 本 běn Wurzel nur dass der Hinweisstrich oben steht wo der Baum zu Ende ist

Die einfachen Ideogramme bestanden urspruumlnglich aus zwei Bestand teilen der Bezugsgrundlage und dem Hinweis Waumlhrend der Bezugs grundlage-Bestand teil ein vorhandenes Zeichenmorphem warist bestandbesteht der Hinweis-Bestandteil meist aus einem kleinen Strich der nur gebunden vor-

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kommt Bei manchen einfachen Ideogrammen wie (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave unten sind die zwei Bestandteile (zum Teil durch Umge-stal tung) dermaszligen zu einer Einheit zusammengeschmolzen dass das ganze Quadratzeichen heute eher als ein unauftrennbares Grund mor phem wahr genommen wird Unterstuumltzt wird diese Wahrnehmung dadurch dass wenn man aus den Quadratzeichen (10) 上 shagraveng oben und (11) 下 xiagrave un ten den Hinweisstrich tilgt und nur den uumlbrigbleibenden Strich zug-komplex betrachtet dieser heutzutage anderweitig nicht mehr als Zei chen-morphem vorkommt ndash weder frei noch gebunden die ehemalige Ab trenn-moumlglich keit ist synchron mithin verdunkelt

Demgegenuumlber ist der Bezugsgrundlage-Bestandteil bei anderen einfachen Ideo grammen leichter als abtrennbar zu erkennen weil er auch in der Gegen-wart immer noch anderweitig als eigenes Zeichenmorphem er scheint Bei-spiels weise wird der Bezugsgrundlage-Bestandteil in (12) 本 běn Wurzel und (13) 末 mograve Ende naumlmlich das Allomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum auch im gegenwaumlrtigen Gebrauch als freies Zeichen morphem fuumlr Holz verwendet So kann der Kenner des Systems auch synchron der lei einfache Ideogramme in zwei Zeichenmorpheme zer legen den Bezugs-grund lage-Bestandteil (ein frei vorkommendes Zeichen morphem 木 mugrave DaggerBaum in Form seines gebundenen Allomorphs) und den Hinweis-Be-stand teil (den Hinweisstrich als ein nur-gebundenes Grund morphem)

13 會意 = Zusammengesetzte Ideogramme

Durch (gestalterisch aufeinander abgestimmte) Zusammenfuumlgung zweier oder mehrerer bereits vorhandener Zeichenmorpheme zu einem neuen Qua drat zeichen wird ein Ideogramm mit neuer Bedeutung erzeugt Die zu sammen gesetzten Ideogramme bestehen also saumlmtlich aus mehr als nur einem Grundmorphem Jedes Zeichenmorphem als Bestandteil hat seine ei gene Bedeutung (oder hatte sie zumindest zum Zeitpunkt der Zeichen bil-dung) der neue Sinn der sich durch ihre Verbindung ergibt steht in einem Zu sammen hang mit diesen Einzelbedeutungen Bildeweise und Herleitung sind fuumlr heutige Chinesen allerdings nur noch bedingt durchsichtig

In Sprachen mit ausgepraumlgter Wortbildung koumlnnte man diese Zei chen art mit den Wortbilde-Verfahren Komposition oder ggf Ableitung ver glei chen es las sen sich auch bei den Bezuumlgen der Einzelglieder unter ein an der ver-gleich bare Ein teilungen vornehmen Iterativkomposita Deter mi na tiv kom-posita usw Die Angaben zum Anteil zusammengesetzter Ideo gram me am Qua drat zeichen-Gesamtbestand schwanken zwischen 3 und 12

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(14) 牧 mugrave Hirte zeigt links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 牛 niuacute Rind und rechts das Schrumpfallomorph des nur gebunden vor kom menden Grundmorphems 攵 pū Hand mit Stock dh bdquoein Mensch der Rinder beaufsichtigtldquo

(15) 信 xigraven glaub- weist links das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 人 reacuten Mensch auf und rechts das Schrumpfallomorph des Ideophonogramms 言 yaacuten Wort dh bdquoein Mensch der sein Wort haumlltldquo

Mit der Bildeweise von (14) und (15) vergleichen lassen sich im Deutschen Kompositionen wie Stein+bruch oder Riesen+schlange im Franzoumlsischen cure-dents (woumlrt lich bdquoPutz-[die]-Zaumlhneldquo d i bdquoZahnstocherldquo) aller dings sind im Deutschen und Franzoumlsischen die Bestandteile viel staumlrker hinsichtlich des Phaumlnomens bdquoWort artldquo ausgerichtet als im Chinesischen

(16) 武 wǔ Militaumlr besteht unten links aus einem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 止 zhǐ das urspruumlnglich fuumlr DaggerFuszligabdruck stand und heute fuumlr aufhoumlr- steht und rechts aus einem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 戈 gē Hellebarde dh bdquoein durch einen Fuszligabdruck sym bolisierter Soldat der mit einer Waffe dastehtldquo

In der Bildlichkeit vergleichbar mit (16) waumlren im Deutschen etwa Bildun-gen wie Waffen+bruder oder Feuer+wehr Bei einer spaumlteren Normierung der Qua drat zeichenform des zusammengesetzten Ideogramms 武 wǔ Mili taumlr wur de der untere von rechts oben nach links unten gezogene Di agonal strich des vom Piktogramm 戈 gē Hellebarde abgeleiteten Al lo morph kuumlr zels aus gekoppelt und als kuumlrzerer waagerechter Strich an die obere lin ke Ecke des Ideogramms 武 wǔ Militaumlr uumlber geschrumpftes 止 zhǐ auf houmlr- ge stellt Dies ist eine Form der Ligaturbildung wie sie auch in Al pha bet schrif ten vorkommt etwa in Lateinschrift ltAgt + ltEgt zu ltAEliggt in Suumltterlin lt $ gt bdquocldquo + lt h gt bdquohldquo zu lt c gt bdquochldquo oder in Devanāgarī ltकgt bdquoka ldquo + ltषgt bdquoṣa ldquo zu ltकषgt bdquokṣa ldquo Sol che gestalterische Aufeinander-Abstimmung ist in der Sprech spra che den Similations-Erscheinungen (AssimilationDissimi la tion) vergleich bar(17) 休 xiū ausruh- enthaumllt links das Allomorphkuumlrzel des Pikto-

gramms 人 reacuten Mensch und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum dh bdquojemand der an einen Baum ge lehnt sitzt und rastetldquo

(18) 林 liacuten Wald ist durch Iterativkomposition entstanden Das Schrumpfallomorph des Piktogramms 木 mugrave Holz das urspruumlnglich fuumlr DaggerBaum stand wird ikonisch gedoppelt

91Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Nach demselben Prinzip wie in (18) ist das zusammengesetzte Ideogramm 森 sēn Urwald entweder durch ikonische Verdreifachung gebildet oder aber durch Komposition aus dem Schrumpfallomorph des schon verdop-pelten Zei chen morphems 林 liacuten Wald mit dem Schrumpfallomorph des ein fachen Piktogramms 木 mugrave DaggerBaum Im Deutschen lassen sich Iterativkomposita wie wort+woumlrt+(lich) vor+vor+(gestern) oder Sing+sang vergleichen vom Begriffsinhalt her auch eine Bildung wie kohl+pech+raben+schwarz in welcher alle Glieder gleicher maszligen fuumlr den Inhalt dunkel stehen ohne indes etymologisch mit einander verwandt zu sein

14 形聲 = Ideophonogramme

In den bisherigen drei Kategorien traumlgt der Gesamtkomplex jedes Quadrat-zei chens zugleich Lautung und Sinn Man muss also die Lau tung des Qua-drat zeichens als solche einmal ganz neu lernen durch keinen Be stand teil er haumllt man einen Hinweis auf sie Piktogramme und einfache Ideo gramme sind Mono morphe zusammengesetzte Ideo gram me sind Di- oder ggf Poly-morphe die in bezug auf ihre Zeichen morpheme homo gen sind Die Sache ver haumllt sich aumlhnlich wie in Alphabet schriften in denen oft Bestand teile mit vergleich barer inhaltlicher Geltung zu Di- bzw Poly gra phen zusam-men gestellt werden die als Gesamtheit dann eine aumlhn lich ge artete neue Geltung bekommen So ist zB der einen einzigen Laut be zeich nende rus-sische Digraph ltльgt [ʎ] als Ein heit zu verstehen und um fasst zwei gleicher-maszligen auf die Laut ebene abzie lende Bestand teile naumlm lich ltлgt [l] und ltьgt (Pala talitaumlts anzeiger) der artige Komplexe nei gen be son ders zu graphi scher Ligierung ltлgt + ltьgt zu ser bisch ltљgt

Diese Homo genitaumlt der Bestandteile wird verlassen wenn sich die zu Di- oder Poly gra phen bzw -morphen zusammengestellten Ele men te nicht mehr auf die selbe Ebene beziehen sondern auf unterschiedlich gear tete Ebe nen ab zie len so bewegen sich in alphabetischer Schreibung Zeichen wie ltgt ltsectgt oder lt5gt jenseits der Lautebene und dienen als Ideogramme fuumlr ihren Be griff Und in der chinesischen Schrift ist es so dass dimorphe Qua drat-zeichen aus heterogenen Zeichenmorphemen deren eines auf die Laut ebene deren an deres auf die Begriffsebene abzielt die Regel bilden Es handelt sich um die sog Ideophonogramme Diese beinhalten wie der Name schon sagt ein Zeichen morphem das auf die Lautung des Quadratzeichens ver weist (Laut traumlger) neben einem das auf den Begriff verweist (Sinntraumlger)

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(19) 吐 tǔ ausspuck- birgt links das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und rechts das Schrumpfallomorph des Pikto gramms 土 tǔ Erdreich als Lauttraumlger

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des Ideo phono gramms 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach als Laut traumlger

Man sieht hier an beiden Zeichenmorphemen die als Kompositions glie der des Ideophonogramms (20) dienen dass bei dieser Quadratzeichen bil dung wieder um anderweitig und mit anderer Geltung (Lautentlehnungs zei-chen) ent standene Komplexe mit neuer Aufgabe als Zeichenmorpheme in ein neu zusam men gesetztes Quadratzeichen eingegliedert werden koumln nen auch ein be reits bestehendes Ideophonogramm kann von seiner Gel tung als Ideo phono gramm freigestellt und als sinntragender (oder in anderen Faumll-len als laut tragender) Komplex in ein neues Ideophonogramm eingebaut werden

(21) 照 zhagraveo schein- zeigt unten das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 火 huǒ Feuer als Sinntraumlger und oben das Schrumpfallomorph des be reits bestehenden Ideophonogramms 昭 zhāo offenkundig als Laut traumlger

Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist ein Ideophonogramm zeichen-morpho taktisch analysiert bei Aufteilung ersten Ranges zunaumlchst aller-mei stens in zwei erstrangige Zeichenmorpheme zu zerlegen einen Sinn- und einen Lauttraumlger Das sinntragende Zeichenmorphem gibt einen vagen Hin weis auf die Bedeutung und das lauttragende Zeichenmorphem auf die Lautung des Quadratzeichens Des oumlfteren dient ein Zeichenmorphem als Sinn traumlger in mehreren Ideophonogrammen deren jeweilige Gesamt be deu-tung mit der Bedeutung des als freies Quadratzeichen vorkommenden Sinn-traumlgers zusammenhaumlngt man koumlnnte hier von bdquoBegriffssippeldquo sprechen Beispiels weise ist das Piktogramm 手 shǒu Hand ein Zeichenmorphem welches in etlichen Ideophonogrammen die fuumlr Handbewegungsarten stehen als Kompositionsglied dient und dort den Sinntraumlger darstellt

Alle Zeichenmorpheme koumlnnten theoretisch als Lauttraumlger eines Ideo-phono gramms fungieren Beim Ideophonogramm (19) 吐 tǔ ausspuck- ist der Lauttraumlger naumlmlich 土 tǔ Erdreich ein Piktogramm das ei nen Erdklumpen auf dem Felde abbildete Wie erwaumlhnt laumlsst sich auch ein Ideophonogramm als Lauttraumlger in einem anderen komple xe-ren Ideophonogramm einsetzen Beim Ideophonogramm (21) 照 zhagraveo

93Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

schein- ist der Lauttraumlger naumlmlich das freie Zeichenmorphem 昭 zhāo offen kundig schon an sich ein Ideophonogramm Das Ideophono gramm 昭 zhāo offenkundig besteht links aus dem Schrumpfallo morph des Piktogramms 日 rigrave Sonne als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpf-allomorph eines Ideophonogramms 召 zhagraveo be or der- als Laut traumlger Das Ideophonogramm 召 zhagraveo beorder- weist unten das Schrumpf allo morph des Piktogramms 口 kǒu Mund als Sinntraumlger und oben das Schrumpf-allomorph des Piktogramms 刀 dāo Messer als Lauttraumlger auf

Betrachtet man ein und dasselbe Zeichenmorphem in mehreren Ideo phono-grammen in denen es als Lauttraumlger vorkommt so erweist sich der Lau-tungs hinweis haumlufig als recht unzuverlaumlssig (siehe weiter unten) Alle Lau-tungen fuumlr die ein Lauttraumlger stehen kann koumlnnte man als dessen bdquoLau-tungs sippeldquo oder bdquoLautungsbuumlndelldquo bezeichnen Die Ideophonogramm-Bil dung ist mit 80 bis 90 die mit Abstand haumlufigste Quadratzeichen-Bilde weise

15 轉注 = Analogisch derivierte Quadratzeichen

Diese umstrittene Gruppe wird wie eingangs erwaumlhnt hier uumlbergangen

16 假借 = Lautentlehnungszeichen

Anteil an allen Quadratzeichen ca 36 Die chinesische Schrift befand sich jetzt in einer Entwicklungsphase in der zwar Quadratzeichen fuumlr kon krete Dinge im Alltag zur Verfuumlgung standen kaum jedoch solche fuumlr Ab strak tes Nun ergab sich die Moumlglichkeit ein bereits existie ren des Qua-drat zeichen fuumlr eine etwas ganz anderes bedeutende zufaumlllig homo phone Sil be der Sprechsprache zu verwenden Solche Analogien sind ja auch auf an derer Ebene uumlblich etwa wenn man im Deutschen ltMausgt nicht nur fuumlr die Maus (als Tier) verwendet sondern auch fuumlr die Rechner maus Aus heu tiger Sicht stellen diese rein lautungsbedingt ent lehnten Quadrat zeichen im chine sischen Schriftsystem eine Verbindung zur Laut um schrift oder zu Alphabet schriften dar (denn auch dort werden ja gleiche Lautbilder durch gleiche oder aumlhnliche Schriftbilder wiedergegeben) Besonders haumlufig nutzt das Chine sische diese Hand habung bei Funk tions woumlrtern und Ab strakta Die Zahl der Funk tions woumlrter ist zwar absolut nicht besonders groszlig er freut sich jedoch hoher Vor kommens haumlufigkeit und solche Woumlrter waumlren sonst in der chine si schen Schrift schrei be risch schwer dar zustellen Wenn in der Sprech sprache zwei homo(io) phone Silben vor liegen eine mit kon kreter und eine mit ab strak ter Be deutung und ein Qua drat zeichen fuumlr die Silbe

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder94

mit konkreter Bedeu tung aber keines fuumlr die mit ab strak ter Bedeutung zur Ver fuumlgung steht so wird gern das vor han dene Qua dratzeichen der erste ren Silbe fuumlr die letztere Silbe ent lehnt

(22) 其 war urspruumlnglich piktographisches Abbild einer DaggerSchaufel steht heu te aber fuumlr ein Pronomen der 3 Person mit der Lautung qiacute

Fuumlr Schaufel wird heutzutage das Ideophonogramm 箕 jī geschrieben das oben das Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 竹 zhuacute Bambus als Sinn traumlger und unten das Schrumpf allomorph des seinerseits ein Laut-entlehnungs zeichen darstellenden 其 qiacute Pronomen der 3 Person (siehe hier oben) als Laut traumlger aufweist

(23) 孚 fuacute uumlberzeug- stellte urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideo-gramm dar das mit dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 爪 zhuǎ Klaue oberhalb des Schrumpfallomorphs des Piktogramms 子 zhǐ Kind die Bedeutung DaggerGeisel hatte

Fuumlr Geisel wird heute das gleichlautende Ideophonogramm 俘 fuacute ge schrieben das links aus dem Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 人 reacuten Mensch (Sinntraumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Laut-ent lehnungs zeichens 孚 fuacute uumlberzeug- als Lauttraumlger besteht

(24) 須 xū muumlss- war urspruumlnglich ein zusammengesetztes Ideogramm fuumlr DaggerBart wobei links drei Haare abgebildet durch das heute nur-ge bundene Grundmorphem dagger彡 shān auf einem urspruumlnglich durch das Schrumpfallomorph des Piktogramms 頁 yegrave Seite be zeichneten DaggerGesicht sprieszligen

Fuumlr Bart wird heute das homophone Ideophonogramm 鬚 xū geschrie-ben das bei Aufteilung erstes Ranges oben in das Schrumpfallo morph des zu sam mengesetzten Ideogramms dagger髟 biāo Zottelhaar und unten in das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 須 xū muumlss- auf zu-tren nen ist Gebildet ist das Ideogramm dagger髟 biāo Zottel haar durch eine Zu sammensetzung welche links das Allomorphkuumlrzel des Pikto gramms 長 chaacuteng lang das urspruumlnglich eine Person mit langen Haaren ab bildete enthaumllt und rechts das gebundene Grundmorphem dagger彡 shān HaareIm gegenwaumlrtigen Gebrauch werden Lautentlehnungszeichen die auf die oben genannte Weise zustande gekommen sind (fast) ausschlieszliglich fuumlr Funk tionswoumlrter benutzt waumlhrend im Laufe der Zeit ausdrucks seitig neue Qua dratzeichen fuumlr die urspruumlnglichen inhaltsseitigen Sinneinheiten dieser ent lehnten Quadratzeichen geschaffen worden sind Man koumlnnte hier von bdquoHomo morphie-Fluchtldquo sprechen

95Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Der Lautentlehnung bedient man sich ferner wenn man bdquoFunktionssilbenldquo nieder schreiben will Aus rhythmischen Gruumlnden haumlngen chine sische Mutter sprachler oft an ein einsilbiges bdquoWortldquo eine zusaumltzliche Silbe an das ist einerseits euphonisch bedingt (wie vielleicht im Deutschen syn chron ge sehen -en- in Sternenhimmel oder -e- Schweinefleisch) zum an dern bdquofuumlt ternldquo solche Silben die phonetischen Wortkoumlrper bdquoaufldquo erweitern (und ver deutlichen dadurch) Silben zu Silbensyntagmen (im anderen Sprachen lie szlige sich vielleicht die Erweiterung sehr kurzer bzw im Laufe der Sprach-ent wicklung kurz gewordener Woumlrter wie mhd ucircr zu nhd Auer ochs oder von Aar zu Adler (mhd ar bzw adel-ar) ver glei chen ggf auch mittels suffi xaler Stammbildungserweiterung wie anord ey zu nisl eyja beide bdquoInselldquo) Zum Beispiel bezeichnen Chinesen heute sprechsprachlich einen Stuhl sel ten mit dem einsilbigen bdquoWortldquo yǐ Stuhl sondern in der Regel mit dem Zwei-Silben-Syntagma yǐ + zi die zusaumltzliche verdeutli chende Sil be wird meistens mit einem Nebenton (siehe Einleitung) ausgespro chen Nach dem Prinzip dass 1 Silbe mit 1 Quadratzeichen geschrieben werden soll (siehe unten) schreibt man fuumlr das nun zweisilbige Silben syntagma dann auch zwei Quadratzeichen hin Dabei fragt es sich freilich welches Qua drat zeichen man denn fuumlr diese zusaumltzliche bdquoAuf fuumltterungs-Silbeldquo schreiben solle Fuumlr die hinzugefuumlgte Silbe sucht man ein Quadrat zeichen aus dessen Lautung dieselbe Silbe haupttonig darstellt und ent lehnt dieses dann fuumlr die Wiedergabe der Silbe des (Quasi-)Suffixes in diesem Fall das Qua dratzeichen des homoiophonen Piktogramms 子 zǐ Kind Fuumlr das Silben syntagma 椅子 Stuhl werden somit folglich zwei Quadrat zeichen das Ideophonogramm 椅 yǐ Stuhl und das Laut ent lehnungs zeichen 子 zi als ein Quasisuffix geschrieben

Bei dieser Handhabung hat man theoretisch sehr viele Wahlmoumlglich kei ten und wiederum ist es eine Frage der Eingebuumlrgertheit welche Silben zeichen wann und wie Verwendung finden Dieselben Fragen tauchen uumlbrigens auf wenn fremde Namen und bdquoFremdwoumlrterldquo im Chinesischen geschrie ben wer-den sollen aber auch dann wenn in Film-Untertiteln die zahl rei chen zu saumltz-lichen Silben umgangssprachlicher Sprechsprache wiederzugeben sind

2 Zur Entwicklung der SchriftzeichenbildungDie ersten Versuche der Chinesen Erinnerungen festzuhalten bestan den darin dass sie in Stricke aus Pflanzenfasern Knoten knuumlpften und sich so eine Art Kalender schufen Spaumlter werden es Einkerbungen auf Holz bret-tern (bdquoKerb houmllzernldquo) gewesen sein die Ernten oder andere Ereignisse fest-

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hiel ten Noch spaumlter wurden mit Holz Steinen oder Knochen bestimm te Zei chen (noch keine bdquoSchriftldquo-Zeichen) in Ton eingeritzt

Bis 3000 v Chr benutzten die Chinesen zunaumlchst einfache Zeichen die ihnen als Gedaumlchtnisstuumltzen dienten Auf ausgegrabenen roten Ton-scher ben erscheinen zwei Arten von Schriftzeichen Die einfach sten sind wahrscheinlich Zahlzeichen andere kompliziertere Schrift zeichen be deuten wohl Namen von Sippen oder Staumlmmen In der Folge wur den Zeich nungen verwandt die konkrete Gegenstaumlnde aus der Umge bung bild-lich darstellen sollten also Piktogramme

Allein mit Piktogrammen fuumlr die leicht abzubildenden Gegenstaumlnde der greif baren Wirklichkeit ist noch kein vollwertiges Schriftsystem entstan-den Ein solches Schriftsystem muss nicht nur uumlber Namen fuumlr kon krete bzw konkret abzubildende Dinge verfuumlgen sondern bedarf daruumlber hin aus gra phischer Ausdrucksmoumlglichkeiten etwa fuumlr Eigenschaften Beziehun gen Bewe gungen Vorstellungen usw Dieser Zweck dem jedes Schrift system ge nuumlgen muss ist in der chinesischen Schrift wahrscheinlich erstmals von den einfachen Ideogrammen erfuumlllt worden

Piktographie und Ideographie zeitigen einfache sprechsprachlich mehr-deutige Schriftzeichen phonologisch-phonetische Aspekte spielen beim Auf bau des Zeicheninventars noch keine Rolle Das ist bdquozeichen wirt schaft-lichldquo betrachtet ein Mangel Tausende von Schriftzeichen fuumlr neu entstan-dene bdquoWoumlrterldquo (Inhalte und ausdrucksseitig zugeordnete Lautbilder) nicht nur zu schaffen sondern auch im Kopfe zu behalten ist dermaszligen unprak-tisch dass die Schrift entweder nur als sehr beschraumlnktes System ange wandt werden koumlnnte oder aber so geschmeidig gestaltet werden muumlsste dass sie in der Lage waumlre sich zu einem brauchbaren System zu ent wickeln Um dieses Pro blem in den Griff zu bekommen mussten die graphische und die laut liche Sei te der verfuumlgbaren Schriftzeichen rekursiv mitein ander ver-knuumlpft werden

Die Methode der ideographischen Zusammensetzung schafft neue Qua drat-zeichen ohne indes das Zeichenmorphem-Inventar der Schrift zu ver meh-ren Dieses Verfahren bezieht die graphische Seite der Schriftzeichen eben so wie ihre Bedeutung mit ein wie die Gestalt des neuen Schriftzeichens sich aus den Gestalten seiner Bestandteile (bereits fertiger Zeichen mor-pheme) er gibt so ergibt der Sinn eines neu zusammengesetzten Ideo-gramms sich aus der Verbindung der Bedeutungen seiner Bestandteile Die Laut seite der Zeichenmorpheme spielt hier wie gesagt noch keine Rolle Durch ideo graphische Komposition entstehen also weiterhin Schrift-

97Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

zeichen welche noch keinerlei Hinweis auf die Lautung der bezeichneten bdquoWoumlrterldquo liefern Dieses Verfahren bietet noch immer nicht die (Zeichen-anzahl-beschraumlnkenden und Aussprache-andeutenden) Vorteile welche durch Einbezug einer ausspracheabhaumlngigen Komponente (zB eines lautungs andeutenden Zeichenmorphems) moumlglich werden

Aus diesem Grunde bemuumlhte man um den Schriftzeichenbestand aus zu-bau en schlieszliglich auch die Lautseite Die einfachste Methode die Laut sei te zu nutzen ist bekanntlich die homographische Schreibung homo(io) pho-ner Silben mit unterschiedlicher Bedeutung (zB Silbe A und Silbe B) Da mit isoliert man die graphische Form des Schriftzeichens von der pri-maumlr zuge ord neten Bedeu tung A der Silbe lehnt dann das inhaltlich bdquoent-kop pelteldquo Schrift zeichen an eine homophone Silbe mit Bedeutung B fuumlr die noch kein Schriftzeichen zur Verfuumlgung steht an Was auf der Aus-sprache-Ebene aumlhnlich ist wird auch auf der Zeichengestalt-Ebene aumlhnlich dar gestellt ndash unabhaumlngig vom Inhalt

Diese Methode die sog Lautentlehnung vermehrt nicht den Bestand chine-si scher Schriftzeichen In dieser Hinsicht stufen die heutigen chinesi schen Zeichen morphologen sie weniger als Quadratzeichen-bdquoBildungldquo ein son-dern eher als Quadratzeichen-bdquoVerwendungldquo Des weiteren bringt die Laut-ent lehnung bei der Entwicklung des chinesischen Schriftsystems ein anderes Problem mit sich Durch die Lautentlehnung kann ein Schriftzeichen bei gleich bleibendem Lautwert semantisch doppelt oder mehrfach besetzt sein Fuumlr die Enkodierung der Bedeutungen und die Wiedergabe der Laute in der Sprache (bdquodas Schreibenldquo) ist diese Methode zweifellos effizient Fuumlr die De ko dierung der Bedeutungen (bdquodas Lesenldquo) stellt die semantisch mehrfache Be setzung eines Qua dratzeichens jedoch eine enorme Belastung dar Auch in der deutschen Rechtschreibung sind deshalb in vielen Faumlllen Homo phone graphisch geschieden Wagen und Waagen arm und Arm usw

Wenn das entlehnte Schriftzeichen in seiner urspruumlnglich zugeordne-ten Be deutung A der Silbe weiterhin in der Sprache vorkommt dh nicht ungebraumluchlich geworden ist dann wetteifern ja beide Bedeu-tun gen nicht nur sprechsprachlich mit dem Lautbild der Silbe sondern nun auch schreibsprachlich mit dem Schriftzeichen Die Lage wird dann oft wie der vereindeutigt indem man das Schriftzeichen auf die sekun-daumlre Silben-Bedeutung B einschraumlnkt und fuumlr die primaumlr zugeordnete Silben-Bedeutung A ein zusaumltzliches Zeichenmorphem in das Schrift-zeichen einfuumlgt um es so von seiner Lehnnehmerform mit der sekundaumlren Bedeutung B zu unterscheiden (Homomorphie-Flucht)

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(25) Das Lautentlehnungszeichen 北 Norden běi stellt urspruumlng lich das zu sammengesetzte Ideogramm fuumlr DaggerRuumlcken dar Heute steht es aus-schlieszlig lich fuumlr Norden

Das Quadratzeichen 北 war urspruumlnglich das zusammenge setzte Ideo-gramm fuumlr DaggerRuumlcken welches zwei Personen Ruumlcken an Ruumlcken zeig te Da die gesprochenen Silben begravei fuumlr Ruumlcken und běi fuumlr Nor den aumlhn liche Lautbilder aufweisen wurde fuumlr die Verschriftlichung der Silbe des schwer lich zeichnerisch darzustellenden Abstraktums běi Nor den das zusammengesetzte Ideogramm 北 DaggerRuumlcken entlehnt Nun hatte das Schrift zeichen 北 zeitgleich zweierlei Bedeutungen die pri maumlre Be deu tung war DaggerRuumlcken und die sekundaumlre Norden Um die zwei Bedeu tungen im schriftlichen Text zu differenzieren wurde spaumlter ein neues Schrift zeichen 背 begravei fuumlr die primaumlre Bedeutung Ruumlcken gebil det und zwar ist dieses neue Ideophonogramm 背 begravei Ruumlcken da durch zu stan de gekom men dass das freie Zeichenmorphem 北 běi (Laut traumlger) un ten um das Allo-morph kuumlrzel des Pikto gramms 肉 Fleisch im Sinne von mensch licher Koumlr per (Sinn traumlger) vermehrt wurde Das Laut ent leh nungs zeichen von 北 běi steht in dem neuen Synchron-Zustand aus schlieszlig lich fuumlr die sekun-dauml re Bedeutung Norden fuumlr die pri maumlre Be deu tung Ruumlcken wird heu te nur noch das Ideophonogramm 背 begravei geschrieben

Die Anwendung der Entlehnungsmethode war fuumlr das chinesi sche Schrift-system der Wendepunkt von einer lediglich die Erinne rung stuumlt zenden Bilderschrift zu einer brauchbaren logosyllabischen Schrift Mit fort-schreitender gesellschaftlicher Entwicklung und der Vertiefung von Wahr-neh mung und Praxis mussten mehr und mehr Dinge und Sach ver halte verfeinert bezeichnet werden Um diesen Beduumlrfnissen gerecht zu werden hat man ndash wiederum mithilfe der Lautentlehnungsmethode ndash den Schrift-zeichen-Bestand durch Ideophonogramme vermehrt

Ein Ideophonogramm ist bei Aufteilung ersten Ranges in zwei Zeichen-mor pheme zu zerlegen den Sinntraumlger und den Lauttraumlger Das eine Zei chen morphem der Sinntraumlger verweist auf die Bedeutung des Ideo-phono gramms das andere Zeichenmorphem der Lauttraumlger auf des sen un gefaumlhre Lautung Den Sinntraumlger fuumlr ein Ideophonogramm ge winnt man dadurch dass man ein vorhandenes Zeichenmorphem nimmt und von seiner Lautung isoliert an ihm bdquoklebenldquo dann nur noch vage Bedeu tungs-Assozia tionen Dieses Zeichenmorphem baut man als Sinn traumlger in ein neu zu erstellendes Ideophonogramm ein Den Lauttraumlger fuumlr ein Ideo phono-gramm gewinnt man dadurch dass man ndash aumlhnlich wie bei der Schoumlp fung von Laut entlehnungs zeichen ndash ein Schriftzeichen mit einer bestimm ten

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift 99

ihm an haftenden Lautung entlehnt und zwecks ungefaumlhrer Andeu tung eben dieser Lautung in ein Ideophonogramm einbaut dessen Silbe phone-tisch dem lehngebenden Quadratzeichen aumlhnlich ist Ideophono gram me sind diesbezuumlglich haumllftig als Lautentlehnungszeichen zu betrachten

Es ist nicht von vornherein festgelegt wie die Zeichenmorpheme als Bestand teile innerhalb eines Ideophonogramms angeordnet werden ndash linksrechts obenunten innenauszligen getrenntverschlungen usw Somit muss man wissen welches Zeichenmorphem auf die Lautung und welches auf den Sinn hinweist Es gibt hier aber gebraumluchliche Muster die sich eingebuumlr-gert haben und die der geuumlbte Leser kennt sodass Sinn- bzw Lauttraumlger der meisten Ideo phonogramme fuumlr gewoumlhnlich leicht auszumachen sind

Die Beispiele in Abbildung 1 moumlgen die geschilderte Entwicklung der Bil-dung chinesischer Schriftzeichen veranschaulichen

(26) Piktogramm 自 zigrave DaggerNase

(27) Piktogramm dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze

(28) Piktogramm 犬 quǎn Hund

(29) Piktogramm 口 kǒu Mund

(30) Zusammengesetztes Ideogramm 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] daggerschnupper- und chograveu = [ʈʰograveu] stinkend

(31) Lautentlehnungszeichen 自 zigrave selbst

(32) Lautentlehnungszeichen dagger畀 bigrave verleih-

(33) Ideo phonogramm 鼻 biacute Nase

(34) Ideophonogramm 嗅 xiugrave = [ɕograveu] schnupper-Das Quadratzeichen (26) 自 zigrave war urspruumlnglich ein Piktogramm das von vorn gesehen eine Nase mit Nasenruumlcken und Nasenfluumlgeln abbildete Aus die sem Piktogramm wurden in zwei Richtungen Quadratzeichen gebildet

In die eine Richtung wurde Dagger自 zu einer Zeit da es noch Nase bedeutete wegen der phonetischen Uumlbereinstimmung bzw Aumlhnlichkeit fuumlr den Sinn selbst entlehnt so entstand das Lautentlehnungszeichen (31) 自 selbst das heute zigrave ausgesprochen wird Von da an hatte man synchron die homo graphen Quadratzeichen 自 (26) und (31) nebeneinander ndash zum einen fuumlr die pri maumlre Bedeutung DaggerNase zum anderen fuumlr die sekundaumlre Bedeu-tung selbst Spaumlter wurde dann zur schriftlichen Disambiguierung dem

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder100

Abbildung 1 Beispiele zur Veranschaulichung der Entwicklung chinesischer Qua drat-zeichen Spalte A Piktogramme Spalte B Zusammengesetzte Ideogramme Spalte C Laut entlehnungszeichen Spalte D Ideophonogramme

101Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

自-Qua dratzeichen wo es DaggerNase bezeichnete ein Schrumpfallomorph des freien Zeichenmorphems (27)(32) dagger畀 hinzugefuumlgt das fuumlr sich allein bigrave lautet In dem so entstandenen Ideophonogramm (33) 鼻 biacute Nase dient es lediglich als Lauttraumlger Fuumlr das heutige muttersprachliche Emp finden ist dieser Lautentlehnungsvorgang allerdings nicht mehr durchschau bar denn entweder hat sich der Anglitt der Aussprache des bdquoWortesldquo selbst im Laufe der Zeit aus irgendwelchen Gruumlnden gewandelt oder der Lautwert des bdquoWor tesldquo Nase ist durch Einfluss des lauttragenden Zeichen morphems (27)(32) dagger畀 bigrave abgeaumlndert worden (Leseaussprache) Das Quadrat zeichen (32) dagger畀 bigrave verleih- uumlbrigens ist seinerseits vermutlich von dem Pikto-gramm (27) dagger畀 bigrave DaggerPfeil mit flacher Spitze lautentlehnt Fuumlr den Begriff verleih- verwendet man heute ein gaumlnzlich anderes Quadratzeichen

In die andere Richtung wurde das Schrumpfallomorph des Pikto gramm (26) 自 zigrave DaggerNase mit dem Allomorphkuumlrzel eines weiteren Pikto gramms naumlm lich (28) 犬 quǎn Hund zu einem zusammengesetzten Ideo gramm vereint Das komponierte Ideogramm (30) 臭 spricht sich daggerxiugrave = [ɕograveu] aus ohne irgendwie lautentlehnt zu sein und bedeutet daggerschnupper- Von der pri maumlren Bedeutung daggerschnupper- ist spaumlter (vielleicht durch pejora tive Be deutungs verengung) die sekundaumlre Bedeutung stinkend ab gelei tet wor den Nun stand das Schriftzeichen (30) 臭 daggerxiugrave = [ɕograveu] synchron fuumlr zwei sinn verwandte aber aus sprache verschiedene Bedeu tungen daggerschnup-per- und stinkend Fuumlr die primaumlre Bedeutung schnupper- wurde dann verdeutlichend das Ideophonogramm (34) 嗅 xiugrave gebildet welches links das Schrumpfallomorph des Piktogramms (29) 口 kǒu Mund (Sinn-traumlger) und rechts das Schrumpfallomorph des zusammen gesetz ten Ideo-gramms (30) 臭 daggerxiugrave (Lauttraumlger) birgt Das Schrift zeichen (30) 臭 mit der Lautung chograveu = [ʈʰ ograveu] beschraumlnkt sich seither ausschlieszlig lich auf die sekundaumlre Bedeutung naumlmlich stinkend Dadurch war die zeit weilige Mehr deutigkeit des Schriftzeichens (30) 臭 wieder beseitigt

Gaumlnzlich unabhaumlngig von der Anzahl der Zeichenmorpheme die es bilden wird ein Qua dratzeichen im gegenwaumlrtigen chinesischen Schriftsystem einer und genau einer Sprechsilbe zugeordnet Alle Quadratzeichen vertreten also je eine Silbe Die Entwicklung geht dahin dass wegen der hohen Silben-Homo phonie und der dadurch bedingten potenziellen Mehrdeutigkeit der zeit genoumlssischen chinesischen Sprechsprache immer mehr verdeutli chende oder zT auch nur rhythmisch als erwuumlnscht betrachtete Silben zu einem Silben syntagma zusammengefuumlgt werden solche Silben syntagmen ent-sprechen im Deutschen ungefaumlhr den Ableitungen oder den Kom po sita Da fuumlr jede Sprechsilbe (mindestens) ein Quadratzeichen vorhanden ist schreibt

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man fuumlr jede einzelne Silbe eines Silbensyntagmas auch genau ein Qua-drat zeichen nieder Gerade bei euphonisch oder eurhythmisch bedingten Silben (im Deut schen ist synchron vielleicht das -e- in Strahlemann ver-gleich bar das -s- in Hochzeitsnacht das -n- in Hoffnung oder das -t- in dt eigentlich im Frz das -t- in a-t-il bdquohat erldquo) die ja keine Eigen be deu-tung haben ist es gelegentlich fraglich welches Quadrat zeichen man fuumlr sie schreiben solle

In einer fruumlhen Entwicklungsstufe der chinesischen Schrift waren die meisten der heutigen Quadratzeichen-Bestandteile freie Zeichenmor-pheme Das heiszligt sie fungierten einerseits als selbstaumlndige Quadrat zeichen und ndash spaumlter ndash zusaumltzlich andererseits als Quadratzeichen-Bestand teile Im Laufe der Zeit kamen mehrere davon nur noch als gebundene Zeichen-morpheme im Bestandteilverbund eines Quadratzeichens vor (aumlhnlich wie im Deutschen heute das Suffix -heit oder das Praumlfix ur- nur noch gebunden vorkommen) Manche entwickelten sich dagegen zu Allomorphen die teils frei teils gebunden sind Manche nur-gebundene Allomorphe sind heute sogar unikal (etwa wie im Deutschen -stuumlber in Nasenstuumlber)

3 Zur Normierung chinesischer SchriftzeichenformenIm Laufe ihrer Entwicklung sind die chinesischen Schriftzeichen mehr mals nor miert worden (vgl Abbildung 2) In antiken Epochen wurde eine amt liche Standardisierung meist zu Beginn einer Dynastie vorgenom men damit sich die Befehle und Maszlignahmen von der zentralen Regierung in er oberten Laumlndern erteilen und ohne Missverstaumlndnis durchsetzen lieszligen Als die jeweilige Dynastie allmaumlhlich zerfiel schwaumlchelte auch ihre Macht und damit ihr Einfluss auf Fuumlrstenlaumlnder und deren Bevoumllkerung Die fest gelegte Schreiblehre wurde dann auch nicht mehr so genau beachtet und irgend welche oumlrtlichen Gelehrten dachten sich neue Quadrat zeichen aus wenn sie sich der vordem zentral vorgegebenen Zeichen nicht mehr er innern konnten Gleichzeitig sind mit dem Fortschreiten der Zivilisa tion Neu heiten (Dinge und Sachverhalte) aufgekommen oder ins Bewusstsein der Men schen geruumlckt fuumlr die gesprochene und geschriebene Bezeich nungen be noumltigt wurden Fuumlr diese ersannen Gelehrte Quadratzeichen und zwar mei stens durch neue Zusammenstellung vorhandener Zeichen mor-pheme Weil es oft genug an einer zentralen Steuerung dieser Entwicklung fehlte ver lief die Zeichenbildungstaumltigkeit haumlufig unsystematisch Kam schlieszlig-lich eine neue Dynastie ans Ruder so vereinheitlichte der neue Herr scher das eine Zeitlang wildgewachsene Schriftsystem dann wieder

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Abbildung 2 Zur Entwicklung chinesischer Schriftzeichenformen (aus Fazzioli 2003 15)

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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31 Vereinheitlichung in Richtung Vereinfachung

Bei den amtlichen Regelungen welche die Quadratzeichengestalt be treffen han delt es sich nicht nur um Vereinheitlichung Oumlfter wurde zu gleich auch versucht die Schriftzeichen zum leichteren Lernen und Schrei ben zu ver-ein fachen Schon seit fruumlher Zeit in der man noch nicht unbe dingt von bdquoQuadrat zeichenldquo sprechen kann ist zB eine immer wieder ange wandte Aumln derungs art der Abbau zeichen gestalterischer Kom plexitaumlt ent weder wird die Anzahl urspruumlnglich ikonisch vermehrfachter Ele mente oder Element teile wieder vermindert oder die Strichzahl sehr auf wendig auf-gebauter Bestandteile wird anderweitig reduziert auf diese Art sind denn auch die Allomorphkuumlrzel entstanden

(35) 集 jiacute versammel- ein zusammengesetztes Ideogramm besteht oben aus dem Schrumpfallomorph des veralteten Piktogramms dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel und unten aus dem Schrumpfallomorph des Pikto gramms 木 mugrave DaggerBaum

Urspruumlnglich war das Quadratzeichen 木 mugrave Holz das Piktogramm eines DaggerBau mes mit Wurzel und Aumlsten Die urspruumlngliche Form des Zeichens 集 ver sammel- zeigte allerdings drei Voumlgel auf dem Baum dh drei Voumlgel die sich auf einem Baum bdquoversammelnldquo Da das Zeichen morphem dagger隹 zhuī kurz schwaumlnziger Vogel bereits strichreich ist laumlsst es sich in drei facher Ausfuumlhrung innerhalb eines neuen Zeichens unvereinfacht kaum unter bringen spaumlter wurde das verdreifachte Zeichenmorphem in dem Zeichen deshalb durch ein einziges ersetzt Dadurch war es zwar weniger bild haft dafuumlr aber besser handhabbar

(36) 塵 cheacuten Staub ein zusammengesetztes Ideogramm zeigt oben das Schrumpf allomorph des Piktogramms 鹿 lugrave Hirsch und unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 土 tǔ Erdreich

Auch das urspruumlngliche zusammengesetzte Ideogramm fuumlr Staub zeig te zu naumlchst drei Hirsche auf dem Erdboden das heiszligt beim Ren nen wirbelt eine Herde Hirsche auf der Erde bdquoStaubldquo auf In der moder ni-sier ten Form des heutigen Quadratzeichens 塵 cheacuten Staub ist da von nur noch ein einziges Zeichenmorphem 鹿 lugrave Hirsch uumlbrig

(37) 豪 haacuteo Stachelschwein ein Ideophonogramm besteht unten aus dem Schrumpfallomorph des Piktogramms dagger豕 shǐ Eber als Sinn-traumlger und oben aus dem Allomorphkuumlrzel des Piktogramms 高 gāo hoch als Lauttraumlger welches nur den Oberteil des ihm entsprechenden Voll allo morphs zeigt

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Der Lauttraumlger das Allomorphkuumlrzel des freien Zeichenmor phems 高 gāo hoch oben im Ideophonogramm 豪 haacuteo Stachel schwein ist gegenuumlber dem Vollallomorph gestalterisch um seinen Unterteil geschmaumllert worden Genauer gesagt im Vollallomorph zeigt das Piktogramm 高 gāo noch einen Daggerzwei stoumlcki gen Bau die beiden kleinen Strichkomplexe (in Form eines Vier ecks) sind gewissermaszligen Fenster im ersten bzw zweiten Stock Als Laut sym bol-Allomorphkuumlrzel eingefuumlgt in das Ideophonogramm 豪 haacuteo Sta chel schwein verliert es dann das untere bdquoFensterldquo

Als ein weiterer Punkt ist zu beachten dass chinesische Schrift zeichen oumlfter dadurch vereinheitlicht worden sind dass man Zeichen for men unter-schied lichen etymologischen Ursprungs zusammenfallen lieszlig indem man sie graphisch nicht mehr auseinanderhielt man koumlnnte von bdquoZeichen-morphem-Zusammenfallldquo bdquo-Synkretismusldquo bdquo-Kreuzungldquo oder bdquo-Kon ta-mi nationldquo sprechen So werden die zwei bdquoFensterldquo in dem Pikto gramm 高 gāo hoch mit einem Strichkomplex geschrieben der gestalte risch vom Piktogramm 口 kǒu Mund (bzw von seinem Schrumpf allo morph) nicht zu unterscheiden ist Waumlhrend Fenster und Mund sich immer hin noch unter dem Begriff bdquoOumlffnungenldquo zusammenfassen lassen wird der-selbe Strichkomplex (zT in unverhaumlltnisgerecht geschrumpfter Ge stalt) in anderen Quadratzeichen daruumlber hinaus aber noch fuumlr ganz ande res an ge wandt zB fuumlr Geraumlusch Auge eines Strudels menschli ches Ge sicht menschlichen Kopf Tierkoumlrper Steinmesser Schuumls sel Topf Trommel Behausung von Mauern umgrenzte Stadt oder der Strichkomplex des Vierecks wird ganz abstrakt als ein Zeichen mor phem zur Disambiguierung ansonsten formgleicher Quadrat zeichen ein gesetzt

Betrachtet man die Sache nicht von daher welche Geltungen ein Zeichen-morphem in Quadratzeichen annehmen kann sondern aus der Warte der Bedeu tungen so ist eine aumlhnliche Mehrfachanwendung von Elementen fest-zu stellen bei etlichen Quadratzeichen wird beispielsweise die Bedeu tung Ge raumlusch nicht einheitlich durch den Strichkomplex 口 den wir aus heu-tiger Sicht als das Schrumpfallomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund deu ten be zeichnet sondern manchmal auch durch einen Strichkomplex 日 welcher zumindest synchron aussieht wie das Zeichenmorphem 日 rigrave Son ne und deshalb heute als ein Schrumpfallomorph dieses Zeichen-morphems ge wertet wird Derlei Faumllle gibt es viele und die synchron empfun-dene Mehr deutigkeit von Elementen geht oft auf Entwicklungs vor gaumlnge dieser Art zuruumlck auch solcherart bdquoZusammenlegungs-Standardisie run-genldquo haben demnach die Bedeutung chinesischer Quadratzeichen(bestand-teile) ver dunkelt und belasten heute beim Lernen die Form-Inhalts-Bezie-

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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hung Moumlchte man eine Parallele zum Deutschen ziehen so kann man die gra phische Zusammenlegung von ltgraumlulichgt von grau‑artiger Farbe und ltgreu lichgt grauenerregend in ltgraumlulichgt durch die Rechtschreib reform von 199620042006 vergleichen

32 Auswirkungen auf die Quadratzeichengestaltung

Die Standardisierungen der chinesischen Schriftzeichen und ihrer Bestand-teile betreffen weitgehend die Formgebung von Quadratzeichen und diese wie derum bildet die Grundlage fuumlr synchrone zeichenmorpholo gische Ana lysen Da die Zeichenmorpheme durch manche Vereinheitli chungs-schrit te richtiggehend bdquoumgemuumlnztldquo worden sind praumlgen sie entspre chend auch Bewusstsein und Wahrnehmung der Schriftanwender um Im Fol gen-den eroumlrtern wir bei der zeichenmorphologischen Betrachtung von Qua-drat zeichen wie sich solche Zeichenform-Normierungen auf die objektive sprach wissenschaftliche Auswertung und auf die subjektive anwender-seitige Wertung der Quadratzeichengestalt auswirken

Wenn man versucht Quadratzeichen moumlglichst weitgehend aufzutrennen so gelangt man ndash ggf uumlber Zeichenmorpheme unterschiedlicher Komplexi-taumlt ndash letzten Endes zu Zeichenmorphemen welche zwar noch eine morpho-lo gische Bedeutung tragen sich allerdings ndash synchron betrachtet ndash nicht wei ter in ihre Strichzuumlge zerlegen lassen ohne dass sie ihre morpho logi sche Gel tung einbuumlszligen wuumlrden Diese kleinsten Einheiten sind die Grund mor-pheme Zwei oder mehr Grundmorpheme koumlnnen zusammengefuumlgt werden um ein neues komplexeres Zeichenmorphem zu bilden Von da an stehen bei der chinesischen Schriftzeichenbildung nicht nur Grundmorpheme son-dern auch komplexere Morpheme zur Verfuumlgung Das heiszligt als Bestand teile von Schrift zeichen duumlrfen sowohl Zeichenmorpheme die aus bloszlig einem Grund morphem bestehen als auch Zeichenmorpheme die ihrerseits schon aus zwei oder mehr Grundmorphemen zusammengesetzt sind dienen Ein durch Zusammenfuumlgung von zwei oder mehr Zeichenmorphemen gebil-detes Quadratzeichen laumlsst sich wiederum als ein idiomatisierter Kom-plex verwenden und als Zeichenmorphem fuumlr weitere Quadratzeichen-bil dung einsetzen Es werden somit Komplexe aus Zeichenmorphemen immer wieder neu idiomatisiert und als neue Einheiten in houmlhere Komposi-tions-Hier archien uumlbernommen Theoretisch kann so jedes eigen staumln dige Schrift zeichen als Bestandteil fuumlr komplexere Schriftzeichen ver wandt werden Vergleichbar ist hier in der deutschen Morphologie die Ablei-tung von einer Ableitungsbasis Basis Handhabe als nicht mehr auftrenn-barer Komplex abgeleitet zu handhaben dann Basis hand haben als

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nicht mehr auftrennbarer Komplex abgeleitet zu hand hab bar schlieszlig-lich Basis handhab bar als nicht mehr auftrennbarer Komplex abge leitet zu Handhab barkeitOft geht man davon aus dass Piktogramme und einfache Ideo gramme aus lediglich einem einzigen Grundmorphem bestuumlnden Pikto gramme wie sen ur spruumlnglich einen Dinge aus der Natur abbildenden Strich kom-plex auf den man aus heutiger Sicht als das Abbild eines Ganzen werten duumlrfte und das entspraumlche dem was uumlblicherweise in Grund mor phemen vorliegt Waumlhrend bdquoeinfacheldquo Piktogramme tatsaumlchlich immer nur ein ein ziges Grundmorphem enthalten (wie in 日 rigrave Sonne und 月 yuegrave Mond) empfinden Lerner und Benutzer chinesischer Quadrat zeichen es heute so dass besonders strichreiche Piktogramme aus meh reren Grund-morphemen zusammengesetzt seien Diese Erscheinung ist dadurch zustande gekommen dass bei der gestalterischen Normierung von Quadrat zeichen-formen bdquoBestandteileldquo in manchen dieser strichreichen Kom plexe so zu sagen bdquomorphemisiertldquo worden sind aus einem Komplex hat man durch eine Art Morphemspaltung meh rere Bestand teile herausabstrahiert die man nun jeden fuumlr sich wie der in anderen Quadratzeichen-Kompositionen als Kompositionsglieder nut zen kann ndash und umgekehrt

Beispielsweise war das Piktogramm 鹿 lugrave Hirsch urspruumlnglich das Ab bild eines Hirsches mit Geweih Kopf Koumlrper und Beinen (sie he Ab bil dung 2) Bei spaumlteren Normierungen wurden oben Geweih Kopf und Koumlrper zwar weiterhin als ein Strichkomplex belassen (dieser stellt heute ein nur-gebunden vorkommendes Zeichenmorphem dar) der Unter teil indes die abstrakt die vier Beine darstellenden Striche war rein gestalterisch zufaumlllig dem zusammengesetzten Ideogramm 比 bǐ ver-gleich- recht aumlhnlich Und so hat man im Zuge einer Normie rung diese Striche durch ein Schrumpfallomorph des Quadrat zeichens 比 bǐ ver-gleich- ersetzt und dadurch den urspruumlnglichen als zusammengehoumlrig zu be trach tenden Strichkomplex von Hirsch in zwei Bestandteile zerlegt deren jeder heute synchron die Geltung eines Zeichenmorphems besitzt Das zusammengesetzte Ideophonogramm 比 bǐ vergleich- uumlbrigens zeigte urspruumlnglich zwei Menschen im Wettlauf miteinander

Uumlblicherweise werden auch saumlmtliche einfachen Ideogramme als Qua drat-zeichen mit nur einem einzigen Grundmorphem ange se hen Ge schicht lich gesehen bargen allerdings wohl alle einfachen Ideogram me ur spruumlng lich zwei zeichenmorphologische Bestandteile in sich naumlm lich Bezugs grund-lage und Hinweis An dieser Stelle sollte man den Tiefen grad bedenken mit dem man die Zusammenfuumlgung zweier Bestand teile betrach ten

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Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder108

moumlchte wenn man zeichenetymologisierend vorgeht kann man Ein-heiten freilich tiefergehend sinnvoll auftrennen als wenn man das syn-chrone Schreiberbewusstsein zugrunde legt Aus heutiger Sicht sind naumlm-lich Bezugsgrundlage- und Hinweis-Bestandteil nicht zuletzt in folge nor mierender Umgestaltung zu einem Zeichen morphem zusam men-geschmolzen das als ein einziges Grundmorphem betrachtet wird und des halb spricht man eben von bdquoeinfachenldquo Ideogrammen Ist der Hin weis-Be stand teil noch durchsichtig vom Grundlage-Bestandteil abzutren nen so sollte man indessen meinen das Ideogramm goumllte als aus zwei (ggf mehr) Grundmorphemen zusammengesetzt Das widerspricht aber der her koumlmm lichen Sichtweise Der Status der einfachen Ideogramme ist in dieser Hinsicht womoumlglich revisionsbeduumlrftig Diese naumlhere Betrach tung hat uns bewogen im vorliegenden Aufsatz zwischen bdquoGrund morphemenldquo und bdquoStrichenldquo zu unterscheiden

Im Gegensatz zu den Piktogrammen und einfachen Ideogrammen beste hen die zusammengesetzten Ideogramme sowie die Ideophonogramme aus zwei oder mehr Zeichenmorphemen sind also Polymorphe Lautent lehnungs-zeichen wieder um haben teils ein und teils mehr als ein Grund morphem je nachdem von wel cher Schriftzeichen-Basis sie entlehnt worden sind

4 Naumlhere Betrachtung der Ideophonogramm-BildungIdeophonogramme herrschen in der chinesischen Schriftzeichenbildung vor und bestimmen somit die Charakteristik der chinesischen Quadratzeichen am meisten sowie das Bewusstsein der Schriftanwender am nachhaltigsten

Zur Bildung eines Ideophonogramms fuumlr eine gesprochene Silbe werden zwei Zeichen morpheme zusammengesetzt ein Sinntraumlger und ein Laut-traumlger Das sind die beiden Zeichenmorphem(komplexe) ersten Ranges Beide muumls sen um fuumlr die Komposition verwendet werden zu koumlnnen abstra hiert wer den Der als Sinntraumlger bestimmte Komplex muss von seiner bis heri gen Lau tung frei gestellt werden um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf das Signifieacute die nen zu koumlnnen (und dabei nicht etwa dadurch zu be irren dass mit ihm zu saumltzlich eine Lautung assoziiert wird) Der als Laut traumlger bestimm te Kom plex muss von seiner Bedeutungs-Assoziation frei ge stellt wer den um im neuen Verbund als bloszliger Hinweis auf die unge faumlhre Lau tung die nen zu koumlnnen (und nicht dadurch zu stoumlren dass er zusaumltz liche Bedeu tungs-Assoziationen hervorruft) Die In-etwa-Aussprache auf welche der Laut traumlger verweist muss natuumlrlich zur Silbe des neuen Gesamt kom ple xes des durch die Komposition

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entstandenen Ideophono gramms stimmen ndash zumindest zum Zeitpunkt der Zeichenbildung

Gelegentlich kommt es vor dass in einem Ideophonogramm nicht nur ein son dern zwei Zeichenmorpheme als Sinntraumlger zur Bedeutung des Ideo-pho no gramms beitragen Im Folgenden sei ein besonders verwickelter Fall ge schil dert der aber gut als Beispiel fuumlr diese Zeichenbildungsart dienen kann

(20) 評 piacuteng einschaumltz- besteht links aus dem Schrumpfallomorph des sei ner seits schon ein Ideophonogramm darstellenden Vollallo morphs 言 yaacuten Wort als Sinntraumlger und rechts aus dem Schrumpfallo morph des Laut ent lehnungszeichens 平 piacuteng flach als Lauttraumlger

Der Sinntraumlger 言 yaacuten Wort des Ideophonogramms 評 piacuteng ein-schaumltz- ist wie erwaumlhnt selbst ein Ideophonogramm das unten das Schrumpf allomorph des Piktogramms 口 kǒu Mund (Sinn trauml ger) und oben ein gebundenes heute unikales Allomorph eines obsole ten Zeichen-mor phems mit der Lautung Daggeryǎn (Laut traumlger) in sich birgt Der Laut-traumlger des Ideo phonogramms 評 piacuteng ein schaumltz- naumlm lich das Zeichen-morphem 平 piacuteng flach stammt ur spruumlng lich von einem Pikto gramm 平 piacuteng DaggerWasserlinse das spaumlter auf grund lautlicher Uumlber ein stim mung fuumlr die sekundaumlre Bedeutung flach laut ent lehnt wurde Fuumlr die pri maumlre Bedeutung Wasserlinse wur de dann ent zwei deutigend das Ideo pho no-gramm dagger苹 piacuteng gebildet das wie der um durch Hinzufuumlgung des Allo-morph kuumlrzels des ver alte ten Zeichen mor phems dagger艸 cǎo Gras ober-halb des Laut ent leh nungs zei chens 平 piacuteng flach zustande gekommen war Weil auch das Ideo pho nogramm dagger苹 piacuteng Wasserlinse heute wiederum ver altet ist wird gegen waumlrtig fuumlr Wasserlinse das Quadrat-zeichen 萍 piacuteng geschrie ben

Das letztentstandene Ideophonogramm 萍 piacuteng Wasser linse nun kann syn chron auf zweierlei Art aufgetrennt werden Einerseits so dass es links aus dem Allomorph kuumlrzel des Pikto gramms 水 shuǐ Was ser (Sinn-traumlger) und rechts aus dem Schrumpfallomorph des Ideophono gramms dagger苹 piacuteng Wasserlinse (Lauttraumlger) besteht Andererseits laumlsst es sich ndash zu mindest rein for ma listisch ndash so ana lysieren dass das Allo morph kuumlr zel des Pikto gramms 水 shuǐ Wasser verdeutlichend hinzugefuumlgt wur de um neben dem bereits vorhandenen Sinntraumlger dagger艸 cǎo Gras einen zu saumltz lichen Hinweis auf die Bedeutung des Ideophono gramms 萍 piacuteng Was ser linse zu geben Waumlhlt man diese Sichtweise so duumlrfte man das Allo morph kuumlrzel des veralteten Zeichenmorphems dagger艸 cǎo Gras so wie

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das Allomorph kuumlrzel des Piktogramms 水 shuǐ Wasser beide fuumlr gleich-ran gige Sinntraumlger des Ideophonogramms 萍 piacuteng Wasserlinse und das Schrumpf allomorph des Lautentlehnungszeichens 平 piacuteng flach fuumlr den Laut traumlger halten man haumltte hier also schon bei Auftrennung ersten Ran-ges ein dreigliedriges Ideophonogramm

Das ideophonographische Verfahren bewaumlhrt sich seit langer Zeit als eine nuumltz liche Methode chinesischer Quadratzeichenbildung Mit ihr ist das vor erst letz te quadratzeichen morphologische Entwicklungs sta dium des heutigen chine sischen Schrift systems erreicht Das zeichen morphe misch-sylla bi sche Ver fahren ist seit seiner Einfuumlhrung staumlndig ausge baut worden Die aumllte sten bisher gefundenen chinesischen Schrift zeichen sind wie oben bereits an ge deutet wurde in Rinderknochen (vor al lem auf Schul ter blatt-Kno chen so genannte bdquoOrakel knochenldquo) und Schild kroumlten panzer (zur Weissagung von Jagdgluumlck u auml) eingeritzt Bereits in der Orakel kno-chen schrift machen die Ideophonogramme einen betraumlcht lichen Teil des Schriftzeichen-Bestandes aus In der Gegenwart stellen die Ideo phono-gramme bis zu 90 Prozent aller chinesischen Qua drat zei chen Doch heut-zutage ist auch diese Bildeweise zum Erliegen gekommen denn neue Qua-drat zeichen werden praktisch nicht mehr geschaffen Heute ist neben der Hin ter ein anderreihung von Qua dratzeichen zur Wie dergabe von Mehr-Silben-bdquoWoumlrternldquo (man koumlnnte von bdquoSyntax woumlrternldquo sprechen von Silben-syn tagmen welche durch eine Art Sinn-Univerbierung mehr oder minder lexi kali siert sind heute neigt man dazu in der Schriftsprache aus Paral-lelitaumlt zur Sprechsprache mehr Silben fuumlr bdquoWoumlrterldquo zu schreiben) nur noch das Ver fahren der Lautentlehnung produktiv durch dieses aller dings ver-mehrt sich ja der Quadratzeichenbestand nicht weiter Typischer weise ange-wandt wird dieses Verfahren erwaumlhntermaszligen zB wenn die Lau tungen frem der bdquoWoumlr terldquo und fremder Eigennamen ins Chinesische umzusetzen sind

41 Klassenkoumlpfe

bdquoKlassenkopfldquo ist eine rein formalistisch abstrahierte graphische Grouml szlige ohne tie feren sprachlichen Wert nach der ein Quadrat zeichen im chinesi-schen Woumlrter buch klassifiziert ist um es (vergleichbar der Reihen folge der Buch staben im Alphabet) leichter nachschlagen zu koumlnnen Im Deut-schen wird bdquoKlassen kopfldquo oft mit dem Terminus bdquoRadikalldquo wieder-gegeben In jedem Qua dratzeichen ist entweder ein Strichzug ein Zeichen-morphem oder das ganze Quadrat zeichen (wo dieses aus einem einzigen freien Klassenkopf besteht) als Klassenkopf festgelegt Theoretisch koumlnnte also jedes Zeichenmorphem als Klassenkopf festgelegt werden Saumlmt liche

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Quadrat zeichen in einer Zeichenklasse beinhalten somit einen iden tischen Zeichen bestandteil (naumlmlich den Klassenkopf oder eines seiner Allo morphe) Eine Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe bietet Abbildung 3

Abbildung 3 Erste Seite der Uumlbersicht uumlber die Klassenkoumlpfe (aus Couvreur 1911 1063)

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Die Nachschlagmethode mit Klassenkoumlpfen ist aus den Kompositions-eigen schaften chinesischer Quadratzeichen heraus entwickelt wor den und diese wiederum sind am wesentlichsten durch die bei weitem zahlen-staumlrkste Zeichengattung der Ideophonogramme gepraumlgt Die uumlber wiegende Mehr heit chinesischer Quadratzeichen sind Kompositionen von Zeichen-morphemen die sich bei der Zeichenbildung als (ggf zeichen allo morphisch aus ge formte) Bestandteile wiederholen Des weite ren stellen wie erwaumlhnt Ideo phono gramme die weitaus zahlenstaumlrkste Quadrat zeichen gruppe dar Manche sinntragende Zeichenmorpheme treten dermaszligen haumlu fig auf dass sich die von ihnen mitgebildeten Quadratzeichen nach die sen Sinn traumlgern gruppieren lassen Diesen Umstand macht man sich zu nutze um Quadratzeichen in den herkoumlmmlichen chine sischen Woumlrter buumlchern nach einigen hochfrequenten Zeichenmorphemen zu ordnen Das heiszligt es werden Quadratzeichen mit demselben Zeichen mor phem (-Bestand teil) zusam men geordnet Da die meisten Quadrat zeichen mehr als ein Zeichen-morphem beinhalten wird formalistisch aus jedem mehrglied rigen Qua-drat zeichen ein bestimmtes Zeichenmorphem als fuumlr die Woumlrterbuch-Ein-rei hung maszlig geblich festgelegt Dieses Zeichen morphem bezeichnet man als bdquoKlas sen kopf (des Quadrat zeichens)ldquo Unter einem bestimmten Klassen kopf wer den Quadratzeichen weitergehend nach der Strichzahl geordnet

Aus Ideophonogrammen waumlhlen Herausgeber chinesischer Woumlrter buumlcher vor nehmlich den Sinntraumlger als Klassenkopf aus selten den Laut traumlger Die se Handhabung ist der Grund dafuumlr dass im Bewusstsein chinesi scher Schrei ber das Klassenkopf-Prinzip und das ideophonographische Prin zip eng verwoben sind und das wiederum hat uns veranlasst die Er laumlu te-rung von bdquoKlassenkoumlpfenldquo in dem Abschnitt der Ideophono gramme zu be han deln Weiters fungieren als Klassenkoumlpfe pragmatischer weise et liche kom plexere Zeichen morpheme (einschlieszlig lich solcher die ihrer seits von Ideo phono grammen abgeleitet sind) welche haumlufig als Bestand teile von Qua drat zeichen vor kommen bzw deren Bestand teile um staumlndlich zu zer glie dern waumlren Nicht zuletzt gibt es Quadrat zeichen die mit nur sehr duumlrf tigen Strichzuumlgen geschrieben werden und sich schwerlich aus ein-ander trennen lassen (zB das Quadrat zeichen 七 qī fuumlr die Zahl sie ben) Wuumlr den viele solcher Quadratzeichen als Klassen koumlpfe aufge nom men so stuumln den im Woumlrterbuch etliche Klassenkoumlpfe die nur sehr wenige Ein-traumlge unter sich vereinigen wuumlrden Aus derartigen Quadrat zeichen wird des wegen oft ein einziger Strichzug zum Klassenkopf erklaumlrt auch wenn die unter ihm zusammen sortierten bdquoStrichzug-Klassen koumlpfeldquo zeichen-etymo logisch nichts miteinander gemein haben moumlgen (zB steht der

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Strich zug aus dem das freie Zeichen morphem 一 yī eins besteht als Klassen kopf auch fuumlr das Quadratzeichen 七 qī sieben) Die Anzahl der Klassen koumlpfe belaumluft sich heute auf rund 200 Zahlschwankungen sind dar auf zu ruumlck zu fuumlh ren dass zwischen den einzelnen Woumlrterbuch-Herausgebern Mei nungs ver schie den heiten daruumlber herrschen ob einige Strich zuuml ge Strichzug kom plexe oder gar Zeichen morpheme als Klassen-koumlpfe auf zu nehmen seien

42 Laut-Morphem-Entsprechungen in Ideophonogrammen

Waumlhrend die Formen der chinesischen Quadratzeichen seit knapp 2000 Jah ren verhaumlltnismaumlszligig stabil geblieben sind haben sich im Laufe der Zeit Gebrauch und Aus sprache der Silben stark veraumlndert Wenn sich die Laut bilder einer seits eines Ideophono gramms und andrerseits seines als freies Quadrat zeichen auftretenden Lauttraumlgers allmaumlhlich aus einander ent-wickel ten dann hatte das zur unausbleiblichen Folge dass der Lauttraumlger die Lau tung des von ihm mitgebildeten Komplexes (naumlmlich den Lautwert der Silbe des Ideo phono gramms) mit der Zeit immer ungenauer wieder gibt Das laumlsst sich mit der allmaumlhlichen Auseinanderentwicklung von Schrei-bung und Lau tung auch in Kultursprachen mit Alphabetschriften (wie Fran zouml sisch oder in viel geringerem Maszlige Deutsch) vergleichen

Gilt es die Laut-Morphem-Entsprechung in Ideophonogrammen zu be ur-teilen so sollte man folgende zwei Aspekte in Betracht ziehen erstens ob das Ideo phonogramm und sein Lauttraumlger wenn er in freier Stellung als Qua drat zeichen auftritt homo(io)phon seien und zwei tens ob alle Ideo-phono gramme die das gleiche Zeichenmorphem als Laut traumlger auf weisen ho mo(io)phon seien

Die folgenden Beispiele bilden einige Fallgruppen die grob nach diesen zwei Kri terien sortiert sind Geordnet sind sie hier letztlich nach der Komplexi-taumlt ihrer phonetischen Verhaumlltnisse

(38) Freies Zeichenmorphem 皇 huaacuteng Kaiser als Lauttraumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon徨 huaacuteng unsicher 煌 huaacuteng glaumlnzend 蝗 huaacuteng Heu-schrecke 凰 huaacuteng Phoumlnix 遑 huaacuteng geschweige denn 隍 huaacuteng Graben 湟 huaacuteng Sumpf 惶 huaacuteng aumlngst-lich

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(39) Freies Zeichenmorphem 番 fān barbarisch als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

翻 fān umwaumllz- 幡 fān schmale haumlngende Fahne 旛 fān Wim pel 蕃 fān exotisch

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon藩 faacuten Zaun

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon播 bograve streu-

(40) Freies Zeichenmorphem 青 qīng dunkelgruumln hellblau als Laut-traumlger gebunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon清 qīng deutlich 蜻 qīng Wasserjungfer 鯖 qīng Ma krele

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon情 qiacuteng Gefuumlhl 晴 qiacuteng klar (in bezug auf Wetter)

c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon請 qǐng bitt-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend精 jīng Extrakt Essenz 菁 jīng Quintessenz 睛 jīng Au ge

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend靖 jigraveng befried-

(41) Freies Zeichenmorphem 需 xū brauch- als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend

儒 ruacute Gelehrte(r) 蠕 ruacute sich schlaumlngel- 孺 ruacute Klein kind 濡 ruacute ein tauch- 嚅 ruacute murmel-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon懦 nuograve feige 糯 nuograve Klebreis

(42) Freies Zeichenmorphem 台 taacutei Podest als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homophon

抬 taacutei aufheb- 跆 taacutei trampel- 邰 taacutei ein bestimmter Nach-name 颱 taacutei Taifun

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon苔 tāi Moos 胎 tāi Foumltus

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c Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger nahezu reimend怠 dagravei faulenz- 殆 dagravei gefaumlhrlich 迨 dagravei bis

d Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt笞 chī peitsch-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon怡 yiacute froumlhlich 貽 yiacute hinterlass- 飴 yiacute Konfekt

f Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon冶 yě schmied-

g Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon治 zhigrave verwalt-

(43) Freies Zeichenmorphem 出 chū her-hinaus als Laut trauml ger ge bunden in

a Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger homoiophon絀 chugrave unterlegen 黜 chugrave amtsentheb-

b Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger reimend und mit aumlhn li-chem An glitt屈 qū beug-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt拙 zhuoacute ungeschickt 茁 zhuoacute gedeih-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon咄 duograve ein bestimmtes lautmalerisches Wort

(44) Freies Zeichenmorphem 且 qǐe und als Lauttraumlger gebunden in a Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit demselben Anglitt

蛆 qū Made b Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt und

demselben Ton狙 jū einen Anschlag veruumlb-

c Ideophonogramm und freier Lauttraumlger mit aumlhnlichem Anglitt齟 jǔ sich streit- 沮 jǔ niedergeschlagen 咀 jǔ kau-

d Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger heterophon租 zū miet-

e Ideophonogramm mit freiem Lauttraumlger anders heterophon阻 zǔ hinder- 祖 zǔ Ahn 俎 zǔ Schneidbrett 詛 zǔ ver fluch‑ 組 zǔ Satz (bei Maszligangaben)

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Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder116

In den obigen Beispielen liegt das Augenmerk darauf welches lautliche Ver haumllt nis zwischen einem Ideophonogramm und seinem Lauttraumlger wenn er frei vorkommt besteht In aumlhnlicher Weise koumlnnte man das Hauptaugen merk dar auf legen in welchem Verhaumlltnis die Lautungen aller Ideophono gram me wel che ein und denselben Lauttraumlger nutzen zueinander stehen

In unseren Beispielreihen sind saumlmtliche Ideophonogramme einer durch Buch staben gekennzeichneten Reihe homophon und weisen den glei-chen Lauttraumlger auf so ist zum Beispiel bei (42) die Lautung saumlmt li cher Ideo phonogramme in Reihe a taacutei in b tāi in c dagravei in d chī in e yiacute in f yě und in g zhigrave Die Ideophonogramme mit dem sel ben laut-tragenden Zeichenmorphem in a taacutei und b tāi sind homoio phon Die Ideo phonogramme in a taacutei und b tāi reimen sich mit denen in c dagravei und besitzen zumindest aumlhnliche Anglitte (t und d) Die Ideo phono-gramme in d chī e yiacute und g zhigrave reimen miteinander Die Quadrat-zeichen in e yiacute und f yě teilen den gleichen Anglitt y waumlh rend der Anglitt in d ch dem in g zh aumlhnelt (bis auf [aspiriert] in al len phono-logischen Merkmalen gleich)

Augenscheinlich lassen sich die Ideophonogramme mit dem freien Zei chen-morphem 台 taacutei Podest (46) in zwei Gruppen unter gliedern Diejenigen in a taacutei b tāi und c dagravei weisen denselben Reim ai untereinander und mit dem frei auftretenden Lauttraumlger taacutei auf waumlhrend sich die Anglitte t und d (in IPA [t ] und [t]) lediglich in dem phonologischen Merkmal [aspi-riert] unter scheiden Dementgegen zeigen die Ideophonogramme in d chī e yiacute f yě und g zhigrave entweder denselben Reim i oder den gleichen bzw einen aumlhnlichen Anglitt (y bzw ch und zh) weder der Reim i noch die An glitte y ch oder zh klingen nach dem frei vorkommenden Laut-traumlger taacutei Wahrscheinlich ist das laut tragende Zeichenmorphem 台 taacutei Po dest durch einen Zusammenfall (Synkretismus) von zwei zeichen etymo-logisch verschiedenen Zeichenmorphemen zustande gekommen oder aus zwei urspruumlnglich geschiedenen Zeichenmorphemen kon tami niert Auch ist denkbar dass die Lautung des freien Zeichen morphems durch Fremd-einfluss (Fremd lautung oder Uumlber nahme mundartlicher Faumlrbung) oder aus einem uns heute verdunkelten historischen Grund veraumlndert wurde Die von ihm abgeleiteten Lauttraumlger waumlren dann zu unter schiedlichen Zei ten (und entsprechend mit unterschiedlicher Lautung) in Ideophono gram me ein gebaut worden

Aus den obengenannten Beispielen laumlsst sich ersehen dass nicht jeder Lauttraumlger einen zuverlaumlssigen Hinweis auf den Lautwert seines Ideo-

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phono gramms gibt Die Zuverlaumlssigkeit mit der ein laut tragendes Zeichen-morphem an einer bestimmten Lautung (oder einem Lautungs buumlndel) verankert werden kann ndash und umgekehrt ndash ist abhaumlngig ua von a) der Anzahl der Ideophonogramme die den gleichen Lauttraumlger aus weisen und phonetisch miteinander uumlbereinstimmen und b) der Haumlufig keit mit der diese Ideophonogramme im Gebrauch vorkommen und damit als Induk-tions basis fuumlr den Anwender dienen koumlnnen

Beispiels weise weisen die Ideophonogramme 提 tiacute heb- bring- erwaumlhn- auf werf- und 堤 tiacute Damm die sehr haumlufig gebraucht werden den gleichen Laut traumlger 是 shigrave sei- auf Daraus ziehen Lerner und Benutzer chine sischer Quadrat zeichen den vorlaumlufigen Schluss dass Ideophono-gramme die den Laut traumlger 是 shigrave sei- enthalten ungefaumlhr mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden sollten ndash obgleich die Lauttraumlger lautung mit der freien Lautung nur im Silbengipfel (hingegen weder im Anglitt noch im Tone) uumlberein stimmt in seiner Eigenschaft als Lauttraumlger haftet dem Zeichen morphem somit eine andere Lautung an als dort wo es frei auf tritt Diese Schluss folgerung finden Quadrat zeichen benutzer bestaumltigt wenn sie seltenere Ideophono gramme wie 醍 tiacute Butter fett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln und 禔 tiacute Gluumlck kennenlernen Stoszligen sie dann auf die ihnen womoumlglich gaumlnzlich (also auch in der Lautung) unbe-kannten Tier namen 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel so sprechen sie beim Vorlesen die fuumlr sie offenkundig als Ideophono gramme erkenn-baren Quadrat zeichen in Analogie ebenfalls mit der Silbe tiacute aus und in diesem Falle stimmt diese Leseaussprache auch Sehen sie nun aber ein anderes ihnen unbekanntes fuumlr sie nicht minder offensichtlich als Ideo-phono gramm zu deutendes Quadratzeichen 湜 shiacute rein (in bezug auf Was ser) so ordnen sie wiederum in Analogie zur oben geschil derten Erfah rung dem Ideophonogramm gleichermaszligen die Silbe tiacute zu ndash dies-mal aber irriger weise denn im Gegensatz zu dem uumlblichen Muster wonach die den Lauttraumlger 是 enthaltenden Ideophonogramme immer mit der Silbe tiacute ausge sprochen werden bezieht das Ideophono gramm 湜 shiacute rein (in bezug auf Wasser) ungewoumlhnlicherweise seine Lautung unmittelbar aus dem Lautwert des freien Quadratzeichens 是 shigrave sei- wird folglich zu diesem homoiophon mit der Silbe shiacute ausgesprochen

Zu Verwirrungen kann es nicht nur innerhalb der Kategorie der Ideo phono-gramme kommen sondern es geschieht weil ja im Chinesi schen die Ideo-phono gramme dermaszligen vorherrschend sind gelegentlich auch dass ein Leser zusammengesetzte Ideogramme deren Quadratzeichen er noch nicht kennt als Ideophono gramme missdeutet In solchen Faumlllen kann zweier lei

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geschehen Entweder laumlsst der Leser sich vom bdquoPseudo-Lauttraumlgerldquo der maszligen beeinflussen dass er dem ihm unbekannten Quadrat zeichen als Leseaussprache sekundaumlr eine Lautung beimisst welche er mit dem Pseudo-Lauttraumlger verbindet oder aber ndash und das duumlrfte bedeu tend seltener geschehen ndash erkundigt sich der Leser uumlber die sprech sprach lich richtige Lautung des Quadratzeichens und ordnet in seinem Bewusst sein dem Lautungs buumlndel des Pseudo-Lauttraumlgers dann zusaumltzlich diese neue Lautung zu

5 Zur Kombinatorik von ZeichenmorphemenDie uumlberwiegende Mehrheit der chinesischen Quadratzeichen ist durch Kompo si tion von zwei oder mehr Zeichenmorphemen entstanden Aller-dings sind die Zei chen morpheme eines Quadratzeichens im Schreibquadrat nicht willkuumlrlich son dern nach gewissen zeichenmorphotaktischen Regeln platziert

Die kombinatorischen Eigenschaften eines Zeichenmorphems wo es als Kom posi tions glied im Quadratzeichen auftritt sind von zwei Fakto ren ab haumlngig erstens ob das Zeichenmorphem nur gebunden oder aber auch frei vorkommt und zweitens ob das Zeichenmorphem als Bestand teil eines Qua drat zeichens immer ein und dieselbe Position inner halb des Schreib-qua drates einnimmt (stellungsstarr) oder aber an mehreren Posi tionen vor-kommen kann (mehr-Stellungs-faumlhig)

Ein Zeichenmorphem welches nur gebunden als Kompositionsglied im Qua drat zeichen genutzt werden kann ist in aller Regel stellungsstarr Betrachten wir nachfolgend zunaumlchst diese Faumllle nur-gebundener Allo-morphe

(45) Ehemals freies Piktogramm dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette kommt heut zutage nur mehr gebunden vor und ist stellungs starr

a immer am linken und zugleich oberen Quadratzeichenrande wie in 疾 病 瘋 癲 疲 疼 痛 疚 疤 痕 痊 癒 癱 瘓 瘦 疫 療 癮

(46) Ehemals freies Piktogramm dagger卩 daggerjieacute Daggerknieendersitzender Mensch kommt heutzutage nur mehr gebunden vor und ist stellungsstarr

a immer auf der rechten Seite im Quadratzeichen wie in 卯 印 即 卲 卸 卹 卻

Sofern ein Zeichenmorphem auch als eigenstaumlndiges Quadrat zeichen (in Ge stalt eines Vollallomorphs) vorkommt haumlngt seine Stellungs frei heit inner halb des Schreibquadrates davon ab welcher Allomorphart es ange-

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houmlrt den Schrumpfallomorphen oder den Allomorphkuumlrzeln In der Regel nimmt ein Allomorph kuumlrzel nur eine einzige Stelle im Schreib qua drat ein ist also stellungsstarr waumlhrend sich ein Schrumpfallomorph nicht auf eine feste Positio nierung beschraumlnken muss (allenfalls kann) mithin poten ziell mehr-Stellungs-faumlhig ist Das ist der Grund dafuumlr warum die Zeichen morphem gattung bdquoAllomorph kuumlrzelldquo im Bewusstsein chinesi scher Schreiber eine besondere Rolle spielt Nachfolgend fuumlhren wir Bei spiele fuumlr die Platzierung von Schrumpf allomorphen und Allomorph kuumlrzeln im Qua dratfeld an

(47) Piktogramm 山 shān Berg kommt auch frei als Vollallomorph vor so wie als

a Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 屹 崎 嶇 峽 嶼

b Schrumpfallomorph an der Oberkante des Quadratzeichens wie in 嶺 崇 岸 崗

c Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 岡 巒 岳 岔 島

d Schrumpfallomorph auf der rechten Seite im Quadratzeichen (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 訕 汕 疝

(48) Piktogramm 手 shǒu Hand kommt auch frei als Vollallomorph vor sowie als

a Schrumpfallomorph an der Unterkante des Quadratzeichens (ggf zum Teil umsaumlumt) wie in 摩 拳 拿 掌 擎 摯 擊 攀

b Schrumpfallomorph auf der linken und rechten Seite (im Rahmen der seltenen Komposition aus drei gleichrangigen Gliedern) des Quadratzeichens 掰

c Schrumpfallomorph in der Quadratzeichenmitte und dabei oben so wie beidseits uumlberragt wie in 承

d Schrumpfallomorph auf der linken Seite im Quadratzeichen wie in 拜 welches rechts mit einem nur-gebundenen unikalen Allo morph be stuumlckt ist das seinerseits wiederum ur spruumlng lich ebenfalls von dem Pikto gramm 手 shǒu Hand abge leitet ist

e Allomorphkuumlrzel (stellungsstarr) zeichenmorphotaktisch nur im mer am linken Quadratzeichenrande wie in 打 扒 扔 扣 扛 拖 抖 扯 把 抓 攪 拌 捕 捉 握 抽 抵 押

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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Die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommen den Zeichen-morphem dagger疒 daggerchuaacuteng DaggerPatient im Bette zusammen gesetzter Qua drat-zeichen sind etwa 病 Krankheit 瘋 verruumlckt 疲 muumlde 痛 Schmerz 疤 Nar be 癒 verheil- 癮 Sucht die Bedeutungen solcher mit dem nur gebunden vorkommenden Zeichenmorphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersit zen der Mensch sind zB 印 Stempel 即 sofort 卸 entlad- 卹 troumlst- 卻 hingegen die Bedeutungen solcher Quadrat zeichen mit dem auch frei vorkom menden Zeichen morphem 山 shān Berg sind bei spiels-weise 崎 felsig 峽 Tal 嶼 Inselchen 嶺 Gebirgs zug 岸 Ufer 岳 ho her Berg 島 Insel und Qua drat zeichen mit dem auch frei vor kom-menden Zeichen morphem 手 shǒu Hand koumlnnen folgendes be deuten 拜 anbet- 摩 mit der Hand reib- 拳 Faust 拿 hol- 打 schlag- 捉 einfang-Was Ideophonogramme anlangt kann man meistens aus ihren Kompo si-tions struk turen und den Eigenschaften des Zeichenmorphems schlie szligen ob ein als Kompositionsglied genutztes Zeichenmorphem der Sinn- oder aber der Lauttraumlger eines Ideophonogramms sei Diesbezuumlglich ver su chen wir im Fol genden einige brauchbare Richtlinien aufzustellen und diese an hand der oben aufgelisteten Beispiele zu erlaumlutern Zu beachten ist dass nicht alle Quadrat zeichen in (45) (46) (47) und (48) Ideo phonogramme sind Die Er laumluterung bezieht sich ausschlieszliglich auf die ideo phonographi schen unter den angegebenen Quadratzeichen Saumlmtliche Quadratzeichen in (45) (47) a b und d sowie (48) e stellen Ideophono gram me dar In (46) sind zB folgende Quadratzeichen Ideophonogramme 即 卲 卹 in (47) c 巒 島 und in (48) a 摩 擎 摯

Richtlinie 1 Bei bestimmten Kompositionsstrukturen finden sich der Sinn- und der Lauttraumlger jeweils in bestimmten Stellungen In Ideophono-gram men in denen ein Kompositionsglied das andere (teilweise) um saumlumt (bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition) nimmt der Sinntraumlger die Auszligen- und der Laut traumlger die Innen stellung ein wie in (45) In ideophonogra phi schen Kom posita in denen die Kompositionsglieder senkrecht voneinander zu tren nen sind (bdquoLinksrechtsldquo-Komposition) befinden sich der Sinn traumlger links und der Laut traumlger rechts wie in (47) a und d sowie in (48) e Bei Ideo phono grammen in denen die Kompositionsglieder waage recht von-ein ander zu trennen sind (bdquoObenuntenldquo-Komposition) haumlngt die Unter-brin gung der sinn- und lauttragenden Zeichenmorpheme weniger von ab strakt beschreibbaren Regeln ab sondern sie bdquoklebtldquo eher am einzel nen Zeichen morphem In solchen Faumlllen muss man gewissermaszligen zu jedem Zeichen morphem ein Buumlndel Zusatzeigenschaften kennen zu denen auch

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die eben erwaumlhnte Po sitio nierung im Zeichen quadrat bei bdquoObenuntenldquo-Kom position gehoumlrt (vgl (47) b und c sowie (48) a)

Richtlinie 2 Es gibt eine beschraumlnkte Anzahl haumlufig gebrauchter Zei-chen mor pheme die ausschlieszliglich oder uumlberwiegend nur einer der bei den Funktionen (Sinn- oder Lauttraumlger) dient Beispielsweise handelt es sich in (45) (46) und (48) um Zeichen morpheme die aus schlieszlig lich als Sinn traumlger erscheinen In (47) tritt das Zeichen morphem 山 shān Berg ungleich haumlufiger als Sinn- (wie in (47) a b und c) denn als Laut traumlger (wie in (47) d) auf nicht zuletzt ist es in seiner selteneren Funktion als Laut traumlger aus schlieszliglich auf der rechten Seite im Schreib quadrat auszumachen (wie in (47) d) wobei noch dazu seine Kompositionspartner auf der linken Seite alle samt gebraumluchliche Sinntraumlger sind und somit die obengenannte Stel-lungs regel bei der bdquoLinksrechtsldquo-Komposition eingehalten wird

Richtlinie 3 Stellungsstarre Kompositionsglieder seien es Allomorph kuumlr-zel wie in (48) e oder nur-gebundene Zeichenmorpheme wie in (45) und (46) dienen in ideophonographischen Quadratzeichen in aller Regel als Sinn traumlger In (46) bestehen die Ideophonogramme aus zwei Kom posi tions-gliedern jeweils einem auf der linken und einem auf der rechten Seite Nach Richtlinie 1 sollte ein Leser den linken Bestandteil als Sinn traumlger und den rechten als Laut traumlger deuten koumlnnen Nun werden bei den Ideo phono gram-men in (46) allerdings die jeweils linken Zeichen morpheme erstens selten als Kompositions glieder in Quadrat zeichen eingesetzt und zweitens falls doch dann sind sie fast nie Sinn traumlger Dem gegen uumlber stellt das stellungs-starre Zeichen morphem dagger卩 daggerjieacute Daggerknie endersitzender Mensch das stets die rechte Stel lung einnimmt einen gebraumluchlichen Sinn traumlger dar der erfah rene LeserSchreiber hat bei diesem (und anderen) Zeichen also nicht nur die Form sondern zugleich auch etwaige an dieser Form bdquoklebendeldquo Eigen schaften wie bdquoSinn traumlgerldquo und bdquoStellung inner halb des Quadrat feldesldquo ver inner licht Diese Kenntnisse fuumlhren ihn dann zur Schluss folge rung dass die Ideo phono gramme in (46) so komponiert worden seien dass ndash im Gegensatz zur gewoumlhnlichen Positionierung ndash der Sinn traumlger auf der rechten Seite und der Lauttraumlger auf der linken Seite stehe

Wenn sie die obengenannten Richtlinien verinnerlicht haben nehmen Lerner und Benutzer chinesischer Schriftzeichen nur selten das sehr haumlu-fige Quadrat zeichen 題 tiacute Aufgabe als Ideophonogramm wahr Zeichen-etymolo gisch betrachtet besteht dieses Quadratzeichen naumlmlich rechtsinnen aus dem Schrumpf allomorph des Laut entlehnungs zeichens 頁 yegrave Seite als Sinn traumlger und linksauszligen aus dem Allomorph des zu sam men-gesetz ten Ideo gramms 是 shigrave sei- als Lauttraumlger Warum aber erkennt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder122

man diesen ideophonographischen Aufbau von 題 tiacute Aufgabe nun aber meist nicht Das Zeichen mor phem 是 shigrave sei- tritt als Laut traumlger in aller Regel auf der rechten Seite von Ideo phono grammen mit bdquoLinksrechtsldquo-Komposition auf diese Eigen schaft des Zeichen mor phems laumlsst sich aus etlichen Beispielen indu zieren 提 tiacute heb- 堤 tiacute Damm 醍 tiacute Butterfett 緹 tiacute rotes Tuch 媞 tiacute schoumln 禔 tiacute Gluumlck 鯷 tiacute Sardelle und 騠 tiacute Maulesel Aller dings im Qudratzeichen 題 tiacute Aufgabe steht 是 shigrave einzig artiger weise auf der linken Seite obgleich es in dieser Kom position gleicher maszligen Laut traumlger ist auf faumllligerweise wird zu dem der untere Strich des Allo morphs von 是 shigrave sei- nach rechts unten weitergezogen Dieser weiter gezogene Strich veranlasst den Leser das Quadratzeichen 題 tiacute Auf gabe nicht mehr als bdquoLinksrechtsldquo-Komposition sondern eher als eine (auch anderweitig uumlbliche) bdquoAuszligeninnenldquo-Komposition zu erachten und da mit ist das Allo morph des Zeichen-morphems 是 shigrave sei- als aumlu szligerer Bestand teil und das Schrumpf allo morph des Zeichen morphems 頁 yegrave Sei te als innerer Bestandteil zu wer ten Wie oben erlaumlutert dient bei Ideo phono grammen mit solcher bdquoAu szligenin nenldquo-Komposition in der Regel das aumluszligere Zeichen morphem (hier 是 shigrave sei-) als Sinn- und das innere (hier 頁 yegrave Seite) als Lauttraumlger Im Qua-drat zeichen 題 tiacute Auf gabe in des sen ist es gerade umgekehrt denn hier nimmt der Laut traumlger die sonst fuumlr den Sinn traumlger uumlbliche Stellung ein und umgekehrt Deshalb wertet der Leser wie erwaumlhnt dieses Quadrat-zeichen schwer lich als Ideo phono gramm son dern nimmt es einfach als Ein heit hin ohne es zu ana lysieren Dieser Ver zicht des Anwenders sich den ideophonographischen Zeichenaufbau zu ver durch sich ti gen liegt umso naumlher als es sich beim Ideophonogramm 題 tiacute Auf gabe um ein uumlber-aus gelaumlufiges Qua drat zeichen handelt sehr gelaumlufige sprachliche Grouml szligen idiomatisiert man bekanntlich schneller und nimmt sie dann eher als gege-bene Einheiten wahr ohne dass man das Beduumlrfnis hegte sich ihren Auf-bau bei jedem Auftreten neu zu vergegenwaumlrtigen

6 Mehr-Zeichen-Komposita und chinesische TexteJedes chinesische Einzelschriftzeichen wird unabhaumlngig von der Zahl sei-ner Bestand teile (Zeichen morpheme) und Strichzuumlge zu einem theore tisch gleich groszligen quadratischen Block gestaltet Anlaumlsslich dieser Eigen schaft wird es im vorliegenden Beitrag ein gaumlngig bdquoQuadrat zeichenldquo genannt Die Rege lung dass alle Quadrat zeichen theoretisch ein gleichgroszliges Feld aus fuumlllen wird beim Drucken und beim Lernen streng eingehalten Diese Diszi plinie rung scheint trivial zu sein sie ist fuumlr die Aufrecht erhaltung der

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Funktions weise der chinesischen Schrift jedoch von nicht zu unter schaumlt-zender Bedeutung Dadurch dass alle Zeichen morpheme eines zusammen-gesetz ten Schrift zeichens in einem gedachten Quadrat bestimmter Groumlszlige ange ordnet werden vermeidet man dass seine Bestandteile gra phisch aus-ein ander fallen

61 Schriftliche Wiedergabe lexikalischer mehrsilbiger Komposita

In klassischen chinesischen Texten steht jedes Quadratzeichen fuumlr einen Be griff Etliche Quadratzeichen repraumlsentieren als Homographe meh rere Bedeu tungen also mehrere bdquoWoumlrterldquo (meist Homonyme) Je nach Kon text wird die angemessenste Bedeutung dahinter verstanden Um diese Mehr-deutigkeit zu mindern wurden zuerst neue Quadrat zeichen konstruiert welche die Begriffe eindeutiger abbilden konnten Wohl gemerkt ein Qua-drat zeichen obgleich (heute) mit einer Silbe ausgesprochen bildete zunaumlchst nicht unbe dingt eine einzige Silbe ab sondern stand damals noch fuumlr ein Abbild des Inhalts fuumlr einen Begriff der Inhaltsseite welcher ausdrucks-seitig durch passende bdquoWoumlrterldquo (Einsilbler oder Silben syntagmen) ausge-druumlckt werden konnte Nach und nach hielt das Tempo der Quadrat zeichen-bildung nicht mehr mit der sprunghaften Vermehrung neuer bdquoWoumlrterldquo Schritt auch wuumlrden zu viele Ein-Begriff-ein-Quadratzeichen-Entspre-chun gen zu Lasten des Gedaumlchtnisses gehen Aus diesem Grund haben sich Gelehrte auf die feste Hinterein ander reihung mehrerer Quadrat zeichen verlegt ndash und jedes dieser Quadrat zeichen entsprach dann nur noch einer ein zigen Silbe Mehr silbige bdquoWoumlrterldquo konnten und mussten nun also mit einer ihrer Silben zahl entsprechenden Reihe von Quadratzeichen geschrie-ben werden Durch den rekursiven Einsatz vorhandener Quadratzeichen lassen sich so nahe zu unbegrenzt neue Einheiten bilden ohne dass man den Bestand der Quadrat zeichen weiter erhoumlhen muumlsste Als Ergebnis ent-stehen Mehr-Zeichen-Komposita aus zwei drei oder mehr Quadratzeichen Im der deutschen Wortbildung lassen sich mehrgliedrige Komposita (und Mehrfach-Ableitungen) vergleichen

Da zu Anfang als die Schrift noch bildhafter war und eher Begriff lichkeiten denn Lautwoumlrter ausdruumlckte und jedes Zeichen einen Begriff dar stellte (hinter dem sich mehrere Sprechwoumlrter vereinen lieszligen) war keine begren-zende Leere zwischen Quadratzeichen in einer Zeile noumltig Auch als spaumlter die genann ten Mehr-Zeichen-Komposita ent standen blieb dieser Zu stand un veraumlndert So gibt es auch heute beim Schreiben keine Markie rung zwi-schen lexikalischen Einheiten zwischen enger und weniger eng Zu sammen-gehoumlren dem Jedes Quadrat zeichen ist vom anderen gleich weit ent fernt

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

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gleich ob ein zwei oder mehr Quadrat zeichen zu einem lexika lischen Kom positum zusammengehoumlren Bis auf Anfuumlhrungszeichen fuumlr bdquoneueldquo bzw erklaumlrungsbeduumlrftige bdquoWoumlrterldquo wird auch niemals ein Binde strich oder ein entspre chendes Verdeutlichungs zeichen angewandt welches die Zusammen gehoumlrigkeit eines Mehr-Zeichen-Kompositums kenn zeichnen wuumlrde

62 Interpunktion im chinesischen Text

Die Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen stellt nicht die einzige Schwierig keit beim Lesen klassischer Texte dar Sind schon die Wort gren-zen nicht markiert (und damit zB die haumlufigen Mehr-Zeichen-Komposita nicht als zusammengehoumlrig kennzeichenbar) so gilt dasselbe in klassi schen Tex ten obendrein fuumlr die Grenzen zwischen Saumltzen Des weiteren wurden klassi sche Schriftwerke wohl schon wegen des teuren Schreib materials in einer sprachlich sehr gedraumlngten Form (einer Art bdquoTelegramm stilldquo) verfasst die sich uns heute ohne Kenntnis der damaligen Umstaumlnde heraus nicht mehr von selbst erklaumlrt Daruumlber hinaus gibt es im Chinesischen als isolie-render Sprache kein Kasussystem welches die Rolle der Satz glieder unter-stuumltzend anzeigen koumlnnte Waumlhrend in der heutigen Schriftsprache (in Ent sprechung zur Sprechsprache) wenig Spielraum hinsichtlich dessen herrscht in welcher Folge man Quadratzeichen im Satz anordnen kann kennt die klassische Schreibung kaum Regeln fuumlr die Anordnung der Qua-drat zeichen die schriftliche Fixie rung des Sinnes ist sehr unscharf und da durch sind viele und oft genug stark unterschiedliche Aus legun gen moumlg-lich bzw noumltig fuumlr alle bdquoWort artenldquo ist theoretisch die syntaktische Rolle in einem Satz jederzeit austauschbar Je nach Interpretationsbedarf werden die passendste Bedeutung und Anwendung gewaumlhltDie Sinn-Mehrdeutigkeit einzelner Quadratzeichen der Mangel an Wort-grenzen Satzzeichen und Kasus die relativ freie Quadratzeichen=bdquoWortldquo-Stel lung sowie die spaumlrliche Schreibweise ndash und nicht zuletzt auch der im Laufe der Zeit eingetretene Sprachwandel in der Sprech sprache ndash er schweren chinesischen Gelehrten die Ausdeutung klassischer Texte seit Ge nera tionen Der Volksmund nimmt diesen Umstand mit folgender Geschichte aufs Korn Es war einmal ein Mann der als es heftig regnete bei einem Besuch im Hause seines Gastgebers dort auch fuumlr die Nacht unterkam Der Regen indes dauerte und dauerte an so wohnte der Besucher Tag um Tag weiter in dem gastfreien Hause Aus Houmlflichkeit wollte der Gastgeber seinem Besu-

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cher nicht von Angesicht zu Angesicht mitteilen dass er jetzt langsam denn doch nach Hause zuruumlckkehren sollte also klebte er einen Zettel an die Zimmertuumlr des klettigen Gastes Darauf stand

(49) 下雨天留客天留我不留

a 下 xiagrave herabfall- b 雨 yǔ Regen c 天 tiān Himmel Tag d 留 liuacute (jemanden) halt- e 客 kegrave Besucher f 我 wǒ Pronomen der 1 Person g 不 bugrave nicht bu eine Fragepartikel

Der Gastgeber wollte damit ausdruumlcken

(50) 下雨天留客天留我不留

Es regnet Der Himmel haumllt den Besucher [hier bei mir fest] Der Himmel will [dich] halten ich [aber] nicht

Allerdings hatte der kleine Text (49) klassischerweise keine Interpunktion Der gewitzte Besucher indes fuumlgte eine solche auf folgende Weise hin zu

(51) 下雨天留客天留我不留

Tage an denen es regnet [sind] Tage da der Besucher [im Hau se] behalten [werden sollte] [Sollst du als Gastgeber] mich hal ten oder nicht Jawohl [eigentlich Halten]

Das Quadratzeichen 天 tiān Himmel hat weitere Bedeutungen wie Tag Wet ter und Gott Das Quadrat zeichen 留 liuacute fuumlr das Verb halt- laumlsst sich intran sitiv im Sinne von bleib- verwenden Selbst das Quadrat-zeichen 不 bugrave fuumlr die Ver neinungs partikel nicht findet Anwendung auch als Frage partikel wobei dann beim Sprechen die Silbe nebentonig wird Es ist (vor allem im klassischen Text) nicht erforderlich dass alle Satz glieder wie syntak tisches Subjekt oder Objekt eines Satzes ausgedruumlckt werden Hat sie der Textver fasser nicht hingeschrieben so muss sie der Text leser selbst aus dem Kon text erschlieszligen Je nach Hintergrund oder Bedarf ergeben sich unterschiedliche ggf widerspruumlchliche Inter pretationen des-selben Tex tes

Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

63 Laufrichtungen von Quadratzeichenfolgen und Textzeilen

Die Schreibrichtung der chinesischen Quadratzeichen ist traditionell in der Regel senkrecht von oben nach unten und die so entstehenden senkrechten Zeilen sind von rechts nach links angeordnet Seit ca 100 Jahren werden chine sische Texte neben der althergebrachten Schreibrichtung auch in Zeilen von links nach rechts und mit von oben nach unten angeordneten Zeilen geschrieben ndash wie in europaumlischen Buumlchern

Dank der Tatsache dass wegen der Form der Quadratzeichen die Zei-chen eines Textes wie die Kaumlstchen in einem Kreuzwortraumltsel angeord net sind sind bei einem chinesischen geschriebenen Text etliche spieleri sche Lesun gen und Schreibungen moumlglich Solche Spielereien sind bei Chine-sen traditionell uumlblich daher sei ihrer hier erwaumlhnt Nicht nur die Zei-chen an Zeilen anfaumlngen oder Zeilenenden sondern auch zB die jeweils sieben ten Quadrat zeichen aller Zeilen stehen in einer Flucht Sie bilden also quer durch die Zeilen laufende bdquo(Diagonal-)Spaltenldquo Das graphische bdquoAkro syllabonldquo dehnt sich uumlber den ganzen Text hin aus Man kann darin die Leserichtungen wechseln oder geometrische Figuren oder auch Endlos schleifen konstruieren So lassen sich beispielsweise auch die fuumlnf Quadrat zeichen in (52) spielerisch dergestalt niederschreiben dass sie in der ange gebenen Abfolge einen Kreis bilden der ndash das legen wir fest ndash im Uhrzeigersinn gelesen wird

(52) 清 心 也 可 以

a 清 qīng reinig- b 心 xīng Geist c 也 yě auch eine Bestaumltigungspartikel d 可 kě koumlnn- e 以 yǐ mittels eine Art Modalpartikel

Wieder dank der Mehrdeutigkeit und der vielfachen Anwendbarkeit kann jedes Quadratzeichen an den Anfang eines Satzes zu stehen kommen

(53) Die fuumlnf moumlglichen Lesarten der Kette aus fuumlnf Quadratzeichen in (52) sind somit folgende (die syntaktischen Komplexe sind durch zusaumltzliche Binde striche verdeutlichend getrennt)

a 清心也可以 (清心-也-可以) Den Geist zu reinigen [ist hiermit] eben falls moumlglich

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b 心也可以清 (心也-可以-清) Der Geist ndash [er] ebenfalls ndash kann [hier-mit] gereinigt werden

c 也可以清心 (也-可以-清心) Ebenfalls kann [hiermit] der Geist ge rei nigt werden

d 可以清心也 (可以-清心-也) [Hiermit] kann der Geist gereinigt wer den jawohl

e 以清心也可 (以-清心-也可) [Hier]mit den Geist zu reinigen [ist] eben falls moumlglich

Das bdquoWortldquo 可以 in den ersten vier Saumltzen bedeutet koumlnn- wobei das Qua-drat zeichen 以 yǐ als rhythmische Partikel keinen Beitrag zur Bedeu tung leistet Das Quadrat zeichen 也 yě im vierten Satz ist ledig lich eine Bestaumlti-gungs partikel wenn es in klassischen Texten am Satz ende hin zuge fuumlgt wird Dieser etwas spielerische volkstuumlmliche Spruch findet sich auf einer chine sischen Teekanne Mit ihm ist gemeint dass guter Tee nicht nur den Durst stille sondern auch den Geist reinige

127Zur Schriftzeichen-Morphologie der chinesischen Schrift

Chung-Shan Kao - Thorwald Poschenrieder128

7 SchrifttumBlakney Raymond B (1948) A course in the analysis of chinese cha rac-ters Peiping The College of Chinese StudiesCouvreur Seacuteraphin (31911) Dictionnaire classique de la langue chinoise Zhili Ho Kien FouFazzioli Edoardo (2003) Gemalte Woumlrter 214 chinesische Schriftzeichen ndash vom Bild zum Begriff Wiesbaden Fourier-VerlagKarlgren Bernhard (22001) Schrift und Sprache der Chinesen Ber lin Springer-VerlagLin Hsin-Hwa (1996) Der sinnhafte Aufbau der chinesischen Schrift Frank furt am Main Peter LangRudolph Joumlrg-Meinhard (2004a) Das groumlszligte Geheimnis Chinas I Ludwigs hafen Ostasieninstitut der FH LudwigshafenRudolph Joumlrg-Meinhard (2004b) Das groumlszligte Ge heimnis Chinas II Ludwigshafen Ostasieninstitut der FH Lud wigs hafenWang Hongyuan (1997) Vom Ursprung der chinesischen Schrift Peking Sino lingua BeijingWieger Leacuteon SJ (1965) Chinese characters Their origin etymology his tory classification and signification A thorough study from Chinese do cu ments New York DoverYan Zhenjiang (2000) Schriftsystem Literalisierung Literalitaumlt Frank furt am Main Peter Lang

Danksagung Die Verfasser danken herzlich den KorrekturlesernMeike Brehmer Jost Gippert Joshua Kraumlmer und Andreas Schabalin

Dr Chung-Shan KaoDepartement fuumlr PsychologieUniversitaumlt Freiburg im UumlechtlandRue Petermann-Aymon de Faucigny 2CH-1700 FreiburgSchweizchung-shankaounifrch+41 (0)26300 74 94

Thorwald PoschenriederTausendschoumln-Verlag

Dorfstraszlige 39D-17509 LodmannshagenPommernDeutschlandTausendschoen-VerlagT-OnlineDe+49 (0)383 73266 88

Geschichte der Morphologie

Rosemarie Luumlhr1

The present approach to history of morphology centres around a certain term namely syncretism because this term plays a major role in modern linguistics under the name of underspecification In the following the phenomenon of underspecification will be dealt with firstly by means of Latin nominal mor-phology and secondly by reference to Old Indic This is supposed to indicate that the Old Indic grammarians already knew essential aspects of underspeci-fication

EinleitungDie Behandlung der Geschichte der Morphologie erfolgt anhand eines be-stimmten Begriffs naumlmlich anhand des Synkretismus weil dieser Begriff unter dem Terminus Unterspezifikation in der modernen Linguistik eine groszlige Rolle spielt Das Phaumlnomen der Unterspezifikation wird im folgenden erstens anhand der lateinischen nominalen Morphologie erlaumlutert zweitens anhand der altindischen Dabei soll gezeigt werden daszlig die altindischen Grammatiker schon wesentliche Aspekte der Unterspezifikation erkannt haben

Das griechische Substantiv συγκρητισμός Vereinigung von kretischen Ver-baumlndenrsquo dann Vereinigung zweier streitender Parteien gegen einen dritten Feindrsquo wurde von Erasmus von Rotterdam neu belebt im Sinne von Ver-mischung von religioumlsen Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbildrsquo Er hat das Wort volksetymologisch an griech συγκεράννυμι vermischersquo σύγκρατος vermischtrsquo angeschlossen Im 19 Jh erfuhr der Begriff eine Ausdehnung Die Anwendung auf die Sprachwissenschaft stammt von August Pott 18362

Eine uumlbliche Definition von Synkretismus findet sich in Abrahams bdquoTermi-nologie zur neueren Linguistikldquo (Abraham 1988 S 849)

bdquohistor Zusammenfall von urspruumlnglich verschiedenen grammatischen For-men mit verschiedenen Bedeutungen so daszlig sprachgeschichtlich Morphem- oder Phonemhomonymie zustande kommt synchron allerdings ist die Lizenz dieses Wandels daszlig eine der gesonderten Bedeutungen oder grammatischen

1 Herr Dr Bernd Wiese hat mir die das Latein betreffenden Graphiken zur Verfuumlgung gestellt und autorisiert Ich danke ihm herzlich dafuumlr2 BaermanBrownCorbett 2005 S 3f

Rosemarie Luumlhr130

Funktionen aufgegeben wird Dies zeigt sich im altgriech Kasussystem das den aumllteren idg Vokativ im Nominativ den Ablativ im Dativ aufgenommen hat Siehe dagegen das Lateinische wo Vokativ und Ablativ noch als gesonderte Kasus existierenrdquo

Auch das Deutsche zeigt bekanntlich Synkretismen vgl die Flexion des Artikels

(1)

[-pl] [+pl]

[+mask] [+neut] [+fem] [+mask] [+neut] [+fem][+nom] -er -es -e -e -e -e

[+acc] -en -es -e -e -e -e[+dat] -em -em -er -en -en -en[+gen] -es -es -er -er -er -er

Klassifiziert man nach Genus Numerus und Kasus erhaumllt man 24 Kom-binationen Doch verwendet man heute anstelle des Begriffs Synkretis-mus den genannten Terminus Unterspezifikation und versucht homo-nyme Endungen unter einer bdquonatuumlrlichen Klasseldquo zusammenzufassen Eine natuumlrliche Klasse ist dann gegeben wenn man weniger Merkmale braucht um diese Klasse zu spezifizieren als ein einzelnes Element hat das zu dieser Klasse gehoumlrt (Hall 2000 S 122) ZB hat die Endung -em in (1) die Merkmale [+dat +mask -pl] und [+dat +neut -pl] Streicht man die gemeinsamen Merkmale weg bleiben [+mask] und [+neut] uumlbrig Dem-nach bilden Maskulinum und Neutrum eine bdquoKlasseldquo die vom Femininum unterschieden ist In einem naumlchsten Schritt wird das Merkmal [+neut] auf-gegeben und das Neutrum anhand der Merkmale [plusmnmask] und [plusmnfem] defi-niert Demnach steht [+mask -fem] fuumlr das Maskulinum [-mask +fem] fuumlr Femininum [-mask -fem] fuumlr Neutrum Wenn man nun diese Merkmals-klassifikation auf die Endung -em anwendet ist diese durch den Merk-malssatz [+dat -fem -pl] ausgezeichnet und es ergibt sich ein Synkretismus oder eine Unterspezifikation in Hinblick auf die Genusmerkmale

Auch bei den Kasusmerkmalen ist der Begriff Unterspezifikation anwend-bar Fuumlr das Slawische hat zuerst Jakobson (1962) Merkmale wie [+nom] [+acc] [+dat] und [+gen] in die allgemeineren Merkmale [plusmngov(erned)] [plusmnobl(ique)] uumlbergefuumlhrt Eine Kreuzklassifikation fuumlhrt dann fuumlr die einzelnen Kasus zu folgenden Merkmalen Nominativ [-gov -obl] Akku-sativ [+gov -obl] Dativ [+gov +obl] Genitiv [-gov +obl] Auf diese Weise

Geschichte der Morphologie 131

entstehen die natuumlrlichen Klassen Nominativ Akkusativ vs Dativ Genitiv und zwar nicht oblique ([-obl]) vs oblique ([+obl]) Kasus Ein Flexions-marker kann so unterspezifizierte Kasus-Information zum Ausdruck brin-gen zB [+obl -mask +fem -pl] fuumlr -er im Dativ Genitiv Singular Femi-ninum (Muumlller Gunkel Zifonun 2004 S 2 6ff) Nimmt man nun fuumlr die Merkmalsklassifikation nur die positiven Merkmale erhaumllt man ein noch einfacheres Schema

(2)

o=oblique[ ]

Nominativ

o

Genitivg=governed g

Akkusativ

og

Dativ

Man sieht daszlig der Dativ gegenuumlber den anderen Kasus durch zwei Merk-male charakterisiert ist oblique und governed An dieser Stelle kommt die Natuumlrlichkeitstheorie ins Spiel Die These ist daszlig die Flexionsendun-gen partiell ikonisch sind (Gallmann 2004 S 125) Dh die Kasus die die meisten Merkmale haben sollten auch formal am meisten komplex sein In der Tat ist der Nasal -m gegenuumlber -n markiert und die Endung -em so ein bdquoschweres Affixldquo (Wiese 1999 S 14)

Die Frage ist nun ob derartige Analysen auch in der Geschichte der Morphologie eine Rolle spielen Man wird schnell fuumlndig Schon die altindischen Grammatiker haben wesentliche Hinweise zur Analyse der altindischen Nominalflexion gegeben Zunaumlchst einmal ist festzu-halten daszlig die bdquoElsewhere-Bedingungldquo ein uumlbergeordnetes Prinzip in der modernen Linguistik auf den genialen Grammatiker Pāṇini zuruumlckgeht Sie besagt bdquoWenn sowohl eine spezifischersquo Regel als auch eine generellersquo Regel auf eine zugrundeliegende Form angewendet werden koumlnnen dann operiert die spezifische Regel vor der generellen Regelldquo (Hall 2000 S 146) Daszlig der Vorrang deskriptiver Regeln von ihrer relativen Anordnung abhaumlngt sieht man zB an den lateinischen nominalen Endungen im Neu-trum und Maskulinum

Rosemarie Luumlhr132

(3) a NOM SGACC SG = X b X = stem + -um c NOM SG in masculine = stem + -usHier steht die Endung -us des Maskulinums der Default-NominativAkku-sativ-Endung -um gegenuumlber (BaermanBrownCorbett 2005 S 135f)

Bleiben wir zuerst beim Lateinischen und pruumlfen wie die bdquoElsewhere-Bedingungldquo im einzelnen wirkt Eine bemerkenswerte Analyse stammt hier von Bernd Wiese Diese soll nun vorgestellt werden

1 Analyse der lateinischen NominalflexionDie lateinische Nominalflexion ist bekanntlich ein komplexes morpholo-gisches System bdquodas alle Symptome des flektierenden Syndromsrsquo zeigt (homonyme synonyme und kumulative Exponenten Genuseinteilung unterschiedlich strukturierte Deklinationsklassen defektive Paradig-men)ldquo Nach Wiese (2002) helfen bei der morphologischen Beschreibung weder regelbasierte Ansaumltze weiter noch bieten morphembasierte Analysen Einsichten in die sbquoLogikrsquo solcher fusionierender Flexionssysteme da die Auffassung von morphologischen Markern als sbquoSaussuresche Zeichenrsquo bei Paradigmen wie den lateinischen nicht haltbar ist Jedoch hat de Saussure (1976 S 122) am Beispiel der deutschen Pluralbildung Gast Gaumlstersquo einen ent scheidenden Hinweis fuumlr Wieses Analyse solcher Formen gegeben bdquoce nrsquoest pas lsquoGaumlstersquo qui exprime le pluriel mais lrsquoopposition sbquoGast Gaumlstersquordquo Die Funktion morphologischer Markierungen laumlge also in derartigen Faumlllen nicht darin als sbquoExponentenrsquo von sbquoInhaltenrsquo zu fungieren sondern in der Unterscheidung von Formen unterschiedlicher Funktion Es wird eine funktionale Distinktion zum Ausdruck gebracht die mit einer formalen Differenzierung korreliert Folgerichtig stellt Wiese so unabhaumlngig begruumln-dete funktionale und formale Ordnungen der lateinischen Flexionsendun-gen auf und bezieht sie aufeinander Dabei kann er die Feststellung einer diagrammatischen Form-Funktions-Korrelation praumlzisieren und die prima facie verwirrende Vielfalt der bdquoAbhaumlngigkeiten und Querverbindungenldquo so Ernst Risch zur lateinischen Flexion (Risch 1977 S 236) auf eine einfache Abbildungsbeziehung im Sinne Buumlhlers zuruumlckfuumlhren

Zunaumlchst nimmt Wiese eine merkmalsbasierte Analyse vor wobei er sich fuumlr die Ausdifferenzierung obliquer Kasus auf Blakes (1994 S 158) Untersuchun-gen zu Kasussystemen stuumltzt In Systemen mit zwei obliquen Kasus steht der

Geschichte der Morphologie 133

Genitiv gewoumlhnlich in Opposition zu einem allgemeinen multifunktionalen Obliquus den Blake den elsewhere-casersquo im Sinne Pāṇinis nennt

(4)(a) Kasusdifferenzierung im Singular und Plural

(4)(b) Ausdifferenzierung obliquer Kasus Synkretismus im Lateinischen

Das lateinische System findet sich unter (4)(b) an letzter Stelle Bei (5) wird deutlich daszlig im Lateinischen non-oblique und oblique Kasus im allge-meinen gut unterschieden werden In den meisten Teilparadigmen gibt es fuumlr die jeweiligen drei Kasus jedoch nur je zwei verschiedene Formen Dies trifft durchgaumlngig fuumlr den Plural zu wo Vokativ und Nominativ ei-nerseits und Dativ und Ablativ andererseits identisch sind Als Einzelkasus gekennzeichnet sind der Genitiv als Attributskasus und der Akkusativ als Objektskasus Kasus denen als bdquovergleichsweise unspezifische Sammelformldquo der VokativNominativ und DativAblativ gegenuumlbersteht Die bdquoSammel-formldquo faszligt Wiese dabei als unmarkiertes Glied der jeweiligen Opposition auf Gegenuumlber dem Plural wird im Singular zusaumltzlich der Objektskasus Dativ formal gekennzeichnet und im non-obliquen Bereich bdquoder Subjekti-

Rosemarie Luumlhr134

vus also der Nominativldquo Fuumlr die einzelnen Deklinationsklassen ergeben sich so folgende Synkretismus-Felder

(5) Paradigmengliederung (Synkretismusfelder)

V N A Ab D G VPl NPl APl AbPl DPl GPl

ictus u-Dekl (7 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

rēx C-Dekl (8 Felder) VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

diēs ē-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNAPl AbDPl GPl

capra ā-Dekl (7 Felder) VN A Ab DG VNPl APl AbDPl GPl

ignis i-Dekl (8 Felder) VN A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

lupus o-Dekl (8 Felder) V N A AbD G VNPl APl AbDPl GPl

Wieses naumlchster Analyseschritt ist nun die formale Bestimmung der Formenkategorien

(6) Bau der lateinischen Deklinationen (Uumlberblick)

Streicht man den Themavokal ab enthaumllt man in Spalte 3 zB die Laumlnge als formales Kennzeichen der Endung bei der o- ā- u- und ē-Deklination

135Geschichte der Morphologie

(7)(a) FormentypenMarkerParadigmenfelder in der u- C- und i-Deklination (ohne VNA Pl Ntr)

u-Deklination

Formtyp 0 1 2 3b 4 5b 6+ 7

Marker s m L vL Ls X-s vm

Endung -u -us -um -ū -ūi -ūs -ibus -uum

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

C-Deklination

Formtyp 0 1 2 3a 4 5a 5b 6+ 7Marker s m v vL vs Ls X-s vm

Endung - -s -[e]m -e -ī -is -[ē]s -ibus -um

Felder VNANtr VN A Ab D G NAPl AbDPl GPl

i-DeklinationFormtyp 0 1 2 3b (=4) 5a 5b 6 6+ 7

Marker s m L (=vL) vs Ls vLs x-s vm

Endung -e -is rarrC-Dekl -ī -is rarrC-Dekl -īs -ibus -ium

Felder VNANtr VN A AbD G NPl APl AbDPl GPl

(7)(b) EndungstypenMarkerEndungen (formale Ordnung)

Formtyp 0 1 2 3b 4 5 6 6+ 7 7+Marker s m L vL Ls vLs -X-s vm -X-mu-Dekl -u -us -um -ū -uī -ūs -ibus -uume-Dekl -ēs () -em -ē -ei -ēs -ēbus -ēruma-Dekl -a -am -ā -ae -ās -īs -ārumo-Dekl -e -us -um -ō -ī -ōs -īs -ōrum

u-Dekl VNANtr VN A Ab D G VNAPl AbDPl GPl

e-Dekl VN A Ab DG VNAPl AbDP GPl

a-Dekl VN A Ab DG VNPl APl AbDP GPl

o-Dekl V N A AbD G VNPl APl AbDP GPl

a b c d e f g h

Paradigmenfelder (funktionale Ordnung)

Rosemarie Luumlhr136

Wieses Interpretation lautet nun folgendermaszligen

Der houmlchstrangigen Position Genitiv Plural Feld h ist eine Form des Typs 7 eine schwere Nasalform zugeordnet dem Ablativ-Dativ-Plural-Feld g eine Form des Typs 6 eine hochmarkierte sigmatische Form Das in der Hierarchie folgende Synkretismusfeld f ist mit einer Form des Typs 5 besetzt und so fort bis zum Nominativ Singular der hier wie sonst gewisse Unregelmaumlszligigkeiten aufweisen kann In der ē-Deklination ist der Thema-vokal anders als sonst im Nominativ Singular lang In der ā-Deklination fehlt die einfache sigmatische Form in diesem Fall und dort wo eine besondere kasus-unmarkierte Neutrum-Form oder ein besonderer Voka-tiv unterschieden wird kommt die 0-Form oder mit Hermann Hirt zu sprechen der casus indefinitus zum Zuge3

In der Tat stimmen nun formale und funktionale Markiertheit uumlberein So ist der Genitiv Plural mit der schweren Nasalform die markierte Form im obliquen Plural waumlhrend etwa die Endungen auf kurzen Vokal in Spalte 0 die formal am wenigsten charakterisierten Endungen sind sie stehen innerhalb der nicht-obliquen Kasus fuumlr die Nicht-Objekts-Kasus

Wieses Fazit lautet so

bdquoFormtypen nehmen einen Platz in der Endungsordnung ein sie besitzen aber nicht notwendig einen festen Inhalt der etwa durch Angabe einer bestimmten Menge morphosyntaktischer Merkmale zu repraumlsentieren waumlre Erst indem eine Form eine Stelle im Paradigma besetzt gewinnt sie einen definitiven Stellenwert Die Position die eine Form im Paradigma einnimmt bestimmt ihren Funktionswert nicht umgekehrtrdquo

Damit kehrt Wiese das traditionelle Bild um Waumlhrend bdquotraditionelle Darstellungen sich gewoumlhnlich mehr oder minder strikt an ein fuumlr alle Deklinationen einheitliches Zwoumllf-Felder-Schema [halten und sich] die Unterschiede zwischen den Deklinationen hellip dann ganz vorrangig als Divergenzen in der Formenbildung dar[stellen]ldquo bietet seine Darstellung bdquoein einheitliches System von Formkategorienldquo

2 Analyse der altindischen NominalflexionWenn wir uns nun der altindischen Nominalflexion zuwenden so haben die altindischen Grammatiker bereits das wesentliche Organisationsprinzip erkannt Die altindischen Grammatiker haben die Kasus mit den entspre-chenden Ordinalzahlwoumlrtern bezeichnet zB prathamā erstersquo (vibhaktiḥ

3 Vgl etwa Hirt 1925

Geschichte der Morphologie 137

Teilung Unterscheidung Abwandlungrsquo) = Nominativ ṣaṣṭhī sechstersquo = Genitiv und nach der Reihenfolge Nominativ Akkusativ Instrumental Dativ Ablativ Genitiv und Lokativ angeordnet weil dies die einzige Folge ist bei der uumlberall die Kasus mit gemeinsamen Endungen also unterspezi-fizierte Formen beisammen sind Instrumental und Dativ (und Ablativ) im Dual Dativ und Ablativ im Plural (und Dual) Ablativ und Genitiv im Sin-gular Genitiv und Lokativ im Dual Nicht mitgezaumlhlt wurde der Vokativ Dieser Kasus gibt anders als die anderen Kasus keine Beziehung im Satz an sondern ist selbst Satzaumlquivalent Vgl die altindischen a- und ā-Staumlmme

(8)(a) a-Staumlmme Maskulinum

Singular Dual Plural Vok deacuteva deacutevau deacutevāḥ Nom devaacuteḥ devaacuteu devḥ I Akk devaacutem devaacuteu devn II Instr deveacutena devbhyām devaacuteiḥ III Dat devya devbhyām deveacutebhyaḥ IV Abl devt devbhyām deveacutebhyaḥ V Gen devaacutesya devaacuteyoḥ devnām VI Lok deveacute devaacuteyoḥ deveacuteṣu VII

(8)(b) a-Staumlmme Neutrum

Singular Dual Plural Vok yuacutega(m) yuacutege yuacutegāni Nom yugaacutem yugeacute yugni Akk yugaacutem yugeacute yugni(8)(c) ā-Staumlmme Femininum

Singular Dual Plural Vok seacutene seacutene seacutenāḥ Nom seacutenā seacutene seacutenāḥ I Akk seacutenām seacutene seacutenāḥ II Instr seacutenayā seacutenābhyām seacutenābhiḥ III Dat seacutenāyai seacutenābhyām seacutenābhyaḥ IV Abl seacutenāyāḥ seacutenābhyām seacutenābhyaḥ V Gen seacutenāyāḥ seacutenayoḥ seacutenānām VI Lok seacutenāyām seacutenayoḥ seacutenāsu VII

Rosemarie Luumlhr138

Zweitens lassen die altindischen Grammatiker die obliquen Kasus mit dem Instrumental und nicht etwa mit dem Lokativ beginnen denn der Instrumen-tal entspricht beim Passiv dem Subjektsnominativ beim Aktiv (Wackernagel Debrunner 19291930 S 11)

21 Merkmalsbasierte Analyse

Versucht man nun eine merkmalsbasierte Analyse so ergibt sich fuumlr die haumlufigsten Staumlmme im Altindischen die a- und ā-Staumlmme folgendes Bild

(9)(a) +Sg -Pl a-Stamm

(9)(b) +Sg -Pl ā-Stamm

Geschichte der Morphologie 139

(9)(c) -Sg -Pl a- ā-Staumlmme

(9)(d) -Sg +Pl a-Stamm

22 Formanalyse

Wir betrachten zuerst die Genus-Unterspezifikation und dann die Kasus-Unterspezifikation

221 Genus‑UnterspezifikationIm Falle der Genus-Unterspezifikation bleiben der Nominativ Plural Maskulinum devḥ und der NominativAkkusativ Plural seacutenāḥ auszliger Betracht da im Femininum in bestimmten Positionen die Endung -āḥ noch zweisilbig ist (WackernagelDebrunner 19291930 S 123) Einzig und allein die Endung des Genitiv Plural ist bei den a- und ā-Staumlmmen vollkommen identisch [+Pl +obl +Gen] devnām seacutenānām Warum das so ist hat moumlglicherweise folgenden Grund In vielen Sprachen die Genussys-teme haben ist im Plural generell die Genusunterscheidung aufgegeben Daszlig aber speziell im Genitiv Plural keine Genusunterscheidung durchge-fuumlhrt ist liegt wohl an der Funktion Partitiv die der Genitiv haben kann

Rosemarie Luumlhr140

Der Plural ist in dieser Funktion als kollektiver Plural auffaszligbar weshalb kein Bedarf an einer Genusdifferenzierung besteht

Doch sind sonst die Genera Femininum und Nicht-Femininum dh Maskulinum und Neutrum bei den a- und ā-Staumlmmen deutlich geschieden4 Auszligerdem treten bei den a-Staumlmmen Kasusendungen auf die sich in anderen Stammklassen nicht finden Auch dies hat einen einfachen Grund Die maskulinen neutralen a- und femininen ā-Staumlmme haben auch einen wesentlichen Anteil an der Bildung der Adjektiva Wie ai priyaacuteḥ priy priyaacutem liebrsquo griech νέος νέα νέον lat novus nova novum zeigt ist dieser Adjektivtyp indogermanisches Erbe Dh in der altindischen Flexion der a- und ā-Staumlmme sind Kasusformen zu erwarten die speziell der Genusunterscheidung dienen Tatsaumlchlich gibt es solche Endungen wie man schon lange gesehen hat

In der Indogermanistik nimmt man im allgemeinen an daszlig die Uumlber-tragung pronominaler und damit bestimmter Genusendungen auf das Substantiv durch pronominal flektierende Adjektive wie viacuteśva- allersquo also sogenannte Pronominaladjektive zustande kam weil ein Adjektiv naumlher beim Substantiv steht als ein Determinierer In der Tat kann man einen schrittweisen Uumlbergang vom Determinativ uumlber das Adjektiv zum Sub-stantiv annehmen wenn man Seilers (1978) Adjektivklassifikation folgt

(10)

Determinativ Adjektiv SubstantivArtikelklassifikatoren Qualifikativa Nominalklassifikatoren

diediesemeine

erwaumlhnten zehn schoumlnen dicken roten houmllzernen Kugeln

Zahlwoumlrter wie zehn zB sind weit vom substantivischen Pol entfernt und gehoumlren zu den Artikelklassifikatoren Das Zahlwort impliziert zwar Zaumlhlbarkeit der Referenzobjekte gibt aber keine weitere Eigenschaft der in Rede stehenden Objekte an Ein Zahlwort wie zehn sagt vielmehr etwas uumlber die Art der Bezugnahme naumlmlich uumlber die Anzahl der Objekte auf die der Sprecher Bezug nimmt aus Aumlhnliches gilt fuumlr textverweisende Aus-druumlcke wie etwa erwaumlhnt Dies ist der Bereich der Festlegung von Eigen-schaften des Referenzakts wie etwa der Festlegung auf ein bestimmtes Genus hierfuumlr sind aber insbesondere die Determinative im Indogerma-nischen die Demonstrativpronomina zustaumlndig (Wiese 2004) So ist die 4 Zur Sonderstellung des femininen Genus in der Morphologie vgl Wiese 2004a Thieroff 2004

Geschichte der Morphologie 141

Formkategorie worin Sprachen am deutlichsten das Genus ausdruumlcken das Pronomen Selbst Sprachen die keine Genusunterscheidung bei den Substantiven haben haben oftmals beim Pronomen eine solche Differen-zierung Es ist so anzunehmen daszlig solche Woumlrter zunaumlchst die Substan-tive in ihrer Flexion beeinfluszligt haben und erst in einem naumlchsten Schritt erfolgte die Beeinflussung der Adjektive durch die Substantive Damit duumlrfte eine pronominale Endung wie im Falle des Instrumentals -ena bei den a-Staumlmmen also zuerst auf die Substantive uumlbergegangen sein und erst dann auf Adjektive

Geht man nun auf die Unterschiede in der Flexion zwischen Nicht-Femi-nina und Feminina ein so waumlren bei den ā-Staumlmmen etliche Kasusformen bei normaler Entwicklung mit dem Maskulinum zusammengefallen Ein solcher Genus-Synkretismus oder eine solche Genus-Unterspezifikation wurde aber vermieden indem das feminine Substantiv weitgehend umge-staltet wurde und zwar eben zumeist nach dem Demonstrativpronomen

(11)InstrSg seacutenayā anstelle von seacutenā asymp aumllter mask dev vgl taacuteyā vom Pron taacute- dieserrsquo DatSg seacutenāyai anstelle von seacutenai asymp aumllter mask devaacutei vgl taacutesyai vom Pron taacute- LokSg seacutenāyām anstelle von seacutene5 asymp mask deveacute vgl taacutesyām vom Pron taacute-

Eine andere Neubildung ist der VokSg seacutene anstelle von seacutena6 asymp mask deacuteva vgl aksl ženo gr νύμφα

Doch auch das Maskulinum hat Umbildungen nach dem Pronomen erfahren

(12)zB DatAblPl deveacutebhyaḥ anstelle von devaacutebhyaḥ vgl teacutebhyaḥ vom Pron taacute-

Warum bei den altindischen a- und ā-Staumlmmen Genus-Unterspezifikatio-nen weitgehend aufgehoben wurden ist sicher auf die Funktion des Genus als Signal fuumlr syntaktische Kongruenz zuruumlckzufuumlhren7

5 Vgl dazu Luumlhr 19916 Luumlhr 19917 Corbett 1991 S 4 bdquoIf a language distinguishes gender there is always agreement with respect to genderldquo Auszligerdem ist Genus wichtiger als Numerus da bdquogender is inherently fixed for a noun whereas [number] is usually instantiated and gives rise to different word forms in the paradigm of a nounldquo Auf der anderen Seite wird aber Genus arbitraumlr zuge-wiesen (Ortmann 1998 S 62)

Rosemarie Luumlhr142

222 Kasus‑UnterspezifikationNach WackernagelDebrunner (19291930 S 1f) besteht bei der altindischen Deklination bdquofast uumlberall die Neigung Form und Bedeutung eindeutig aufeinander zuzuordnenldquo Dh die Funktionen der nominalen Endungen sind klar erkennbar wodurch sich das Altindische wesentlich vom Latei-nischen unterscheidet Betrachtet man aber die Endungen im Uumlberblick so ist wie in anderen Sprachen auch die Obliquus-Form bei den a- und ā-Staumlmmen stets laumlnger oder schwerer als die entsprechende Nicht-Obli-quus-Form Ohne auf Einzelheiten einzugehen findet man im Maskulin- Paradigma (devaacuteḥ) im Singular im Nicht-Obliquus nur kurze Vokale waumlhrend der Obliquus Langvokale im Ablativ und Lokativ und dreisil-bige Formen im Instrumental Dativ und Genitiv aufweist und zwar teils mit langem Vokal in der Mittelsilbe Entsprechend ist das Verhaumlltnis im Feminin-Paradigma (seacutenā) nur daszlig hier den langvokalischen Formen im Nicht-Obliquus durchaus schwere zweisilbige Endungen im Obliquus entsprechen Auch im Dual und Plural ist der Gegensatz Nicht-Obliquus vs Obliquus deutlich ausgepraumlgt Einsilbigen Endungen mit Langvokal im Nicht-Obliquus stehen zwei- oder dreisilbige Endungen teils wiederum mit Langvokalen im Obliquus gegenuumlber Nun sind in einer Akkusativsprache wie es das Altindische ist die nicht-obliquen Kasus die unmarkierten die obliquen aber die markierten Kasus Demnach laumlszligt sich festhalten daszlig dem Mehr an Form in den obliquen Kasus ein Mehr an Merkmalen entspricht

Damit sind die Endungen der nominalen a- und ā-Staumlmme im Altin-dischen als ikonisch einzustufen Daszlig dies tatsaumlchlich ein Bildeprinzip des altindischen Nomens ist sieht man daran daszlig einsilbige Endungen die sich bei einer regelrechten Entwicklung aus dem Indogermanischen ergeben haumltten im Altindischen umgebildet worden sind vgl zB

(13) InstrSgMask(Neut) deveacutena anstelle des Instr dev DatSgMask(Neut) devya anstelle des Dat devaacutei GenPlMask(Neut) devnām anstelle des Gen devm

Doch ist noch ein Weiteres festzustellen vgl

(14)AblGenSgFem seacutenāyāḥ anstelle des Gen seacutenāḥ vgl griech GenSgf τιμῆς GenPlFem seacutenānām anstelle des Gen seacutenām

Geschichte der Morphologie 143

Die zu erwartende Form seacutenāḥ waumlre synkretistisch mit dem Nicht- Obliquus Plural seacutenāḥ zusammengefallen Ein Genitiv Singular Femini-num seacutenāḥ mit den Merkmalen [+sg +obl +gen] und ein VokativNomina-tivAkkusativ Plural Feminum seacutenāḥ mit den Merkmalen [+pl -obl] bilden jedoch keine bdquonatuumlrliche Klasseldquo weil diese Formen auszliger dem Genus keine Merkmale gemeinsam haben Aumlhnliches gilt fuumlr einen Genitiv Plural Femi-ninum seacutenām da dieser mit dem Akkusativ Singular Femininum seacutenām zusammengefallen waumlre8 Somit bleibt festzuhalten Im altindischen Nomi-nalparadigma der a- und ā-Staumlmme wird Kasus-Unterspezifikation bei Formen die keine natuumlrliche Klasse bilden nicht geduldet Dies ist sicher der Grund weshalb die altindischen Grammatiker die Formen der a- und ā-Staumlmme in die genannte Reihenfolge bringen konnten

FazitWir halten fest Der von August Pott in die Sprachwissenschaft eingefuumlhrte Terminus Synkretismus hat eine lange Tradition Schon die altindischen Grammatiker haben diesen Terminus im Sinne des heutigen Begriffs Unter-spezifikation angewandt um uumlbereinstimmende Kasusformen nebenein-ander anzuordnen Doch sind im Altindischen Unterspezifikationen im Paradigma der a- und ā-Staumlmme relativ wenig ausgepraumlgt weil wegen der Uumlbereinstimmung mit dem Adjektiv und Pronomen hier Genusunter-scheidungen viel deutlicher als bei anderen Stammklassen zum Ausdruck kommen Anders verhaumllt es sich im Lateinischen Es gibt eine Fuumllle von synkretistischen oder unterspezifizierten Kasusformen Gemeinsam ist aber beiden Sprachen daszlig einem Mehr an Merkmalen ein Mehr an Form entspricht Dies wird im Altindischen an der komplexeren Form der Kasus obliqui gegenuumlber den Nicht-Obliqui deutlich Auch im Altindischen koumlnnen also Form und Funktion korreliert werden

8 Luumlhr 2002 S 131f

Rosemarie Luumlhr144

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Rosemarie Luumlhr Universitaumlt Jena RosemarieLuehruni-jenade

Ostgermanische Morphologie

Magnuacutes Snaeligdal

The title of this paper is East-Germanic morphology but as explained in the introduction East-Germanic morphology is in fact Gothic Morphology as our knowledge of other languages in that group is minimal Section 2 deals with the size of the Gothic corpus word number and frequency etc This informa-tion is used in section 3 to discuss what we know about Gothic morphology and section 4 to discuss what we dont know about Gothic morphology Section 5 contains some concluding remarks

1 Einleitung

Ostgermanische Morphologie ist eigentlich gotische Morphologie weil mit Ausnahme des Gotischen die Sprachen der Ostgermanen nur wenig bekannt sind Zu diesen Sprachen gehoumlren die Sprachen der Gepiden Wandalen Burgunder Heruler Rugier und Skiren und es handelt sich dabei fast ausschlieszliglich um Eigennamen die in nicht germanischen Quellen uumlberliefert sind Das sogenannte sbquogotische Epigrammrsquo wird jedoch als wandalisch angesehen

(1) Inter eils Goticum scapia matzia ia drincan non audit quisquam dignos edicere versos

Auf Gotisch waumlre das vermutlich

Hails Skapja Matja jah drigkan sbquoHeil Kellner Essen und Trinkenrsquo

Auch die Formel froia arme die auf Bibel-Gotisch frauja armai lauten sollte dh κύριε ἐλέησονsbquo Herr erbarme dichrsquo ist vielleicht Gotisch durch Wandalen vermittelt (vgl Tiefenbach 1991 S261) Da die Wandalen nicht gerade fuumlr ihre Barmherzigkeit beruumlhmt waren kann man es wohl als einen Anticlimax bezeichnen daszlig von ihrer Sprache fast nur dieses Gebet uumlberliefert ist

Einige Runeninschriften werden als ostgermanisch oder gotisch angesehen Ich nenne an dieser Stelle nur zwei davon (vgl Ebbinghaus 1990 S207 bis 210)

Magnuacutes Snaeligdal148

1 Die Speerspitze von Kowel in der Ukraine Darauf ist die Inschrift tilarids zu lesen (linkslaufend) Doch ist hier die Deutung einiger Runen dunkel und unsicher

2 Der Goldring von Pietroassa Darauf steht die Inschrift gutaniowihailag zu lesen Selbstverstaumlndlich wird es wegen des Anfangs in Verbindung mit den Goten gebracht doch ist keines dieser Worte in den gotischen Bibeltexten uumlberliefert nicht einmal hailags (sondern weihs) Einigkeit uumlber die Deutung dieser Inschrift besteht jedoch nicht

2 Der Umfang des gotischen KorpusDie gotischen Sprachdenkmaumller sind klein und einfoumlrmig Die Gesamtheit der gotischen Uumlberlieferung umfaszligt weniger als 70000 Woumlrter Als minimale Grundlage einer digitalen grammatischen Analyse muumlssen mindestens 70000 Woumlrtern analysiert werden Wenn man also den ganzen gotischen Text analysiert hat reicht dieses Material kaum fuumlr eine digitale Analyse ndash und welche Texte sollten uumlberhaupt damit analysiert werden Die Einfoumlrmigkeit der Sprachdenkmaumller besteht darin daszlig es sich fast nur um eine Uumlbersetzung des Neuen Testaments handelt Der Text der Evangelien ist manchmal aumlhnlich und einige Teile der Paulus-Briefe sind parallel in zwei Handschriften uumlberliefert Deshalb gibt es viele Loumlcher in unserer Kenntnis des gotischen Wortschatzes Wir wissen zB nicht was sbquoPferdrsquo auf Gotisch heiszligt da dies weder in den Evangelien noch in den Briefen vorkommt Das Wort aiƕatundi sbquoβάτος Dornstrauchrsquo enthielt als erstes Glied der Stamm aiƕa- sbquoPferdrsquo (vgl Lat equus Gr ἵππος usw) was auf aiƕs deuten koumlnnte aber dies war nicht notwendigerweise das uumlbliche Wort fuumlr Pferd

21 Woumlrter asymp Tokens und Wortformen asymp Typen

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 ist die erste digitale Bearbeitung des gotischen Textes und baut voumlllig auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 auf1 Das Resultat besteht darin daszlig die Anzahl der Woumlrter (asympTokens) 67438 betraumlgt und die der Wortformen (asympTypen) 9462 Es sei hervorgehoben daszlig sie Faumllle wie zB thornatuthorn-thornan sbquound auch diesrsquo und sumaih sbquound einigersquo als jeweils ein Wort zaumlhlen thornatuh thornan aber als zwei Woumlrter

1 Sie beziehen jedoch das Speyerer Blatt und die neuen Lesarten von Bennetts Skeireins-Ausgabe mit ein und nennen S XI Fn 2 auch W Estabrooks und J W Marchands nicht veroumlffentlichte Computertexte

Ostgermanische Morphologie 149

In dem gotischen Text der Snaeligdal bdquoConcordanceldquo 2005 (CBG) zugrunde liegt (ebenfalls auf Streitberg bdquoDie Gotische Bibelldquo 1971 basierend) betraumlgt die Zahl der Woumlrter 68133 und die der Wortformen 9421 (mit einer Zahl von 356506 Buchstaben in Woumlrtern) Hierin werden Faumllle wie zB thornatuthorn thornan und thornatuh thornan als jeweils zwei Woumlrter gezaumlhlt die nachgestellten Partikeln -u (30) und -uh (214 mit Varianten) auch als selbstaumlndige Woumlrter doch nicht von Pronomen und Adverbien getrennt Wenn man diese abzieht betraumlgt die Zahl der Woumlrter noch 67889 die Wortformen werden jedoch etwas zahlreicher (und naumlhern sich der Anzahl bei TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976) Nun kommen auch Wortformen wie bi-thorn-thornan-gitanda vor (1 KorA 1515 εὐρισκόμεθα δὲ καί Wir werden aber auch hellip erfundenrsquo) und es ist vielleicht nur natuumlrlich diese als drei Woumlrter zu zaumlhlen da die Partikeln sonst wie selbstaumlndige Woumlrter gezaumlhlt sind (Solche Woumlrter sind 28 von 24 Typen) Wenn diese eingeschobenen Partikeln mitgerechnet werden muss man folgendes Material hinzufuumlgen

1 -ba1 ƕa1 ni1 nu

12 thornan1 thornau4 -u

20 -uh -h -uthorn -thorn41

Tab 1 Die Zahl der eingeschobenen Partikeln

Das heiszligt also 41 Tokens Der Text umfasst dann 68174 Woumlrter Man muss auch die Wortformenzahl korrigieren und 13 abziehen was zu einem Ergebnis von 9408 fuumlhrt2 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang daszlig in den Paulus-Briefen immer -uh-thornan- (und dessen Varianten

2 Wird -uh- von at-uh-gaf entnommen bleibt atgaf uumlbrig aber diese Wortform ist schon gezaumlhlt worden Wenn dementsprechend auch -h von sumai-h entnommen wird bleibt die Form sumai uumlbrig die ebenfalls gezaumlhlt worden ist Wird dagegen -u- von bi-u-gitai entnommen bleibt bigitai uumlbrig das nicht gezaumlhlt worden ist oder -uh-thornan- von diz-uh-thornan-sat was dizsat ergibt das nicht gezaumlhlt worden ist nur dissat Vergleiche auch solche Beispiele wie usiddja uz-uh-iddja wo us- sich vor -uh- zu uz- aumlndert aber nicht vor iddja Das letzte Beispiel ist dann vergleichbar mit Filippauz-uh Wenn -uh davon entnommen wird bleibt Filippauz uumlbrig und wird neben Filippaus als eine selbstaumlndige Type gezaumlhlt Dieses Beispiel zeigt auch dass Type und Wortform nicht ganz gleichbe-deutend sind

Magnuacutes Snaeligdal150

insgesamt 10 Beispiele) eingeschoben ist auszliger in at-uh-gaf EphA 48 Interessant ist daszlig diese eingeschobenen Formen so selten sind daszlig sie nur in den groumlszligten Handschriften vorkommen dh dem Codex Argenteus und den Codices Ambrosiani A und B

211 Zufuumlgungen und AuslassungenAn diese Stelle muss ein ABER eingefuumlgt werden

Im Text der CBG wurden 148 Woumlrter eingefuumlgt (in spitzen Klammern gedruckt) die nicht in den Handschriften vorkommen von denen aber Streitberg (so wie auch andere Herausgeber vor ihm) meint daszlig sie zwar auf Grund der Ungeschicktheit des Schreibers weggefallen sind sie vom griechischen Text her jedoch erfordert werden Am haumlufigsten handelt es sich dabei nur um ein einzelnes Wort in einigen Faumlllen jedoch auch um mehrere zB wenn der Schreiber vermutlich eine ganze Zeile uumlberspringt Dies macht ungefaumlhr 02 des Textes aus An dieser Stelle sollte auch angefuumlhrt werden daszlig Streitberg 162 Woumlrter aus dem Text streichen will (in eckigen Klammern gedruckt)

Es gibt jedoch auch noch andere Hinzufuumlgungen Hier geht es um die Rekonstruktionen von verschollenen Textstellen die wegen der Beschaumldigung einiger Handschriftenblaumltter verloren sind Insgesamt muumlssen daher weitere 150 Woumlrter weggenommen werden was weitere 02 des Textes ausmacht

Ein stark beschaumldigtes Blatt des Codex Argenteus enthaumllt einen Teil des 11 Matthaumlus-Kapitels der verlorene Text ist jedoch rekonstruiert worden insgesamt 44 komplette Woumlrter (und 37 Wortteile)

Aus den Bruchstuumlcken des 23 und 24 Kapitels des Lukas-Evangeliums im Codex Gissensis wurden 79 komplette Woumlrter rekonstruiert (und 14 Wortteile aus diesem Fragment sind 19 komplette Woumlrter belegt sie enthalten jedoch beschaumldigte Buchstaben)

Im Codex Carolinus wurden die meisten Blaumltter am oberen Blattrand abgeschnitten Deshalb sind 6 Woumlrter in der ersten Zeile beschaumldigt aber 6 sind verloren gegangen und rekonstruiert worden

In 1 TimA 612ndash14 muumlssen 13 Woumlrter abgezogen werden da sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf dem Handschriftenblatt vorhanden sind

Ostgermanische Morphologie 151

Weitere vier Faumllle ergeben 5 rekonstruierte Woumlrter anthornaris lithornus RoumlmC 125 mag 1 TimB 616 im 2 TimB 416 diakuna 4 Unterschrift der Urkunde von Neapel

In Faumlllen wie zB (Mt 1115)

(2) saei habai au[sona hausjandona ga]hausja[i] ὁ ἔχων ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω Wer Ohren hat zu houmlren der houmlre

wo das was in die eckigen Klammern steht rekonstruiert wurde ist nur ein ganzes Wort hinzugefuumlgt worden dh hausjandona Uumlberreste wie au zaumlhlt man als ein Token im Text der Handschrift und stattdessen kommt das rekonstruierte au[sona] das keinen Einfluss auf die Anzahl der Woumlrter hat Die Buchstabenzahl veraumlndert sich dabei allerdings etwas Die Anzahl solcher Wortuumlberreste betraumlgt 96 wovon 5 Wortformen sonst nicht belegt sind Bethorn[saiumldan] Mt 1121 analag[jandans] Lk 1030 [usso]kjands LkG 2314 [qis]teins Mk 144 rahnjai[dau] 2 TimA 416

Der Text ist damit um 298 Tokens oder 04 geschrumpft Das Resultat besteht damit aus 67835 Tokens 9404 Typen und 356649 Buchstaben in Woumlrtern Wenn man mit den eingeschobenen Partikeln gerechnet hat betraumlgt das Ergebnis 67876 Tokens und 9391 Typen Jede Type hat dann im Durchschnitt sieben Tokens Dies ist keine groszlige Abweichung von den urspruumlnglichen Zahlen und das Resultat kann nicht als vollkommen genau angesehen werden ZB werden Buchstaben die einen erhaltenen Wortteil vollenden in die Buchstabenzahl miteinbezogen Einige Konjekturen werden mit eingerechnet aber sie beeinflussen das Resultat nur unwesentlich

212 Die RandglossenWoumlrter in den Randglossen werden in diesen Zahlen mitgerechnet Drei Glossen werden jedoch weggenommen weil ich es fuumlr relativ sicher halte daszlig sie nicht vorhanden sind andwaih RoumlmA 913 salja 2 KorA 616 lustau KolA 35 Insgesamt betragen die Glossen 103 Tokens 96 Typen 741 Buchstaben3 In den Glossen sind 13 ἅπαξ λεγόμενα und 18 Wortformen enthalten die sonst nicht belegt sind In Lk 732 steht die Gl hufum zu gaunodedum und das ist auszliger Mt 1117 huf[um] die einzige belegte Form dieses Verbs (hiufan θρηνεῖν Klagelieder singenrsquo) In der Glosse zu Lk 934

3 Im Codex Ambrosianus A sind es 52 Glossen 81 Woumlrter 609 Buchstaben im Codex Argenteus sind es 15 Glossen 22 Woumlrter 142 Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal152

wird milhmam (drei weitere Beispiele) als Fehlschreibung fuumlr milhman (milhma sbquoνεφέλη Wolkersquo) angesehen aber diese Form ist sonst nicht belegt Die Glossen fuumlgen deshalb unserer Kenntnis von der gotischen Morphologie etwas hinzu

213 Die ZahlzeichenIn diesen Ziffern sind die Zahlzeichen im Text auch enthalten 145 Tokens (78 Typen) oder ungefaumlhr 02 der Tokens Die Zahlzeichen kommen verhaumlltnismaumlszligig am haumlufigsten in Nehemia besonderes in 7 Kapitel 51 (105 der Tokens in Nehemia) im Kalender 40 (506 der Tokens) und im Codex Vindobonensis 12 (40 der Tokens) vor Im Codex Argenteus betragen sie 17 im Codex Ambrosianus A 7 Cod Ambr B 1 Cod Ambr E 6 in der Urkunde von Neapel 8 der Urkunde von Arezzo 1 den Gotica Veronensia 2 Dagegen werden die Zahlen am Rande die die Aufteilung des Textes in Leseabschnitte oder andere Sektionen markieren nicht mitgerechnet

214 Lexeme Fremdwoumlrter NamenIm Gotischen gibt es 3612 NachschlagswoumlrterLexeme 3537 wenn die Zahlzeichen (75) nicht mitgezaumlhlt werden und 3058 wenn auch die Lehnwoumlrter abgezogen werden Dies ist dann der ostgermanische Wortschatz den das Gotische uumlberliefert

Die Lehnwoumlrter (auszliger Namen) und davon abgeleiteten Woumlrter betragen 146 308 Typen die 1102 Tokens ergeben Diese Gruppe ist aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt von alten Lehnwoumlrtern die sich in den Ohren eines gewoumlhnlichen Goten wohl kaum fremdartig anhoumlrten bis hin zu Woumlrtern die unveraumlndert aus dem griechischen Text entnommen wurden Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 53 oder 363 der Lexeme und 48 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich werden die meisten von ihnen der letzten Gruppe zugeteilt Ein gotisches Produkt sind 22 abgeleitete Woumlrter und Komposita mit einem Lehnwort als zweitem Glied Die Verben aiwaggeljan und praufetjan sind in Anlehnung an Gr εὐαγγελίζεσθαι und προφητεύειν gebildet aber sie koumlnnen nicht einfach als Lehnwoumlrter bezeichnet werden Von diesen sind 8 ἅπαξ λεγόμενα Zu den Lehnwoumlrtern kann dann hinzugefuumlgt werden 44 laiktsjo (6)laiktjo (38) lectio Leseabschnittrsquo und peika- in peikabagms sbquoφοίνιξ Palmbaumrsquo Hier sind 4 unvollstaumlndige Woumlrter

Ostgermanische Morphologie 153

anzufuumlhren and[bahtja] 2TB 411 si[ponjans] Mt 101 sipon[jos] Mk 1416 und [praufe]te Neh 614

Personennamen Ortsnamen und davon abgeleitete Nomina die aus der Vorlage entnommen und mit gotischen Buchstaben transkribiert wurden betragen insgesamt 333 Lexeme 569 Typen die 2350 Tokens ergeben Iesus und Xristus stehen fuumlr insgesamt 961 Woumlrter oder 409 Die haumlufigsten dieser Namen waren wohl weit verbreitet andere jedoch eher selten oder unbekannt Die ἅπαξ λεγόμενα betragen hier 181 oder 543 der Lexeme und 77 der Woumlrter Selbstverstaumlndlich sind die meisten von ihnen im 3 Kap Lukas und 7 Kap Nehemia enthalten Ein gotisches Erzeugnis sind fuumlnf Woumlrter die davon abgeleitet sind aber zum Teil mit gotischem Material jedoch mit griechischen Woumlrtern als Vorbild fwnikiskssbquo Φοινίκισσα phoumlnikischrsquo judaiwisks sbquoἰουδαϊκός juumldischrsquo iudaiwisko sbquoἰουδαϊκῶς auf juumldische Weisersquo iudaiwiskon sbquoἰουδαΐζειν juumldisch lebenrsquo und galiugaxristus sbquoψευδόχριστος falscher Christusrsquo Diese sind hier gezaumlhlt und ergeben 6 Woumlrter Hierunter gibt es auch 8 unvollstaumlndige Woumlrter Aze[ris] Neh 745 Bethorn[saiumldan] Mt 1121 Iohan[nes] Jh 1118 Kafarna[um] Mt 1123 [Iairu]salem LkG 2413 [Herode]s LkG 2312 [Peilata]u LkG 2311 und [Seidon]e Mt 1121

Insgesamt umfassen die Fremdwoumlrter 475 Lexeme 869 Typen und 3447 Tokens Das ist 131 der Lexeme 925 der Typen und 5 der Tokens

Zur Uumlbersicht diene folgende Tabelle

Tokens Typen LexemeTollenaere Jones 67438 9462CBG 68174 9408 3613Ohne Hinzufuumlgungen

67876 9391 3612

Tab 2 Vergleich von Tollenaere Jones CBG und Text ohne Hinzufuumlgungen

22 Der Umfang einzelner Handschriften

Die oben behandelten Zahlen sind im Vergleich mit den Handschriften nicht ganz genau da darin einige Konjekturen mitgerechnet sind wie bereits erwaumlhnt wurde Es ist jedoch auch nicht einfach die Woumlrter und Buchstaben in Handschriften zu zaumlhlen Ist ƕa|ƕazuh ein Wort oder zwei Besteht der Fehler darin daszlig der Schreiber erst die ersten Silbe ƕa geschrieben hat und dann das ganze Wort ƕazuh oder hat er erst das Wort ƕa und dann das Wort ƕazuh geschrieben Wie viele Buchstaben

Magnuacutes Snaeligdal154

sind in sīd (= sind) erhalten Ist der Nasalstrich ein selbstaumlndiger Buchstabe oder sollte er als eine Variante von n (und m) angesehen werden Dazu kommen auch die Ligaturen und die Abkuumlrzungen von nomina sacra Wenn die Woumlrter in den Paralleltexten nur einmal gezaumlhlt werden betraumlgt das Resultat 59623 Tokens 9363 Typen und 311498 Buchstaben

Die Zahlen in Tab 3 gelten fuumlr den Umfang des editierten Textes aus einzelnen Handschriften Nasalstriche Ligaturen und nomina sacra sind aufgeloumlst

Tokens Typen Bstaben Tok BstCod Arg (incl F Spir) 35338 5673 178777 520 503Cod Ambr A (incl Kal) 15247 3978 82126 224 231Cod Ambr B 13649 3519 74478 201 209Cod Ambr E (Skeireins) 1957 867 10764 29 30Cod Carolinus (Rom) 597 338 3102 09 09Cod Ambr D (Nehemia) 483 286 2730 07 08Cod Ambr C (Matth) 346 202 1728 05 05Urkunde von Neapel 113 31 689 02 02Gotica Veronensia 62 43 299 009 008Cod Gissensis 33 32 188 005 005Cod Vindobonensis 30 25 135 004 004Urkunde von Arezzo 21 19 126 003 003

67876 355142 9991 100Tab 3 Tokens Typen und Buchstaben in einzelnen Handschriften

Hier kann man sehen daszlig die Texte von Codex Argenteus Codices Ambrosiani AndashE und Codex Carolinus zusammen 996 des gotischen Textes ausmachen unabhaumlngig davon ob man von der Woumlrter- oder Buchstabenzahl ausgeht aber die Buchstabenzahl ist ein bisschen zu hoch (die Nasalstriche und Ligaturen sind aufgeloumlst) Dann wird auch klar daszlig der Teil der Codices Ambrosiani A und B etwas ansteigt wenn man von der Buchstabenzahl ausgeht (die Briefe haben ein bisschen laumlngere Woumlrter) Die letzen fuumlnf Bruchstuumlcke sind geradezu erstaunlich klein sie machen nur 04 aus

Ostgermanische Morphologie 155

In Tab 3 wird das Folium Spirense als ein Teil des Codex Argenteus gezaumlhlt Es enthaumllt 142 Woumlrter und 110 Wortformen sowie 819 Buchstaben Um diese Zahl wurde der gotische Text im Jahre 1970 vermehrt Von diesen Wortformen sind 18 nicht anderswo belegt Davon sind drei ἅπαξ λεγόμενα aber nur ein neues Morphem farw sbquoGestaltrsquo

Neue Lexeme Neue Wortformenagljai Mk 1618 (agljan sbquoβλάπτω schadenrsquo) farwa Mk 1612 (farw n sbquoμορφή Gestaltrsquo) ingibe Mk 1618 (ingif n ingifs m sbquoθανάσιμον toumldliches Giftrsquo)

afargaggandeins Mk 1620 afargaggithorn Mk 1617 afdomjada Mk 1616 drigkaina Mk 1618 gasaiƕandam Mk 1614 gaskaftai Mk 1615 gawaurstwin Mk 1620 idweitida Mk 1614 niujaim Mk 1617 tulgjandin Mk 1620 ufdaupithorns Mk 1616 ungalaubein Mk 1614 uslagjand Mk1618 usnumans Mk 1619 waurmans Mk 1618

Tab 4 Neue Lexeme und Wortformen im Folium Spirense

Mit dem Codex Ambrosianus A (und Taurinensis) ist der Kalender gezaumlhlt Darin sind 79 Tokens (meistens Zahlzeichen) 65 Typen und 426 Buchstaben Dies macht 05 des Textes in A aus wenn man von Tokens oder Buchstaben ausgeht aber 15 von den Typen aus gesehen Die ἅπαξ λεγόμενα sind meistens Namen Bairaujai 1911 (Bairauja) Batwin 2910 (Batwins) bilaif 2910 (bileiban oder was) Daurithornaius 611 Frithornareikeis 2310 Jiuleis inc11 Kustanteinus 311 Naubaimbair inc11 und Werekan 2910 (Wereka) Einige Wortformen kommen nur hier vor aipisks 611 auszliger wenn man es als aipiskaupaus oder -us aufgeloumlst ist das einzige Beispiel fuumlr den GSg von aipiskaupus (zwar hat der Kalender -us im GSg von u-Staumlmmen auszliger bei Filippaus 1511) althornjono (1911 Konjektur fuumlr althornjano) fullaizos 2910 gabrannidai 2910 papan 2910 Nicht belegt ist weiter Gutthorniuda 23 2910 An dieser Stelle steht auch Andriiumlns 2911 aber Andraiiumlns in Mk 129 und DSg Jairupulai 1511 im Vergleich mit Iairaupaulein KolAB 413

Magnuacutes Snaeligdal156

Die Urkunde von Arezzo enthaumllt die ἅπαξ λεγόμενα frabauhtaboka und husis (hus Konjektur fuumlr hugsis) aber gudhus ist im Codex Argenteus beleget auszligerdem die Namen Gudilub Alamoda und Kaballarja Die einzigen eigentlichen ἅπαξ λεγόμενα in der Urkunde von Neapel sind die Namen Ufitahari Sunjafrithornas Merila und Wiljarithorn die Urkunde ist zugleich das einzige Dokument das alamothorns (alamoda) sbquoVertreterrsquo hat und die Wortformen andnemum saiwe wairthorn und das Lehnwort kawtsjo sbquocautiorsquo sind nicht in anderen Dokumenten vorhanden Den beiden Urkunden gemeinsam sind die Wortformen ufmelida (ufmeljan sbquounterschreibenrsquo) und skilliggans (skilliggs sbquosolidus Schillingrsquo) Die Morpheme sind doch weitgehend bekannt

Die Gotica Veronensia enthalten als einzige Quelle die Wortform blothornarinnandin (fuumlr -ein 713) aber der NSg ist in Mt 920 belegt Die Formen horans und motarjans (1930) sind Konjekturen und die belegten Formen horos und motarjos sind aus einigen Beispielen bekannt Interessant ist auch die Form martwrans (2769) die es wahrscheinlich macht daszlig man in Kal 23 2910 marwtre in martwre korrigieren sollte

Nur im Codex Vindobonensis 795 ist die Form libaida sbquoἔζησε lebtersquo erhalten aber am interessantesten ist hier vielleicht das Zahlzeichen uarr fuumlr 900

Der Codex Gissensis enthaumllt als einziger die Wortformen bairhtaim (LkG 2311) und ufkunthornedeina (LkG 2416) ein neues Wort ist dort jedoch nicht zu finden

Diese kleinen Bruumlckstuumlcke stellen keine groszligen Zusaumltze zu unserer Erkenntnis der gotischen Morphologie dar aber etwas ist nur dort belegt Da die gotischen Quellen so eingeschraumlnkt sind muss man immer beachten was belegt ist und was nicht

23 Die am haumlufigsten vorkommenden Woumlrter

TollenaereJones bdquoWord-indices and Word-listsldquo 1976 S335 und 337 erstellen auch eine Liste der 6 Woumlrter die eine so groszlige Frequenz aufweisen daszlig jedes von ihnen mehr als 1 des gesamten Textes ausmacht Diese 6 Woumlrter sind jah in ni du izwis und ithorn Sie gehen von Typen aus aber wenn man von Lexemen und deren Varianten ausgeht (zB jah jab jad jag jal jam jan jar jas jathorn) und Flexionsformen zusammenstellt ergibt dies 14 Lexeme

Ostgermanische Morphologie 157

TollenaereJones MSn 2006Type Zahl Lexem Zahl Typen

jah 4429 65 jah 4479 66 (10)sa 3090 45 (17)

in 2315 34 in 2340 34is 2162 32 (17)

wisan 1947 29 (49)ni 1507 22 ni 1527 225 (2)

qithornan 1195 176 (39)izwis 873 13 jus 1094 16 (4)

du 1061 16 du 1058 156saei 1040 15 (18)

ik 970 14 (4)alls 728 11 (14)guthorn 690 10 (3)

ithorn 688 10 ithorn 685 10Tab 5 Die haumlufigsten Woumlrter im Vergleich mit TollenaereJones

Diese 14 am haumlufigsten vorkommenden Lexeme ergeben insgesamt 23997 Tokens oder 353 des ganzen Textes Zwar macht izwis fuumlr sich genommen noch 13 des Textes aus (867 Beispiele) die Form hat jedoch zwei Funktionen Akkusativ und Dativ und unterscheidet sich deswegen von den anderen Woumlrtern in der Liste von TollenaereJones Es stuumlnde zwischen ik und alls Die flektierten Woumlrter werden unten weiter eroumlrtert

Solche Informationen zur Wortfrequenz muumlssten miteinbezogen werden falls die Absicht darin bestuumlnde einem Computer Gotisch beizubringen Ich habe jedoch die Tatsache nicht beruumlcksichtigt daszlig einige dieser Flexionsformen eines Lexems haumlufig vorkommen waumlhrend andere nur sehr selten vorkommen oft nur einmal Es ist auch so daszlig das was im gotischen Text vorkommt von der griechischen Vorlage bestimmt ist Diese Informationen sagen uns jedoch etwas daruumlber wie der gotischen Text zusammengesetzt ist

3 Was wissen wir von gotischer MorphologieDie gotischen Quellen ermoumlglichen es uns trotz ihrer oben diskutierten Eingeschraumlnktheit das morphologische System des Gotischen relativ gut zu kennen Es ist den Systemen der anderen uns bekannten altgermanischen

Magnuacutes Snaeligdal158

Sprachen weitgehend aumlhnlich wobei es allerdings altertuumlmlicher ist und Kategorien bewahrt die in den anderen germanischen Sprachen verloren gegangen sind

31 Die Substantive

Das am haumlufigsten vorkommende Nomen ist guthorn sbquoGottrsquo was fuumlr einen biblischen Text natuumlrlich nicht erstaunlich ist Eigentlich geht es hier um 4 Typen guthorn guthorna guthorns und guda Die Substantive weisen drei Genera auf und werden in vier Kasus und zwei Numeri dekliniert Der fuumlnfte Kasus der Vokativ faumlllt meistens mit dem Nominativ zusammen hat aber in einigen Deklinationsklassen im Singular dieselbe Form wie der Akkusativ (aiund-Staumlmme) Der Vokativ als selbstaumlndiger Kasus ist in den anderen germanischen Sprachen nicht uumlberliefert Ein Substantiv im Gotischen kann also houmlchstens acht verschiedene Kasusformen aufweisen wobei viele im Vokativ nicht belegt sind (und aus semantischen Gruumlnden nicht zu erwarten waumlren) Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen sind 23 (9 Maskulina 8 Neutra 6 Feminina) Diese werden hier aufgefuumlhrt und dabei zeigen skalks und sunus den Vokativ

Maskulinum Neutrum Femininum

manna ndash 350 Mann sunus ndash 295 Sohn atta ndash 252 Vater dags ndash 198 Tag ahma ndash 193 Geist brothornar ndash 176 Bruder hlaifs ndash 74 Brot skalks ndash 58 Knecht praufetus ndash 50 Prophet

waurd ndash 210 Wort waurstw ndash 102 Werk hairto ndash 93 Herz barn ndash 84 Kind namo ndash 81 Name mel ndash 70 Zeit waldufni ndash 67 Gewalt frathorni ndash 17 Verstand

managei ndash 143 Menge mahts ndash 94 Macht frawaurhts ndash 90 Suumlnde thorniuda ndash 59 Volk aikklesjo ndash 58 Gemeinde qino ndash 46 Weib

Tab 6 Die Substantive die in allen Kasusformen vorkommen nach der Frequenz geordnet

Auch sollten in diesem Zusammenhang Beispiele wie aba (29) sbquoEhemannrsquo genannt werden wo der APl nicht belegt ist obgleich die Form abans einmal als NPl vorkommt Es ist eindeutig daszlig es keine direkte Beziehung gibt zwischen der Zahl der Beispiele und dem was von dem Paradigma belegt ist Von frathorni gibt es zB nur 17 Beispiele aber von frauja sbquo(der)

Ostgermanische Morphologie 159

Herrrsquo 450 doch ist der GPl fraujane nicht belegt Von guthorn fehlen der D und GPl

32 Die Adjektive

Die Adjektive werden stark und schwach dekliniert wie in den anderen altgermanischen Sprachen auch Fuumlr kein Adjektiv ist das komplette Paradigma uumlberliefert Das Pronominaladjektiv alls sbquoallrsquo zeigt die starken Formen wird aber nicht schwach dekliniert Es fehlt hier der GSgm da von den 33 Tokens des Types allis 6 zum GSgn und 27 zur Konjunktion allis gehoumlren

33 Die Pronomina

Alle 24 Flexionsformen des Demonstrativpronomens sa sbquoder dieserrsquo sind belegt Wegen des Synkretismus wuumlrde man 15 verschiedene Formen erwarten es tauchen jedoch 17 auf Die zwei zusaumltzlichen Formen sind die Variante thornizei (11) im GPlm amp n fuumlr thornize (122) und thornat- (17) im N amp ASgn fuumlr thornata (485) in thornatist und thornatain

Die Flexionsformen des Relativpronomens saei sbquoderrsquo betragen 23 wobei der GPlf nicht belegt ist (thornizoei) Von dieser Form abgesehen waumlren 14 verschiedene Formen zu erwarten es tauchen jedoch 18 auf Die 4 zusaumltzlichen Formen sind thornane (1) im ASgm fuumlr thornanei (69) thornize (9) im GSgm amp n fuumlr thornizei (39) thornizeiei (1) im GPlm fuumlr thornizeei (18) und thornoze (1) im APlf fuumlr thornozei (13) Von den Tokens von thornatei houmlren 206 zum Relativpronomen saei und weitere 443 zur Konjunktion thornatei sbquodaszligrsquo von den 109 Tokens von thornammei gehoumlren 92 zum Pronomen aber 17 zur Konjunktion von den 51 Tokens von thornizei gehoumlrt ein zur Konjunktion die anderen wurden bereits oben behandelt Die Konjunktion thornatei thornammei thornizei weist damit 461 Tokens auf

Die Flexionsformen des Personalpronomens issiita sbquoersieesrsquo betragen 22 der APln ist nicht belegt sollte aber mit dem N uumlbereinstimmen ija das gleiche gilt fuumlr den NPlf der dem A entsprechen sollte ijos Zu erwarten waumlren 15 verschiedene Formen es tauchen jedoch 17 auf Die zusaumltzlichen Formen sind imm- (2) im DSgm fuumlr imma (595) in immuh und izei (3) im GPlm fuumlr ize (115) Von den 23 Tokens von izei gehoumlren dann 20 zu dem Relativpronomen izei sbquoderrsquo mit 14mal ize von 129 Mit den 48 Tokens von sei betragen die Tokens von diesem Pronomen 82 Von den 514 Tokens von is sind 139 NSgm 320 GSgm sowie 7 GSgn und 48 sind die 2PSg

Magnuacutes Snaeligdal160

von wisan Von den 479 Tokens von im sind 341 DPlm 17 DPln sowie 9 DPlf und 112 sind die 1PSg von wisan

Zu jus sbquoihrrsquo (176 + juz 1) werden izwis (867) und 50 Tokens von izwara gezaumlhlt weitere 66 gehoumlren zum Pron izwar Die Formen der 2PSg betragen 414 und die des Du 8 insgesamt fuumlr die Pronomina der zweiten Person 1516 (22)

Zu ik sbquoichrsquo (324) werden mik (271) mis (360) und 15 Tokens von meina gezaumlhlt weitere 64 houmlren zum Pron meins Die Formen der 1PDu sind 8 und der Pl 368 insgesamt fuumlr die Pronomina der ersten Person 1346 (2)

34 Die Verben

In der Konjugation hat das Gotische zwei Kategorien bewahrt die sonst in den germanischen Sprachen nicht vorkommen Diese Kategorien sind der Dual und das Passiv (nur im Praumlsens auch sollte hier die dritte Person Singular und Plural Imperativ genannt werden) Dualformen gibt es nur wenige ndash 32 Tokens von 24 Typen ndash und sie kommen am meisten im Lukas- und Markus-Evangelium vor Es fehlen verschiedene Formen zB der Optativ Praumlteritum Das Passiv wird jedoch haumlufig gebraucht Dafuumlr gibt es insgesamt 331 Tokens (05) von 190 Typen (2) von 144 Verben Die Verben die am haumlufigsten im Passiv vorkommen sind bigitan sbquofindenrsquo (10 Tokens 3 Typen 5 Kategorien) und haitan sbquonennenrsquo (25 Tokens 5 Typen 6 Kategorien) Die Beispiele sind folgendermaszligen auf Personen Numeri und Modi verteilt

1 2 3IndSg 11 4 142 Pl 14 10 36

OptSg 13 6 60 Pl 10 8 17

Tab 7 Die Anzahl und Distribution der Passivformen

Fuumlr kein Verbum ist das komplette Paradigma uumlberliefert aber die haumlufigsten sind wisan sbquoseinrsquo und qithornan sbquosagenrsquo

Von wisan sind 49 Typen belegt die 40 Stellen im Paradigma ausmachen Dabei gibt es wie man sieht verschiedene Varianten Wenn wir vermuten daszlig dieses Verb kein Passiv keinen Imperativ und kein Partizip Praumlteritum gehabt hat fehlen auf jeden Fall 7 finite Dualformen Vorhanden sind dann 25 Formen von 32 wegen des Synkretismus (was) sollten sie 31 sein Im Partizip

Ostgermanische Morphologie 161

Praumlsens sind 15 Stellen von 24 gefuumlllt Dort gibt es 11 (12) verschiedene Formen die jedoch 14 betragen sollten Dazu kommt dann noch der Infinitiv Insgesamt sind 40 Stellen von 57 (70) abgedeckt oder 36 Wortformen von 46 (78)

1 wisan svInf wisan

pers 1 2 3Prindsg im is ist nist

du siju sijutspl sijum sium sijuthorn siuthorn siud sind

optsg sijau siau sijais siais sijai siaidu sijaiwa sijaitspl sijaima sijaithorn sijaid sijaina

Ptindsg was wast wasdu wesu wesutspl wesum wisum wesuthorn wesun weisun

optsg wesjau weisjau weseis weiseis wesidu weseiwa weseitspl weseima weseithorn weseina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSgm wisands -a wisandan wisandin wisandinsPlm wisandans wisandans wisandam wisandaneSgn wisando wisando wisandin wisandinsPln wisandona wisandona wisandam wisandaneSgf wisandei wisandein wisandein-din wisandeinsPlf wisandeins wisandeins wisandeim wisandeino

Tab 8 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von wisan

In dem Paradigma von qithornan gibt es 124 Stellen (wenn man die 1PDuImp mitzaumlhlt vermutlich qithornos) Es waumlre auch moumlglich die 1 amp 2PDu amp Pl nicht mitzuzaumlhlen da diese immer gleich dem Indikativ sind Die Paradigmastellen betruumlgen dann 120 Doch ist auch die Variante qithornanata im PzPtNASgn moumlglich und vielleicht die schwache Form qithornanda im PzPrNSgm Belegt sind 39 Typen die 39 Stellen abdecken (man beachte jedoch die Konjektur qithornando die eigentlich zu qithornano gezaumlhlt werden sollte) Ungefaumlhr 32 der Stellen sind gefuumlllt Mit Komposita koumlnnen weitere

Magnuacutes Snaeligdal162

sieben Stellen gefuumlllt werden insgesamt 37 Von dem zweithaumlufigsten Verb sind also nur ungefaumlhr ein Drittel der Formen belegt

qithornan sv5Inf qithornan

Pers 1 2 3Pr Ind Sg qithorna qithorn- qithornis qithornithorn

Du qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornid qithornand

Opt Sg qithornau qithornais qithornaiDu qithornaiwa qithornaitsPl qithornaima qithornaithorn qithornaina

Imp Sg qithorn qithornadauDu qithornos qithornatsPl qithornam qithornithorn qithornandau

Pass Ind Sg qithornada qithornaza qithornadaPl qithornanda qithornanda qithornanda

Opt Sg anaqithornaidau qithornaizau qithornaidauPl qithornaindau qithornaindau qithornaindau

PtIndSg qathorn qast qathornDu qethornu qethornutsPl fauraqethornum qethornuthorn qethornun

Opt Sg qethornjau qethorneis qethorniDu qethorneiwa qethorneitsPl qethorneima qithorneithorn qethorneina qithorneina

PzPr Nominativ Akusativ Dativ GenitivSg m qithornands -a qithornandan qithornandin qithornandinsPl m qithornandans fraqithornandans qithornandam qithornandaneSg n qithornando qithornando qithornandin qithornandinsPl n qithornandona qithornandona qithornandam qithornandaneSg f qithornandei qithornandein qithornandein qithornandeinsPl f qithornandeins qithornandeins qithornandeim qithornandeino

Ostgermanische Morphologie 163

PzPt

Sg m sw

qithornans qithornana

faurqithornanana qithornanan

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl m sw

fraqithornanai fraqithornanans

qithornanans qithornanans

qithornanaim fraqithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg n sw

qithornan -ata qithornano

qithornan -ata qithornano

qithornanamma qithornanin

qithornanis qithornanins

Pl n sw

qithornana qithornanona

qithornana qithornanona

qithornanaim qithornanam

qithornanaize qithornanane

Sg f sw

qithornana qithornano

qithornana qithornanon

qithornanai qithornanon

qithornanaizos qithornanons

Pl f sw

qithornanos qithornanons

qithornanos qithornanons

qithornanaim qithornanom

qithornanaizo qithornanono

Tab 9 Belegte und nichtbelegte (kursiv) Formen von qithornan

4 Was wir nicht wissenAn dieser Stelle moumlchte ich Folgendes einfuumlgen Wenn ich einen islaumlndischen Text analysiere dann kenne ich zB den ASg aethgang und ich weiszlig daszlig der NSg aethgangur heiszligt (bdquoZutrittldquo) Auch kann ich jemanden fragen oder in einem Woumlrterbuch nachschlagen falls ich im Zweifel bin Wenn ich einen gotischen Text analysiere kann ich nicht wissen welchen Nominativ der ASg atgagg hat wenn er nicht im Text vorkommt ist er atgagg n oder atgaggs m Die erste Form stuumltzt sich auf gagg DSgAPl gagga Die zweite Form ist auch moumlglich vgl Isl aber wenn so wie war das Wort dann eigentlich dekliniert War es ein a- oder ein i-Stamm In solchen Faumlllen stuumltzt man sich auf die anderen germanischen Sprachen wenn das Wort dort belegt ist Das kann jedoch problematisch sein Im Gotischen findet man zB DSg sinthorna und DPl sinthornam Ist der NSg sinthorn n wie Isl sinn oder sinthorns m wie Ahd sind sbquoMalrsquo Weiter kann man an einem Beispiel wie wahtwom (Lk 28) nicht sehen ob es ein ō-Stamm oder ein ōn-Stamm ist NSg wahtwa oder wahtwo sbquoWachersquo Schlieszliglich nenne ich ein Beispiel wie gards sbquoHausrsquo Im Gotischen liegt ein i-Stamm vor aber garethur ist ein a-Stamm im Islaumlndischen und Westgermanischen was wahrscheinlich urspruumlnglicher ist Gotisch bewahrt nicht immer das Aumllteste Man kann sagen daszlig wir das Deklinationssystem der Gotischen im Groszligen und Ganzen kennen Die Schwierigkeit besteht eher darin daszlig

Magnuacutes Snaeligdal164

wir wegen der begrenzten Quellen nicht ohne weiteres sagen koumlnnen wie jedes gotisches Wort dekliniert wurde

Es ist auch ein gewisses Problem daszlig der Text meistens nur in einer Handschrift uumlberliefert ist Deswegen ist es oft unmoumlglich zu sehen ob ein Schreibfehler vorliegt oder nicht vgl(3) ἰδοὺ ἐξῆλθεν ὁ σπείρων τοῦ σπεῖραι Mk 43 (CA) sai urrann sa saiands du saian Ver 2235 bi thornatei qithornithorn sai urrann saianltdsgt du saltigtan Luther Siehe es ging ein Saumlmann aus zu saumlen Elberfelder Siehe der Saumlmann ging aus um zu saumlen Lk 85 urrann saiands du saian

In diesem Fall waumlre der Artikel in Gotischen nicht zu erwarten da der Saumlmann hier zum ersten Mal genannt wird (vgl Lk 85) Vielleicht bewahrt die veronesische Randglosse (Gotica Veronensia) hier die urspruumlngliche Form aber der Schreiber des Codex Argenteus hat einen Fehler gemacht Er schrieb erst sa und dann das ganze Wort saiands Im Zweifelsfall kann sa auch ein selbstaumlndiges Wort sein Ist dies die Silbe sa oder das Morphem sa

Noch ein Beispiel(4) Joh 1816ndash17 16 hellip thornaruh usiddja ut sa siponeis anthornar saei was kunthorns thornamma gudjin jah qathorn daurawardai jah attauh inn Paitru 17 thornaruh qathorn jaina thorniwi so daurawardo du Paitrau

16 hellip ἐξῆλθεν οὖν ὁ μαθητὴς ὁ ἄλλος ὃς ἦν γνωστὸς τῷ ἀρχιερεῖ καὶ εἶπεν τῇ θυρωρῷ καὶ εἰσήγαγεν τὸν Πέτρον 17 λέγει οὖν ἡ παιδίσκη ἡ θυρωρός τῷ Πέτρῳ

16 hellip Da ging der andere Juumlnger der dem Hohenpriester bekannt war hinaus und sprach mit der Tuumlrhuumlterin und fuumlhrte Petrus hinein 17 Da spricht die Magd die Tuumlrhuumlterin zu Petrus

Hier ist es wahrscheinlich daszlig daurawardo ein Schreibfehler fuumlr daurawarda ist von so verursacht aber selbstverstaumlndlich ist es nicht ausgeschlossen daszlig beide Formen im Gotischen uumlblich waren Aber da wir hier nur eine Handschrift haben ist es schlichtweg unmoumlglich ein endguumlltiges Urteil zu faumlllen Im Fall des jan-Stamms waurstwja sbquoἐργάτης Arbeiterrsquo der 17 Mal vorkommt gibt es auch aber nur einmal den reinen n-Stamm waurstwa (1 TimA 518) Bevor man dies als Schreibfehler

Ostgermanische Morphologie 165

verurteilt sollte man gawaurstwa (13) sbquoσυνεργός Mitarbeiterrsquo und die Moumlglichkeit von wrakja (8) wraka (5) sbquoδιωγμός Verfolgungrsquo uumlberlegen Hier leben anscheinend ein jō-Stamm und ein ō-Stamm Seite an Seite vgl die folgenden Parallelstellen(5) 2 Tim 311ndash12

2 TimA 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakjos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

2 TimB 311 wrakjom wunnim ƕileika mis waurthornun in Antiaukiai in Eikaunion in Lwstrws ƕileikos wrakos usthornulaida jah us allaim mik galausida frauja 12 jah thornan allai thornaiei wileina gagudaba liban in Xristau Iesu wrakos winnand

In einigen wenigen Faumlllen gibt es unverstaumlndliche Formen die in Morpheme zerlegbar sind aber deren Wurzeln ganz isoliert sind ZB

(6) a Phlm 22

bijandzuthorn thornan manwei mis salithornwos ἅμα δὲ καὶ ἑτοίμαζέ μοι ξενίαν Zugleich aber bereite mir auch eine Herberge

b 2 ThessB 32

jah ei uslausjaindau af gastojanaim jah ubilaim mannam καὶ ἵνα ῥυσθῶμεν ἀπὸ τῶν ἀτόπων καὶ πονηρῶν ἀνθρώπων und daszlig wir errettet werden von den schlechten und boumlsen Menschen

Im ersten Fall ist die Form bijands problematisch Sie scheint ein Partizip Praumlsens zu sein aber wie kann ein solches Partizip das griechische ἅμα uumlbersetzen Zu erwarten waumlre das Adverb samana sbquozusammen zugleichrsquo Dieses bij- ist ganz isoliert auszliger falls es ein Schreibfehler fuumlr bidjandz- ist das bliebe ebenfalls eine merkwuumlrdige Uumlbersetzung

Im zweiten Fall geht es um gastojanaim Eigentlich scheint es ein starkes Partizip Praumlteritum des schwachen Verbs (ga)stojan sbquo(be- ver-) urteilenrsquo zu sein Semantisch waumlre dies wieder eigentuumlmlich Das griech Adj ἀτόπος ist sonst zweimal im Neuen Testament belegt (Lk 2341 und Apg 286) aber beide Stellen sind im gotischen Korpus verloren gegangen

Zum Schluss nenne ich das Beispiel des Verbs kaurjan βαρεῖν druumlckenrsquo wo die Quellen die Frage nicht beantworten koumlnnen ob der Stamm lang oder

Magnuacutes Snaeligdal166

kurz ist Die entscheidenden Formen kaurjiskaureis kaurjithornkaureithorn sind nicht belegt (vgl Snaeligdal 2002 S37) Die Konjugationsklasse einiger Verben ist auch unsicher

In der Lemmatisierung der CBG habe ich diese Probleme bdquogeloumlstldquo indem ich einfach die Form die ich als die wahrscheinlichste dachte als Grundform gewaumlhlt habe Dabei ist immer klar ob die Form belegt ist oder nicht

5 Zum SchlussIm Project Wulfila (httpwwwwulfilabegothicbrowse) kann man durch Anklicken die grammatische Analyse jedes Wortes haben Es waumlre wuumlnschenswert einen annotierten Text herzustellen denn dann koumlnnte man nach grammatischen Kategorien suchen hier zum Beispiel fuumlr Phlm 11ndash134

(7) Phlm 11hellip ithornltCgt nultDgt thornusltRP DS thornugt jahltCgt misltRP DS ikgt bruksltA NSM bruksgt THORNanuhltRD ASM sahgt insandida ltV XAI1S insandjan gt Phlm 12 ithornltCgt thornultRP NS thornugt inaltRP ASM isgt thornat-ltRD NSN sagt istltV PAI3S wisangt meinosltA APF meinsgt brustsltN APF brustsgt meinaltA APN meinsgt h[air]thornraltN APN hairthornragt andnimltV PAD2S andnimangt Phlm 13 thornaneiltRR ASM saeigt ikltRP NS ikgt wildaltV XAI1S wiljangt atltPgt misltRP DS ikgt gahabanltV PAN gahabangt eiltCgt faurltPgt thornukltRP AS thornugt misltRP DS ikgt andbahtidediltV XAO3S andbahtjangt inltPgt bandjomltN DPF bandigt aiwaggeljonsltN GSF aiwaggeljogt

Am besten sollte ein solcher Text mit dem annotierten Text der griechischen Vorlage kombinierbar sein

(8) Phlm 11 hellip νυνὶ ltDgt δὲ ltCgt σοὶ ltRP DS σύgt καὶ ltCgt ἐμοὶ ltRP DS ἐγώgt εὔχρηστον ltA ASM εὔχρηστοςgt Phlm 12 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἀνέπεμψα ltV AAI1S ἀναπέμπωgt σὺ ltRP NS σύgt δὲ ltCgt αὐτόν ltRP ASM αὐτόςgt τοῦτrsquo ltRD NSN οὗτοςgt ἔστιν ltV PAI3S εἰμίgt τὰ ltRA APN ὁgt ἐμὰ ltA APN ἐμόςgt σπλάγχνα ltN APN σπλάγχνονgt προσλαβοῦ ltV AMD2S προσλαμβάνομαιgt Phlm 13 ὃν ltRR ASM ὅςgt ἐγὼ ltRP NS ἐγώgt ἐβουλόμην ltV IMI1S βούλομαιgt πρὸς ltPgt ἐμαυτὸν ltRP ASM ἐμαυτοῦgt κατέχειν ltV PAN κατέχωgt ἵνα ltCgt ὑπὲρ ltPgt σοῦ ltRP GS σύgt μοι ltRP DS ἐγώgt διακονῇ

4 Erklaumlrung der Abkuumlrzungen ltCgt = Konjunktion ltDgt = Adverb ltPgt = Praumlposition ltRP DSgt = Personalpronomen Dativ Singular ltRD ASMgt = Demonstrativpronomen Akkusativ Singular Maskulinum ltA NSMgt = Adjektiv Nominativ Singular Maskulinum ltN DPFgt = Nomen Dativ Plural Femininum ltV XAI1Sgt = Verb Praumlteritum Aktiv Indikativ erste Per-son Singular usw im Griechischen zB ltV AAI1Sgt = Verb Aorist Aktiv Indikativ erste Per-son Singular ltV AMD2Sgt = Verb Aorist Medium Imperativ zweite Person Singular usw

Ostgermanische Morphologie 167

ltV PAS3S διακονέωgt ἐν ltPgt τοῖς ltRA DPM ὁgt δεσμοῖς ltN DPM δεσμόςgt τοῦ ltRA GSN ὁgt εὐαγγελίου ltN GSN εὐαγγέλιονgt

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Magnuacutes Snaeligdal Professor of General Linguistics School of Humanities University of Iceland Saeligmundargoumltu 2 IS-101 Reykjaviacutek Iceland hreinnhiis

Articles

On the Solar Aspect of the King in Ur III Royal Ideology

Luděk Vaciacuten

The present paper studies the status and role of the sun-god in Mesopotamian royal ideology It scrutinizes the development of the sun-godrsquos image from Early Dynastic times until the Old Babylonian period and discusses its depen-dence on current ideological schemes The focus of the paper is the Ur III image of the sun-god in this period the deification of kings resulted in a merge of king and sun-god with the former replacing the latter Since this merge was a by-product of the notion of divine kingship it was abandoned during the Old Babylonian period together with the concept of royal divinity as a whole in favour of traditional ideology

Ancient Near Eastern royal ideology is one of the most complex important and interesting issues for any scholar in the field as it sheds light on the ways used in that region for millennia to justify the rule of peoples by a single man the monarch1 The fundamental importance of legitimacy for a ruler is amply documented in a wealth of written and material sources which record various ideas of kingship and its sacred basis eg royal inscriptions date formulae ideologically charged literary compositions statues reliefs stelae etc Thus the theme of royal ideology offers a wide range of topics to focus on This brief paper deals with the relationship between the king and the sun-god specifically with the attribution of some of the sun-godrsquos features to the king in Ur III Mesopotamia2 Its basic substance is much indebted to a more general article by Claudia Fischer at the end of which the author states that one of the aims of her paper was lsquoto provide impetus for other researchers to explore the themes presented here or to offer their

1 Despite a number of studies on the royal ideologies of ancient Near Eastern cultures their changes over the time and their adaptation to the needs of certain dynasties or even individual rulers the only monograph attempting to cover this huge theme in all its com-plexity is still Henri Frankfortrsquos seminal but outdated book (Frankfort 1978) 2 I am grateful to D Schwemer for suggesting this topic to me For a general characteri-sation of early Mesopotamian royal ideology see Postgate 1995 395-403 407 Cf Edzard 1972-5 Krecher 1976-80 Caplice - Heimpel 1976-80 Edzard 1980-3a Edzard 1980-3b Cf further the recent volume containing several illuminating articles on divine kingship Brisch 2008

Luděk Vaciacuten172

own interpretationsrsquo3 The present article is a response to that call refining several points Fischer made and discussing some additional ones

First we shall review the most important aspects and functions of the sun-god in general The solar god (Utu in Sumerian and Šamaš in Akkadian) is attested in tandem with another astral deity the moon-god (Nanna in Sumerian and Sursquoen in Akkadian) already in archaic texts from Uruk and Ur and subsequently in all the later god lists But despite the importance of the object that he represented the sun-god did not attain the kind of prominence in myth and ritual enjoyed by the moon-god in the third mil-lennium Perhaps this can be explained by the significance of the moon for the calendar the influence of moon phases on ebb and flow and fertility of crops and livestock (sowing crops and mating animals were by preference done during moon waxing) on the mental state of humans (especially women during menstruation) and possibly also by the similarity of moon phases with the course of human life Thus unlike the Egyptian one the early Mesopotamian sun-god stood in the shadow of the moon-god but it does not mean at all that he was always seen as subordinate to the moon-god

He was venerated in the majority of Mesopotamian cities for millennia the centres of his cult being his temple complexes in Larsa and Sippar both called Ebabbar (lsquoThe Shiny Housersquo) His aspects and functions were deter-mined by the obvious features and activities of the solar disc The sun dis-pels darkness and thus wards off danger and evil Its rays reach every corner of the world Accordingly UtuŠamaš was the omniscient god who saw and knew everything while tirelessly roaming the universe day and night he was the guardian and overseer of cosmic order These two capacities made him the natural guarantee of justice the divine supreme judge and the patron of travellers This basic picture of the Mesopotamian sun-god is present in a number of literary compositions which often elaborate on it sometimes over several hundred lines Among the most telling examples are a Sumerian incantation to Utu and the Akkadian Šamaš Hymn4 We will briefly summarize the characteristics of the sun-god described in these texts as it is important for our subsequent discussion of royal ideology

The initial (and lengthy) part of the Sumerian incantation to the sun-god invokes him as the source of light and juridical authority It proceeds to extol him as a protector of animals and humans He inspects the universe and guards orphans and widows Without him there would be no justice

3 Fischer 2002 133 4 For an edition of the former see Alster 1991 For the latter see Lambert 1960 121-38

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no river ordeal no regalia no kingship the cultic personnel would not be selected wild animals would not catch their prey people would not get their sustenance fowlers and fishermen would not catch anything weavers would not make cloth people would not be able to live and die they would not be able even to recognize each other it would not be pos-sible to wage war there would be no order in Sumer no one would take care of the poor Significantly this section ends with an image of the poor and homeless as well as widows and orphans again directing their eyes towards Utu and seeking assistance (cf Alster 1991 30f)

The Akkadian Šamaš Hymn represents the most comprehensive summary of Mesopotamian solar theology It praises the sun-god as the provider of light who brings blessings to the fields and illumines the mountains He herds all breathing creatures he is the guardian of all above and below crossing the skies unceasingly All mankind bows low to him and longs for his radiance His words are righteous decrees he stands by pilgrims walking difficult roads protects merchants from storms shows shelter to refugees and supports captives His ultimate juridical authority is glorified by the examples of a remorseless judge whom he punishes and a prudent judge whom he makes oversee the palace and live among princes Another example is that of a deceitful merchant whose fraudulence loses him his assets and an honest merchant whose fairness gains him everything in a good measure Šamaš is futher extolled as a protector of those who are away from their homes and therefore weakened hunters travellers even highwaymen

The above functions of the sun-god are apparently a sum of an ideal kingrsquos features Hence already some Old Sumerian semi-legendary as well as historical rulers strove for Utursquos support and called him lsquotheir lordrsquo Meskiaĝgašer of Uruk was the lsquoson of Utursquo according to the Sumerian King List5 Similarly the ruler of Uruk Enmerkar (Meskiaĝgašerrsquos son in the SKL) is the lsquoson of Utursquo in several literary compositions6 He is even referred to as the lsquosun-god of the landrsquo in lsquoEnmerkar and the Lord of Arattarsquo (line 309) The sun-god further acts as a protector and helper of Lugalbanda and Gilgameš in literature pertaining to them7 He also helps his brother-in-law

5 For the sake of brevity we refer only to the ETCSL treatment of the majority of Sumerian texts discussed in this paper The reader will find references to the respective critical edi-tions there See ETCSL 211 lsquoThe Sumerian King Listrsquo lines 96f 6 See ETCSL 1823 lsquoEnmerkar and the lord of Arattarsquo passim 1822 lsquoLugalbanda and the Anzud birdrsquo passim 1821 lsquoLugalbanda in the mountain caversquo passim 7 For the tales of Lugalbanda see the previous note Concerning the Sumerian tales of Bilgames see especially ETCSL 1815 lsquoGilgameš and Huwawa (version A)rsquo passim 18151

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Dumuzi escape the netherworld demons8 However it must be stressed that we do not know the extent to which Old Sumerian compositions might have been altered by the time of the manuscripts on which they are extant today Indeed some of them show signs of the moon-godrsquos superiority over the sun-god not ascertainable in texts from earlier times9 Therefore literary texts dealing with the above rulers cannot be taken as a reflection of the relationship between an Old Sumerian ruler and the sun-god with-out due caution Finally king Lugalzagesi who unsuccessfully attempted to create the first territorial state in Mesopotamia called himself the one lsquonamed by Utursquo and the lsquomilitary governorrsquo of Utu stressing the sun-godrsquos warlike aspect also present in the first section of the Sumerian incantation summarized above (cf Fischer 2002 130f with references)

As we have seen in Early Dynastic times the sun-god played the usual roles of divine father guardian and helper for the king Such functions were ful-filled by many major as well as minor deities throughout Mesopotamian history But in this case the sun-godrsquos capacity to take care of those far from home on dangerous missions and his heroic aspect came to the fore10 However apart from the unique attestation concerning Enmerkar no one seems to have attempted to appropriate that aspect for himself and thus become an lsquoearthly sun-godrsquo dispossessing the heavenly one

The situation changed fundamentally when the Old Akkadian king Narāmsursquoen held sway over Mesopotamia His deification meant that he himself became a heroic god and protective deity of Akkad His reign is the likely point of time when the sun-god became the moon-godrsquos son and thus

lsquoGilgameš and Huwawa (version B)rsquo passim 1814 lsquoGilgameš Enkidu and the nether worldrsquo passim For the Akkadian Gilgameš Epic see George 2003 8 See ETCSL 143 lsquoDumuzidrsquos dreamrsquo passim 141 lsquoInanarsquos descent to the nether worldrsquo lines 368-83 9 Particularly the father-son relationship referred to in line 152 (lsquohero Ningalrsquos sonrsquo) of lsquoLugalbanda in the Mountain Caversquo line 238 (lsquoyoung warrior Utu the son born by Ningalrsquo) of lsquoBilgames Enkidu and the Netherworldrsquo and Utursquos obvious subordination to Nanna in line 206 (lsquoFather Nanna gives the direction for the rising Utursquo) of lsquoLugalbanda in the Moun-tain Caversquo are typical features of the post-Sargonic solar theology The notion that the sun-god was a son of the moon-god seems to have originated during the reign of Narāmsursquoen Further the fact that the sun-god was regarded as a lsquominorrsquo deity in Sargonic and Ur III times speaks for itself See Fischer 2002 130 with nn 37 and 39 10 With regard to the kingrsquos person these two features can be seen as closely connected because war was definitely one of the dangerous missions in which the king would have needed the sun-godrsquos protection as well as his military prowess Hence it is not surprising that Utu was the divine father of adventurous rulers of the heroic age and that he should have chosen Lugalzagesi a king with imperial aspirations

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the superiority of Nanna-Sursquoen over UtuŠamaš was established11 The sun-god was suppressed precisely because his characteristics perfectly fitted the image of an ideal king now a deity The most striking act of Narāmsursquoenrsquos displacement of the sun-god was the erection of his famous victory stela depicting the king as a martial god climbing a mountain (a posture used for astral deities in visual art mainly glyptic) in the sun-godrsquos city Sippar (perhaps even in his temple) in celebration of the kingrsquos new status the victorious sun-god of his land (Fischer 2002 131)

One might surmise that the act of assuming features proper to a deity could be a way of glorifying that deity rather than suppressing it The logic would more or less be that lsquoimitation is the sincerest form of flatteryrsquo This does not seem to apply to our case however Imitation might function as a form of glorification when the imitator was human (as in the case of Hammurāpi and other later kings see below) But Narāmsursquoen was divine He not only took over functions from the sun-god but also presented him-self in a posture normally reserved to the latter Thus what he did amounts to the substitution of one deity (the sun-god) with another (himself)

The kings of the Ur III dynasty adopted many measures formerly used by Old Akkadian monarchs to create and sustain an empire and this one was no exception In fact it was only natural for rulers coming from the moon-godrsquos city to turn Nanna into the most important astral deity and con-versely apply the sun-godrsquos features to the king at the expense of Utursquos cult Accordingly the old tradition of Nanna as Enlilrsquos son was revived and fixed in myth12 whereas Utursquos heroic and juridical aspects were appropriated by the king While the former event took place during the reign of Urnamma the second occurred under Šulgi in connection with his deification and was

11 See Fischer 2002 128 and n 19 130 and n 37 Note that in pre-Sargonic tradition the sun-god was regarded as Anrsquos or Enlilrsquos son12 See Krebernik 1993-7 364 for evidence of the Abū Ṣalābīkh tradition of Enlil and Ninlil as Nannarsquos parents (ref courtesy AR George) For a detailed discussion of the Ur III genealogy of Nanna see Klein 2001 especially 283f where he deals with the myth lsquoEnlil and Ninlilrsquo (ETCSL 121) describing the rape of the virgin goddess by Enlil which resulted in the birth of Nanna-Sursquoen as the first-born son of Enlil Klein states (2001 284) lsquoWe get the impression that the theologians of Urnammu or Šulgi who composed this piquant myth were at utmost pain to prove the firstborn status of Suen probably to refute a contradicting theological traditionrsquo Note however that Klein missed the ancient tradi-tion regarding Nanna as a son of Enlil when he ascribed the lsquoearliest explicit references to NannaSuen as Enlilrsquos sonrsquo (2001 280 see also 289ff 296 n 93) to Urnamma It is clear that Urnamma merely revived the old genealogy very suitable for his political goals indeed and developed it accordingly

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fully developed by the end of Amarsursquoenarsquos reign13 Although the king is never equated with Utu in royal hymns the sun-godrsquos inferiority is made clear by calling him the kingrsquos lsquobrother and friendrsquo (like Gilgameš)14 That is the result of the kingrsquos identity with Dumuzi on the mythological level which made him the husband of Inana and thus the brother-in-law of Utu The kingrsquos intimate relationship with Utursquos sister was undoubtedly responsible for Utursquos regular cult in the palace along with Inanarsquos and Nin-egalrsquos (a hypostasis of Inana) while his cult at Ur beyond the palace was only marginal and he was never worshipped along with his father in Ur III times (Fischer 2002 130 cf Sallaberger 1993 223 n 1061 tab 75 in vol 2) Utursquos lower status and the kingrsquos takeover of his functions are further apparent in a hymnal simile comparing Šulgi to the rising sun15 Utu is otherwise referred to in the Šulgi hymns as a provider of martial prowess and strength in battle often in his capacity of the kingrsquos companion and constable of the gods16 a further sign of his ancillary status Interestingly Šulgi seems to have appropriated Utursquos juridical aspect only indirectly The king as supreme judge was identified with Ištarān17 not with Utu but his characteristics are the same as Utursquos given in compositions pertaining to 13 The place name dŠulgi-dUtuki (lsquoŠulgi is the sun-godrsquo) given by Fischer (2002 132) as evi-dence for the kingrsquos explicit identification with Utu already by the time of Šulgi is inconclu-sive for we know of a site called dŠulgi-dNannaki as well See Edzard - Farber 1974 18414 Šulgi A line 79 Šulgi B lines 40 123 See Klein 1981 198f ETCSL 24202 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi B)rsquo Although the bulk of Ur III royal hymns is preserved on Old Babylonian tablets and therefore the possibility that the original Ur III traditions were dis-torted by Old Babylonian traditions always has to be reckoned with it does not seem that the tradition with which we are dealing here was subject to any distortion The hymnal evidence is corroborated not only by a piece of Ur III visual evidence (see n 16 below) but also by Ur III administrative texts coupling the offerings brought to Utu in the palace to those delivered on behalf of Inana and Ninegal for an interpretation of which see above Further divine Amarsursquoena was called lsquothe sun-god of his landrsquo in a royal inscription (see below) surely intact by any later tradition15 Šulgi C line 25 iri-ĝu10 dutu-gin7 ba-ta-egrave-egraven (lsquoI rose over my city like Utursquo) ETCSL 24203 lsquoA praise poem of Šulgi (Šulgi C)rsquo 16 The bestowal of glory in battle and even of kingship in the land is the main theme of the fragmentary adab () hymn to Utu (Šulgi Q) ETCSL 24217 lsquoAn adab () to Utu for Šulgi (Šulgi Q)rsquo Could this hymn have been composed for use in the palace cult mentioned above Note also that Šulgi is depicted on a seal given by him to his consort Gemeninlila in the posture taken up by Narāmsursquoen on his victory stela and therefore as a victorious divine king in an astral dimension For a drawing of the seal see Mayr - Owen 2004 167 no 2 Noteworthy is also that Šulgi lsquoascended to heavenrsquo upon his death according to a contemporary administrative record and that there was a lsquostar of Šulgirsquo in Old Babylonian lexical tradition See Horowitz - Watson 1991 410f 413 17 This could have resulted from political considerations because Ištarān a deity of foreign origin (perhaps Elamite) was the city-god of Dēr a strategic centre at the unstable north-eastern fringe of the statersquos core territory Thus the king may have attempted to

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the sun-god18 The final step in this development was taken by Šulgirsquos suc-cessor Amarsursquoena who called himself explicitly lsquothe righteous god the sun-god of his landrsquo (see Frayne 1997 263 E321316)

The concept of the king taking over some of the sun-godrsquos functions con-tinued after the demise of the Ur III kingdom in the Isin-Larsa period but as it was closely tied to the deification of kings it gradually disappeared together with divine kingship itself Although eg Hammurāpi called him-self the lsquosun-god of Babylonrsquo the lsquosun-god of his peoplersquo and the one desig-nated lsquoto rise like Šamaš over the black-headed ones to illuminate the landrsquo (Fischer 2002 132 Beckman 2002 39f with references) these references should be taken as metaphorical for the Old Babylonian king was not dei-fied In other words he imitated the sun-god in his capacity of a protec-tor of the people and supreme judge but unlike Narāmsursquoen and some of the Ur III kings he did not and could not strive to replace him because he lacked the necessary precondition to do so ie he did not consider himself a divine being Thus in stark contrast to the depictions of divine kings Narāmsursquoen and Šulgi on his famous law code stela Hammurāpi was depicted as a respectful servant of the sun-god The textual references to Hammurāpi as sun-god can be interpreted as a form of flattery for a human king imitating a deity undoubtedly glorifies the latter This is also the case with similar passages in the inscriptions of later Mesopotamian kings because though they also adopted the idea of the rulerrsquos close bond with the sun-god they never attempted to replace him

Thus the post-Ur III period kings were just earthly reflections of the great astral deity symbolizing stability harmony justice and order ie the values inherent in the sun-godrsquos daily and immutable movement across the sky (cf Fischer 2002 132f)

show his desired unequivocal sovereignty over that area by means of identifying himself with Ištarān in his propagandistic texts 18 The most telling example comes from Šulgi X lines 142-9 lsquoHe the Ištaran of Sumer the omniscient one from birthfor the land he renders a firm judgementfor the land he obtains firm decisions(so that) the strong does not oppress the weakthe mother says pleas-ing (words) to her sonthe son speaks truth to his fatherunder him Sumer is filled with abundanceUr abounds in prosperityrsquo Klein 1981 144f

Luděk Vaciacuten178

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Luděk Vaciacuten Department of the Near and Middle East Faculty of Languages and Cultures School of Oriental and African Studies University of London ludekvacinseznamcz

ERRATA ET CORRIGENDAIm Artikel bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo von Šaacuterka Velhartickaacute im Chatreššar 2006 wurden ohne Absprache und Zustimmung der Autorin zahl-reiche Aumlnderungen vorgenommen Der Korrektor hatte vor allem den urspruumln-glichen Titel des Artikels geaumlndert (zu bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) womit der Eindruck entsteht es gaumlbe mehrere Versionen dieses Rituals Die Autorin behaumllt sich vor den Artikel unter seinem urspruumlnglichen und kor-rekten Titel in Zukunft zu zitierenEin weiterer Fehler besteht darin dass der Korrektor in allen Faumlllen den Deter-minativ vor dem Wettergott statt bdquoDldquo auf bdquoDUldquo aumlnderte (in zwei Faumlllen auf DIM S 83) wodurch die Transkription unverstaumlndlich wurde An vielen Stellen kam es zu Veraumlnderungen bei der Schreibung der Kursive und umgekehrt und es gibt auch Fehler bei den Hochschreibungen In dem Kommentar zur Uumlbersetzung des hethitischen DUGpahhunalli- hatte der Korrektor willkuumlrlich die Uumlberset-zung der Autorin veraumlndert Daneben wurden auch mehrere Saumltze veraumlndert

Die Redaktion bedauert die oben genannten Veraumlnderungen Die Autorin stellt die korrekte und urspruumlngliche Version des Artikels allen Interessenten gern zur Verfuumlgung (velhartickacentrumcz) Diese ist auch unter httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf zu finden

V člaacutenku bdquoChetitskyacute Chutušiho rituaacutel (CTH 732)ldquo Šaacuterky Velhartickeacute v Chat-reššaru 2006 byly bez vědomiacute a souhlasu autorky učiněny četneacute korektury Korektor pozměnil předevšiacutem titul člaacutenku (na bdquoChetitskaacute verze Chutušiho rituaacutelu (CTH 732)ldquo) čiacutemž vznikaacute dojem že existuje viacutece verziacute tohoto rituaacutelu Autorka si vyhrazuje praacutevo citovat v budoucnu tento člaacutenek pod jejiacutem původ-niacutem a spraacutevnyacutem naacutezvem

Dalšiacute chyba spočiacutevaacute v tom že korektor ve všech přiacutepadech pozměnil determi-nativ před bohem bouřky z bdquoDldquo na bdquoDUldquo (ve dvou přiacutepadech na DIM s 83) čiacutemž se transkripce stala nesrozumitelnou Na mnoha miacutestech došlo ke změ-naacutem ve psaniacute kurziacutevy a opačně a vyskytly se chyby v psaniacute horniacuteho indexu V komentaacuteři k překladu chetitskeacuteho DUGpahhunalli- pozměnil korektor sveacutevolně autorčin překlad Vedle toho byly pozměněny i četneacute věty

Redakce vyslovuje politovaacuteniacute nad zmiacuteněnyacutemi uacutepravami Autorka poskytne raacuteda spraacutevnou a původniacute verzi člaacutenku k dispozici všem zaacutejemcům (velhar-tickacentrumcz) Tu je možneacute vyhledat i na straacutenkaacutech Uacutestavu srovnaacutevaciacute jazykovědy (httpenlilffcuniczvedapublikaceerrpdf)

Chatreššar 2009

Edited by the Institute of Comparative Linguistics

Charles University in Prague Faculty of Arts

ISSN 1803-005X

EDITORIAL BOARDJost Gippert Goethe University Frankfurt aMHans Christian Luschuumltzky University of ViennaPetr Vavroušek Charles University PragueMartin Worthington University of CambridgeAndrzej Zaborski University of CracowPetr Zemaacutenek Charles University Prague

EXECUTIVE EDITORSJan Bičovskyacute Pavel Čech

PROFILE

Chatreššar is a scholarly peer-reviewed journal dedicated to publishing original research in the fields of Indo-European and Semitic linguistics and philology especially for ancient languages Areas of interest include comparative linguistics cultural history sociolinguistics electronic corpora and computational linguistics lexicography and other subjects Chatreššar is published in the form of a printed book selected articles will be accessible on-line depending on the authorsrsquo consent English summaries will be available on-line along with information on the contributors Chatreššar has been published yearly since 1997

More details on the journal including the journals policy information on the submission procedure as well as the purchase possibility can be found at httpenlilffcuniczchatressar

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